cr-4H. RuinJ. St. MillF. NauenTh. Reid    
 
JOHN STUART MILL
Eine Prüfung der Philosophie
Sir William Hamiltons

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"Ich müßte gänzlich unfähig gewesen sein, aus der Kritik Nutzen zu ziehen, wenn ich von so zahlreichen Angreifern, die alle von größerer oder geringerer, einige sogar von hervorragender Fähigkeit sind, nichts gelernt hätte. Sie haben mir nicht wenige Unachtsamkeiten des Ausdrucks wie auch des Denkens nachgewiesen; andere habe ich teils mit ihrer Hilfe, teils ohne sie entdeckt. Sie haben zwar keine Behauptung oder Meinung von Belang erschüttert; aber ich schulde ihnen aufrichtigen Dank sowohl für die Berichtigung von Irrtümern, wie dafür, daß sie mich gezwungen haben, meine Verteidigung zu verstärken."

Vorwort

Diese erste Übersetzung des Werkes von JOHN STUART MILL, das nächst seiner Logik den größten Einfluß auf die Entwicklung der englischen Philosophie geübt hat, bedarf für die Kundigen keiner Rechtfertigung. Die Problemlage, die sich in ihm spiegelt, liegt allerdings fast zwei Menschenalter hinter uns. Aber es bietet die einschneidenste Kritische Untersuchung, die der Verknüpfung der Philosophie des  common sense  mit dem KANTschen Kritizismus vom Standpunkt des Emprismus aus zuteil geworden ist. Es gibt überdies eine Ergänzung des logischen Hauptwerkes von MILL, welche die psychologischen und, wie wir sagen würden, erkenntnistheoretischen Grundlagen jener grundlegenden Theorie der Induktion und des Syllogismus erst deutlich erkennbar macht. Ich kenne endlich keine Untersuchung, die den inneren Gegensatz der empiristischen und der rationalistischen Denkweise unmittelbarer aufweist, als das vorliegende Werk. Seine Übersetzung kann deshalb im Widerstreit jener beiden Denkweisen, durch den sich bei uns die Regeneration der Philosophie vollzieht, nur befruchtend wirken.

Es liegt in der Natur der Sache, daß MILL seinem Gegner nicht gerecht wird. Nicht selten wirkt die Schärfe der Polemik sogar störend. Nicht überall ferner geht seine Kritik in die Tiefe, am wenigsten in den logischen und ethischen Schlußerörterungen. Aber diese Mängel vermindern den sachlichen Gehalt der sonst eindringenden Erörterung nur in geringem Maß. Jene Folgen der Kampfesstimmung gegen eine um die Mitte des vorigen Jahrhunderts in England herrschende Denkweise wirken nicht mehr verletzend; und diese Mängel des sachlichen Inhalts werden durch die selbständigen logischen und soziologischen Leistungen MILLs reichlich aufgehoben.

Die Schwere der geistigen Arbeit, der sich mein verehrter Freund, Herr Konsul WILMANNS, bei dieser Übersetzung mit selbstlosem Interesse und hingebender Sorgfalt unterzogen hat, habe ich bei der Revision völlig würdigen gelernt.

BENNO ERDMANN.



JOHN STUART MILLs "Examination of Sir William Hamiltons Philosophy" erscheint hier zum ersten Mal in deutscher Übersetzung. MILL sagt in seiner Vorrede: "In diesen hohen Regionen der Spekulation ist für jeden  die Schwierigkeit,  sich vollständig auf den Boden einer abweichenden Philosophie zu stellen und  selbst nur ihre Ausdrucksweise vollkommen zu verstehen, so groß,  daß es sehr anmaßend sein würde, wenn ich mir einbilden wollte, sie stets bewältigt zu haben." Einer solchen Warnung aus solchem Munde gegenüber konnte der Versuch einer deutschen Übersetzung als ein Wagnis erscheinen. Ich bin mir dessen wohl bewußt gewesen und würde auch kaum den Mut gefaßt, noch weniger die Übersetzung zu Ende geführt haben, hätte ich mich nicht in Herrn Prof. Dr. BENNO ERDMANN eines so ausgezeichneten Ratgebers und Helfers zu erfreuen gehabt. Dies gleich am Anfang des Werkes hervorzuheben, ist eine Pflicht, die ich mit dankbarer Freude erfülle.

Die Schwierigkeiten bestanden nicht allein in der Terminologie ansich, sondern ebensosehr in der Ausdrucksweise HAMILTONs. Der unbestimmte, schwankende Gebrauch, den HAMILTON von den verschiedenen Namen und Begriffen macht, wird von MILL an mehreren Stellen beklagt und erschwert nicht wenig die Verständlichkeit seiner Gedankenfolgen, die erst durch die scharfsinnigen Erörterungen, die MILL an sie knüpft, dem Leser näher gebracht werden.

Aus der Terminologie möchte ich mir namentlich über zwei Ausdrücke eine kurze Bemerkung gestatten: über das englische  belief (to believe)  und  feeling (to feel). 

Das englische  belief  ist sehr viel allgemeiner als unser deutsches "Glaube".  Belief  bezeichnet denjenigen Geisteszustand, der nicht ganz an vollkommene Erkenntnis heranreicht und sich in diesem Sinne mehr mit unseren natürlichen Überzeugungen, mit unseren inneren Gewißheiten deckt. Darüber hinaus aber bezeichnet der "die Zustimmung zu intuitiv oder demonstrativ gewissen Sätzen, nicht als Gegensatz zum Wissen; die Zustimmung zu den Inhalten, die Sinneswahrnehmung und Gedächtnis uns darbieten; die Zustimmung zu den kausal erschlossenen über  Sinne und Gedächtnis  hinausgehenden Tatsachen und Existenzen; endlich die Zustimmung zu religiösen Vorstellungsinhalten." (1) Namhafte Autoritäten haben den Begriff in seiner weitumfassenden Bedeutung zu umschreiben versucht. Ich glaube aber nicht, daß in den vorliegenden Abhandlungen die Klarheit durch eine solche Umschreibung gewonnen haben würde und habe in der Übersetzung durchweg das deutsche  Glaube  beibehalten, das mit dieser Erklärung dem Sinn des englischen  belief  immer noch näher kommen dürfte, als irgendein anderes Wort. Im übrigen verweise ich den Leser auf Kapitel 5.

 Feeling (to feel)  ist gleichfalls sehr viel allgemeiner als unser deutsches  Gefühl.  Es bedeutet nicht nur dieses, sondern meistens den Bewußtseinszustand oder -inhalt, das Bewußtsein, wenn das Wort "Bewußtsein" als Gattung zu allen Arten des Vorstellens, Fühlens und Wollens genommen wird. In der Übersetzung ist es mit "Gefühl" nur in solchen Zusammenhängen wiedergegeben worden, wo es wirklich dem uns geläufigen engeren Sinn dieses Wortes entspricht. In allen andren Fällen habe ich "Bewußtsein", "Bewußtseinszustand oder -inhalt", "bewußt", "bewußt werden" oder "bewußt sein" angewandt. Eine ausführliche Erklärung des Sinnes, in dem MILL das Wort gebraucht, befindet sich in Kapitel 8.

Von einem eigentlichen terminologischen Verzeichnis habe ich geglaubt absehen zu dürfen. Die Ausdrucksweise MILLs ist so klar und bestimmt, daß die einzelnen Namen, Ausdrücke und Begriffe kaum besser erklärt werden können, als dies durch den Text selbst geschehen ist. Überdies habe ich in allen wichtigen Fällen den englischen Ausdruck in Klammern hinzugefügt und dies auch überall da getan, wo mir ein gleichwertiges deutsches Wort nicht zur Verfügung stand.

Die Übersetzung ist nach der sechsten Auflage, London 1889, angefertigt. Von den im Original angeführten Werken und Schriften, mit Ausnahme einiger weniger, die nicht zu ermitteln waren, füge ich ein genaues bibliographisches Verzeichnis bei.

HILMAR WILMANNS




Vorrede zur dritten Auflage

Es mag scheinen, daß ich in meinen früheren Schriften nach Gegnern gesucht habe, die ich hätte unbeachtet lassen können, obgleich sie mich in den Stand setzten, meine Ansichten zu größerer Klarheit und Deutlichkeit zu bringen. Meine gegenwärtige Lage ist eine ganz andere: ein Heer von Schriftstellern, deren Art des philosophischen Denkens direkt oder indirekt in die Kritik, die in diesem Band an HAMILTON geübt wird, inbegriffen war, hat gegen sie die Waffen ergriffen und gefochten wie  pro aris et focis  [für Altar und Herd - wp] Und zwar sind es nicht allein Freunde und Anhänger HAMILTONs, die unter einer gewissen Verpflichtung standen, zu seiner Verteidigung vorzubringen, was billigerweise gesagt werden konnte; sondern es befinden sich viele darunter, die ihm fast ebenso fern stehen wie ich, wenn auch meist auf der entgegengesetzten Seite. Diese Angriffe unbeantwortet lassen, würde heißen die Grundsätze aufgeben, die ich als spekulativer Denker während meines ganzen Lebens aufrecht erhalten habe und die das Fortschreiten meines Denkens beständig gekräftigt hat. [...]

Ich müßte gänzlich unfähig gewesen sein, aus der Kritik Nutzen zu ziehen, wenn ich von so zahlreichen Angreifern, die alle von größerer oder geringerer, einige sogar von hervorragender Fähigkeit sind, nichts gelernt hätte. Sie haben mir nicht wenige Unachtsamkeiten des Ausdrucks wie auch des Denkens nachgewiesen; andere habe ich teils mit ihrer Hilfe, teils ohne sie entdeckt. Sie haben zwar keine Behauptung oder Meinung von Belang erschüttert; aber ich schulde ihnen aufrichtigen Dank sowohl für die Berichtigung von Irrtümern, wie dafür, daß sie mich gezwungen haben, meine Verteidigung zu verstärken. Der Punkt, an dem sie, wie zu erwarten war, am häufigsten das Übergewicht erhalten konnten, lag darin, daß sie mir eine unzureichende Interpretation der Lehren HAMILTONs nachwiesen. In diesen hohen Regionen der Spekulation ist für jeden die Schwierigkeit, sich vollständig auf den Standpunkt einer abweichenden Philosophie zu stellen und selbst nur ihr Ausdrucksweise vollkommen zu verstehen, so groß, daß es sehr anmaßend sein würde, wenn ich mir einbilden wollte sie stets bewältigt zu haben, noch dazu mit der Warnung des absoluten Mißerfolgs vor Augen, den fähige und fein gebildete Geister auf der entgegengesetzten Seite der Philosophie gehabt haben, eine zutreffende Deutung derjenigen Denkweisen zu vollführen, die mir die vertrautesten sind. Ich bin deshalb überrascht gewesen zu finden, in wie wenigen und wie unbedeutenden Fällen die Verteidiger HAMILTONs imstande gewesen sind mir nachzuweisen, daß ich seine Ansichten oder Argumente mißverstanden oder unrichtig dargelegt habe. Ich kann nicht zweifeln, daß noch mehr solcher Irrtümer aufzudecken sein werden und bedaure, daß dem größeren Teil des Bandes in seiner Beziehung zu HAMILTON noch nicht der Vorzug einer hinreichend genauen Untersuchung zuteil geworden ist. Hätte MANSEL die schonungslose Kritik der ersten wenigen Kapitel auf den Rest ausgedehnt, so würde er zweifellos wirkliche Irrtümer nachgewiesen haben. Er hätte auf einige der Gegenstände vielleicht von seinen eigenen Gedanken ans Licht werfen können und ich würde ihm wenigstens für das erhöhte Vertrauen in diejenigen Darlegungen und Meinungen zu danken gehabt haben, die unversehrt aus der Feuerprobe seiner Angriffe hervorgegangen wären.

Wo mich die Kritik oder eine abermalige Erwägung überzeugt hat, daß etwas in dem Buch falsch oder daß in der Art die Wahrheit vorzutragen und darzulegen eine Verbesserung erforderlich war, habe ich die nötigen Änderungen vorgenommen. Wenn der Fall zu verlangen schien, daß die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Änderung gelenkt würde, habe ich das getan, ohne daraus jedoch eine unabänderliche Regel zu machen. Bloße Antworten an Gegner habe ich im allgemeinen in die Anmerkungen verwiesen. Wo ich mit so vielen Bänden zu tun hatte, konnte ich nicht von jeder darin enthaltenen Kritik Notiz nehmen. Wenn einer meiner Kritiker findet, daß auf ihn oder einen seiner Einwände nicht speziell Bezug genommen ist, so mag er versichert sein, daß dies nicht aus Geringschätzung geschehen ist, sondern entweder, weil ich seine Einwände durch die Erwiderung, die ich auch anderen gegeben habe, für erledigt halte oder weil ihre beste Widerlegung war, den Gegner auf das Buch selbst zurückzuverweisen oder weil durch eine vielleicht ganz unscheinbare Verbesserung des Textes dem Einwand die Spitze abgebrochen wurde. Eine unbedeutende Modifikation eines Satzes oder selbst nur einer Wendung, die jemand, der mit den früheren Auflagen bekannt ist, vielleicht liest, ohne sie zu bemerken, und deren Zweck er, selbst wenn er sie bemerkte, höchst wahrscheinlich nicht herausfinden würde, hat zuweilen viele Seiten feindseliger Kritik getilgt.
LITERATUR - John Stuart Mill, Eine Prüfung der Philosophie Sir William Hamiltons, Halle/Saale 1908
    Anmerkungen
    1) OTTO QUAST, Der Begriff des Belief bei David Hume, Halle/Saale, 1903