ra-1 SteenbergenMüller-FreienfelsDas psychische Maß    
 
GUSTAV THEODOR FECHNER
Die Tagesansicht
gegenüber der Nachtansicht


"Was wir der Welt um uns abzusehen, abzuhören meinen, es ist alles nur unser innerer Schein, eine Jllusion, die man sich loben kann, bleibt aber eine Jllusion. Licht und Ton in der äußeren, von mechanischen Gesetzen und Kräften beherrschten, zum Bewußtsein noch nicht durchdrungenen, Welt über die organischen Geschöpfe hinaus sind nur blinde stumme Wellenzüge, die von mehr oder weniger erschütterten materiellen Punkten aus dem Äther und die Luft durchkreuzen, und erst, wenn sie an den Eiweißknäuel unseres Gehirns, ja wohl gar erst, wenn sie an einen bestimmten Punkt desselben antreffen, sich durch den spiritistischen Zauber dieses Medium in leuchtende tönende Schwingungen umsetzen."

"Bei Philosophen und Theologen treiben Freiheit und Notwendigkeit wie zwei umeinander kreisende Schmetterlinge ein unermüdliches Wechselspiel miteinander; die Naturforscher wissen, daß, wie alles in der Welt, auch Leben und Empfindung, einer unverbrüchlichen gesetztlichen Notwendigkeit gehorchen; die Welt über den Menschen und Tiere hinaus aber tot, empfindungslos ist, weil sie derselben Notwendigkeit gehorcht. - Die geistigen Pferde meinen, daß sie den Wagen der Materie ziehen; die Naturforscher wissen, daß sie vielmehr vom Wagen der Materie fortgeschoben werden."


Erster Teil
Grundzüge

I. Eingang

Eines Morgens saß ich im Leipziger Rosenthal auf einer Bank in der Nähe des Schweizerhäuschens und blickte durch eine Lücke, welche das Gebüsch ließ, auf die davor ausgebreitete schöne große Wiese, um meine kranken Augen am Grün derselben zu erquicken. Die Sonne schien hell und warm; die Blumen schauten bunt und lustig aus dem Wiesengrün heraus, Schmetterlinge flatterten darüber und dazwischen hin und her, Vögel zwitscherten über mir in den Zweigen und von einem Morgenkonzert drangen die Klänge in mein Ohr. So waren die Sinne beschäftigt und befriedigt. Aber den an's Denken gewöhnten reicht eine solche Befriedigung nicht lange, und so spann sich aus der Beschäftigung der Sinne allmählich ein Gedankenspiel heraus, das ich hier nur etwas weiter ausgesponnen und mehr geordnet wiedergeben will.

Seltsame Täuschung, sagte ich mir. Im Grunde ist doch alles vor mir und um mich Nacht und Stille; die Sonne, die mir so glänzend scheint, daß ich mich scheue, ihr mein Auge zuzuwenden, in Wahrheit nur ein finsterer, im Finstern seinen Weg suchender, Ball. Die Blumen, Schmetterlinge lügen ihre Farben, die Geigen, Flöten ihren Ton. In dieser allgemeinen Finsternis, Öde und Stille, welche Himmel und Erde umfängt, schweben nur einzelne, innerlich helle, farbige und klingende, Wesen, wohl gar nur Punkte, tauchen aus der Nacht auf, versinken wieder darin, ohne von ihrem Licht und Klang etwas zu hinterlassen, sehen einander, ohne daß etwas zwischen ihnen leuchtet, sprechen miteinander, ohne daß etwas zwischen ihnen tönt. So heute und so war es von Anbeginn und wird es sein in Ewigkeit. Was sage ich: vielmehr Milliarden von Jahren war es nicht kalt genug, und wie lange wird es dauern, so wird es zu kalt für den Bestand von solchen Wesen sein. Dann wir alles wieder ganz finster und stille sein wie vordem.

Wie aber konnte ich auf solch absurde Gedanken kommen? Ich kam auch nicht darauf; ich kam nur darauf, daß man darauf gekommen ist und fand es seltsam, daß man so allgemein darauf gekommen ist. Sind es doch die Gedanken der ganzen denkenden Welt um mich. Wie sehr und um was sie zanken mag, darin reichen sich Philosophen und Physiker, Materialisten und Idealisten, Darwinisten und Antidarwinianer, Orthodoxe und Rationalisten die Hände. Es ist nicht ein Baustein, sondern ein Grundstein der heutigen Weltansicht, daß es so ist, wie ich sagte, daß es ist; glücklich, daß sie doch in etwas stimmt. Was wir der Welt um uns abzusehen, abzuhören meinen, es ist alles nur unser innerer Schein, eine Jllusion, die man sich loben kann, wie ich's noch jüngst gelesen; bleibt aber eine Jllusion. Licht und Ton in der äußeren, von mechanischen Gesetzen und Kräften beherrschten, zum Bewußtsein noch nicht durchdrungenen, Welt über die organischen Geschöpfe hinaus sind nur blinde stumme Wellenzüge, die von mehr oder weniger erschütterten materiellen Punkten aus dem Äther und die Luft durchkreuzen, und erst, wenn sie an den Eiweißknäuel unseres Gehirns, ja wohl gar erst, wenn sie an einen bestimmten Punkt desselben antreffen, sich durch den spiritistischen Zauber dieses Medium in leuchtende tönende Schwingungen umsetzen. Über Grund, Wesen, nähere Bestimmungen dieses Zaubers streitet man; über die Tatsache ist man einig; und von allen Denk- und Erkenntnistheorien, in denen die Philosophie sich eben jetzt erschöpfen und leeren will, als wollte sie noch eine Philosophie gebären, führt keine zu einem Zweifel an der Richtigkeit dieser Tatsache, es sei denn, um den Zweifel für unlösbar zu erklären oder die Welt in Stäubchen zu zertrümmern, die nur sich selber, aber nicht die Welt erleuchten.

Der natürliche Mensch wehrt sich jedoch gegen diese Weisheit. Er glaubt, daß er die Gegenstände um sich sieht, weil es wirklich um ihn hell ist, die Sonne nicht erst hinter seinem Auge zu leuchten anfängt, daß die Blumen, Schmetterlinge so bunt sind, als sie ihm erscheinen, die Flöten, Geigen ihm ihren Ton schenken, nicht umgekehrt von ihm empfangen, kurz, daß es ein Leuchten und Tönen durch die Welt über ihn hinaus und von draußen in ihn hinein gibt. Aber er läßt sich von der Wissenschaft belehren und glaubt nun umso klüger zu sein, daß er eine Jllusion weniger hat. Die Jllusion bleibt zwar und spottet seines Wissens wie dieses seiner Jllusion spottet. Was von beidem hat endlich Recht? Gewiß ist, daß die Jllusion nie weichen wird; steht das Wissen, daß es eine Jllusion ist, wohl eben so fest, und ist es nicht vielmehr selbst eine Jllusion? Braucht man doch das Sprichwort, daß Ehrlich am längsten währt, nur dahin umzukehren, daß, was am längsten währt, ehrlich ist, um es zu glauben. Naturam furca expellas, usque tamen redibit [Die Natur kannst du mit der Mistgabel vertreiben, aber sie wird stets zurückkommen. - wp], wird das nicht auch von der natürlichen Ansicht der Dinge gelten?

Ja müßte nicht jene nächtige Ansicht vor sich selbst erschrecken, wenn ihr der Spiegel vorgehalten wird, meinte sie nur gleich, sie sei es selbst, was sie darin erblickt; und muß doch bei einigem Besinnen jeden ihrer Züge darin wiederfinden. Aber wird sie mit solchen Zügen vor der Welt bestehen können, wenn diese ihrerseits anfängt, sich zu besinnen? Vielmehr, hätte sich die Welt die ganze Unerbaulichkeit dieser Ansicht, die ganze Unwahrscheinlichkeit derselben, die ganze Schwäche ihrer Gründe von jeher so klar dargestellt, als mir in jener Stunde, sie hätte nicht zu Weltansicht werden können. Nun ist Klarheit das Letzte in diesen Dingen, das Letzte wird aber auch die Klarheit sein.

In der Tat ist mein Glaube, daß, so sicher als auf die Nacht der Tag, auf jene Nachtansicht der Welt dereinst eine Tagesansicht folgen wird, die, statt sich in Widerspruch mit der natürlichen Ansicht der Dinge zu stellen, vielmehr damit unterbauen und darin den Grund zu einer neuen Entwicklung finden wird. Denn, schwindet jene Jllusion, welche den Tag in Nacht verkehrt, so wird natürlicherweise alles Verkehrte, was damit zusammenhängt, und es ist viel, mit schwinden müssen, und die Welt in einem neuen Zusammenhang, in einem neuen Licht, unter neuen positiven Gesichtspunkten erscheinen.

Damit das Licht über uns hinaus in aller Welt gesehen, der Schall gehört werde, muß es ein sehendes und hörendes Wesen dazu geben. Und hat man nicht schon sonst von einem Gott gehört, der in der Welt allgegenwärtig und allwissend waltet. Für die Nachtansicht aber ist seine Klarheit, wenn er überhaupt noch für sie ist, über den Dingen; darum die Welt unter ihm so finster, stumm und öde. Für die Tagesansicht ist die Welt von seinem Sehen durchleuchtet, von seinem Hören durchtönt; was wir selber von der Welt sehen und hören, ist nur die letzte Abzweigung seines Sehens und Hörens; und über allem, was er mehr als wir von der Welt sieht und hört, baut sich in ihm auch Höheres als in uns. - Der Nachtansicht nach braucht Gott keines Lichts, um zu sehen, keines Schalles, um zu hören, umgekehrt das blinde Licht, der taube Schall keines Gottes; und so kommt ihr leicht mit dem Einen das Andere abhanden und überwächst der Materialismus den Boden; indessen der Tagesansicht nach beides, was sich braucht, sich fordert und Eins das Andere hält; damit sinkt der Materialismus unter den Boden. - So ändert sich von der Nachtansicht zur Tagesansicht die ganze Stellung Gottes zu Welt; und wie sich das Verhältnis des allgemeinsten und damit höchsten Geistes zu Welt ändert, änder sich auch das Verhältnis aller Einzelgeister zu Gott und der Welt.

Man fragt verwundert: bist du so kühn, die heutige Weltansicht umstürzen zu wollen? Ist nicht das selbst, daß die Welt bei ihrem übrigen Widerstreit in ersten, letzten und höchsten Dingen doch einig in jener Ansicht ist, die dir beliebt, die Nachtansicht zu nennen, Beweis genug, daß sie darin mit Notwendigkeit über die natürliche Ansicht der Dinge hinausgegangen ist?

Es möchte sein, wenn sie nur nicht in allem, was mit dieser Ansicht zusammenhängt, uneins wäre. Also suche ich vielmehr den Grund, daß sie es ist, darin, daß sie in jener Ansicht einig ist. Zerstöre den Knoten, in dem Fäden zusammenlaufen und zusammenhalten, so bleibt allen die Lücke zwischen allen gemein; doch alle fallen auseinander; und wenn alle Welt durch einen fundamentalen Rechenfehler in dem Satz übereinstimmte, daß zweimal zwei fünft ist, so würden die verschiedensten vergeblichen und sich wechselseitig dafür erklärenden Versuche gemacht werden, die ganze Weltrechnung in Übereinstimmung damit zu bringen. In solchen Versuchen sind wir heute noch befangen.

Tritt in die Hallen der Philosophen, wo das Welträtsel sich mit seiner eigenen Lösung abquält. Was sieht du? Da streiten sich Dinge ansich, Ich und Nichtich, Kraft und Stoff, einfache Wesen, Absolutes, Begriff, Wille, Unbewußtes um den Namen dessen, was aus der Nacht und Stille heraus die Jllusion einer leuchtenden tönenden Welt, ja des Raums und der Zeit selbst, in uns erzeugen soll; und die Weisesten bieten für den Grund der Existenz, der, alles Scheines bar, alle Scheine wirft, doch eben nur jene Namen mit Bestimmungen, die aus der Scheinwelt selbst abstrahiert sind und toben damit gegeneinander; die Gottesgelehrten aber toben wider sie und sind selber nur enig in dem, was sich am meisten widerspricht.

Zu jener hadesgleichen Welt weisen sie auf einen zugleich allmächtigen, allweisen, allgütigen Gott, der mit unbedingter Freiheit eine Welt schaffen konnte, wie er wollte; und er schuf diese Welt voll Finsternis, voll Geschöpfe, die einander verschlingen, voll Krankheit, Mißwuchs, Wassers- und Feuersnot, Übel aller Art; und sie belehren uns, daß ein solcher Gott zu einer solchen Welt und eine solche Welt zu einem solchen Gott nicht passen wolle, sei nur teils Folge unserer Sünde, teils Fehler unserer niedrigen Erkenntnis. Denn obwohl allgegenwärtig und allwirksam, so daß ohne ihn kein Haar von unserem Haupt fällt, sei er doch viel zu hoch für uns, als daß wir etwas von ihm wissen können; umso fester aber haben wir an ihn zu glauben, und alle Widersprüche, die uns so erscheinen, und durch seine Unbegreiflichkeit zu erklären.

Die Naturforscher aber lachen dazu, wissend, daß sie allein es sind, die etwas wissen, und froh sind der sicheren Wege immer mehr zu wissen. In den Nerven haben sie die sicheren Zeichen und Mittel der Empfindung und im Gehirn das Instrument des Geistes, worüber hinaus die Welt keins hat, keins ist. Ob es zwar Schwingungen in Luft und Äther über die Nerven hinaus gibt, sie wissen, daß Schwingungen nur in phosphorhaltigem Eiweiß Empfindung bedeuten, und neigen dazu, die Psychologie als einen Zweig der Chemie zu betrachten: aus Kohle, Phosphor und Sauerstoff im Protoplasma kommt der Geist. - Mit dem Protoplasma, als gemeinsamen Urstoff von Nerven und Polypen, beginnt eine zweite Schöpfung, die der geistigen Dinge, mit der Erkenntnis des Protoplasma fiel der erste volle Lichtstrahl in die Wissenschaft dieser Dinge; und nachdem die Jünger der Natur verlernt haben, Gott als Schöpfer dieser Dinge anzubeten, beten sie das goldene Kalb des Protoplasma dafür an. - Das Auge scheint zum Zweck des Sehens gemacht, die Naturforscher wissen, daß es nur dazu gebraucht wird, ohne zu irgendeinem Zweck gemacht zu sein. - Bei Philosophen und Theologen treiben Freiheit und Notwendigkeit wie zwei umeinander kreisende Schmetterlinge ein unermüdliches Wechselspiel miteinander; die Naturforscher wissen, daß, wie alles in der Welt, auch Leben und Empfindung, einer unverbrüchlichen gesetztlichen Notwendigkeit gehorchen; die Welt über den Menschen und Tiere hinaus aber tot, empfindungslos ist, weil sie derselben Notwendigkeit gehorcht. - Die geistigen Pferde meinen, daß sie den Wagen der Materie ziehen; die Naturforscher wissen, daß sie vielmehr vom Wagen der Materie fortgeschoben werden.

Ist das nicht wörtlich das Tiefste und Höchste und in geistigen Dingen Exakteste der heutigen Weisheit, wovon jedes schon in sich und jedes mit dem andern streitet. Und all das fällt mit in jene große Lücke oder hängt so, daß man es verfolgen kann, damit zusammen.

Stolz auf diese Weisheit voll Torheiten sehen wir mitleidig herab auf die einfache bescheidene Torheit der Neger und Türken und meinen, vergangenen Jahrhunderten weit voraus zu sein, weil sie von diesen Torheiten noch einige weniger hatten. Aber stolzer könnten wir auf unsere Zündhölzchen sein, die noch fortfahren werden, uns zu leuchten, wenn alle jene Irrlichter der Nachtansicht erloschen und versunken sind.

Schon einmal hat die Weltansicht im Ganzen und Großen gewechselt, wird sie nicht noch einmal wechseln können? Obwohl ich vorblickend meine, sie wird es nicht dadurch, daß sie auf neuer Stufe die früheren negierend aufhebt, sondern daß sie in den erhabensten Gesichtspunkt der heutigen Weltansicht den dafür preisgegebenen Reichtum der früheren aufhebt; dazu aber wird gehören, daß sie jene Nachtansicht aufhebt.

Gedanken dieser Art waren es, die mich in flüchtigem Zug, sich immer mehr erweiternd und erhöhend, überkamen, als ich an jenem Morgen von der Bank ins Grüne blickte, nicht freilich damals zuerst, jedoch mit Triebkraft, überkamen.

Andern Tages von derselben Bank blickend, fiel mir zu allem Vorigen noch folgendes ein:

Mein Auge verträgt bei jedem Rückfall seiner Krankheit nicht Lesen einer nahen Schrift, nicht Sonnenschein auf der Straße, nicht Sonnenflecken in der Stube. Aber die große ferne Schrift der Firmen zu entziffern fühlt es als heilsame Übung; in je weitere Ferne es den Blick richtet, so mehr findet es sich erquickt, am meisten vom Blick in den reinen Himmel, also wendet es sich immer von Zeit zu Zeit dahin. "Womit vergleich ich das?" fragte ich mich; alles Sinnliche läßt sich doch als Symbol von etwas Geistigem fassen. Und ich meinte, die zugleich schönsteund wahrste Auslegung des Bildes liege darin, daß, wenn den Menschen die irdische Gegenwart und Nähe bedrängt, er seinen Blick nur in die Ferne und Höhe zu richten braucht, um Trost zu finden, einen umso sichereren, in je größere Weite und Höhe er ihn richtet. In der Tagesansicht aber fand ich, sie weiter überdenkend, auch den Blick für diese Ansicht geöffnet, indessen die Nachtansicht den Menschen bloß auf sie veweist; nur gilt es den Blick erst für die Tagesansicht zu öffnen.

Und noch eines Gedankens, den nicht der Schreibtisch erst geboren, und seiner Gelegenheit will ich einleitend zu dieser Schrift gedenken. Es war in Saßnitz am Meer, daß ich in den schönen Buchenwald gehen wollte, der von Saßnitz über die Waldhalle nach Stubbenkammer führt. Sie, die ein langes Leben mit mir gegangen, blieb, müde von den Gängen der vergangenen Tage und Jahre zurück und sagte: "ich lasse dich nicht gern allein gehen; du könntest dich verirren; ach, und wie wird es sein, wenn ich dich, in vielleicht nicht langer Zeit, ganz allein gehen lassen muß". "Wer weiß es, sagte ich, ob du mich oder ich dich; aber laß uns nicht daran denken". Doch dachte ich daran, als ich allein in den Wald ging; dachte der unendlichen Liebe und Treue, die mich durch so lange Jahre geleitet hat. Die Buchen strebten himmelan, der blaue Himmel wölbte sich darüber, die Sonne warf ihre blitzenden Scheine hinein und vom Meer her ging ein Rauschen durch den Wald. Es war wie ein großer Akkord aus Himmel, Erde und Meer, der innerlich mit anklingen und in Gedanken der Tagesansicht ausklingen wollte. Aber die Gedanken des Herzens wehrten sich dagegen; ich dachte: kann deine Tagesansicht mit allen ihren hohen, weiten, lichten Ansichten und Aussichten auch nur dein eigenes Herz in diesem Augenblick befriedigen, und wozu dann ihre Ansichten und Aussichten, wenn sie das nicht kann, für niemand kann, es niemals kann. Sich eins mit dem andern Herzen fühlen, das ist die Befriedigung des Herzens; dazu braucht es überhaupt keine Weltansicht und das kann sein trotz jeder Weltansicht; wie überall Platz für zwei Hütten aneinander ist, mag es in der Welt ringsum aussehen wie es will. - Aber alsbald erhob sich über dieser Stimme eine andere Stimme. Darf denn das Herz im Menschen allein seine Befriedigung wollen, besteht er doch nicht bloß aus seinem Herzen; und hat die Tagesansicht mit ihrem Blick ins Weite, Hohe und Lichte nicht auch dem Herzen eine Befriedigung zu bieten? Nicht eine solche gar, die über die nächste, die es für den Augenblick verlangt und vermißt, hinausreicht. Über der Befriedigung, sich eins mit einem andern Menschenherzen zu wissen, das unsere Leiden und Freuden zu den seinen hat, schwebt, nicht streitend damit, sondern schützend und schirmend, die Befriedigung, sich eins mit einem Wesen wissen, das die Leiden und Freuden aller seiner Geschöpfe, damit auch die zweier einander treuen Herzen, zu den seinen hat; und ist das nicht der Gott der Tagesansicht. Zwei Herzen aber, die jetzt eins sind, möchten es immer sein; und fürchtest du, daß der Tod die Bande, die jetzt eins an das andere knüpfen, zerbrechen wird, so ist es die Furcht der Nachtansicht; der Tod in der Tagesansicht sprengt vielmehr die Bande, die jetzt beide noch voneinander trennen.

Und geht uns nicht die Welt selbst ringsum mehr zu Herzen und ist mehr nach unserem Herzen, wenn die Sonne ihren Glanz, der Himmel sein Blau, das Meer sein Rauschen uns treulich mit vertraut, die Buche, ehe die Axt sie fällt, um uns zu wärmen, erst aufwärts strebt, um selber Licht und Wärme zu genießen, als wenn uns all das aus der Welt nur anlügt, wie die Nachtansicht es lügt. Zur Wahrheit, die der Geist verlangt, verlangt das Herz nach Schönheit; kann es aber eine schönere Welt geben, als worin die Schönheit selber zur Wahrheit wird. Und wird sie es auch nach der Tagesansicht nur ganz in Gott für Gott, der alles sieht und hört, so hat doch, wer in seinem Sinne sieht und hört, sein Teil daran. Mit diesen Gedanken gab sich das Herz zufrieden und wird sich jedes Herz zufrieden geben können, was die Gedanken der Tagesansicht zu den seinen macht.

Was in dieser Schrift nachfolgt, ist nur die Ausführung der vorigen Gedanken, eine kürzere nach den Hauptzügen in diesem ersten, eine weitere nach einigen Hauptpunkten im zweiten Teil der Schrift.


II. Historischer Gesichtspunkt

Nun aber, die Nachtansicht besteht einmal, und kann man sie schon sich und andern dadurch verleiden, daß man sie nur klar in das Auge faßt, so gilt es doch erst, ihre Gründe eben so zu fassen, um sie auch zu verwerfen. Gründe derselben aber, mindestens Entstehungsgrüne, muß es doch geben, sind es auch deshalb noch keine Rechtfertigungsgründe. Welches können sie sein?

Zwar, für die gegenwärtige Welt ist es nicht not, erst noch nach Gründen der Nachtansicht zu fragen; sie besteht, weil sie so lange bestanden hat. Wir gleichen heutzutage jenen Käferarten, die von jeher in finsteren Höhlen lebten, deren Vorfahren schon darin lebten; sie haben keine Augen mehr für das Licht; mag es hinzudringen, sie sehen nichts davon, und sähen sie einen Schein, er führte sie nur irre. Der, in den finsteren Höhlen der Nachtansicht erwachsenen, heutigen Welt ist die Tagesansicht ein solches Licht; vergeblich alle Gründe, daß es scheint; willst du aber Gründe hören, daß es nicht scheint, so wirst du nur solche hören, die aus der Nachtansicht erst folgen. Das ist ansich leicht weggefegte Spreu; aber ob man diese Spreu wegfegt, man fegt damit den Boden, der sie getragen hat und immer wieder trägt, nicht weg. Ich sinne dem tieferen Grund nach, der die Welt bestimmen konnte, sich zu einer solchen Ansicht zu entschließen, und Folgerungen derselben mit Gründen derselben zu verwechseln.

Da liegts, das ist der allgemeinere und tiefere Grund der Nachtansicht. Um Gott von der heidnischen Zersplitterung in die Welteinzelheiten zu retten und über deren Niedrigkeit zu heben, hat ihn die Theologie, in Widerspruch zwar mit Sprüchen ihrer eigenen Quellen und immer von Neuem sich selber widersprechend, von der Welt abdestilliert, hat die Götter in dienende Engel verwandelt, auch diese über die Sterne erhoben. Und nun ist die, nicht nur entgötterte, sondern aus Gott mit einer Gabe mechanischer Kräfte entlassene ja sündhaft von ihm abgefallene, Welt als  caput mortuum  [wertloses Überbleibsel - wp] für die Messungen und Experimente der Physiker, für die Lukubrationen [künstlichen Erleuchtungen - wp] der Philosophen, und für die Scheltworte der Theologen zurückgeblieben. So hat das göttliche Bewußtsein seinen Inhalt von Unten, die sinnliche Erscheinung ihren Zusammenhalt von Oben verloren, jenes ist bis ins Unfaßliche verflüchtigt, dieses bis auf einige Reste geschwunden.

Eine solche Ansicht der Dinge aber, welche das Dasein in seiner Mitte spaltet, den Weltinhalt aus seinem Gefäß schüttet und damit verschüttet, kann nicht die letzte sein, wie sie auch nicht die erste war; vielmehr ist's nach der ersten halben die zweite halbe, in die wir geraten sind; die Welt wird aber einst die ganze volle wollen, die nicht sowohl in äußerer Ergänzung der einen durch die andere, als in Erfüllung der einen durch die andere, Gipfelung der einen durch die andere liegt; und als solche bietet sich die Tagesansicht dar.

In der Tat, von vornherein war die heidnische Ansicht, welche Körperliches und Geistiges noch so wenig außer dem Menschen als im Menschen zu scheiden und zu unterscheiden weiß, die natürlichste Ansicht der Dinge. Kein König so mächtig, prächtig und wohltätig als die Sonne, ein Baum nicht minder nur anders lebend, wachsend, sterbend als ein Mensch. Wo jetzt nur, wie unsere Weisen sagen, seelenlos ein Feuerball sich dreht, lenkte damals seinen goldenen Wagen Helios in stiller Majestät; eine Dryas [Baumnymphe - wp] lebt in jedem Baum und was im Sinne der Nachtansicht nie empfinden wird, empfand. Wenn schon nicht überall gleich entwickelt und mythisch ausgeschmückt, ist dies die Weltansicht, womit wir alle Völker, auf deren unentwickelten Zustand wir noch heute einen Blick werfen können, beginnen sehen. Aber das ist eben erst die eine, sagen wir die untere, Hälfte der vollen Ansicht. Der natürliche Mensch sieht von der Natur doch immer auf einmal nur Bruchstücke, und faßt die selbständig scheinenden auch selbständig ins Auge; die Einigung aller im All und die Klarheit über ihr Verhältnis zum All entgeht ihm; und das ist es, was die Tagesansicht als volle und ganze über die heidnische Ansicht hinaus hat und hinzuzubringen hat. Sie faßt mit den unverlorenen Stücken auch den Zusammenhang der Stücke in das Auge, und je nach dualistischer oder monistischer Fassung durchdringt und erfüllt sich für sie die Welt mit einer einheitlichen göttlichen Wesenheit oder hebt sich ganz und geradezu in eine gemeinsame Einheit damit auf.

Die christliche und islamitische Lehre hat über die heidnische Auffassung hinausgeführt; aber statt sie bis zur einheitlichen Spitze fortzuführen und darin abzuschließen, sie einfach weggeworfen. Einen zu bereichern unter Allen mußte jene Götterwelt vergehen. Sie hat unter einer obersten Stufe, die sie festgehalten und hoch in die Luft erhoben, alle niedern weggezogen und damit in die Nacht der Nachtansicht versenkt. Die Tagesansicht aber hebt sie wieder an den Tag, baut sie der obersten Stufe unter und mißt nun die göttliche Höhe an der Höhe der ganzen Treppe. Und das wollte ich damit sagen, daß es einer künftigen Weltansicht, wofür ich die Tagesansicht halte, beschieden sein werde, den Reichtum einer früheren Weltansicht in den erhabensten Gesichtspunkt der heutigen aufzuheben. Dabei werden freilich Mythen der einen und Dogmen der andern fallen müssen, womit sich jede zur ganzen zu ergänzen, zur vollen zu erfüllen versucht hat, ohne doch damit den Verlust der andern zu ersetzen.

Ein Pendel schwingt erst nach einer Seite, hebt schwach damit an, die Schwingung wird allmählich stärker, reißt alles mit sich fort in ihrer Bahn, erlahmt wirder, stockt endlich; und das Pendel denkt, eine Bewegung, die endlich stockt, kann nicht die rechte Richtung haben; also kehrt es um, hebt wieder schwach an, die Bewegung wird wieder stärker, reißt alles mit sich fort in ihrer Bahn, erlahmt und stockt endlich wieder; und so kommt das Pendel endlich zur Besinnung, daß beide Richtungen gleiches Recht haben; und nach welcher von beiden es fortan schwinge, es weiß in jedem Moment, die Schwingung ist erst mit der Erfüllung von beiden voll. So hat die Weltansicht nacheinander in zwei Richtungen geschwungen; die zweit ist dem Stocken wieder nahe und damit naht sich auch der Zeitpunkt der endlichen Besinnung.

Immer wird es eine Hypothese bleiben, wovon die Tagesansicht hier aus geht, obwohl sie auch einen anderen Ausgang nehmen könnte, daß die sinnliche Erscheinung über die Einzelgeschöpfe hinaus durch die Welt reicht; indessen es aber nicht minder eine Hypothese bleibt, worin die Nachtansicht wurzelt, daß die Welt finster und stumm zwischen den Einzelgeschöpfen ist. Aber die erste Hypothese ist ansich erbaulicher als die andere, stimmt besser mit der natürlichen Auffassung der Dinge, bietet mehr Anhalts- und Angriffspunkte zu einer weiten und hohen Entwicklung in positive Bestimmungen und läßt solche den Hauptzügen nach nur in einer einzigen Weise zu, indessen es die andere nur teils zu negativen, teils mehr oder weniger widerspruchsvollen Bestimmungen und streitenden Ansichten gebracht hat.

Das ist es, was ich im Folgenden zu zeigen suche, und das ist es, was der Entwicklung der Tagesansicht dereinst den Sieg über die Nachtansicht verschaffen wird, die, statt es zu einer Fortentwicklung zu bringen, sich nur immer mehr in sich selbst bis zum unausbleiblichen Verfall zerarbeitet.

Freilich die Aufgabe ist groß. Als Sankt CHRISTOPH ein Kind, das einst die Welt zu tragen bestimmt war, vorerst über den Fluß zum nächsten Ufer tragen sollte, erschwerte ihm das nicht seine Aufgabe, daß die Wellen gegen seinen Fuß anliefen und ihn zu hemmen drohten, sondern daß das Kind, je länger der Gang, umso schwerer für ihn wurde. So ist es nicht die zu durchwatende Flut leicht ins Meer der Vergessenheit verinnernder Einwürfe, was dem die Aufgabe erschwert, der die Tagesansicht, heute noch ein Kind, ans Ufer der Zukunft bringen will, sondern daß sie auf dem Weg dazu durch ihre wachsende Entwicklung seine Kräfte zu überwachen droht, indessen sie aber auch seine Kräfte dazu stärkt.


III. Grundpunkte beider Ansichten einander gegenüber

So viel Negationen und Widersprüche in der Nachtansicht zusammen- und von ihr auslaufen, so viele Positionen in und von der Tagesansicht aus. Ist beides wahr, daß die sinnliche Erscheinung über uns hinaus nicht bloßer Schein, sondern objektiv durch die Welt ausgebreitet ist und daß sie sich in einem einheitlichen Bewußtsein zusammenschließt und gipfelt; so ist auch noch anderes damit wahr. Hat doch der menschliche Geist an sinnlicher Erscheinung und Zusammenschluß derselben in einem einheitlichen Bewußtsein nicht genug; vielmehr welcher Stufenbau geistigen Lebens schiebt sich dazwischen ein; wieviel weniger kann der göttliche Geist daran genug haben, nachdem er in seiner Weite und Höhe den menschlichen selbst einschließt; denn das ist zu den beiden vorigen Hauptwahrheiten die dritte. Indem unser ganzes Sinnesleben vom allgemeinen übergriffen ist, ist es doch nicht aus seinem Zusammenhang herausgefallen, und so ist auch unsere Bewußtseinshöhe von der allgemeinen nur überstiegen, ohne daraus herausgefallen zu sein, unser  ganzes  bewußtes Leben also im allgemeinen mit beschlossen. Mit jedem Versuch, es anders zu fassen, durchlöchert, zerbricht oder entleert man den Geist der Welt, der zugleich die Welt des Geistes, aber in einheitlicher Zusammenfassung ist und zerreißt den Faden natürlicher Betrachtung. Wie der Körper des Menschen Teilwesen der ganzen äußerlich erscheinenden materiellen Welt ist, so der zu diesem Körper gehörige, sich selbst innerlich erscheinende, Geist des Menschen Teilwesen des nicht minder sich selbst erscheinenden geistigen Wesens, was zum Weltganzen gehört, und die Einheit des menschlichen Geistes nur ein untergeordneter Bruchwert der Einheit des göttlichen Geistes.

Auch erfüllt sich im Grunde damit nur das schöne Wort, dem die, die es so gern gebrauchen, doch keine Folge geben, zur folgenreichen Wahrheit: daß wir in Gott leben und weben und sind und er in uns und daß er um alle unsere Gedanken weiß wie wir selber. Kann das auch wohl ein Geist dem andern äußerlich gegenüber?

Schon meinte man, mit dem einigen Gott über das Heidentum hinaus zu sein; doch läßt man die Menschengeister als kleine Götzen neben Gott bestehen, unbekümmert, daß neben einem unendlichen Geist kein Raum mehr für endliche Geister bleibt. Abgefallene Geister bevölkern unter Gott die Hölle, endlich hat man es gar umgekehrt, und statt den menschlichen Geist im Verhältnis der Ein- und Unterordnung zum göttlichen zu denken, vergöttert man den menschlichen, indem man den göttlichen zu einer Jllusion im menschlichen macht.

Wohl hat es einen berühmten Philosophen und Theologen gegeben, der das Wesen der Religion in das Gefühl der Abhängigkeit von Gott setzte und doch Gott über uns hinausstellte als ein Wesen, von dem der Mensch nichts wahrhaft wissen kann, als daß es einig, unendlich, ewig ist. Wie aber kann ein inniges, warmes, herzliches, wirksames Gefühl der Abhängigkeit von einem Wesen zustande kommen, von dem man nichts weiß, als daß es Eigenschaften hat, die wir nicht haben und zu dem keine Brücke des Verständnisses führt. Wie ganz anders aber gestaltet sich das Gefühl der Abhängigkeit von Gott, wenn wir uns als wissende und wirkende, doch immer seinem höheren Wissen und Wirken untergeordnet bleibende Momente in Gott erkennen und fühlen. Damit aber, daß wir wissen, wir sind etwas  in ihm,  wissen wir auch etwas  von ihm,  und an dieses Wissen weiß sich anderes zu knüpfen.

Als wesentliche, sich wechselseits fordernde, bedingende und haltende Momente oder als Grundpunkte der Tagesansicht, worauf alle Entwicklung derselben zu fußen hat, und wozwischen sie sich zu halten hat, betrachte ich hiernach die Ausbreitung der sinnlichen Erscheinung durch die Welt über die Geschöpfe hinaus, den Zusammenhang und Abschluß derselben in einer höchsten bewußten Einheit und den dazwischen vermittelnden Gesichtspunkt, daß unser eigenes Bewußtsein dem ganzen, d. h. göttlichen, Bewußtsein zugleich ein- und untertan ist.

Demgegenüber betrachte ich als im Grunde ebenso verbindlich zusammenhängende Momente der Nachtansicht - nur daß sie sich dieses Zusammenhangs nicht leicht klar bewußt wird: die Nacht der sinnlichen Erscheinung über Menschen und Tiere hinaus, die Überhebung Gottes, falls noch an Gott geglaubt wird, über die sinnlich erscheinende und geschöpfliche Welt, und die äußerliche Gegenüberstellung des Menschen gegen Gott oder gar Überhebung des Menschen über Gott als einer bloß menschlichen Idee. Mit der Nacht der sinnlichen Erscheinung über Menschen und Tiere hinaus hängt dann das begriffliche Getriebe zusammen, was sich in diese Nacht einzubohren, ja sie zu durchbohren sucht, um damit hinter das Wesen der Dinge zu kommen; es ist ein Suchen des Grundes des Spiegelbildes hinter dem Spiegel.

Die Tagesansicht ist nicht eine unter anderen Ansichten, sondern steht mit ihrem positiven Ausgangspunkt, Inhalt und Abschluß als  eine  allen gegenüber, die sich in der Nachtansicht als der gemeinsamen Wurzel von Negationen und Widersprüchen begegnen. Ebensowenig ist die Nachtansicht eine unter anderen Ansichten; sie ist überhaupt weder eine einheitliche noch positive Ansicht; man kann sie nur mit  einem  Namen nennen, als wenn sie  eine  Sache wäre, wie man von einem Geist, der verneint, Gott gegenüber spricht, indessen es als Einen und Einigenden bloß dem positiven Gott gibt. Auch treffen die obigen Grundpunkte der Nachtansicht, obschon im Wesen zusammenhängend, nichts weniger als überall zusammen; da sich ihre unerbaulichen Konsequenzen nur durch Inkonsequenzen heben, wie Schulden ohne Vermögen nur durch Schulden, die wachsen, statt abzunehmen, bezahlen lassen. Ganz ohne Gesichtspunkte der Tagesansicht geht es etwa nur bei den krassesten Materialisten und Sozialdemokraten.


IV. Entwicklungsprinzipien der Tagesansicht

Die drei festen Grundpunkte der Tagesansicht sind, wie sie selbst unter sich zusammenhängen, zugleich Ansatz- und Anhaltspunkte einer in sich zusammenhängenden und in sich einstimmigen Entwicklung. Den Kern und Keim, gleichsam das  punctum saliens  [der springende Punkt - wp], dieser Entwicklung bietet jener zwischen Oben und Unten vermittelnde Gesichtspunkt, daß unser Gegenüber gegen Gott nicht ein äußeres, wie das des Teils gegen den Teil, der Stufe gegen die Stufe, sondern ein inneres, wie das des Teils gegen das Ganze, der Stufe gegen die Treppe, ist. Denn hiernach ist Gottes Wesen uns nicht mehr ganz faßlich; wir selber sind ein Hauch, ein kleiner Bruchteil, eine kleine Stufe und Probe davon. Nicht nur vom Bestand, sondern auch von den inneren Verhältnissen des göttlichen Wesens ist uns damit in unseren eigenen inneren Verhältnissen etwas unmittelbar zugänglich; und von hieraus stehen erweiternde und steigernde Gesichtspunkte zu Gebote, nicht zwar, Gottes Dasein zu erschöpfen, aber in der Erkenntnis seiner Daseinsweise und seiner Beziehungen zu uns und allen Geschöpfen weiter vorzudringen und höher aufzusteigen, Gesichtspunkte der Verallgemeinerung, Analogie, des Zusammenhangs, der Auseinanderfolge und Abstufung. Mit den Schlüssen auf die göttliche Daseinsweise aber hängen solche auf unsere jenseitige Daseinsweise zusammen, sofern unser jetziges Dasein selbst nur ein Teil, eine untere Stufe unseres ganzen in Gott beschlossenen Daseins ist und seine Fortsetzung darin zu suchen hat. Und nachdem die ganze Welt über uns hinaus zur göttlich beseelten geworden ist, erweitert sich auch der Kreis und erhöht sich der Stufenbau individuell beseelter Wesen über uns hinaus und hinauf.

Freilich solange die Nachtansicht noch auf der Welt lagert, gelten alle solche Betrachtungen und Schlüsse, die ganze neue, weite und hohe lichtbeschienene Welt, die sich dadurch anstelle früherer Phantastereien, Mythik und Mystik eröffnet, selbst für solche, weil sich auf dem Grund der Nachtansicht nichts davon bietet, mit ihren abstrusen Gangweisen nichts davon stimmt. Hab ich's doch erfahren, und werd' es noch erfahren. Aber Geduld, sie werden ihre Zeit finden; es ist nur noch nicht Tag.

Jene Weisen, von uns aus über uns hinaus zu schließen, sind im Grunde nur dieselben, mit denen wir überall vom Hier aufs Dort, vom Heute aufs Morgen schließen und womit alle Erfahrungswissenschaft vom Gegebenen aufs Nichtgegebene schließt. Wer freilich mag leugnen, daß sie einzeln genommen umso unsicherer werden, je weiter hinaus und höher hinaus sie vom Gegebenen aus ins Nichtgegebene führen. Also läßt die Nachtansicht sie nach den ersten Schritten fallen, um nur noch zu fordern und auf Nichts zu fußen; wogegen die Tagesansicht, was den einzelnen an Sicherheit abgeht, durch die Zusammenstimmung aller und die Zustimmung praktischer Gesichtspunkte zu ergänzen sucht, um hiermit da, wo kein strenges Wissen möglich ist, demselben doch so nahe als möglich zu kommen. Als fest im Sinne der Tagesansicht aber hat nur das zu gelten, was widerspruchslos mit den Grundpunkten zusammenhängt und wozu die Gesichtspunkte von allen Seiten stimmen; das ist aber gerade das Allgemeinste und Wichtigste.

Hiernach wird die Tagesansicht zwar noch in ihrem Aus- und Aufbau schwanken, doch nicht ins Unbestimmte zerfahren können, wenn sie nur wie eine zwar biegsame doch an beiden Endpunkte und in der Mitte festgehaltene Linie ihre drei Grundpunkte als feste Haltepunkte festbehält. Es werden auf dem Grund der Tagesansicht neue Fragen entstehen, die sich auf dem Grund der Nachtansicht gar nicht darbieten, und neue Rätsel, die noch der Lösung harren, aber eben nur solche, welche aufgrund der Ansicht entstehen können, nicht solche, welche sie untergraben. Es werden sich danach neue Sekten und Spaltungen bilden können, doch keine bis in den Grund und bis zur Spitze reichenden Zerspaltungen. Die Philosophie wird mit dem Ausblick in die Tagesansicht auf einen neuen Boden treten und neue Wandlungen beginnen, ihre Streitigkeiten auf dem alten Boden der Nachtansicht aber mit dieser selbst versinken. Die Naturwissenschaft wird ihre bisherigen sicheren Wege in Durchforschung der materiellen Welt fortgehen, aber sich dem darüber aufsteigenden Glauben in geistigen Dingen vielmehr unterbauen als dagegen setzen. Die Theologie endlich wird zu ihrem Glauben auch Prinzipien des Glaubens in der Tagesansicht finden.

Alles Allgemeinste, Höchste, Letzte, Fernste, Feinste, Tiefste ist überhaupt seiner und unserer Natur nach Glaubenssache. Daß die Gravitation durch die ganze Welt reicht und von jeher gereicht hat, ist Glaubenssache; daß überhaupt Gesetze, durch's Endliche verfolgt, in's Unbegrenzte von Raum und Zeit reichen, ist Glaubenssache; daß es Atome und Undulationen des Lichts gibt, ist Glaubenssache; der Anfang und das Ziel der Geschichte sind Glaubenssache; sogar für die Geometrie gibt es Glaubenssachen in der Zahl der Dimensionen und den Sätzen für die Parallelen. Ja, streng genommen, ist alles Glaubenssache, was nicht unmittelbar erfahren ist, und was nicht logisch feststeht. Ein jedes Wissen um das was ist, setzt sich fort in Glauben und muß sich darin fortsetzen und endlich damit abschließen, damit es einen Zusammenhang, einen Fortschritt und Abschluß des Wissens gebe. Doch kann ein Glaube besser gestützt und selbst besser sein als der andere. Der beste Glaube endlich der, der am widerspruchlosesten in sich, mit allem Wissen und allen unseren praktischen Interessen besteht und als solcher wird er auch die Zukunft für sich haben, indem er die Widersprüche zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen, die seither bestanden und ringsum bestehen, vielmehr versöhnt als teilt.

Also reichen auch alle Erfahrungsschlüsse nicht hin, die Tagesansicht in ihren höchsten und letzten Sätzen mit der Sicherheit des pythagoraischen Lehrsatzes abschließend zu begründen. Was an der letzten Sicherheit noch fehlt, ist Glaubenssache. Genug doch, wenn das, was noch Glaubenssache bleibt, in jener günstigsten Weise das, was sich wissen läßt, einerseits abschließend ergänzt, andererseits zu seiner Stütze behält.

Wie wenig gibt es überhaupt dessen, was wirklich erwiesen oder bewiesen ist, vom Wichtigsten sogar, woran wir uns zu halten haben. Was ist von der ganzen Religion bewiesen? nichts. Was auch nur davon, daß dein Bruder, dein Nachbar, dein Hund eine Seele hat? nichts. Oder daß dem, was du von einem Baum siehst, ein Baum draußen entspricht, daß die Sonne morgen wie heute aufgehen wird, daß ALEXANDER gelebt hat? Nichts von alledem ist in strengem Sinne bewiesen noch beweisbar; doch müssen wir an all' das und dergleichen glauben; wir leben, wohnen sozusagen ganz in einer Welt des Glaubens, können die nächsten und vollends die letzten Schritte nicht tun ohne Glauben. Also wären Prinzipien des Glaubens sogar wichtiger als des Wissens, wenn nicht zu den Prinzipien des Glaubens selbst gehörte, sich auf das Wissen zu stützen, soweit es reicht, nur nicht allein darauf zu stützen; doch liegt darin von den Glaubensprinzipien der Tagesansicht eins. Nun aber reicht das Wissen nirgends so weit, daß wir damit ausreichten; und so ist ein zweites Glaubensprinzip der Tagesansicht, zu glauben, was wir brauchen, wozu als drittes noch das historische Prinzip des Glaubens tritt. (1) An diesen Prinzipien hat man die Lehre der Tagesansicht zu messen, denn sie ist eben eine Glaubenslehre. Aber freilich, wie kann man sie danach messen, wenn man, statt Glaubensprinzipien überhaupt anzuerkennen, als Theologe im Glauben nur ein Geschenk von Oben, als Philosoph nur ein Prinzip der Unsicherheit sieht.

Der Nachtphilosoph verschmäht in der Tat prinzipiell den Glauben, will ihn durch das Wissen ersetzen, strebt nach absolutem Wissen. Nun haben sich ganze Berge absoluten Wissens nebeneinander mit ihren Gipfeln weit auseinander erhoben, alle in gewaltigen Geburtswehen begriffen, nur ist noch keine lebensfähige Maus daraus hervorgekommen. Und so sagt eine Maus dagegen: eine Maus kann absolut nichts als von sich selber wissen; zu wissen, daß man nichts als dies weiß, ist das einzige gewisse Wissen. Aber damit ist es nun eben bei der Maus geblieben.

In der Tat, wobei der Tagesphilosoph das Wissen, daß dem Menschen ein unmittelbares Wissen nur von sich selber möglich ist, zum  Ausgangspunkt  alles vermittelten Wissens und darauf gestützten Glaubens macht, sucht die Nachtphilosophie dem Wissen das Auslaufen in den Glauben teils dadurch zu ersparen, daß sie diesen Ausgangspunkt ganz aufgibt, um das Wissen nur von absoluten Standpunkten aus zu entwickeln, die vom an sich selbst Gewissen nur zum Gewissen führen, bisher doch bloß zum Streit darüber geführt haben, teils daß sie sich in diesem Ausgangspunkt ganz einsperrt, um sich nur in die, das Ding ansich nichts angehenden, Formen des Menschengeistes zu vertiefen,  wobei der Mensch doch selbst ein Teil des Dings ansich ist.  Insofern sie aber den Glauben praktisch braucht, läßt sie ihn auch nur aus praktischem Gesichtspunkt neben dem Wissen oder als Korrektiv seiner Trostlosigkeit und Leere, nicht als Fortsetzung und Vollendung des Willens, gelten. Dergestalt unvermögend, sich in der Philosophie recht zusammenzufinden, haben sich Glauben und Wissen in Theologie und Naturwissenschaft vollends mit dem Erfolg geschieden, daß die eine die Natur aus Gott, die andere Gott aus der Natur ganz ausgeschieden hat. Der letzte Erfolg von all dem aber ist, daß keine von den dreien mit der andern, und die Philosophie am wenigsten in sich selbst zufrieden ist.

Sollte ich demnach der heutigen Philosophie ein Standbild errichten, so würde ich sie als PENELOPE darstellen, in doppelter Hinsicht. Einmal insofern, als sie ihr selbstgewebtes Gewebe auch immer selber wieder auflöst, und dann, weil sie viele Freier hat, von denen sie noch keiner heimgeführt hat. Sie zechen miteinander, treiben Kampfspiele miteinaner ohne einander tot zu machen, und warten auf den Tag, der alle zusammen erlegt.

Und hältst du dich denn mit deiner Tagesansicht einer Welt gegenüber für den allein Weisen? Abr wie sollte der Tag die Kraft haben, die Nacht zu überwinden, wenn er sich zu bescheiden dazu fühlte?

Doch gebe ich es jeder Kritik Preis, daß hier die ganze heutige Weisheit von allgemeinsten, höchsten und letzten Dingen in den einen Topf der Nachtansicht zusammengeschüttet wird, um sie in eins wegzuschütten. War nicht zuvor viel Gutes herauszulesen? Aber wie ließ sich über der Arbeit des Herauslesens der Topf im Ganzen handhaben. Und was tut's; das Gute geht nicht deshalb unter, daß es mit weggeschüttet wird, sondern findet sich von selber wieder in den neuen Topf mit ein.

Noch Eins. Überall begegnet sich die Tagesansicht mit der Frage über den Zusammenhang zwischen materiellem und geistigem Gebiet, Leib und Seele, geht aber, statt von irgendeiner, selbst noch fraglichen, Lösung der Frage nach Grund und Wesen dieses Zusammenhangs, vielmehr von fraglosen Tatsachen der Beobachtung in und an uns selbst aus und verallgemeinernd, erweiternd, steigernd darüber hinaus nach Maßgabe als das Gebiet der Betrachtung sich verallgemeinert, erweitert, steigert, um damit zu den kleinen Tatsachen in uns die damit zusammenhängenden größeren über uns hinaus zu finden. Nur um diese ist es ihr zu tun, mag man dann die größeren über uns hinaus wie die kleineren in uns selber deuten. Wogegen das vielköpfige Ungeheuer der Nachtphilosophie von den Gedanken ihrer vielen Köpfe über die Frage nach Grund und Wesen jenes Zusammenhangs ausgeht, und daher auch nicht darüber hinausgekommen ist.

Gibt es zwei Elektrizitäten oder nur eine? Wollte man von dieser Frage und ihrer Entscheidung aus in die Elektrizitätslehre hineinkommen, man würde nicht weit oder vielmehr zu gar nichts kommen. Hingegen hat sich die Elektrizitätslehre zwar nicht ohne die Frage, aber weder aufgrund der Frage noch ihrer Entscheidung - vielmehr ist die Frage noch heute nicht entschieden - entwickelt, und ist damit vom leinen Bernsteinstücken, was Spreublättchen anzog, zur Elektrisiermaschine, galvanischen Säule, dem Blitzableiter und dem Telegraphennetze, was die Erde umspannt, gelangt. So kann die Tagesansicht die Frage, ob Geist und Materie, Leib und Seele im Grunde nur  ein  Wesen oder zweierlei Wesen sind, vorerst unentschieden lassen, und doch Tatsachen, die unabhängig von dieser Frage sind, nach Erfahrungen und Erfahrungsschluß verfolgen. Und so stellt auch dieses ganze Buch die Frage, ob Dualismus oder Monismus, dahin, um nur in einem der letzten Abschnitte in einige Betrachtungen darüber einzugehen, die man entscheidend finden mag oder nicht; weder die Grundpunkte noch Folgerungen der Tagesansicht werden wesentlich davon betroffen.
LITERATUR - Gustav Theodor Fechner - Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht, Leipzig 1879
    Anmerkungen
    1) Diese hier nur kurz berührten, drei Prinzipe sind bestimmter ausgedrückt in Abschnitt IX, ausgeführt und in Folgerungen entwickelt in den "drei Motiven und Gründen des Glaubens."