cr-2tb-1H. RickertE. HerrigelG. PatzigG. Oakes     
 
ARTHUR LIEBERT
Der Anthropomorphismus
in der Wissenschaft


"Zeigt nicht das fortschreitende Eindringen in das Wesen des Erkennens, daß die Forderung nach einer naiven Hingabe an die Dinge und ihres getreuen Reproduzierens im Geist ein Mißverstehen der Natur und des unvergleichlichen Eigenwertes des Wissens ist? Schon auf den ersten Blick läßt sich einsehen, daß alle Erkenntnis ohne Ausnahme in der Subjektivität des Erkennens begründet sein muß, daß sie in dieser Subjektivität ihre Wurzel besitzt."

"Der Vorwurf, daß alle erkenntnistheoretischen Versuche in der  Empfindung  ein irrationales, durch die Verstandesformen nicht restlos zu bemeisterndes Konglomerat anerkennen und so die Aussichtslosigkeit einer rein rationalen Begründung der Wissenschaft zugeben müssen, wird allgemach zum Verstummen kommen. Die  Empfindung  bedeutet gar keine Instanz und kein Problem der Logik und der Erkenntnistheorie. Vor dem Tribunal der Psychologie hat sie sich auszuweisen."

"Sobald man auf dem Feld technisch-praktischer Arbeit, auf dem man sich doch den objektiven Bedingungen und Eigenarten der Natur anpassen muß, gleichsam die Probe auf das Exempel macht, sobald man einen mathematisch-physikalischen Bauplan aus der Region theoretischer Darstellung in das Gebiet technischer Bemeisterung überträgt, sobald man einen Rechnungsentwurf zur praktischen Ausführung bringt, zeigt sich das gesetzliche Verhalten der Natur in voller Klarheit. Man würde ja keine Maschine, keine Brücke, kein Haus, keinen Tunnel bauen können, wenn die Natur in ihrem objektiven Bestand ein regelloses, wüstes Chaos bildete, wenn in ihr und ansich nicht Gesetze vorhanden wären."

Mustert man die Bezeichnungen, die zur Charakteristik des modernen Wissenschaftsbetriebes von Vertretern der verschiedensten Disziplinen zitiert werden, so wird man wohl auf keine häufiger treffen als auf die Bezeichnung der Objektivität. Mit diesem Wort sollen das Prinzip und das Programm aller wissenschaftlichen Bestrebungen umschrieben werden. Wie man schließlich nach langem Ringen gelernt hat, mit freien, offenen Sinnen und wachem Geist dem Tatsächlichen ins Auge zu blicken, so soll auch fortan keine Beeinträchtigung dieses Standpunktes gewagt und geduldet werden. In dieser aller historischen Atavismen [Rückschläge - wp], aller ererbten und anerzogenen Vorurteile, aller traditionellen Gesichtspunkte ledigen Stellungnahme soll die Freiheit und die Autonomie des menschlichen Geistes wurzeln. Was der Begründer des Empirismus und Positivismus in der modernen Philosophie, was FRANCIS BACON in kühnem Trotz fordert: alle Abhängigkeiten von der Geschichte, der Sprache, dem Milieu abzuschütteln, die "Idole" zu zertrümmern, das soll bis zur Stunde und für alle Zeiten unbedingte Gesetzeskraft für jeden Forscher und Denker haben. Der Durchbruch aus all den irreführenden Bewußtseinssubjektivitäten zu einer unvoreingenommenen, adäquaten Anschauung der Dinge, zu einer unbeeinflußten, von objektivem Erkenntnisstreben geleiteten Operation in und mit der Wirklichkeit wird zum Grundmotiv, ihre Durchführung zum Grundthema der Wissenschaft erhoben.

Offenbar unterscheidet sich die Arbeit des modernen Geistes in seiner methodischen Unterdrückung aller theologisch-anthropomorphisten Vorstellungen und Einbildungen von jener befangenen, durch nebenwissenschaftliche Gesichtspunkte gegängelten Art, wie sie der Scholastizismus geübt hat und wie sie von den auf diese Anschauung eingeschworenen Geister weiter befolgt wird. Und auch das muß anerkannt werden, daß da, wo eine Ungunst der wissenschaftlichen Arbeitsquellen der Forderung nach reiner Objektivität die Befriedigung versagt - man denke z. B. an die Unzuverlässigkeit und an den heillos fragmentarischen Charakter mancher Geschichtsdokumente - daß selbst da wenigstens das  Streben zur Objektivität  die Richtschnur abgibt.

So wird es dann als das Kardinalgesetz der wissenschaftlichen Arbeit ausgerufen: In voller Unabhängigkeit und Lauterkeit, in voller Voraussetzungslosigkeit und absichtslosigkeit ein System des Wissens zu erbauen, dessen psychologischer Beweggrund in der intellektuellen Wahrhaftigkeit und dessen Resultat in uneingeschränkter Objektivität besteht.

Gewiß, nicht zuliebe und nicht zuleide einem Dogma, in der historischen Auffassung dieses Begriffs, soll der Mensch forschen. Was bei einer solchen Arbeit, die im Dienst einer bestimmten Lehrverfassung steht, gewonnen wird, darf nicht den Kredit einer ernsten Wissenschaft in Anspruch nehmen: Trägt sie doch ihre Direktiven nicht in sich selbst. Sie gleicht, mit einem Wort SCHOPENHAUERs, einem Hund an der Kette. Sie ist mit äußerlichen Nebenabsichten verquickt, die so fein versteckt sind, daß man oft ihren Einfluß bei der Beweisführung kaum bemerkt und deren erschlichene Bewährung als die unvermeidliche Konsequenz des Denkens aufgetischt wird. Eine solche Wissenschaft ist im tiefsten Sinne heteronom.

Wenn nun aber in den hier niedergelegten Betrachtungen die Unausführbarkeit jener oben mehrfach erwähnten Forderung mit einigen Strichen gekennzeichnet werden soll, so mag zuerst der Verdacht zurückgewiesen werden, als ob wir wieder in das dogmatisch-scholastische Fahrwasser einmünden sollten; als ob wieder gewisse Dogmen, mögen sie eine noch so gute psychologische Begründungen für sich vorbringen, die Direktiven erteilen und die methodischen Dispositionen gewährleisten sollten. Jene Dogmen haben ihr Leben darin, daß sie sich als die sakrosankten Fixierungen eines objektiv-transzendenten Wahrheitsgehaltes geben. Vor dem Richterstuhl erkenntniskritischer Durchleuchtung erweisen sie sich als ein trübseliges Gemisch aus Wissen und Glauben, und ihr Rechtsanspruch wird zwischen dem Tribunal der Logik und dem der Metaphysik hin- und hergeschoben.

Und doch erscheint jene Forderung, in reiner Unabhängigkeit Wissenschaft zu treiben, seltsam und unklar. Seltsam: in einer Zeit umfangreichster historischer und psychologischer Forschung und Analyse. Unklar: in einer Zeit scharfsinnigster erkenntnistheoretischer Untersuchungen. Denn wie umstritten auch gewisse Einzelpunkte dieser Wissenschaft sein mögen, so ist man sich doch in den Kreisen kompetenter Denker einig über die Unmöglichkeit einer völligen Enthobenheit und Befreitheit von den Grundbedingungen und apriorischen Voraussetzungen des Bewußtseins, des erkennenden Subjekts. Wer sich jedoch mit diesem Reinergebnis der Erkenntnistheorie nicht genau vertraut gemacht hat und wer seine unvergleichliche Bedeutung für die Einsicht in das Wesen des menschlichen Erkennens und die Art, wie man die Wissenschaft zu begründen vermag, nicht genau durchdacht hat, der begreift nicht die Trivialität und Aussichtslosigkeit jenes Postulates, das in der Ablehnung des "Subjektivismus", "Anthropomorphismus" und der "Anthropozentrizität" einen Haupttrumpf auszuspielen meint. Ist nicht BACONs Forderung,  nichts  soll vom Verstand antizipiert,  alles  aus den Dingen selbst geschöpft werden, ist nicht sein Verlangen nach einer  interpretatio naturae sine anticipationes mentis  eine blanke Jllusion? Die Auffassung, daß die Seele "ein Blatt weißes Papier", eine  tabula rasa  sei, die die Eindrücke der Außen- und Innenwelt passiv in sich aufnimmt und nur die einzelnen "ideas" zu Reihen vergesellschaftet, sollte eigentlich durch die spätere philosophische Entwicklung zu stark diskreditiert sein, um noch Vertreter zu finden. (1) Schiebt sich nicht, elementar gesprochen, zwischen dem zu erkennenden Objekt und der Vorstellung des Objekts der menschliche Erkenntnisapparat als das Organ der Erkenntnisvermittlung ein? Und wird nicht auch die objektive Erkenntnis in ihrer Eigenart mitbedingt sein durch die Eigenart des Erkenntnisapparates? Wird sich die Objektivität anders und besser rechtfertigen und begründen lassen als durch die Prinzipien, welche alle Erkenntnisse allererst ermöglichen? Wenn dem aber so ist, wird dann nicht die "Objektivität" bestimmt werden durch diejenigen Prinzipien, die gleichsam ihr Tragegerüst bilden? Der praktisch-utilitaristische Anthropomorphismus der Aufklärungszeit mag überwunden sein, obgleich auch er durchaus nicht so wesenlos geworden und abgestorben ist, wie man gemeinhein annimmt. Kann aber auch der Anthropomorphismus in einem vertieften Sinn der intellektualistischen Abhängigkeit unserer Wissenschaft von ihren theoretischen Bedingungen und Voraussetzungen als eine abgetane Größe mißachtet werden? Zeigt nicht das fortschreitende Eindringen in das Wesen des Erkennens, daß die Forderung nach einer naiven Hingabe an die Dinge und ihres getreuen Reproduzierens im Geist ein Mißverstehen der Natur und des unvergleichlichen Eigenwertes des Wissens ist? Schon auf den ersten Blick läßt sich einsehen, daß alle Erkenntnis ohne Ausnahme in der Subjektivität des Erkennens begründet sein muß, daß sie in dieser Subjektivität ihre Wurzel besitzt.

So hat die Wissenschaft von der Erkenntnis, d. h. die Erkenntnistheorie, Masche auf Masche in dem Netz nachgewiesen, mit dem der erkennende Geist das seiner Erkenntnis sich darbietende Sein einfängt. Und man hat weiter erkannt, daß es nicht ein bloßes Einfangen ist, bei dem dieses Netz und sein Inhalt ihre wesentlichen Eigenheiten bewahren. Es ist vielmehr ein radikales Umschmelzen, nicht etwa nur ein Zurechtbiegen im Sinne äußerer plastischer Formung. Es ist nicht ein äußerliches synthetisches Anordnen, als wenn der erkennende Geist gegebene Einzelstücke zu einem Ganzen, das als ein analoges Abbild des als Vorbild dienenden Naturganzen zu betrachten wäre, zusammenstellt. Es ist ein Umschaffen und Neuerzeugen von Grund auf, so daß jede reale Korrelation zwischen der Erkenntnis und dem erkannten Ding aufgehoben, jeder Glaube an irgendeine Übereinstimmung aus dem Feld geschlagen ist. Nur sensualistische Naivität und Voreingenommenheit kann sich nicht vom Aberglauben einer korrelativen Beziehung freimachen. Die kantische Erkenntnistheorie, d. h. die Gesamtheit derjenigen Theorien, die trotz aller Abweichungen im einzelnen doch den gemeinsamen Ansatzpunkt in der kritischen Philosophie haben, hat die Behauptung einer äußerlichen Gegensätzlichkeit des Subjektiven und Objektiven in der Form, als hätten wir es mit den beiden entgegengesetzten Polen einer realen Reihe oder Beziehung zu tun, in ihrer Absurdität aufgedeckt.

In einer kleinen Skizze sollen die Hauptstadien der allmählichen Zerbröckelung desjenigen Wahrheitsbegriffs, der in der adäquaten Übereinstimmung der Vorstellung mit dem Vorgestellten das entscheidende Kriterium fand, veranschaulicht werden.

Schon PLATON polemisiert gegen die Lehre, daß unsere Begriffe als adäquate Abbilder der empirischen Wirklichkeit zu gelten hätten. Es ist nach ihm ein Ding der Unmöglichkeit, die Begriffe als reine Abstraktionsresultate von sinnlichen Eindrücken aufzufassen. Die Begriffe bilden in ihrer festen Geschlossenheit und überindividuellen Geltung gegenüber der regellosen und unbeständigen Körperwelt eine Welt ganz eigener Natur. Wenn nun PLATON der irdischen Welt eine Welt der Ideen gegenüberstellt als das eigentliche Objekt philosophischer Erkenntnis, so hat doch auch der menschliche Geist von dieser Ideenwelt keine reine, adäquate Erkenntnis, da diese Reinheit und Adäquatheit immer durch irgendwelche sinnlichen Einflüsse getrübt und hintertrieben wird. "In Wahrheit scheint allein Gott weise zu sein." Damit sollte keineswegs ein wissenschaftlicher Relativismus oder Skeptizismus vertreten werden. Es sollte nur die "Abbildtheorie" außer Kraft gesetzt werden. Oder, um hier nicht für eine der historischen Deutungen der platonischen Ideenlehre mit einer unerwiesenen Entscheidung Partei zu ergreifen: PLATON erkannte in der Beziehung zwischen einem Begriff und seinem Erkenntnisgebiet ein Problem. Und in immer neuen Bemühungen strebt die wissenschaftliche Reflexion über die menschliche Erkenntnis zu einer endgültigen Klärung dieses Problems. Sie hat die Relation, die zwischen dem Denken und dem Sein obwaltet, kritisch als eine Grundkraft beleuchtet, die das Objekt in seinem vermutlichen Bestand radikal verschiebt, auflöst und neu prägt. Wenn wir von einem Sein reden, so ist es immer das von einem Denken aufgenommene und durch das Denken umgeschmolzene Sein. Und schon ein Lehrer PLATON, PARMENIDES, hat das problematische Verhältnis zwischen Denken und Sein durch eine Entscheidung zu bestimmen gesucht, die uns wie eine ungeheure Paradoxie anstarrt. Wenn der große eleatische Denken das Sein als Denken definiert, so reißt er das Sein nicht nur aus seiner denkunabhängigen, ansichseienden Existenzialität, die ja bloß ein unergründliches  X  ist, heraus, so bindet er das Sein nicht nur an das Denken, sondern er macht es von diesm auch in jenem tiefen Sinn abhängig, in dem die Definition die unauflösbare begriffliche Bezogenheit des Seins auf das Denken ausspricht (2). Und allein einem solchen Sein, das sich nicht in einer falschen Selbständigkeit spreizt, kommt die Begabung und Geltung, ein Sein zu sein, zu. Die Bewährung und Beglaubigung, die das Sein besitzt, der Seinsanspruch, den es erhebt, ihn kann es nur erheben, wenn das Denken jenen Anspruch beglaubigt und die Bewährung und Rechtfertigung vollzieht. Wie gewaltig und tiefsinnig ist doch die alte Einsicht des PARMENIDES. Nur ein in und aus dem Denken bewährtes Sein  ist  in Wahrheit. So ist das Denken die Grundlage des Seins. Und dasjenige Denken, das sich auf ein solches im Denken eingebettetes Sein bezieht, hat keine Widerrede zu befürchten, ihm droht kein "Gegenweg". So hat das Denken aus sich heraus die Kraft der Wahrheit. Dem vergnüglichen Frohmut, der an eine Erkenntnis der Objekte unabhängig von jedem subjektiven Faktor glaubt und gerade in dieser Unabhängigkeit die Garantie der Objektivität, der Sachlichkeit erblickt, tritt hart und unbarmherzig die Kunde entgegen: Das Siegel der Wahrheit wird nur dann empfangen, wenn das Sein eingegangen ist zur Prägung in die Münze des Denkens.

Eine weitere und sicherlich die entscheidende Bresche in den Dogmatismus der landesüblichen Meinung, die das Kritierum der Wissenschaft oder der Wahrheit in der genauen Übereinstimmung zwischen Begriff und Gegenstand sah, legte jene erkenntniskritische Richtung, die mit JOHN LOCKE anhob und im Kritizismus KANTs ihre endgültige und klassische Begründung fand. Es ist hier nicht der Ort, die Auflockerung des Dogmatismus genauer zu verfolgen. Der geschichtliche Gang des Erkenntnisproblems in der neueren Philosophie stellt den Siegeszug des kritischen Geistes dar (3). Stetig hat sich die platonische Einsicht verschärfte, daß die Axiome, Prinzipien und Grundbegriffe der Wissenschaft in der Autonomie des erkennenden Geistes gegründet sind. Immer bestimmter ist in den Ideen und Postulaten der Wissenschaft der unentrinnbare, intellektuelle Anthropomorphismus, der unserer Erkenntnis das Gerüst liefert und ihren Charakter prägt, aufgedeckt worden. Die Lehre von der Subjektivität der Sinneswahrnehmungen, der Intellektualität der Sinnesqualitäten, die vor grauen Jahren in PROTAGORAS und DEMOKRIT ihre ersten Vertreter gefunden hatte, ist zu immer eingehenderer Durchführung gelangt. Räumten noch DESCARTES und LOCKE den quantitativen Bestimmungen der Außenwelt (Ausdehnung, Zahl, Lage, Bewegung) die Geltung objektiver Eigenschaften ein, d. h. solcher, die dem Objekt als ansich seiende Eigenschaften zukommen, unabhängig von ihrem Wahrgenommenwerden durch ein Subjekt, während Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcke, Druck-, Wärme- und Tastqualitäten als nur subjektive Bestimmungen entlarvt wurden, so tilgte KANT auch den letzten Rest des Dogmatismus und grub die prinzipielle Erkenntnis der Dinge völlig in den Mutterboden des erkennenden Subjekts ein. Damit war die tatsächliche Autonomie des erkennenden Geistes durchschaut und anerkannt.

Eine wesentliche Unterstützung erfuhr der Kantianismus in seinem Geschäft der Zerstörung der naiv-realistischen Erkenntnisauffassung durch die moderne Physiologie der Sinnesorgane. Ihr gelang die epochemachende Aufhebung der Lehre von der Objektivität gewisser Sinnesqualitäten, deren wissenschaftliche Unsolidität schon KANT, von anderen Voraussetzungen ausgehend und mit anderen Erkenntniskriterien operierend, nachgewiesen hatte. So verschieden Ausgangspunkt, Argumentation und Methode der Erkenntniskritik und der Sinnesphysiologie voneinander sind (4), so treffen sie doch beide in einer Entscheidung zusammen, die für das Verständnis der Eigenart und der Bedeutung unserer wissenschaftlichen Erfassung der Wirklichkeit von durchschlagender Kraft ist. Wenngleich einige Physiologen, verstrickt in einen von ihrem Standpunkt aus begreiflichen Sensualismus und Psychologismus, der über die Kernfragen der Philosophie elegant hinweggleitet, in den Empfindungen die maßgeblichen Elemente für den Aufbau unseer Erkenntnis finden wollen, so betonen sie doch zumindest alle den ungeheuren Unterschied zwischen Empfindung und Sinnesreiz. Sie erkennen alle, daß die Empfindung  toto genere  [völlig, absolut - wp] von dem ihr zugeordneten Reiz und daß dieser durchaus nicht als allgenügende und allbestimmende Ursache der Empfindung gelten kann. Um aus dieser weitschichtigen Lehre nur einen Punkt hervorzuheben: so wird gezeigt, daß das Zustandekommen und der Charakter einer Empfindung auf das Stärkste mitbestimmt werden durch das Empfindungsmilieu, in das die neuentstehende Empfindung eintritt, gleichwie das menschliche Individuum durch die Totalität seines Kulturmilieus Einwirkungen und Umformungen eingreifendster Natur erleidet.

So schießen von den verschiedensten Richtungen her Lichter zusammen, um den Einschlag der menschlichen Geistesfunktionen in der Erkenntnis, um das Bild und den Umfang des intellektuellen Anthropomorphismus in eine immer deutlichere Beleuchtung zu rücken. Was hindert die allseitige Anerkennung dieses klaren Tatbestandes? Was erweckt den Argwohn, es würde hier nur ein dialektisches Spiel getrieben? Der Argwohn stützt sich auf ein Mißverständnis, dessen Aufhellung zu den lehrreichsten Instruktionen auf dem Feld der theoretischen Philosophie gehört.


II.

Der Nachweis, daß die Erkenntnis des Seienden bedingt ist durch die konstruktiven Formen und Energien des Verstandes, pflegt die Befürchtung wachzurufen, daß damit die Erkenntnis dem chaotischen Spiel des Individuums und dessen schrankenloser Variabilität ausgeliefert würde. Entfernt man sich, so ist die Meinung von der Natur und ihrer festen, gesetzlichen Dinglichkeit und stabilen Ordnung, so ist damit die Preisgabe des festen, des archimedischen Punktes, von dem aus die Allbestimmbarkeit individueller Einfälle ihre methodische Direktive empfängt, eingeleitet. Wir wären wieder in den ruhe- und richtungslosen Strudel einer psychologischen Momentanität hineingeworfen.

Wehrt man sich dagegen, will man nicht wieder auf den Wissenschaftsstandpunkt der griechischen Sophistik herabsinken, die in dem alle Wissenschaft verhöhnenden Wort des PROTAGORAS: Der Mensch, d. h. das Individuum ist das Maß aller Dinge, ihren schneidigsten Ausdruck fand, so hat man mit dieser Abwehr vollkommen recht. Doch muß man sich dabei gegenwärtig halten, daß kein Nachweis, sei er auch noch so streng und genau, an einem Tatbestand das Geringste zu ändern vermag. Stünde die Angelegenheit sachlich so, wie die Befürchtung sie erscheinen läßt, so müßte man sich doch schließlich mit ihr aussöhnen. Aber die ganze Befürchtung ist eitel und nur das psychologische Äquivalent einer logischen Verwechslung. Wenn hier auf die Bedeutung der Subjektivität für alle Erkenntnis, d. h. auf den theoretischen Anthropomorphismus hingewiesen wird, so möge der Begriff des Subjekts nicht verwechselt werden mit dem psychologischen Begriff des Individuums. Es handelt sich gar nicht um eine Abhängigkeit der Erkenntnis von den psychischen Erlebnissen des Individuums. Man hat sehr richtig hervorgehoben, daß das psychologische Individuum eine ganz unvergleichliche Einheit und Einzigkeit darstellt, die nicht ohne weiteres in eine Gleichung eingesetzt werden kann. Unter Subjektivität dagegen kann man in dem hier ins Auge gefaßten erkenntnistheoretischen Sinn den Inbegriff aller derjenigen Kategorien und Funktionen verstehen, welche aufgrund ihrer wissenschaftlichen Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit unsere Erkenntnis begründen und bedingen. So gilt uns hier der Mensch als Quell und Träger und bestimmender Faktor der Erkenntnis insofern, als hier die gattungsmäßige, überempirische (nicht bloß überindividuelle) und typische Grundform seines Wesens in Betracht gezogen wird, d. h. nicht der Mensch als Einzelner in seiner jeder allgemeinen Kontrolle sich entziehenden Spezialpersönlichkeit, deren Entscheidungen selbst in den engen Schranken ihrer individuellen Machtsphäre nur unreife Ansprüche behaupten können. In der Abwehr dieser Auffassung des Subjekts als eines Individuums haben wir SOKRATES zum Mitkämpfer. Seine echt wissenschaftliche Gesinnung bekundet sich in der Arbeit, den Individualismus der Sophistik zu überweinden.
    "Wenn die Sophisten gelehrt hatten, daß der Mensch das Maß aller Dinge ist, so stimmt ihnen SOKRATES hierin bei, aber mit dem Hinzufügen, nicht dieser oder jener Mensch, der Mensch, sofern er, als denkendes Subjekt, sich selbst als etwas Objektives und Allgemeines bestätigt." (ARTHUR DREWS, Plotin und der Untergang der antiken Weltanschauung, Seite 6).
Nun aber erhebt sich hier eine eigentümliche Schwierigkeit. Wenn man nämlich die Frage nach dem gleichsam geometrischen Ort der Existenz jenes denkenden Subjekts, das in seiner methodischen Bestätigung die Welterkenntnis konstruiert, aufwirft, so erfahren wir, daß jenes Subjekt durch den empirischen Einzelgeist, also durch das Individuum, gedacht wird. Ist dem aber so, wird dann nicht sein allgemeingültiger Bestand gefährdet und die typische Bedeutung seines Wesens geschmälert? Mit nichten. Vergegenwärtigen wir uns wieder den Sinn des Subjektbegriffs. Das Subjekt ist der Inbegriff derjenigen Prinzipien, Begründungs- oder Konstruktionsformen, derjenigen grundgesetzlichen Gedanken und derjenigen methodischen Gesichtspunkte, deren streng disponierte Zusammenarbeit das Fundament und die Voraussetzung der Wissenschaft bildet. Der Umstand aber, daß dieser Begriff durch das Individuum gedacht wird, berührt doch nicht seine begriffliche Geltung. Man fasse dieses Subjekt als Grundstock der Erkenntnis nicht so auf, als sei seine Funktion und Befugnis im Stockwerk des Grundstocks erledigt. Seine Tätigkeit und Missioin dringt vielmehr hinein in alle Höhen der Erkenntnisarbeit.

Wir berührten diesen Punkt schon einmal. Um seiner Wichtigkeit willen sollen zu seine Klarstellung noch einige Worte gestattet sein. Man pflegt häufig das Wesen unserer Erkenntnis so darzustellen, daß man bestimmte Empfindungen, die durch die Einwirkung der Dinge auf unsere Sinnesorgane in unserem Bewußtsein hervorgerufen werden, durch die Formen des Geistes oder die Kategorien des Bewußtseins einfach geordnet werden läßt. Tatsächlich aber handelt es sich nicht um eine äußere Anbequemung der beiden Grundfaktoren der Erkenntnis, der Empfindungen als des verarbeiteten Stoffes und der verarbeitenden Formen aneinander. Der Stoff oder Inhalt ist ja ebenso ein konstitutives und konstruktives Moment der Erkenntnis, wie die sogenannte Form es ist. Er ist nicht bloß äußerlich in die Sphäre der Begrifflichkeit eingetaucht, sondern selbst etwas Begriffliches. Damit aber ist seine absolute Distanz zur Empfindung durchschaut. Die Unterscheidung zwischen Form und Stoff der Erkenntnis, so legitimes Ansehen sie sich auch geben mag, ist im Verblassen begriffen. Und der Vorwurf, daß alle erkenntnistheoretischen Versuche in der "Empfindung" ein irrationales, durch die Verstandesformen nicht restlos zu bemeisterndes Konglomerat anerkennen und so die Aussichtslosigkeit einer rein rationalen Begründung der Wissenschaft zugeben müssen, wird allgemach zum Verstummen kommen. Die "Empfindung" bedeutet gar keine Instanz und kein Problem der Logik und der Erkenntnistheorie. Vor dem Tribunal der Psychologie hat sie sich auszuweisen. Die erkenntnistheoretische Unterscheidung von Form und Stoff hat nur die Geltung einer begrifflichen Korrelation, vorgenommen vom Subjjekt und ihrem Wesen nach nur in diesem wurzelnd. Die Empfindung dagegen ist ein genuines Erzeugnis des Individuums, und ihre Betrachtung und Analyse versetzt uns in das Gebiet der Psychologie.

Beschränkt oder verkürzt aber diese Zuweisung der Empfindung in das Gebiet der Psychologie unsere Behauptung der anthropomorphistischen Umgestaltung aller Erkenntnisbestandteile? Nicht im mindesten. Die Unterscheidung zwischen der Tatsache der Empfindung, die als solche von der Psychologie behandelt wird, und dem erkenntnistheoretischen Begriff der Empfindung dient nur der Absicht, jene Umgestaltung noch genauer und schärfer zur Erscheinung zu bringen. Indem die Psychologie die Empfindung in ihren mannigfaltigsten psychischen Stadien und Verhältnissen untersucht, deckt sie allerorten aus der Tiefe des Bewußtseins einwirkende Verschiebungen und Umformungen der Empfindungen auf, die es unmöglich machen, diese als die adäquaten Reflexe der Reize oder als deren psychologische Äquivalente und als einfache Gegebenheiten zu begreifen. Äußert sich, wie wir sogleich sehen werden, die vom Subjekt vorgenommene Umbildung so, daß es die Begriffe, mit denen es operiert, unter den Gesichtspunkt einer unbedingten und notwendigen, d. h. wissenschaftlichen Geltung rückt, daß es die Begriffe einem allgemeinen Systemzusammenhang eingliedert, so variiert das Individuum seine Empfindungen durch das Medium des Erlebnisses.

Geht man nun weiter von der Empfindung, die wir niemals in konkret präzisierbarer Form auf einen Gegenstand oder auf ein Ding und dessen Eigenschaften beziehen können, zum Begriff des  Gegenstandes so wird der Gedankengang, den wir hier vertreten, noch klarer und einleuchtender. In der Zone der Abstraktheit, in die wir nun eingetreten sind, zeigt es sich, daß die Ansicht, Begriffe seien Abbilder der Dinge, geradezu unfaßlich ist. Die erkenntniskritische Auffassung des Begriffs kann man just am Begriff des Gegenstandes gut illustrieren. Zur Einführung in das Problem beginnen wir mit der Frage: Was soll die Wissenschaft leisten? Die erste Antwort darauf pflegt zu lauten: Die Aufgabe der Wissenschaft ist die Erkenntnis der Wirklichkeit, ist die Erkenntnis der wirklichen Gegenstände. Nun aber weiter. Die Wissenschaft soll dieser Aufgabe in einer ganz besonderen Form genügen: Die Erkenntnis der wirklichen Gegenstände soll nicht den Charakter der Zufälligkeit und Willkür tragen, wenn von Erkenntnis die Rede sein soll. Strenge Evidenz kennzeichnet ihre Form, d. h. die Wissenschaft soll uns die Wirklichkeit als ein gesetzmäßiges Ganzes darstellen. Ist man mit dieser Aufgabenbestimmung zufrieden, und wähnt man, die geschichtliche Entwicklung der Wissenschaft habe diese Forderung mehr und mehr zur Erfüllung gebracht, so erwächst natürlich die Meinung, Geschäft und Befugnis der Wissenschaft seien im wesentlichen damit also erschöpft, die einzelnen Gegenstandserkenntnisse zu einem gesetzmäßigen Zusammenhang zu verflechten. Selbst wenn hier das Problem, welcher Art, welcher logischen Dignität, welcher Herkunft diese Gesetze eigentlich seien, noch ganz unberührt bleibt, so bekundet sich doch schon in der Einsicht, wissenschaftliches Erkennen sei erst erreicht, wenn Gesetze, wenn Zusammenhänge hergestellt sind, ein nicht unbeträchtlicher erkenntnistheoretischer Standpunkt. Was aber macht man mit dem Gegenstand, dessen Erkenntnis obliegt? Wie beglaubigt er sich? Woher stammt er? Und was ist er? Nun: Er ist eben da, so glaubt man, und wird dem Erkennen "gegeben"; "gegeben" als eine fertige, feste Ganzheit, als eine konstante und stabile Größe. Die Subjektivität der Erkenntnis bezeuge sich wohl in der autonomen Herstellung der gesetzlichen Verknüpfung, in der einheitlichen Zusammenfassung einer Vielheit fertig gelieferter Ding- oder Gegenstandsvorstellungen, wenngleich, was alsbald berührt werden soll, der Empirismus auch gegen diesen Gedanken Sturm läuft. Der Verstand stifte wohl die Kette selbst, aber nur unter der Voraussetzung, daß ihm die einzelnen Glieder zur bloßen Verkettung anheimgestellt werden. Das ist die sensualistische Meinung, die von einem "Gegebensein" des Gegenstandes spricht.

Es ist wohl deutlich, daß mit einem solchen "Gegenstand" etwas ganz Fremdes in das Denken einträte, eine volle Irrationalität und Heterogenität [Verschiedenartigkeit - wp] im Verhältnis zum Erkennen. Diesen Gegenstandsbegriff hat nun die moderne, von KANT inaugurierte Erkenntnisanalyse gründlich zertrümmert. Nicht mehr gilt der Gegenstand als etwas dem Erkennen Geliefertes, als eine schon vor dem Erkennen fertige und in sich geschlossene Größe. Der Verstand erwirkt mit seinen synthetischen Formen nicht nur den gesetzlichen Zusammenhang, sondern auch die einzelnen Momente und Elemente dieses Zusammenhangs. Weit davon entfernt, daß der Begriff des  Gegenstandes  nur der automatische Reflex des angeblichen, ein apartes Dasein führenden Gegenstandes wäre, erweist sich die erzeugende Kraft des Bewußtseins just am eindringlichsten in der Erzeugung des Begriffs des Gegenstandes. Man denke hier nur an die Leistung, welche die Verstandeskategorie der Substanzialität vollführt. Durch sie, die niemals ein Objekt sinnlicher Anschauung sein kann, ist es erst möglich, eine Anzahl isolierter Bewußtseinseindrücke, wie rot, rund, süß zur Einheit des Gegenstandes "Apfel" zu verbinden. Sie allererst konstituiert den Apfel als einen Gegenstand. Der "Gegenstand" besteht somit nicht als eine bewußtseinseinseitige Einheit. Er ersteht und besteht wie jeder Begriff nur in der synthetischen Vereinheitlichung, die der Verstand kraft seiner selbst bewirkt. Indem die Wissenschaft ein universelles System so gewonnener Begriffe darstellt, enthüllt sich der überragende Einfluß des Denkens und seiner Formen auf das Zustandekommen unserer Kenntnis und Erfahrung von der Welt. Um jedoch der empiristisch-sensualistischen Begriffstheorie nun noch eine weitere Stütze zu rauben, sei darauf hingewiesen, daß in der Realität des Erkennens der Begriff niemals als eine psychische Isoliertheit, etwa als ein geistiges Einzelschema figuriert, sondern daß er sein Leben und seine Existenz lediglich in einem systematischen Zusammenhang des Erkennens hat, während der Einzelbegriff, der als das Abbild eines Einzelgegenstandes proklamiert wird, ja nur eine willkürliche Abstraktion und Herausschneidung aus dem ganzen Zusammenhang bedeutet. Die Existenz der Begriffe besteht überhaupt in ihrer Tätigkeit der Verbindung, der Zusammenfassung einer Anzahl Merkmale.

So tief, so intim, so restlos, so radikal, so absolut ist die Leistung der subjektiven Funktionen. So tief ist die Wissenschaft als Wissenschaft vom Gegenstand von den intellektuellen, anthropomorphistischen Fasern des erkennenden Subjekts durchzogen. So wenig ist von Objektivität im Sinne eines photographischen Abklatsches zu reden. "Wir sehen", mit einem Wort OTTO LIEBMANNs, "wie ein Glühwurm bei Nacht, unsere Umgebung nur in unserem eigenen Licht." Unter allen nur denkbaren Vergewaltigungen ist wohl diejenige, welche die Erkenntnis mit dem Sein vornimmt, die größte und einschneidenste. Und sie übt diese Vergewaltigung nicht etwa bloß im Verlauf der erkennenden Durchdringung der Welt, sondern von Anfang an. Sie proklamiert diese theoretische Usurpation in der Form, daß sogleich die Frage gestellt wird: Wie kann, ja als was  muß  das Wirkliche gedacht werden, um Objekt für die Erkenntnis zu sein? Der Begriff des Gegenstandes ist nur in derjenigen Bedeutung erkenntniskritisch zu rechtfertigen, daß unter ihm der Begriff der methodisch-wissenschaftlichen Konstitution des Gegenstandes verstanden wird.
    "Die allgemeine methodische Bedeutung des Gegenstandes ist die Waffe gegen das Vorurteil, als ob der Gegenstand, wie man sagt, gegeben wäre. Dieses Vorurteil zerstört die methodische Einsicht vom Gegenstand der Erfahrung." (HERMANN COHEN, Logik der reinen Erkenntnis, Seite 276)
Das Objekt als Objekt des Bewußtseins, und ein anderes Objekt kommt für die erkennende Berücksichtigung nicht in Betracht, ist errichtet von den ureigenen Kräften und Gesetzen des Bewußtseins. Nicht der Gegenstand als solcher in der naiv-realistischen Auffassung ist Gegenstand der erkenntnistheoretischen Untersuchung und Wissenschaft, sondern eine begriffliche Synthese, die, eben weil sie Synthese ist, nicht als eine fixe Ganzheit und fertige Abgeschlossenheit aufgefaßt werden darf. Wir operieren nicht mit dem Gegenstand in seiner toten Dinglichkeit, sondern mit den eigentümlichen Begriffen des Gegenstandes, die wir aufgrund der subjektiven Verfahrensweisen unseres Erkennens autonom erzeugen.

Es bedarf wohl keines besonderen Hinweises und keiner genaueren Ausführung, daß diese "subjektivistische" und, wenn man so will, "idealistische" Interpretation des Gegenstandsbegriffs nicht das mindeste über oder gegen den objektiv-empirischen Bestand der Gegenstandswirklichkeit ausmachen will oder auch nur kann. "In dieser ganzen Entwicklung", sagt ALOIS RIEHL, "kommt das Dasein der Dinge gar nicht in Frage." (Kritizismus I, Seite 395) Dieses Dasein bleibt völlig unangetastet. "Ja es bildet dieses Dasein, und zwar im striktesten Sinne des Wortes, also die vom Bewußtsein unabhängige, dem Bewußtsein und seinen Erscheinungen zugrundeliegende Existenz von Dingen, die notwendige Voraussetzung für den kritischen Idealismus, mit welcher derselbe steht und fällt" (a. a. O.). Und wie soll überhaupt eine kritische Untersuchung über das Wesen der Erkenntnis auch nur das Geringste an jenem Dasein ändern können? Sie befindet sich, sozusagen, in einer ganz anderen Sphäre als jenes Dasein. Der Subjektivismus, dem unsere Betrachtung gilt, ist der Subjektivismus der Wissenschaft oder der Erkenntnis, aber nicht der der Wirklichkeit. Hier sollen nicht etwa nach der Manier, ja Manie SCHOPENHAUERs die Dinge zu leerem Schein verflüchtigt werden (5).

Doch ist der Empirismus, der aus sinnlichen Wahrnehmungen und Selbstbeobachtungen unser Erkennen ableiten will, noch nicht ganz entsattelt, selbst wenn er dem Verstand die entscheidende Rolle bei der Festlegung des Gegenstandes einräumen muß. Die empiristische Wissenstheorie pflegt zur Stütze für ihre Behauptung einer denkunabhängigen Objektivität auf die augenscheinliche, sinnfällige Gleichheit und Unabänderlichkeit des Naturlaufs hinzuweisen. Man ist überzeugt, an diesem Punkt fände alle rationalistische Konstruktionssucht ihre Grenze. Denn sobald man auf dem Feld technisch-praktischer Arbeit, auf dem man sich doch den objektiven Bedingungen und Eigenarten der Natur anpassen muß, gleichsam die Probe auf das Exempel macht, sobald man einen mathematisch-physikalischen Bauplan aus der Region theoretischer Darstellung in das Gebiet technischer Bemeisterung überträgt, sobald man einen Rechnungsentwurf zur praktischen Ausführung bringt, zeigt sich das gesetzliche Verhalten der Natur in voller Klarheit. Man würde ja keine Maschine, keine Brücke, kein Haus, keinen Tunnel bauen können, wenn die Natur in ihrem objektiven Bestand ein regelloses, wüstes Chaos bildete, wenn in ihr und ansich nicht Gesetze vorhanden wären, auf deren kluger Beachtung und Ausnützung durch den menschlichen Geist jenes angebliche Wunder der "Übereinstimmung" zwischen unseren Berechnungen und unseren baulichen Konstruktionen beruth. Will man jedoch leugnen, daß die Verstandesgesetzlichkeit, auf die sich der philosophische Rationalismus so viel einbildet, nur das subjektive Bewußtseinsabbild der objektiven Naturgesetzlichkeit sei, so stehe doch dem Gedanken keinerlei Hindernis im Weg, daß zwischen beiden, zwischen Natur- und Verstandesgesetzlichkeit ein strenger, unbedingter Parallelismus, eine von Grund auf gesetzte Harmonie obwaltet. Und wenn man auch zugeben muß, daß eine solche Annahme nicht ohne Hinzuziehung einer metaphysischen Theorie, wie eine solche etwa SPINOZA und LEIBNIZ ersonnen haben, verständlich sei, ja überhaupt erst in einer solchen ihren Boden fände, so könne sich doch der Empirismus viel eher mit ihr befreunden, weil sie die Tatsächlichkeit und Objektivität der Naturgesetzlichkeit unangetastet läßt, ja gerade durch ihre metaphysische Spekulation erhärten will.

Wenn man nun von seiten der Erkenntnistheorie die Ansicht als naiv und unhaltbar abgefertigt worden ist, die Verstandesgesetzlichkeit sei weiter nichts als der subjektive Abdruck eines objektiven Zusammenhangs, so mag nicht der Argwohn entstehen, als ob damit der Aufsuchung und Entdeckung der empirischen Naturgesetze ein Riegel vorgeschoben werden sollte, als ob die Erkenntnistheorie in spekulativer Überhebung alle Naturgesetze samt und sonders in der ganzen Breite und Bedeutung ihrer Inhaltlichkeit aus einem obersten Begriff deduktiv ableiten will. Ein solches Unternehmen, wie es zur Zeit der Herrschaft der deutschen Spekulation, besonders unter der Ägide SCHELLINGs und HEGEL, im Schwange war und aus sehr ernsthaften systematologischen Motiven versucht wurde, hat die von KANT vorgezeichnete Bahn verlassen. Denn dessen Überzeugung bestand keineswegs darin, daß auch die einzelnen empirischen Naturgesetze aus der Verstandeseinheit selbst mit den Mitteln der bloßen Analyse zu entwickeln wären.
    "Auf mehrere Gesetze aber als die, auf denen eine  Natur überhaupt  als Gesetzmäßikeit der Erscheinungen in Raum und Zeit beruth, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht aus, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon  nicht vollständig  abgeleitet werden, obgleich sie alle insgesamt unter jenen stehen. Es muß Erfahrung dazu kommen, um die letzteren überhaupt kennenzulernen; von Erfahrung aber überhaupt und dem, was als ein Gegenstand derselben erkannt werden kann, geben allein jene Gesetze a priori die Belehrung." (Kr. d. r. V. § 26 Schluß).
KANT will also mit keinem Wort in Abrede stellen, daß auch die Natur ansich ein gesetzliches Verhalten zeigt. Was dagegen als ein reines Verstandesprodukt anzusehen ist und von den empirischen Gesetzen der Natur wohl ferngehalten werden muß, das formuliert er sowohl in der "Kritik" wie auch in den "Prolegomena" mit unmißverständlicher Deutlichkeit. Ich zitiere aus der letztgenannten Schrift eine berühmte Stelle (§ 36 Schluß):
    "Wir müssen aber empirische Gesetze der Natur, die jederzeit besondere Wahrnehmungen voraussetzen, von den reinen oder allgemeinen Naturgesetzen, welche, ohne daß besondere Wahrnehmungen zugrunde liegen, bloß die Bedingungen ihrer notwendigen Vereinigung in einer Erfahrung enthalten, unterscheiden, und in Anbetracht der letzteren ist Natur und mögliche Erfahrung ganz und gar einerlei, und, da in dieser Gesetzmäßigkeit auf der notwendigen Verknüpfung der Erscheinungen in einer Erfahrung (ohne welche wir ganz und gar keinen Gegenstand der Sinnenwelt erkennen können) mithin auf den ursprünglichen Gesetzen des Verstandes beruth, so klingt es zwar anfangs befremdlich, ist aber nichtsdestoweniger gewiß, wenn ich in Anbetracht der letzteren sage:  der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor." 
Was also als das unbedingte Schöpfungsprodukt des erkennenden Geistes zu betrachten ist, das ist der allgemeine Begriff der Gesetzmäßigkeit überhaupt. Daß es sich für KANT eben nur um die Deduktion des Begriffs in dieser allgemeinen Form handelt, in der er ihm allein die Geltung einer transzendentalen Bedingung zuschreiben konnte, hat unter den neueren KANT-Forschern am schärfsten und zwingendsten ALOIS RIEHL nachgewiesen.
    "Was die Deduktion leistete, ist also die Begründung der  allgemeinen  Gesetzlichkeit der Erscheinungen, die, als Vorstellungen betrachtet, den Gesetzen des Bewußtseins untergeordnet sein müssen. Die Deduktion schränkt selber ihre Ergebnisse auf dieses Bedingung ein." (Kritizismus I, Seite 579f; vgl. auch 273f)
Und wenn wir unter einem Begriff keine stabile und feste Form, gleichsam kein Gefäß verstehen, sondern eine synthetische, vereinheitlichende Kraft und Potenz des Geistes, und wenn wir in dieser Fähigkeit des Geistes zugleich sein Wesen begreifen, wenn diese Fähigkeit des Geistes eben sein Wesen ist, dann ist auch jener Begriff der Gesetzmäßigkeit nichts weiter als die autochthone [bodenständige - wp] Fähigkeit des Verstandes, irgendeinen Tatbestand von sich aus unter der Form des Gesetzes zu begreifen. So bedeutet jener Begriff nichts weiter als eine unter methodischen Gesichtspunkten sich vollziehende Zusammenhangsstiftung, die wir in ihrer prinzipiellen Bedeutung nicht weiter erklären oder ableiten, sondern die wir nur in ihrer wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit beschreiben können. Wenn die Behauptung der Unverbrüchlichkeit des Naturgeschehens nicht zu einem Dogma der Metaphysik erstarren soll, wenn der Versuch unternommen werden soll, den Rechtstitel jener Behauptung zu prüfen, so läßt er sich nur auf jene oben aufgewiesene Eigenart und Funktionsweise des Verstandes zurückführen. Die theoretische Auffassung der Natur unter dem Gesichtspunkt der Regelmäßigkeit ist eine von uns gemachte aprioristische Voraussetzung und nicht ohne weiteres durch die Eigenart der Natur diktiert. Denn eine solche Eigenart ist ja überhaupt erst erfaßbar unter der aprioristischen Voraussetzung, daß eine Regelmäßigkeit vorliegt. Treten wir aber mit dieser Voraussetzung als einem unabwerflichen Rüststück des erkennenden Geistes an die Natur heran, so ist damit die naive Stellungnahme ihr gegenüber von vornherein ausgeschlossen. Wir fassen dann die Natur ebenso auf, wie wir sie unter der Leitung der theoretischen Autonomie, die wir ausüben, auffassen  müssen.  Ob darüber hinaus noch ein Zusammenhang existiert, ist eine Frage, die für uns völlig belanglos ist. Denn fürwahr, dieser Zusammenhang, der uns allein interessiert, ist durch den Wissenschaft-erzeugenden Geist selbst geknüpft, und seine Solidität ist durch die Kraft und Natur des Geistes auf das sicherste beglaubigt. Es waltet hier ein unwiderstehlicher logischer Zwang. Kein psychologischer, dessen Merkmal ein Gefühl der Evidenz ist. Ein solches Gefühl kann auch eine pathologische Quelle haben, wie auch Irre eben unter Zwangsideen leiden. Der logische Zwang dagegen besteht in der Unmöglichkeit, unter der Leitung der Denkgesetze und unter dem Gesichtspunkt der Wissenschaft eine Natur zu denken, die keine Gesetzlichkeit zeigt. Der logische Zwang besteht in der Notwendigkeit, die Natur  a priori  als ein gesetzmäßiges Ganzes aufzufassen. Auf diese Weise wird die Widerspruchslosigkeit des Naturbegriffs und die Geltung der Denkgesetze gewahrt.

Das ist wohl der Punkt, an dem alle Bemühungen um eine konsequent empiristische Begründung der Wissenschaften ewig scheitern werden und an dem der theoretische Anthropomorphismus seine volle Allgewalt bekundert. Dies läßt sich so recht an JOHN STUART MILLs "System einer induktiven Logik" einsehen (6). Es ist ja MILLs Absicht, alle natur- und geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse durch eine Induktion aus der "Erfahrung" abzuleiten. Und wenn er auch erkennt, daß eine solche Induktion sich auf eine allgemeine Voraussetzung stützen muß, nämlich auf die Annahme einer Gleichmäßigkeit der Natur, so sieht er doch in dieser Voraussetzung nichts anderes als eine auf induktivem Weg gewonnene Verallgemeinerung, die aber, eben aufgrund dieser Genesis, nie und nimmer eine apodiktische [logisch zwingende, demonstrierbare - wp], ausnahmslose Bedeutung beanspruchen kann. Wenn man diese Stelle der Logik MILLs genauer überdenkt, so möchte man sagen: Hier stand MILL genau an dem Punkt, wo ihm die Unfruchtbarkeit und Unzulänglichkeit einer empiristisch-induktiven Wissensbegründung mit zwingender Klarheit hätte enthüllen müssen. Das ist
    "die Hilflosigkeit des reinen Empirismus, die Unmöglichkeit auf dem Sandhaufen loser und vereinzelter Tatsachen oder, genauer, Sinnesempfindungen ein Gebäude aus allgemeinen Sätzen zu errichten; es heißt den Bock melken, wenn man aus einer Summe von Tatsachen irgendeine Notwendigkeit herauspressen will." (SIGWART, Logik II, Seite 427)
Der Versuch einer konsequenten Anwendung des induktiven Verfahrens führt schließlich zur Entdeckung von Erkenntniselementen, die jeder Bemühung ihrer induktiven Ableitung spotten, da sie jeglicher Induktion immer schon als Prämmissen dienen und ihr als dirigierende Gesichtspunkte voraufgehen.

Es ist eine falsch gestellte Forderung, auf empirischem Weg eine Gleichförmigkeit zu erweisen. Denn die Behauptung einer Gleichheit ist der Ausdruck einer Behauptung des Denkens. Die Gleichheit ist eine durch die Theorie gestützte Hypothese.
    "Gleichförmigkeiten der Bewegung, wie etwa das galileische Axiom der Beharrung sie ansetzt, können genausowenig an sinnlichen Daten aufgezeigt werden, wie der Satz des PYTHAGORAS durch Messung von körperlichen Modellen exakt bewiesen werden kann." (NATORP, Platos Ideenlehre, Seite 206).
Und in dem gleichen Sinn äußert sich auch RIEHL in seiner Einführung (Seite 74):
    "Das Denken ergänzt die Wahrnehmungen. Immer wieder setzen wir einen weit größeren Zusammenhang voraus, als in den bloßen Tatsachen gegeben ist."
Wodurch es MILL wohl verwehrt wurde, sich zu dieser Einsicht zu bekehren, das scheint mir nicht die Furcht zu sein, damit seinen prinzipiellen Standpunkt in der Erkenntnistheorie aufzugeben und so einzuräumen, daß sein durch den ganzen englischen Empirismus genährtes Verfahren rettungslos in eine Sackgasse gerät. Der tiefere Grund liegt wohl im Verkennen der Absicht und Bedeutung einer rationalistischen Wissensbegründung. MILL hat sich so wenig wie schließlich auch HERBERT SPENCER freigemacht von dem Mißverständnis, als ob der  kritische  Rationalismus am letzten Ende weiter nichts wäre als die alte nativistische Theorie der Erkenntnis. Letztere Theorie operiert mit "angeborenen Ideen" als absolut starren, ein für alle Mal fest bestimmten, der Seele unverlierbar eingewurzelten Prinzipien, und sie gibt vor, aus diesen die gesamten Wissenschaften in einem lückenlosen Aufbau entwickeln zu können. Allerdings sucht SPENCER zwischen dem Empirismus und dem Apriorismus dadurch eine Brücke zu schlagen, daß er das Apriori als ein Vererbungsresultat der biologischen Entwicklung der Generationen auffaßt, daß zwar
    "die Grundtatsachen des Verstandes für das Individuum apriorisch, für die ganze Reihe der Einzelwesen dagegen, worin jenes nur das letzte Glied bildet, aposteriorisch sind."
Man kann hierin wohl einen Fortschritt der MILLschen Auffassung gegenüber konstatieren, indem von SPENCER eine strenge Bindung der Erkenntnisweise des Individuums aufgrund seiner Zugehörigkeit zu seiner Generation und seiner Abhängigkeit von deren Entwicklung ausgesprochen wird. Und doch wird man SPENCER aus mancherlei Gründen nicht beipflichten können. Ich hebe nur als den entscheidenden hervor, daß das Problem durch die SPENCERsche Erörterung in  erkenntnistheoretischer  Hinsicht nicht um ein Jota gefördert wird, da die Untersuchung von Anfang an unter einen falschen Gesichtswinkel gerückt ist. An die Stelle der Wissensbegründung ist nach der üblichen Weise des Empirismus die genetische Betrachtung der des Wissenserwerbs getreten. Dann ist es die Generation als solche, die während ihrer Entwicklung die Kenntnis eines äußeren Gesetzeszusammenhangs für sich aufgenommen und erworben hat. Dann ist zwar nicht der Einzelgeist eine unbeschriebene Tafel, wohl aber die Gattungsvernunft. Hier kümmert uns aber gar nicht die Frage, wann und wie der erkennende Geist diejenigen Kategorien eingehandelt hat, mit deren Hilfe er seine Welterkenntnis erbaut. Wir reflektieren einfach auf den intellektuellen Tatbestand, daß der Verstand nun einmal unter bestimmten Bedingungen sein Erkenntnisgebäude aufführt und fragen, welche Bedeutung und welcher Geltungswert diesen Bedingungen für die Möglichkeit der Erkenntnis zukommt. Und die kritische Erkenntnistheorie ist weit entfernt von der nativistischen Behauptung, daß diese Bestimmungen und Bedingungen just in derjenigen Fassung und Spezialität, in der sie gegenwärtig im Gebrauch sind, unantastbar dauern werden. Was sie behauptet, ist nur dies: Es wird  immer  in der Wissenschaft mit irgendwelchen Bedingungen gearbeitet werden, und es wird immer für irgendwelche Bedingungen eine absolute Geltung in Anspruch genommen werden. Auch die Relativität kann den Charakter der Absolutheit tragen. Oder, mit anderen Worten: Die Geltung der Wissenschaftsbedingungen ist die Notwendigkeit. In der Behauptung dieser Geltung äußert sich wieder die Notwendigkeit. Auch in der Verneinung einer absoluten Geltung liegt die Notwendigkeit. Diese Sätze und der in ihnen sich abzeichnende Erkenntnisgehalt bekunden den Terrorismus und Absolutismus, den unser Denken ausübt. -

So wird man mit einer kleinen Variation eines platonischen Wortes im Dialog  Gorgias  sagen müssen: Die Wissenschaft ist in der Natur des erkennenden Geistes "mit eisernen und stählernden Gründen" verankert. Und die methodische Kraft und Bedeutung der Induktion, die sich doch ganz naiv auf die Erfahrung zu beziehen behauptet, ruht in jener Einsicht und Anerkennung, die erst das Denken kraft seiner selbst dekretiert. Ja, die ganze Induktion ist überhaupt erst möglich unter Zugrundelegung einer durch das Denken gesetzten Konstruktion. Diese Konstruktion besteht in der apriorischen Annahme einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit, durch welche die Vielheit, Mannigfaltigkeit und chaotische Regellosigkeit der induktiv-sensualistisch vermittelten Eindrücke zu einer umfassenden Einheit verbunden werden, durch welche wir, mit einem PLATOs im Dialog  Theaetet "die einzelnen Erscheinungen unter einen zusammenfassenden Ausdruck bringen".

*         *
*
Die vorstehenden Ausführungen erheben keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit. Ich bin mir ihrer Lücken allein schon in Bezug auf die Logik und Erkenntnistheorie voll bewußt. Aber auch auf den Gebieten der Ethik und Ästhetik äußert sich ein Anthropomorphismus in derjenigen theoretischen Gestalt, die in den obigen Zeilen kurz zu skizzieren versucht wurde. Zusammenfassend und abschließend sei somit mit dem Alleskünder GOETHE gesagt: "Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphistisch er ist."
LITERATUR - Arthur Liebert, Der Anthropomorphismus in der Wissenschaft, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 136, Leipzig 1909
    Anmerkungen
    1) Bei dieser Stelle habe ich keineswegs LOCKEs Standpunkt im Auge, da dieser, wie ALOIS RIEHL im "Philosophischen Kritizismus I", Seite 35f gezeigt hat, nicht als Vertreter der radikalen white-paper-Theorie zu gelten hat. Eigentlich kennt die Geschichte der Philosophie nur einen einzigen Verfechter und Fahnenträger des extremen Sensualismus: CONDILLAC.
    2) Vgl. HERMANN COHEN, Logik der reinen Erkenntnis, Seite 27, 78 und öfter.
    3) Vgl. ALOIS RIEHL, Der philosophische Kritizismus I, Seite 1f: Epochen des Kritizismus.
    4) Vgl. RIEHL, Kritizismus, a. a. O., Seite 8 und 383
    5) Diese unsinnige "idealistische", eigentlich illusionistische Deutung findet in der neueren Kant-Literatur ihre schlechthin entscheidende Widerlegung in den Ausführungen von ALOIS RIEHL; vgl. "Der philosophische Kritizismus I", Seite 395f, 403f, 476f; und desselben Verfassers "Einführung in die Philosophie der Gegenwart", Seite 117, Seite 217.
    6) Was hier gegen MILL eingewendet wird, das gilt ebenso gut gegen den Empiriokritizismus von AVENARIUS und seiner Schule.