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ERNST STOELZEL
Die Behandlung des
Erkenntnisproblems bei Platon


"Es ist von Wichtigkeit und aus logischen und erkenntnistheoretischen Gründen von Interesse, sich überhaupt einmal dieser Schwierigkeit klar zu werden, die einer  vollkommenen Wortdefinition  des Begriffs  Wissen  immer im Wege steht, und die, wenn man nicht genetisch erklären will, wohl schließlich doch nur zu einer Zirkeldefinition führt."


Vorwort

Viel ist bereits über den platonischen  "Theaetet" geschrieben. Wer den Dialog kennt, wird diese Erscheinung aber begreiflich finden. Die Fragen, die der Theaetet behandelt, sind nicht nur geschichtlich interessant, sie sind zu allen Zeiten modern gewesen und haben stets gedrängt, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, wo man nach "Wissenschaft" und "Weltanschauung" gefragt hat.

Das Thema "Was ist Erkenntnis? Was ist Wissenschaft?" gibt dem Dialog seine Stellung auch unabhängig vom eigentlichen System PLATONs. Die propädeutische Art der Behandlung des Problems macht ihn zugleich am besten geeignet zur Einführung in die platonische Philosophie. Nie wieder hat PLATO so voraussetzungslos und so umfassend in zusammenhängender Betrachtung die Grundlagen seines Systems begründet und entwickelt. Dazu wirft gerade der "Theaetet" so viele charakteristische Streiflichter auf die Persönlichkeit PLATONs, auf die Art seiner Schriftstellerei, insbesondere auf seine literarischen Fehden, daß man hier sein Porträt am vollständigsten und lebensvollsten - auch in seinen Schattenlinien - erfaßt.

Doch der Dialog ist wie gesagt  mehr  als ein charakteristischer Zeuge platonischer Denkart und der verschiedenen Geistesströmungen im Athen des vierten Jahrhunderts vor CHRISTUS. Geht man den platonischen Argumentationen im einzelnen nach, so möchte es fast scheinen, als sei der "Theaetet" nicht für das 4. Jahrhundert vor CHRISTUS, sondern recht eigentlich als Rüstzeug für die Kämpfe unserer Gegenwart gegen Materialismus, Sensualismus, Empirismus und Positivismus verfaßt worden.

Es ist der Wunsch des Verfassers, durch die vorliegende Abhandlung auch weitere Kreise zu interessieren, wenngleich sie in erster Linie für all diejenigen bestimmt ist, die sich mit PLATO näher beschäftigen wollen und nach einer Einführung in seine Philosophie in Form eines begleitenden Kommentars verlangen. Dem kundigen PLATO-Forscher empfiehlt sich diese Untersuchung zur eingehenden Kritik. Sie erscheint hoffentlich nicht zu revolutionär, wenn sie - eher konservativ - in vielen Punkten da ansetzen mußte, wo die PLATO-Forschung vor etwa 50 Jhren aufgehört hat. Des Verfassers Absicht, eine "Darstellung der platonischen Erkenntnistheorie nach ihren Problemen betrachtet" zu geben, wie sie nach dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntnis möglich ist, zwingt ihn, die Fundamente seiner Arbeit früh und lange genug der öffentlichen Kritik zu eigen und so hoffe ich Betrachtungen und Analysen des "Meno", "Charmides", "Kratylos", "Sophistes", "Phaedrus", "Parmenides" bald nachfolgen lassen zu können. Denn im Streit der Meinungen sind jene Einzelbetrachtungen, oft mehr philologischer als philosophischer Art, die unbedingt nötige Vorarbeit. Das letzte Wort über den platonischen  Theaetet  gesagt zu haben, maßt sich die folgende Untersuchung nicht an. Inwieweit sie als eine für jetzt abschließende Betrachtung gelten darf, wird der Kenner zu beurteilen haben.




I.
Gedankengang und Analyse
der Behandlung des Problems


Einleitung und Übersicht über bisherige Versuche

Das Thema des platonischen  Theaetet:  episteme ti estin? "Was ist Wissen", "Was ist  Erkenntnis"  oder auch "Was ist Wissenschaft" ist bei der fundamentalen Bedeutung dieses Begriffs in der Philosophie PLATONs in mehr als einer Hinsicht von Interesse und Bedeutung. Es kann daher nicht verwundern,, daß man immer wieder und in der verschiedensten Weise sich bemüht hat, in das Verständnis jenes Dialogs einzudringen; hat doch das Thema auch ansich, aus rein erkenntnistheoretischen Gründen seinen Reiz.

Die Meinungen über die Bestimmung des Dialogs und über die eigenartige Behandlung seines Problems gehen weit auseinander. Schon die vorhandenen abschließenden Urteile über das Werk als Ganzes können dies zeigen. Die früher herkömmliche, z. B. von J. E. ERDMANN, Geschichte der Philosophie I, Seite 93, vertretene Ansicht meint, in ihm neben dem abwehrenden Charakter eine überwiegend propädeutische Tendenz zu finden. Diese Ansicht sucht im einzelnen besonders STEINHART (Einleitung zur Übersetzung des Theaetet von H. MÜLLER, Seite 18 und 16) durchzuführen. "Das Bild des werdenden Denkers."

EDUARD ZELLER, Philosophie der Griechen II, Seite 491f und 588f, benutzt den Theaetet zwar auch für die Darstellung der propädeutischen Absicht im platonischen Philosophieren, bezeichnet ihn aber Seite 462 als "eine elementarische, ergebnislose Untersuchung". Entgegen dieser herkömmlichen Ansicht haben in jüngster Zeit Gelehrte wie GOMPERZ, Griechische Denker II, Seite 458, HORN, Platostudien, Neue Folge (1904), Seite 259 und 261, RAEDER, Platons Entwicklung (1905) Seite 280, 284 und 288 im Theaetet Spuren einer Selbstkritik PLATONs oder sogar den Beginn einer Kritik seiner Ideenlehre zu finden gemeint, eine Ansicht, die zuerst von JACKSON, Journal of Philology, Bd. XIII (1885) Seite 242f vorgetragen wurde, und die RAEDER und HORN sogar veranlaßte, von einem mehr oder weniger scharfen Gegensatz des "Theaetet" zum "Staat" zu sprechen.

Daneben ist besonders durch BONITZ, Platonische Studien, die polemisch kritische Seite unseres Dialogs betont und nach einer Kritik der gegenteiligen Ansichten verschiedentlich das Resultat so formuliert worden: "Die Behandlung der Frage nach dem Wesen des Wissens ist eine durchaus negative und kritische" und "man hat kein Recht zu sagen, daß in der negativen Kritik und durch dieselbe auch eine positive Erklärung über das Wissen im platonischen Sinn gegeben ist." Diese Meinung von BONITZ ist von den Späteren meist übernommen, höchstens durch allerlei Nebenbestimmungen modifziert worden. Der am weitesten gehende Vertreter dieser Erklärungsweise ist wohl JOEL, der in seinem Buch "Der echte und der xenophontische Sokrates", Bd. 2, Berlin 1901, Seite 839 - 855 nicht nur Anspielungen auf ANTISTHENES finden will und ganze antisthenische Bestandteile nachzuweisen sucht, sondern unseren Dialog ganz und gar als eine Kritik der Erkenntnistheorie des antisthenischen "Protreptikos" auffaßt und "in dieser Beziehung allein einer Erklärung des Werkes findet."

Auf der anderen Seite hat es natürlich nicht an Versuchen gefehlt, auf einen positiven Ertrag der erkenntnistheoretischen Untersuchung hinzuweisen, so namentlich bei SUSEMIHL, Die genetische Entwicklung der platonischen Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1864, Seite 117f und RIBBING, Genetische Darstellung der platonischen Ideenlehre, Leipzig 1863.

Vor allem ist aber STEINHART, Einleitung Seite 33, 44, 92 zu erwähnen, der sogar mit HERMANN, Geschichte und System der platonischen Philosophie Seite 492 - 499 in der dritten Definition des Dialogs die von PLATO gewollte Antwort finden will.

Andere wiederum, wie NATORP, Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems, Seite 14f, behaupten, der Theaetet wolle die Frage nur "zetetisch" behandeln, und wieder andere, wie PFLEIDERER, Sokrates-Plato (1896), Seite 315, geben als das Resultat ihrer Untersuchung "PLATO sei sich selbst nicht über alle Probleme klar geworden, die er im Theaetet berührt." Unter diesem Umständen darf man sich nicht wundern, daß nicht nur der Theaetet, sondern auch die gesamte Erkenntnistheorie PLATONs bis zu ihrer Entwicklung der sogenannten Ideenlehre soviele verschiedene Auffassungen sich hat gefallen lassen müssen.

Der Hauptgrund für den Streit der Meinungen dürfte in der eigenartigen Form der Darstellung zu suchen sein, in die PLATO die Behandlung seines Problems gekleidet hat. Denn rein äußerlich, zumal wenn man sich ohne die nötige Kritik, wie dies vor allem BONITZ tut, an gewisse Äußerungen klammert, verläuft die Untersuchung allerdings skeptisch und negativ. Diese eigenartige Form platonischer Darstellungskunst, die stets andeutet, aber nie vollständig ausspricht, hat von jeher den PLATO-Lesern und -Erklärern Schwierigkeiten gemacht (vgl. ZELLER II, Seite 425) und wenn wir CICEROs Urteil in den  Academica posteriora  12, 46 lesen, so dürfen wir uns nicht wundern, daß der Streit darüber, was als PLATOs eigentliche Ansicht zu gelten hat, besonders im Theaetet, wo es sich um das Grundprinzip der platonisch-sokratischen Philosophie handelt, von jeher ein lebhafter sein mußte.

Die Eigentümlichkeit platonischer Darstellungsart, die uns nicht wenig das Verständnis seiner Gedanken zu erschweren vermag, ist verschiedentliche beobachtet worden. Es ist ein Verdienst ZELLERs (II, 415) gegenüber GROTE, Plato and the other companions of Socrates, London 1865 zu warnen, PLATOs Worte bei verneinenden Ergebnissen zu wörtlich zu nehmen oder gar als das Bekenntnis eines Skeptikers aufzufassen. Obwohl er selbst den Theaetet als eine elementarische, ergebnislose Untersuchung bezeichnet, glaubt er doch (Seite 481) im allgemeinen über diese Form der dialogischen Darstellung die Worte BRANDIS betonen zu müssen: "Warum sollten sich so häufig, nachdem echt sokratisch das Scheinwissen durch Nachweis des Nichtwissens zerstört ist, nur einzelne scheinbar unzusammenhängende Striche der Untersuchung in ihnen finden? Warum die eine durch die andere verhüllt sein? Warum sollte sich die Untersuchung am Schluß in scheinbare Widersprüche auflösen? Setzt PLATO nicht voraus, daß der Leser durch eine selbständige Teilnahme an der aufgezeichneten Untersuchung das Fehlende zu ergänzen, den wahren Mittelpunkt derselben aufzufinden und diesem das übrige unterzuordnen vermag, aber auch nur ein solcher Leser die Überzeugung gewinnt zum Verständnis gelangt zu sein?"

Mit dieser sozusagen indirekten Mitteilungsweise hängt eng die charakteristische, tiefere Bedeutung der Ironie, die PLATO dem SOKRATES seiner Dialoge zu geben weiß, anknüpfend an eine Eigentümlichkeit des historischen SOKRATES.

Dieses  ouk oida,  das angebliche Bekenntnis eigener Unwissenheit, ist nicht einmal beim historischen SOKRATES eine skeptische Leugnung des Wissens gewesen. Ganz besonders aber ist beim platonischen SOKRATES dieses  ouk oida  nur cum grano salis [mit einer Brise Salz - wp] zu verstehen, wenn anders man das mutwillige, fast ausgelassene Spiel empfinden will, welches mit unendlicher Ironie und Überlegenheit SOKRATES bei PLATO z. B. im "Ion", "Menexenos", "Kratylos", "Protagoras", "Euthydem" und anderen Dialogen mit seinen Gegnern treibt.

Auch im Theaetet ist zum großen Teil, wie sich im einzelnen noch zeigen wird, mit dieser nicht immer gleich durchsichtigen sokratischen Ironie zu rechnen. Hat man dies auch stets anerkannt, so hat man doch gleichwohl wieder sehr vieles, mochte es dadurch auch noch so rätselhaft werden, als ernst aufgefaßt, was bei näherem Zusehen als offene Ironie gekennzeichnet ist und infolgedessen eine ganz andere Ausdeutung erfährt.


Die Bedeutung des Problems

Das Problem  ti estin episteme  ist bei PLATO, dem Fortbildner der sokratischen Philosophie, von besonderer Wichtigkeit dadurch, daß er das "Wissen", das jener (vgl. ZELLER II, Seite 470) nur als Erkenntnisprinzip aufgestellt hatte, zum Mittelpunkt eines wissenschaftlichen Lehrgebäudes gemacht hat. So sehen wir ihn in seinen Dialogen des öfteren Gelegenheit nehmen, dieses Problem zu streifen, zum Teil sogar es zu beantworten. Ja, trotz mancher Einräumungen, wie z. B. Meno 97B, Staat 430Af, pflegt er mit einer solchen unerschütterlichen Sicherheit bis zuletzt (vgl. die "Gesetze") über diesen Begriff, der ihm sowohl die Grundlage der Erkenntnis- wie der Tugendlehre bedeutet, zu sprechen, daß es zunächst einigermaßen befremdet, wenn im Theaetet die Untersuchung über die Grundlage seines Systems scheinbar ergebnislos verläuft, trotzdem ein ganzer Dialog dieser Frage gewidmet ist.

Schon mit der Formulierung des Themas geht PLATO bewußt über die Philosophie seines Meisters hinaus. Obwohl das Wissen sein Prinzip war, hat SOKRATES es doch nie erklärt, d. h.  definiert,  wohl aber sich in jeder Weise bemüht, den Begriff des Wissens durch Beispiele deutlich zu machen und wenigstens  erklärend zu umschreiben. 

Ihm, dem mit dem Begriff und der Sprache noch ringenden ist darum kein Vorwurf zu machen, daß er diesen Grundpfeiler seiner Philosophie noch nicht durch eine genaue Definition, d. h. wenigstens aufgrund seiner bestimmten Voraussetzungen festgelegt hat, zumal es eine vollkommen abschließende Realdefinition des Wissens (vgl. als ähnliche Fälle die Wörter "Philosophie", "Farbe", "Ton", "Materie") wohl auch nie geben wird.

Es ist von Wichtigkeit und aus logischen und erkenntnistheoretischen Gründen von Interesse, sich überhaupt einmal dieser Schwierigkeit klar zu werden, die einer  vollkommenen Wortdefinition  des Begriffs "Wissen" immer im Wege steht, und die, wenn man nicht genetisch erklären will, wohl schließlich doch nur zu einer Zirkeldefinition führt. Man wird so vielleicht die Vorsicht des SOKRATES-PLATO in unserem Dialog oder das Unvermögen des historischen SOKRATES ganz befreiflich finden.

Versuchen wir nun zu ergründen, wie des Meisters größter Schüler sich mit diesem Problem abfindet.

Betrachtet man die äußere Gliederung des Gesprächs, so fallen einem sofort zwei streng geschiedene Teile auf: Ein selbständiges Vorgespräch, welches ähnlich wie im "Parmenides", "Gastmahl", "Phaedon" über die Zuverlässigkeit des nachfolgenden Berichts aufklärt und das Hauptgespräch selber, als dessen Träger SOKRATES, PROTAGORAS, der junge THEAETET und sein Lehrer THEODORUS auftreten.

Schon über die Bedeutung des Vorgesprächs für den Gang der Untersuchung gehen die Meinungen auseinander.


Bedeutung des Vorgesprächs

Es ist stets aufgefallen (z. B. STEINHART, Seite 30), mit welchem Nachdruck in unserem Vorgespräch auf die größtmögliche Zuverlässigkeit in der Wiedergabe des Hauptgesprächs hingewiesen wird. Es wird nämlich nicht, wie sonst, von einem Gewährsmann bloß nacherzählt, sondern als eine wortgetreue, nach SOKRATES eigenen Angaben berichtigte Nachschrift eines stattgefundenen Gesprächs gekennzeichnet (Theaetet 145A). Das ist natürlich auffällig, und die Vermutung HORNs, Studien, Seite 205: "Es kann keine Zweifel unterliegen, daß PLATO schon durch die Form der Einkleidung uns sagen wollte, daß wir die in diesem Werk von SOKRATES vertretenen Gedanken als dessen  persönliches  Gut zu betrachten haben" scheint viel Bestechende zu haben. Aber diese aus dem Vorgespräch abgeleitete Annahme führt zum inneren Widerspruch. Denn die Kritik des ANTISTHENES in der 3. Definition ist offenbar nicht sokratisches Gut, sondern PLATOs eigene Polemik. Überdies will unser Dialog, wie wir bereits sahen, ein von SOKRATES ausdrücklich offen gelassenes Thema behandeln.

Wie vorsichtig man in der Aufstellung derartiger Folgerungen sein muß, die nur zu leicht von vornherein zu einer irrigen Auffassung des Ganzen verleiten können, zeigt die Nachricht des ANONYMUS (3), daß 2 Proömien [Vorspiele - wp] überliefert sind, eine Nachricht, mit der sich die bereits erwähnte Selbständigkeit des Vorgesprächs sehr gut verträgt.

Verlangt man gleichwohl nach einer Motivierung der Einkleidung, so erscheint als einzig erlaubte Kombination, und die nachfolgende Analyse wird ihre Wahrscheinlichkeit bestimmen: PLATO wollte sich durch das starke Betonen der angeblich sokratischen Gedanken dieser Untersuchung, die in Wahrheit über SOKRATES hinausging, als den eigentlichen Fortsetzer und Vollender des Meisters dem damaligen Publikum dokumentieren. Ein solches Bestreben von seiten PLATONs anzunehmen, - "Theaetet" also eine Streit- und Werbeschrift - hat große Wahrscheinlichkeit für sich und wird vielleicht noch verständlicher erscheinen, wenn man bedenkt, daß ebenso wie er, auch die übrigen Sokratiker (2) in  Sokratikoi logoi  den SOKRATES zum Träger ihrer Gespräche und ihrer Ansichten machten, ein jeder mit dem Anspruch, die unverfälschte Lehre des Meisters zu geben.

Das vom Vorgespräch inhaltlich völlig unabhängige Hauptgespräch wird eingeleitet durch eine genaue Formulierung des Problems und eine nicht minder beachtenswerte Auseinandersetzung über die sokratische Methode.


Die Behandlung des Problems

A. Formulierung

Die Formulierung des Themas (145D - 148D) entbehrt nicht einer gewissen Breite der Darstellung, und die verschiedenen Versuche, das Thema gleich bei der Aufstellung zu verdeutlichen, könnten zumindest etwas umständlich erscheinen. Doch wir dürfen hierbei nicht die Schwierigkeiten vergessen, die in der Natur der Sache lagen. Wenn je ein Wort in seinen verschiedenen Bedeutungen damals einer Verdeutlichung bedurfte, so war es das Wort  episteme.  Was man mit den verschiedenen Bedeutungen dieses Wortes bewußt oder unbewußt für einen Unfug treiben konnte, um zu den ungeheuerlichsten Trugschlüssen zu kommen, davon gibt uns der "Charmides" und besonders der "Euthydem" ergötzliche Proben, auch wenn man annimmt, daß PLATO manche Sophismata noch besser herausgeputzt hat.

Gegenüber der von PLATO oft gegeißelten Vorliebe der sophistischen Methode, das Thema schon im Wortlaut möglichst ungenau zu fassen, um dann bei der Dehnbarkeit der Begriffe umso ungehinderter mit Paradoxien blenden und verblüffen zu können, gibt der Theaetet ein nicht unbeabsichtigtes Gegenbeispiel. Daß wir mit dieser antisophistischen Tendenz und nicht etwa nur mit einer rein pädagotischen Absicht hier zu rechnen haben, zeigt die zum Teil ganz offene Ironie der Darstellung. Wie im "Meno" 71Cf, wo es als eine gorgianische Art und Weise der Beantwortung einer Frage getadelt wird, läßt PLATO die Frage nach dem Begriff des Wissens zunächst durch eine kritiklose Aufzählung der verschiedensten  epistemai  beantworten. Diese versteckte Polemik gegen eine bestimte, sophistische Methode gibt ihm die erwünschte Gelegenheit, seiner spottenden Ironie noch weiter freies Spiel zu lassen. Schon die Art und Weise wie (Theaetet 146D) die  skutotomike techne  "die Schusterwissenschaft" -  techne,  wie oft als Synonym für  episteme  gesetzt - als zum gesuchten episteme-Begriff zugehörig angeführt wird, mußte für den antiken Leser äußerst komisch wirken. Man muß nämlich berücksichtigen, wiePLATO-SOKRATES, z. B. im Theaetet 180D, den Standpunkt der Schuster einschätzt.

Wir haben oben die Schwierigkeiten erwähnt, die der sprachliche Ausdruck  episteme  mit sich brachte, und die nur zu leicht zu Mißverständnissen führen konnten.

Selbst beim strengeren Gebracht des Wortes "episteme", den man immer von dem auch bei PLATO sonst sich findenden vulgären Gebrauch unterscheiden muß, ist eine doppelte Bedeutung auseinanderzuhalten. Mit episteme kann man einmal, um einen modernen  terminus technicus  zu gebrauchen, die  Funktion  des Wissens, oder in platonischer Terminologie ausgedrückt, seine  Form  bezeichnen, dann aber auch den  Wissensinhalt.  In beiden (also durch Abstraktion gewonnenen) Begriffsnuancen gebraucht PLATO das Wort, und, wenngleich er beide Bedeutung manchmal im sprachlichen Ausdruck unterschied (3), so ist es doch bei ihm keineswegs die Regel, die Bedeutungsvarianten auch immer  sprachlich  zum Ausdruck zu bringen.

PLATO setzt eben voraus, daß der Zusammenhang derartige Bedeutungsunterschiede seinen Lesern ohnehin genügend klar machen würde. (4)

Schon die Berichtigung, die SOKRATES-PLATO (Theaetet 146E) dem ersten Versuch der Beantwortung der Frage durch die Aufzählung einzelner epistemai zuteil werden läßt, und das Verdeutlichen sowohl durch ein sinnlich konkretes Beispiel (147D) (5) wie durch ein mehr abstraktes Beispiel aus der Mathematik (147D) (6) zeigt, daß im Folgenden die Rede sein soll vom gemeinsamen Element der einzelnen Wissenschaften, von der  Form  des Wissens, von der Erkenntnis im strengsten Sinn.

Daß PLATO im Thema unseres Dialogs in erster Linie diese Seite des Wissens betrachtet wissen will, wie dies mit mehr oder weniger Nachdruck auch von anderen hervorgehoben worden ist, folgt aus der Selbstverständlichkeit, mit der im Laufe der Untersuchung von der  inhaltlichen  Bestimmung des Wissens als der  ousia  und der  aletheia  oder dem  apseudes einai  die Rede ist.

Besonders deutlich aber zeigt sich PLATONs Absicht in der Kritik der zweiten Definitioin, wenn er (201B) den THEAETET, der - im Hinblick auf das Objekt - keinen Unterschied zwischen "wahrer Vorstellung" und "Wissen" finden kann, durch SOKRATES auf die verschiedene  Entstehungsweise  der "alethes doxa" und "episteme", mithin auf einen funktionellen Unterschied aufmerksam macht (7).

Auch im Verlauf der Kritik der dritten Definition (209B) wird stark betont, daß der gesuchte Wissensbegriff nicht allein einer näheren Bestimmung des  Inhaltes  liegen kann. Denn für THEAETET ist dasselbe Objekt sowohl der  alethes doxa  wie der  episteme. 

Als eine kritische Untersuchung über das Wissen als  Funktion  kündigt sich der  Theaetet  also in erster Linie an oder vielmehr: er erweist sich als eine solche im weiteren Verlauf immer mehr.

Aber die oben festgestellte Auffassung des Themas, die, wie wir sehen, unstreitig ihre Berechtigung hat, darf andererseits nicht übertrieben betont werden, wie dies z. B. bei HORN der Fall ist, der so allerdings - es ist nur die Konsequenz - einen Widerspruch zwischen PLATONs Lehre im "Theaetet" und der im "Staat" feststellen muß, der sich in dieser Schärfe der Formulierung nur aufgrund einer einseitigen Betonung der oben bezeichneten Auffassung ergeben kann. (8)

Es fehlt nämlich im Lauf der Untersuchung (9) nicht an deutlichen Hinweisen, daß auch bei den  Objekten  der einzelnen Erkenntnis vermögen  (aisthesis, doxa, episteme) unterschieden werden muß, und daß das gesuchte Wissen auch sein charakteristisches  Objekt  hat (10), auf daß erst recht eigentlich das Kriterium  ousia  und  apseudes einai,  "Sein" und "Wahrheit" paßt (Theaetet 185Cf).

Bereits aus diesem flüchtigen Überblick wird klar geworden sein, daß für PLATO selbst ein  Gegensatz  "Staat-Theaetet", oder  Materie  und  Form  des Wissens gar nicht besteht, und daß alle Verschiedenheiten, die durch die eigenartige Betrachtungsweise leicht als Gegensätze erscheinen könnten, durch deutliche - man kann vielleicht sagen - vermittelnde Hinweise ausgeglichen werden (11). Inwieweit jedoch die oben festgestellte Fassung des Themas, die man (mit SCHLEIERMACHER und HORN) durch "Was ist Erkenntnis" wiedergeben möchte mit der letztgenannten im Theaetet anscheinend weniger hervortretenden Fassung "Was ist der Gegenstand des Wissens?" sich kreuzt oder auch sich kreuzen mußte, wird sich in der folgenden Analyse der Behandlung des Problems noch näher zeigen.

Bevor aber PLATO nach dieser ausführlichen Entwicklung des Themas zur eigentlichen Behandlung übergeht, gedenkt er noch in eigentümlicher und nachdrücklicher Weise der sokratischen Methode, der  techne maieutike,  der Hebammenkunst, nach deren Grundsätzen die Untersuchung des Problems verfahren soll.


B. Exkurs über die Methode der Behandlung

Die äußere Motivierung dieser methodischen Erörterung ist darin gegeben, daß THEAETET, der schon an der Entwicklung der Fragestellung die Bedeutung des Problems erkannt hat (Theaetet 148C), und keine Beantwortung wagt (148B), ermuntert werden soll (148E), eine Absicht, die dann auch erreicht wird (151D). Außerdem paßt die lebensvolle Einkleidung, die so liebevoll und überzeugend zugleich eine von den Zeitgenossen des historischen SOKRATES (Theaetet 149A, Meno 80, 84B, Phaedo 89D) verkannte Eigentümlichkeit des Meisters tiefsinnig zu erklären versteht, vortrefflich in den Rahmen der in der Einleitung gegebenen Fiktion, wonach wir es mit echt sokratischen Gedanken zu tun hätten. Mit dieser Motivierung verträgt sich allerdings schlecht das Urteil JOELs, der (a. a. O. Seite 840f) die methodische Auseinandersetzung für eine "Narrenposse" erklärt. "PLATO mache sich über die von ANTISTHENES geprägte ganz unplatonische Vergleichung des SOKRATES mit einer Hebamme lustig". Diese Ansicht JOELs steht aber auch sonst mit den Tatsachen in denkbar größtem Widerspruch. So wird z. B. gerade diese Methode, deren Grundsätze eigentlich nur eine Konsequenz der echt platonischen Anamnesislehre sind, im "Meno" und "Charmides" als echt sokratisch gerühmt und im "Meno" durch ein Beispiel aus der Praxis - die Kateches mit dem Sklaven, Seite 82f - höchst instruktiv veranschaulicht. Auch die ganze Behandlung des Problems im  Theaetet  verfährt nach diesen Grundsätzen. PLATO selbst nimmt wiederholt im Lauf der Untersuchung die Gelegenheit wahr, in höchst treffenden Parallelen auf diesen Vergleich zurückzukommen, um damit seine eigene Methode zu veranschaulichen. (12)

Ebenso findet auch das  hepathein  (Theaetet 149C), das "Besingen" - die Methode der Gaukler und Scharlatane jener Zeit - im folgenden (Theaetet 157CD) seine bestimmte Ausdeutung: im Gespräch die Gedanken des Mitunterredners zur Entwicklung bringen und nicht - wie es die Sophisten taten - fertige Resultate mitzuteilen.

Nun sehen wir aber, daß Ausdrücke, die angeblich diese echt sokratisch-platonische Methode lächerlich machen sollen, wie z. B. das  hepathein  (149C, 157D) auch im "Meno" und "Charmides" (155Ef, 176Bf) vorkommen, Stellen, die in jeder Weise über die Vermutung erhaben sind, PLATO wollte durch seinen  Sokrates  jene Methode lächerlich machen. Im Gegenteil, alle derartigen Stellen sind ein Probe jener köstlichen Selbstironie, mit der SOKRATES bei PLATO seine unerreichbare geistige Überlegenheit zu milderns ucht, und ein Beweis dafür, wie gern eine derartige symbolische Einkleidung von PLATO angewandt wurde, um manches Triviale, Derbe und Naturwüchsige im Ausdruck, was seinem Meister nun einmal eigen war, zu vertiefen und zu verklären. Es bleibt dahingestellt, inwieweit der historische SOKRATES diesen Vergleich seiner Methode mit der  maieutike techne  bereits im einzelnen ausgeführt oder etwa nur angedeutet hat. Beziehungen und gelegentliche Äußerungen waren jedenfalls vorhanden und so wurde auch hierin die Fiktion der wahrheitsgetreuen Wiedergabe eines echt sokratischen Gesprächs gut gewahrt, bzw. eine gröbere (antisthenische?) Auslegung verbessert.

Nach der ausführlichen methodischen Erörterung, die trotz ihrer vielen inneren Beziehungen - charakteristisch für die sogenannten Episoden in PLATONs Still - als eine Abschweifung dargestellt wird (151D), beginnt 151D die eigentliche Behandlung des Problems.
LITERATUR - Ernst Stoelzel, Die Behandlung des Erkenntnisproblems bei Platon, Halle a. d. Saale 1908
    Anmerkungen

    1) HANS RAEDER, Seite 380: Der Theaetet kann nicht als eine kritische Einleitung in die positive Philosophie jener konstruktiven Dialoge betrachtet werden. Mit ihm beginnt vielmehr eine Kritik, die von der Ideenlehre wegführt.
    2) Nach DIOGENES LAERTIUS VI, 1 wollte die kynische Schule nichts anderes sein als die echte sokratische Lehre. Wir sind nur zu leicht geneigt, PLATO ohne weiteres als  den  Fortsetzer des SOKRATES anzusehen, was z. B. für ARISTOTELES (Metaphysik M4, 1078b) nicht ohne weiteres gegeben war.
    3) Um die  Form  des Wissens, den Denkprozeß selbst, gegenüber dem  Inhalt  zu kennzeichnen, spricht PLATO im "Staat" 477 von  gnosis,  477D von  dynamis.  Um den  Inhalt  oder das  Objekt  zu unterscheiden, setzt er  ousia, ontos on, aletheia, mathema, to noeton, to noema. 
    4)  Symosion  210C und 211C wird zur Wiedergabe desselben Begriffs einmal "episteme" und dann wieder  mathema  gebraucht. Von einer Methoden logischen Fortschritts kann also nicht die Rede sein. PLATO konnte eben in erlaubter Nachlässigkeit des Ausdrucks mit dem  einen  Wort bald den  Wissensinhalt  bald die  Funktion des Wissens  bezeichnen, sofern nicht wie im "Staat" 476C und 508f die Unterscheidung selbst zur Betrachtung gemacht wurde, und so auch der genaue sprachliche Ausdruck notwendig war.
    5) Theaetet 147D: Eine nähere Bestimung des Tons (pelos) ist es nicht, wenn man ihn zu erklären sucht durch "Ton des Töpfers" oder "des Ziegelverfertigers".
    6) Theaetet 147D: Alle die einzelnen Quadratwurzeln lassen sich unter die Begriffe des Rationalen und Irrationalen zusammenfassen.
    7) Theaetet 201B: Von  demselben  Gegenstand, von dem der  Augenzeuge  ein  "Wissen",  kann der  Richter  durch die Aussagen im besten Fall "eine richtige Meinung" bekommen. Es ist also mit voller Klarheit der Gedanke ausgedrückt: "Richtige Vorstellung" unterscheidet sich vom "Wissen" nicht so sehr durch den  Inhalt  als vielmehr durch die  Art  der Entstehung.
    8) HORNs Ansicht geht dahin: Im "Theaetet" hätte PLATO den charakteristischen Unterschied des Wissens nur in der  Form  des Wissens, im "Staat" dagegen, wo allerdings mehr von den  Ideen  die Rede ist, nur in der  Materie,  in den  Objekten  sehen wollen. Eine solche Entgegensetzung heißt jedoch eine Abstraktion in der Betrachtungsweise mit einer wirklichen Trennung im Gegenstand verwechseln.
    9) Vornehmlich in der Kritik der angeblichen  ousia  des Sensualismus, die nur eine  pheromene ousia  (179D) ein "relatives Sein" ist.
    10) Diese Tatsache ist dem angeblichen, von HORN konstruierten Gegensatz "Staat - Theaetet" entgegenzuhalten, der also in dieser Form  nicht  besteht. So findet z. B. auch BONITZ, Studien, Seite 91: "In allen diesen Äußerungen liegt ein Hinweis, daß nach PLATONs Überzeugung das Wissen ein durchaus anderes Objekt hat als Wahrnehmung und Vorstellung," PEIPERS, Erkenntnistheorie Platons, Seite 525 über Theaetet 185: "Das Hauptaugenmerk PLATONs ist auch hier darauf gerichtet, eine  besondere Art von Objekten  aufzuweisen, auf die das Erkennen gerichtet ist." Diese Feststellung sei schon hier gegen RAEDER, Platons Entwicklung, Seite 289f gemacht, der ebenfalls eine Unterscheidung der Objekte von PLATON im "Theaetet" aufgegeben findet.
    11) Eine gewisse Schwierigkeit,  beide  Betrachtungsweisen (einmal mehr  psychologisch  und dann wieder streng  ontologisch) nebeneinander  bestehen zu lassen, soll für unser heutiges Denken zugegeben werden. Denn betrachten wir das Wissen als geistige Funktion, so steht dem entgegen, daß wir gleichzeitig eine beschränkte Anzahl der Wissens objekte  annehmen, die anderen gegenüber ein höheres Sein hätten (ontos onta). Ein Unterschied im Erkennen ist also (nach PEIPERS, Seite 710) für uns mehr  graduell,  etwa der Deutlichkeit nach, und nicht zugleich qualitativ, den Objekten nach, bestimmt. Wie wenig wir aber berechtigt sind, solche Schwierigkeiten ohne weiteres auch für die platonische Denkweise anzunehmen, zeigt die Untersuchung im "Staat" 477C - 478B, besonders 478A. Dort gebraucht PLATO nämlich  beide  Kriterien (nach  Inhalt  und  Form)  gleichzeitig als unterscheidende Merkmale des  wahren  Wissens. Dies ist allerdings für unser nicht mehr so streng ontologisches Denken nur mit Gewaltsamkeit möglich, und so hat PEIPERS, "Erkenntnistheorie Platons", Seite 185, bei der Betrachtung dieser Stelle die Beweisführung PLATONs als auffällig und - unerklärbar bezeichnet. Aufgrund obiger Betrachtung dagegen ist jene Erörterung im Staat einmal ein schöner Beweis (gegen HORN und RAEDER), daß für platonisches Denken die oben erwähnte Schwierigkeit, beide Betrachtungsweise nebeneinander gelten zu lassen, jedenfalls keinen unüberbrückbaren Widerspruch bedeutet, sodann, daß eine dem Theaetet verwandte Betrachtung des Wissens als Funktion sich schon im Staat findet. Im Theaetet tritt allerdings diese Betrachtungsweise besonders deutlich hervor. Durch die Polemik wird PLATO nämlich fast unwillkürlich dazu getrieben gegen eine einseitige ontologische Denkweise Front zu machen, eben durch das Betonen des Wissens als Funktion. Diese interessanten Parallelen in PLATONs Denken - die allerdings ansich Gegensätze werden können, vielleicht sogar müssen - werden wir nun weiter unten bei der Betrachtung der 2. und 3. Definition zu verfolgen haben.
    12) Theaetet 157D, 160E, 161E. Zur richtigen Würdigung dieser stark ironischen Worte vgl. "Sophistes" 230Bf, wo diese Methode als die des wahren Philosophen hingestellt wird. Ferner Theaetet 184B, 210D.