cr-4ra-1K. VorländerOckhamB. RussellW. VossenkuhlH. J. Störig    
 
FRITZ MAUTHNER
Ockham

"Wenn man sich durch die schreckliche scholastische Form seiner Logik durchgewunden hat und für manche unfruchtbare Anstrengung doch wieder auch durch logische Feinheiten belohnt worden ist, entdeckt man am Ende, an welchem Punkte der berühmte Nominalist die bisherige Erkenntnistheorie entzweischlug."

Mit besserer Genauigkeit, als KANT der Vollender und zugleich der Überwinder der Aufklärung genannt worden ist, kann man OCKHAM den Vollender und Überwinder der Scholastik nennen; schon früh sah man in ihm das Haupt oder doch den Erneuerer des Nominalismus, der damals noch prägnanter Terminus genannt wurde (1).

Seine Zeit, die eine Neigung zu starren Bezeichnungen hatte, blieb nicht dabei stehen, von ihm als dem  Doctor invincibilis  zu reden; er hieß auch noch  Doctor singularis,  der  Inceptor venerabilis.  OCKHAM hat die Scholastik formell - und darum für uns fast unerträglich - womöglich noch subtiler gesteigert, als DUNS SCOTUS, zugleich aber hat er den Subtilitäten durch Skepsis die Spitzen abgebrochen und hat so wirklich die Erneuerung des freien Denkens eingeleitet, das dann über ihn hinaus, aber unter seinem Einflusse, in England mächtig wurde. Es führt ein sichtbarer Weg von OCKHAM über Bacon von Verulam, HOBBES und LOCKE zu HERBERT SPENCER.

OCKHAM, (gest. 1347) war Franziskaner, zu Oxford ein Schüler von Duns Scotus, in kirchlicher Hinsicht nicht einmal ein Ketzer. Ein Rebell gegen die Kurie nur als Politiker. Darum, weil er für PHILIPP den Schönen gegen den Pabst Partei ergriffen hatte, wurde er nach Avignon geladen und dort gefangen gehalten. Er hatte in einer besonderen Schrift als ein Gesinnungsgenosse der sogenannten Spiritualen (der strengeren Franziskaner) die Autokratie der Päpste bekämpft; sie sollten in weltlichen Dingen dem Kaiser und jetzt auch schon den Königen der Nationalstaaten unterstellt sein, in geistlichen Dingen der gesamten Kirche.

OCKHAM konnte aus Avignon zu Ludwig von Bayern nach München entfliehen, wo er gegen zwanzig Jahre auch als politischer Publizist tätig war und wahrscheinlich gestorben ist. Oft angeführt wurde der Satz, den er zum Kaiser Ludwig gesagt haben sollte: "Tu me defendas gladio et ego te defendam calamo." (2) Einem frommen Berichte, nach welchem Ockham erst 1350 zu Capua gestorben wäre, gottgefällig und in arger Reue wegen seiner politischen Schriften, ist kaum eine Bedeutung beizulegen.

Wenn man sich durch die schreckliche scholastische Form seiner Logik durchgewunden hat und für manche unfruchtbare Anstrengung doch wieder auch durch logische Feinheiten belohnt worden ist, entdeckt man am Ende, an welchem Punkte der berühmte Nominalist die bisherige Erkenntnistheorie (auch die des Duns Scotus) entzweischlug. Er redet von den verschiedenen Seelenvermögen nicht viel anders als alle anderen Scholastiker; da plötzlich aber, wo er die Erfassung der sinnlichen Welt durch den Geist behandelt, stellt es sich heraus, was zunächst wie ein Nebenumstand erscheint, daß ihm die Begriffe nicht mehr geheimnisvolle Abbilder der Wirklichkeit sind, sondern bloße Zeichen, "unwillkürliche" Zeichen; er denkt bei diesen Begriffen offenbar doch noch unklar an vorsprachliche Erzeugnisse des Geistes; aber dann werden ihm die Begriffsworte (ein unbewußtes Entstehen der Sprache war seiner Zeit unvorstellbar) zu willkürlichen Zeichen jener geistigen Begriffe, also zu Zeichen von Zeichen.

Was damit gewonnen wurde, das wird erst ganz deutlich, wenn man bei den früheren Scholastikern, und zumeist bei den gefeiertsten, unter der ewigen Verwechslung oder Vermischung von Ontologie und Logik gelitten hat; ARISTOTELES, der für den Begründer der Logik gilt, hatte diese Disziplin noch nicht völlig von einer primitiven Grammatik losgelöst, die christlichen Scholastiker hatten die Logik mit naturwissenschaftlichen Fragen überlastet, erst OCKHAM machte sie - durch Wiederbelebung des verketzterten Nominalismus - zur reinen Wissenschaft der Begriffe, der  termini,  zum Terminismus.

Die Kategorien, die Prädikabilien, die den christlichen Aristotelikern zum Beweise übernatürlicher Wirklichkeit dienten, wurden bei OCKHAM endlich zu bloßen Einteilungsgründen der Begriffe, zu Abstraktionen des Denkens. In der Wirklichkeit seien nur Einzeldinge, die Gemeinbegriffe oder Universalien nur im Denken. Dieser kritische, moderne Realismus - im Gegensatze zu dem scholastischen Wortrealismus - wird natürlich nicht in unserer Sprache vorgetragen; Ockham hält sich noch für verpflichtet, das Neue in alter Weise zu demonstrieren und zu deduzieren, es für die wahre Meinung des ARISTOTELES auszugeben und die abstrusesten Begriffe der Scholastik zu bemühen. Die Quiddität ist die Verbindung einer  materia particularis  und einer  forma particularis. 

Trotzdem gelangt er auf scholastischen Umwegen zu einer Weltanschauung, die, in unsere Sprache übersetzt, dem Sensualismus und Empirismus sehr nahe käme: kein Übergang führt von der Erkenntnis der sinnlichen, allein wirklichen Dinge zu einer Erkenntnis der übersinnlichen Dinge; durch logische Beweise kann das Dasein Gottes nicht einmal wahrscheinlich gemacht werden; aber es ist verdienstlich - OCKHAM gibt den Grund nicht an -, das Unbewiesene dennoch zu glauben. Die Lehre von der doppelten Wahrheit gewinnt ihre entschiedenste, beinahe schon ironische Gestalt: wir haben die Sätze der Theologie ohne Grund zu glauben, obgleich sie uns aus Gründen der Philosophie unwahrscheinlich oder unwahr scheinen.

Wir können nur selten wissen, ob innere Angst vor den letzten Geheimnissen oder äußere Todesangst den Terministen OCKHAM hinter solche Wortverstecke flüchten ließ; wir wissen nicht, ob es ein verzweifeltes Suchen nach dem unbewiesenen Gotte war oder ein wilder Hohn, wenn er einmal, um die Allmacht Gottes anschaulich zu machen, sagte: Gott hätte ebensogut die Natur eines Esels wie die eines Menschen annehmen können.

Nun ist aber nicht zu übersehen, daß OCKHAM erst recht ganz und gar Scholastiker war, daß er mit eigensinniger Einseitigkeit nur Begriffskritik übte, eben durch seinen Terminismus, daß er sich aber auf eine Kritik der Tradition, auf Bibel- oder Dogmenkritik gar nicht einließ. Als ob es vor ihm nicht schon Ansätze zu einer solchen historischen Kritik gegeben hätte, verbohrte er sich in begriffliche Haarspaltereien wie die anderen Gelehrten der Hochscholastik, nur daß er freilich dabei die Begriffe der Theologie zerfaserte; die Dogmatik der kirchlichen Autorität war ihm die andere Wahrheit, an die er nicht rührte.
LITERATUR, Fritz Mauthner, Ockham, in ders. "Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande," Bd.I, Frankfurt/Main 1989
    Anmerkungen
    1) Terminus hat eine sehr krause Wortgeschichte. In der Logik kommt es zu der Bedeutung: Begriff, begrenzter, definierter Begriff; der sogenannte Nominalismus war wirklich Terminus, weil er es nicht mit den Worten der Gemeinsprache, sondern eigentlich mit den Begriffen der Logik zu tun hatte.
  1. "Verteidige mich mit dem Schwert und ich werde dich mit der Feder verteidigen."