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JOHANN FRIEDRICH HERBART
Psychologie als Wissenschaft
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"Übrigens kenne ich die Macht der Vorurteile; und wenn man aus dem hier vorliegenden Buch ebenso deutlich herausliest, ich sei ein vollkommener Empirist, als aus jenem, ich sei Gegner aller Erfahrung, so werde ich mich darüber nicht mehr wundern, und nicht sehr betrüben. Mißdeutung ist für jede neue Lehre das alte Schicksal;"

Vorrede

Die Philosophie stand in ihrer Blüte zu KANTs und FICHTEs Zeiten; jetzt welkt sie, allein ihre Wurzeln sind unvergänglich und sie kann sich wieder aufrichten, wenn dem Untersuchungsgeist neue Nahrung dargeboten wird. Damit mir dieses mein Vorhaben erleichtert werde, bitte ich den Leser, sich in jene Periode des eifrigen Strebens, der unglücklicherweise eine zweite des Schwindels und eine dritte der Abspannung gefolgt ist, zurückzuversetzen; über alles, was nachkam, aber fürs erste einen Schleier fallen zu lassen. Es ist kein Wunder, wenn eine Kraft sich verzehrt und erschöpft, indem sie arbeitet, ohne die notwendigen Hilfsmittel zu besitzen. Aber es ist zu wünschen und vielleicht zu hoffen, daß, nachdem die Hilfsmittel gefunden sind, nun auch der Wille zurückkehre, sich ihrer zu bedienen.

KANT wurde Idealist wider seinen Willen; er hat seine Anhänglichkeit an die Dinge ansich nie verleugnet, obgleich er die Unmöglichkeit behauptete, sie zu erkennen. FICHTE ergabe sich dem Idealismus williger, wiewohl auch nocht mit einigem Widerstreben; aber ihm geschah es wider seine Absicht, daß er ein von tausend Bedingungen umwickelts Ich zum Vorschein brachte, obgleich er das absolute Ich auf den Thron zu heben gedachte. Ein absoutes Urwesen, Grund der Welt und Grund des Ich, ließ sich SCHELLING gefallen; er wurde Spinozist vielleicht ebensosehr wider sein Wollen und Meinen, als KANT Idealist gewesen war. - Wenn nun die Geschichte der Philosophie diese Ereignisse kurz erzählen will, so wird sie sagen: die Begriffe verwandeln sich den Philosophen unter den Händen unwillkürlich, während sie sie bearbeiten. Wenn aber die Philosophie selbst zu dieser Geschichte hinzukommt: so muß sie in dem scheinbar zufälligen Ereignis das Notwendige und in den besonderen Fällen das Allgemeine nachweisen, was sich in jenen Beispielen nur unvollkommen abspiegelt.

Richtige Erkenntnis dieser notwendigen und allgemeinen Umwandlung gewisser Begriffe im Denken, ist das erste Hilfsmittel, welches bisher gefehlt hat.

Mathematische Untersuchungen über den Zusammenhang und den Lauf unserer Vorstellungen sind das zweite. Die Seelenvermögen waren ein Surrogat, dessen sich bisher nicht bloß die empirische Psychologie, sondern auch KANT bei seinem kritischen Unternehmen bediente. FREYER von Vorurteilen in diesem Punkt zeigt sich FICHTE; er wollte zu den Produkten des menschlichen Geistes die Akte des Produzierens finden. Warum hat man diese notwendige Untersuchung vernachlässigt? Ohne Zweifel aus zwei Gründen. Erstens, weil FICHTE in dieser Hinsicht wirklich bloß gewollt, aber nichts geleistet hat, auch bei seinem Verfahren nichts leisten konnte; kein Wunder, daß nun die Fortsetzung unterblieb, da gar kein Anfang gegeben war. Zweitens, weil man sich blenden ließ von der Kehrseite des FICHTEschen Unternehmens, nämlich von dem gigantischen Projekt, aus dem Ich die Welt zu deduzieren. Man verließ zwar das Ich, aber man behielt die weltumspannende Tendenz. Kennen wir denn unseren Standpunkt auf dieser Erde noch so wenig, um uns kosmologischen Träumen hinzugeben? Ist etwa der Himmel jetzt noch eine Kugel für uns, in deren Mitte wir auf einer unermeßlichen Ebene feststehen? Welt-Ansichten gehören dem Glauben; aber die wahre Philosophie sagt nicht mehr als sie weiß. Und um etwas zu wissen, prüft sie die Anschauungen jeder Art, die ihr gegeben sind, ohne irgendeiner unbedingt zu vertrauen.

Man wird mich nun fragen, wie denn mathematische Untersuchungen über den menschlichen Geist möglich seien? Und welchen Gewinn sie bringen? Auf die erste Frage kann nicht die Vorrede, sondern nur das Buch antworten; über die zweite sollen hier einige Worte Platz finden.

Die Psychologie hat einige Ähnlichkeit mit der Physiologie; wie diese den Leib aus Fibern, so konstruiert sie den Geist aus Vorstellungsreihen. Und wie dort die Reizbarkeit der Fibern ein Hauptproblem, so ist hier die Reizbarkeit der Vorstellungsreihen gerade das, wovon alle weitere Erkenntnis der geistigen Tätigkeiten abhängt. Man wird aber dieses Buch nicht halb, sondern ganz lesen müssen, um hiervon unterrichtet zu werden. Dem zweiten Teil dieses Werks, welcher die psychologischen Tatsachen auf ihre Gründe zurückführen soll, ist es vorbehalten zu zeigen, daß die Spannung in den Vorstellungsreihen ebensowohl der Grund der Gemütszustände, als die Ordnung, in welcher jede Vorstellung auf die übrigen mit ihr verbundenen wirkt, der Grund aller Formen ist, welche wir in unserem Anschauen und Denken bemerken. Aber die Ordnung beruth hier auf einem Mehr oder Weniger der Verbindung; die Spannung auf einem Mehr oder Weniger der Hemmung; beides hängt innig zusammen; jedoch niemand hoffe davon etwas zu begreifen, wenn er nicht rechnen will. Kann er doch ohne dieses Hilfsmittel nicht einmal die Gestalt und die Spannung einer Kette begreifen, wie wollte er die Gestalt und die Wirksamkeit seiner unermeßlich vielfach verwebten Vorstellungen aus ihren Gründen erkennen? Aber gerade so wie eine an zwei festen Punkten aufgehängte Kette dem gemeinen Beschauer ein gemeines Ding zu sein scheint, das er gedankenlos ansieht, ohne sich um die ungleiche Spannung, um das Gesetz ihres Wachsens und Abnehmens, um die Abhängigkeit der Krümmung von der Spannung, das heißt, der äußeren Erscheinung des Ganzen von der Wechselwirkung der einzelnen Teile, zu bekümmern: gerade so gedankenlos steht seit Jahrhunderten die empirische Psychologie vor dem Schauspiel, was die von ihr sogenannte Assoziatione der Ideen ihr darbietet, sie erzählt, daß sich die Vorstellungen nach Raum und Zeit assoziieren; und es fällt ihr nicht einmal ein, daß alle Räumlichkeit und Zeitlichkeit eben nur die näheren Bestimmungen dieser Assoziation sind, die in der Wirklichkeit nicht so schwankend vorhanden ist, wie die gangbare Beschreibung davon lautet, sondern mit der strengsten mathematischen Regelmäßigkeit sich erzeugt und fortwirkt. Wo nun die allerersten Elemente von Kenntnis der geistigen Natur noch so unbekannt und ungeahndet liegen: da wolle man von Verstand und Vernunft doch ja lieber schweigen als reden! Man kennt davon nichts, als die Außenseite; und alles, was vermeintlich darauf gebaut wurde, ist nichts als ein Wunsch, der künftig einmal erfüllt werden kann, wenn man erst einen Begriff haben wird von der Arbeit, die dazu nötig ist.

Was ich hier gesagt habe, kann nicht hart klingen für wahrheitsliebende Männer; und es kann dem Publikum nicht unerwartet sein, welches so viele Jahre lang Zeuge war vom endlosen Streit der Schulen; vielmehr wird man hieraus längst geschlossen haben, daß es allen Parteien an den entscheidenen Gründen fehlte. Und gerade dieser Umstand ist der Ursprung der Parteilichkeit. Wenn die Mathematiker streiten, so rechnen sie; und die Rechnung bindet dergestalt alle Willkür, daß der Versuch jeder Widerrede aufhören muß. Die Philosophie wird nicht alles berechnen können, aber sie wird große Schritte tun können, damit sich in ihr das Gewisse vom Ungewissen sondert; und wenn der Streit der Schulen fortdauert, so wird er sich doch mäßigen und nicht mehr, wie jetzt, zu unheilbarem Zwiespalt führen, der ein noch weit größeres Übel ist, als selbst der lauteste Streit, so lange er mit der Aussicht auf eine künftige Vereinigung geführt wird.

Hiermit sind meine Ansichten und Gesinnungen hinreichend angedeutet; besonders wenn man das hinzudenkt, was ich in Anbetracht der heutigen Schulen, worüber ernst und ausführlich zu rden ich mich dringend veranlaßt finden könnte, - hier verschweige und selbst im Buch nur selten berührt habe; weil ich lieber will, daß sich die Knoten allmählich lüften und lösen, als daß sie sich durch eine heftige Behandlung noch mehr zusammenziehn. Aussprechen muß ich jedoch, daß während eines vollen Vierteljahrhunderts ankämpfend gegen Wind und Strom, ich nur mit äußerster Anstrengung meine Richtung habe behaupten können und daß ich ohne die Stütze der Mathematik sicherlich hätte unterliegen müssen. Auf den Schwierigkeiten, die mir ein widerwärtiges Zeitalter in den Weg legte, beruth mein Anspruch auf nachsichtige Beurteilung von Seiten eines kompetenten Richters, welchem früher oder später mein Werk begegnen wird. Sorgfältige Vergleichung desselben mit meinen früheren Schriften darf ich in Fällen, wo etwas dunkel scheinen möchte, wohl von jedem aufmerksamen Leser erwarten.

Noch ein Wort habe ich zu sagen über den Gang der vorliegenden Untersuchungen in Bezug auf die  Verschiedenheit  der Leser. Für manchen würde es ohne Zweifel bequemer gewesen sein, wenn ich die Grundlinien der Statik und Mechanik des Geistes geradezu auf den empirischen Boden gestellt hätte. Da es hierbei nur auf die Hemmung unter entgegengesetzten Vorstellungen ankomt, welche sich ziemlich deutlich unmittelbar in der Erfahrung zu erkennen gibt: so hätte ich recht füglich im Geist der Mathematiker an ein Gegebenes die Rechnung knüpfen können; man würde mir den Satz: daß sich entgegengesetzte Vorstellungen zum Teil in ein  Streben vorzustellen  verwandeln, entweder als Tatsache zugegeben, oder, falls jemand seiner inneren Wahrnehmung nicht so viel zugetraut hätte (und das wäre allerdings auch bei mir der Fall gewesen), wenigstens die Hypothese gestattet haben, die sich alsdann durch ihre Fruchtbarkeit hätte rechtfertigen müssen. Allein hiermit wäre der geschichtliche Gang meiner Untersuchungen verdeckt worden. Diesen habe ich gerade im Gegenteil ganz offen dargestellt. Von der Untersuchung des Ich bin ich wirklich ausgegangen; die notwendigen Reflexionen über das Selbstbewußtsein haben sich von ihrer besonderen Veranlassung später losgemacht; daraus ist ein allgemeiner Ausdruck derselben entstanden, den ich  Methode der Beziehungen  nenne und auch für andere metaphysische Grundprobleme passend gefunden habe; zugleich ergab sich aus jenen Reflexionen der Begriff des  Strebens vorzustellen  mit einer solchen Bestimmtheit und Notwendigkeit, daß nunmehr auch seine Fähigkeit, sich der Rechnung zu unterwerfen, vor Augen lag; und erst viel später (als ich das Lehrbuch zur Psychologie niederschrieb) bemerkte ich, daß zum Zweck des Vortrags für solche, die man mit Metaphysik nicht behelligen darf oder will, das nämliche Prinzip auch als Hypothese dargestellt werden konnte. -

Wenn sich ein Individuum lange Jahre hindurch auf ein und derselben Linie des Forschens mit möglichster Behutsamkeit fortbewegt: so entsteht daraus für das eine Individuum eine Überzeugung, für das andere zunächst nur eine Tatsache auf dem Gebiet des wissenschaftlichen Denkens, die ihnen rein und vollständig, nur von zufälligen Nebenumständen gesondert, vorgelegt werden muß. Die Tatsache nach ihrer Art zu betrachten, ist ihre Sache; als ihre Pflicht aber kann man ihnen zumuten, daß sie dieselbe aufbewahren und unverfälscht weiter mitteilen, damit sie noch in späterer Zeit von anderen Augen gesehen und vielleicht anders ausgelegt werden kann.

Nichts verhindert übrigens, daß jeder Leser sich nach seinem Bedürfnis einen Anfangspunkt in diesem Buch aufsuche, der ihm bequmer ist, als der meinige. Man kann immerhin die metaphysische Untersuchung über das Ich, fürs erste wenigstens, ignorieren; man kann die Grundlinien der Statik und Mechanik des Geistes gleich Anfangs aufschlagen; es wird nicht gerade schwer sein, auch hiervon ausgehend, das Nachfolgende zu verstehen und man wird sich hiermit unmittelbar in den Besitz des Vorteils setzen, den mathematische Entwicklungen durch ihre natürliche Deutlichkeit gewähren.

Eine andere Klasse von Lesern kann ich mir denken, die wegen ihrer vorhandenen Angewöhnung beinahe nur von hinten anfangend sich einen Zugang zu diesen Untersuchungen zu schaffen aufgelegt sein dürften. Dahin gehören die, welche in ihrem System und eben deshalb in dessen Gedankenkreis festhängen, so daß ein Buch, worin nicht unmittelbar von denselben Gegenständen die Rede ist, die sie zu bedenken gewohnt sind, für sie eine Wüste ohne Ruhepunkt ist. Für solche Leser kann ich nicht schreiben! Sollte mir gleichwohl ein Besuch von ihnen zugedacht sein, so müßte ich bedauern, daß nicht der zweite Teil meines Werks zugleich mit dem ersten hat erscheinen können; wäre das der Fall, so würde es leichter als jetzt geschehen, daß man sich zuerst bei den Anwendungen orientierte und von da rückwärts zu den Gründen fortginge. Indessen enthält auch dieser erste Band am Ende einiges, das für manch anderen zur Einleitung gehören würde.

Will endlich jemand versuchen, sich auf meine Schultern zu stellen, um weiter zu sehen als ich: so darf er wenigstens nicht besorgen, daß unter mir der Boden einbreche. Denn ich stehe nicht (wie man bei oberflächlicher Ansicht behaupten könnte) auf der einzigen Spitze des Ich: sondern meine Basis ist so breit wie die gesamte Erfahrung. Zwar habe ich gesucht, einem einzigen Prinzip soviel als möglich abzugewinnen; aber außerdem habe ich auch die anderen Quellen des menschlichen Wissens benutzt; in welcher Hinsicht meine Einleitung in die Philosophie nachgesehen werden mag. Personen, die aufgelegt waren, mir Unrecht zu tun, haben zwar wieder den klaren Augenschein, den meine Einleitung darbietet, mich in den Ruf gebracht, als suchte ich einen Ruhm darin, der Erfahrung zu widersprechen; allein nicht alle Nachreden haften; und meine Versicherung wird doch auch einigen Glauben finden: es sei in der theoretischen Philosophie meine Hauptangelegenheit, die  Erfahrung mit sich selbst zu versöhnen.  Übrigens kenne ich die Macht der Vorurteile; und wenn man aus dem hier vorliegenden Buch ebenso deutlich herausliest, ich sei ein vollkommener Empirist, als aus jenem, ich sei Gegner aller Erfahrung, so werde ich mich darüber nicht mehr wundern, und nicht sehr betrüben. Mißdeutung ist für jede neue Lehre das alte Schicksal; und jetzt, da ich diese Blätter aus meinen Händen lasse, darf ich mich ruhig darin ergeben. Bereit fühle ich mich zu dieser Resignation; allein indem ich mir alle Umstände nochmals vergegenwärtige, glaube ich nicht, daß sie nötig ist. Deutlich gesprochen habe ich in diesem Buch. Und die Philosophie der letzten zwanzig Jahre ist ein Baum, den man im Grunde längst an seinen Früchten erkannt hat. Diese Philosophie ist keineswegs das Werk eines üblen Willens oder geistloser Köpfe; aber sie ist auch ebensowenig das Werk echter Spekulation; sondern das Kind eines Enthusiasmus, der es unterließ, sich selbst die kritischen Zügel anzulegen. KANT besaß den Geist der Kritik; aber welcher Mensch hat je sein Werk vollendet? - - Unvollendet blieb das Werk der Kritik. Darum konnte sich die Philosophie mit dem Wissen des Zeitalters, wie es in anderen Fächern fortwächst, nichts ins Gleichgewicht setzen. Vergebens sucht man Rat bei älteren Zeiten; sie wußten nicht mehr wie wir. DESCARTES, LOCKE, LEIBNIZ, SPINOZA, selbst PLATON und ARISTOTELES taugen bei uns nur zur Vorbereitung; in noch frühere Zeiten müßten wir wissentlich hineindichten, was die Dokumente nicht enthalten. Unsere Mathematiker und Physiker verachten die Philosophie der Zeit und sie haben nicht Unrecht. Die Kirche weiß, daß sie auf einem antiken und in seiner Art vollkommen klassischen Fundament beruth; für die allgemeinen Bedürfnisse der Menschheit ist längst gesorgt. Nicht so für die Angelegenheiten des Wissens und für das, was davon abhängt. Darum wolle man den neuen Versuch gefällig aufnehmen und ihn sorgfältig prüfen.
LITERATUR - Johann Friedrich Herbart, Psychologie als Wissenschaft - neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik, Königsberg 1824