ra-3cr-1Über den Begriff der KulturWas ist Kulturgeschichte?download50 KB    
 
WILHELM PERPEET
Formale Kulturphilosophie

"Das Interesse für den Wert der personalen Individualität bestimmt auch den Sinn und Zweck der kulturhistorischen Forschungspraxis: den gegenwärtig Lebenden bietet sie die Möglichkeit, sich des Wertes der Einmaligkeit als eines Menschheitswertes bewußt werden und bewußt bleiben zu können."

Gegenstand der formalen Kulturphilosophie sind die  Kulturwissenschaften  und deren  Denkformen.  Daher Titel wie "Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft" (HEINRICH RICKERT, 1899), "Kritische Studien auf dem Gebiete der kulturwissenschaftlichen Logik" (MAX WEBER, 1906), "Zur Logik der Kulturwissenschaften" (ERNST CASSIRER, 1942). Kommt "Geschichte" als Titelwort vor - wie in WILHELM WINDELBANDs Straßburger Rektoratsrede ("Geschichte und Naturwissenschaft", 1894) - oder ist vom "geschichtlichen" Erkennen die Rede - wie in HEINRICH MAIERs Kaisergeburtstagsrede ("Das geschichtliche Erkennen", 1914) - oder von Geschichtsphilosophie" - wie in GEORG SIMMELs Buch über "Probleme der Geschichtsphilosophie" (1892) -, dann tituliert "Geschichte" den umfassenden Komplex historisch verfahrender Wissenschaften und nicht die historische Fachwissenschaft im engeren Sinn. Die Eigenart kulturellen Lebens wird greifbarer in Kirchen-, Kunst-, Literatur-, Religionsgeschichte oder in den Geschichten der Rechts-, Sprach-, Wirtschaftswissenschaft usw. als in den "dramatischen" Historiographien von Haupt- und Staatsaktionen, von Schlachten und politischen Machtkämpfen.

Aber: In der historischen die einzige kulturwissenschaftliche Denkform zu sehen, ist unlogisch. Schon WILHELM DILTHEY unterschied innerhalb der Kulturwissenschaften zwischen historischen, systematisch-theoretischen und kritisch-praktischen Methoden und Aufgabenstellungen. Doch terminologische Schulbefangenheit hinderte WINDELBAND und HEINRICH RICKERT, diese Ansätze DILTHEYs zu berücksichtigen. Dieser vom Deutschen Idealismus herkommend - bevorzugte den Terminus "Geisteswissenschaften". In neukantianischen Ohren hatte das Begriffswort "Geist" einen psychologischen Klang. Wissenschaften vom Geist wurden für Wissenschaften von binnenseelischen Vorgängen gehalten. Also wurden DILTHEYs Beiträge abgewehrt und die Gleichsetzung von Kulturwissenschaft mit Kulturgeschichte vorübergehend verfestigt. Erst in den 20er Jahren kam diskussionslos ein "entweder-oder" zwischen Kultur- und Geisteswissenschaften auf. ERICH ROTHACKERs "Logik und Systematik der Geisteswissenschaften" (1926) verstand sich der Sache nach als eine Logik und Systematik der Kulturwissenschaften. Mit ihr gewann die formale Kulturphilosophie - sogar unter RICKERTs Beifall - philosophische Handbuchreife.

Es war keine logische Nötigung, derzufolge die "historische" Denkform die exemplarisch kulturwissenschaftliche hätte sein müssen. Der Anlaß war ein außerwissenschaftliches Motiv: ein leidenschaftliches Interesse für personale Individualität, das sich in einem bekennerhaft zu nennenden Pathos verrät. Nicht nur unverständlich war WINDELBAND das griechische Haften am Gattungsmäßigen und die Gleichsetzung des wahren Seins mit dem Allgemeinen. Er fand dies sogar beklagenswert:
"Ist es nicht ein unerträglicher Gedanke, daß ein geliebtes, ein verehrtes Wesen auch nur noch einmal ganz ebenso existiere? Ist es nicht schreckhaft, unausdenkbar, daß von uns selbst mit dieser unserer individuellen Eigenart noch ein zweites Exemplar in der Wirklichkeit vorhanden sein sollte? Daher das Grauenhafte, das Gespenstige in der Vorstellung des Doppelgängers - auch bei noch so großer zeitlicher Entfernung. Es ist mir immer peinlich gewesen, daß ein so geschmackvolles und feinfühliges Volk wie das griechische die durch seine ganze Philosophie hindurchgehende Lehre sich hat gefallen lassen, wonach in der periodischen Wiederkehr aller Dinge auch die Persönlichkeit mit allem ihren Tun und Leiden wiederkehren soll. Wie schlimm entwertet ist das Leben, wenn es genau so schon wer weiß wie oft dagewesen sein und wer weiß wie oft sich noch wiederholen soll - wie entsetzlich der Gedanke, daß ich als derselbe schon einmal dasselbe gelebt und gelitten, gestrebt und gestritten, geliebt und gehaßt, gedacht und gewollt haben soll und daß, wenn das große Weltjahr abgelaufen ist und die Zeit wiederkommt, ich dieselbe Rolle auf demselben Theater noch wieder und wieder soll abspielen müssen!"
Auch RICKERT sah das Ewige in der Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit des selbstgetätigten und selbstverantworteten Lebens: "Wir leben im Individuellen und Besonderen, und wir sind wirklich nur als Individuen." Das Individuelle und Einmalige allein ist wirklich geschehen..." Worin sich z. B. GOETHE und BISMARCK von anderen Menschen nicht unterscheiden, davon "hat die Geschichte ausdrücklich zu reden niemals Veranlassung". Zwar wird gelegentlich versichert, daß bei den Wörtern "lndividualität" zunächst nicht an Persönlichkeiten, sondern an jedes raum-zeitlich behandelte Gebilde, wie es z. B. 'dieses' Blatt an diesem Baum zu 'dieser' Zeit darstellt, zu denken sei.

Die hohe Selbstwerteinschätzung des personalen Selbst, das sich nur durch das wirklich und wertvoll weiß, was es mit keinem anderen gemeinsam hat, spielt aber nicht nur bei der Reduktion der kulturwissenschaftlichen Denkformen auf eine , und zwar die kulturhistorische, eine Rolle. Die methodologische Bestimmung derselben als idiographische bzw. individualisierende entspricht demselben außerwissenschaftlichen Selbstverständnis. Hat nämlich alle lebendige Wertbeurteilung ihren Ursprung in der Werteinschätzung der unvertretbaren und unvergleichbaren Einzigartigkeit menschlichen Lebens, dann muß auch daran festgehalten werden, daß sich alles Interesse und Beurteilen, alle Wertbesinnung des Menschen auf das Einzelne und das Einmalige bezieht. Daher WINDELBANDs methodologische Aufteilung der idiographischen Denkform an die empirisch-historischen Kulturwissenschaften und der nomothetischen an die empirischen Naturwissenschaften. Die Erkenntnisziele der letzteren sollen allgemeine Gesetze des Geschehens sein, die immer gelten und daher nur die Aussageform des apodiktischen (unwiderleglichen) Urteils vertragen. Die Erkenntnisziele der empirisch-historischen Kulturwissenschaften sind besondere Ereignisse, welche als sinnvolle Tatsachen einmal waren und daher nur die Aussageform des assertorischen (bestimmt behauptenden) Satzes vertragen. Ihr Erkenntnisinteresse ist
"entschieden darauf gerichtet, ein einzelnes, mehr oder minder ausgedehntes Geschehen von einmaliger, in der Zeit begrenzter Wirklichkeit zu voller und erschöpfender Darstellung zu bringen ... Da handelt es sich etwa um ein einzelnes Ereignis oder um eine zusammenhängende Reihe von Taten und Geschicken, um das Wesen und Leben eines einzelnen Mannes oder eines ganzen Volkes, um die Eigenart und die Entwicklung einer Sprache, einer Religion, einer Rechtsordnung, eines Erzeugnisses der Literatur, der Kunst oder der Wissenschaft: und jeder dieser Gegenstände verlangt eine seiner Besonderheit entsprechende Behandlung. Immer aber ist der Erkenntniszweck der, daß ein Gebilde des Menschenlebens, welches in einmaliger Wirklichkeit sich dargestellt hat..., verstanden werde."
Dazu ist eine schriftstellerische Kunst vonnöten. Nur als anschauliche Sprachform bewährt sich die idiographische Denkform; wie anders sollte sie "ein Gebilde der Vergangenheit in seiner ganzen individuellen Ausprägung zur ideellen Gegenwärtigkeit neu ... beleben können"? Daher die innere Verwandtschaft des historischen Schaffens mit dem ästhetischen und die der historischen Disziplinen mit den 'belles lettres'". Kritische Verarbeitung der Quellen, Materialien, und der Überlieferung verlangt zwar die Anstrengung der Begriffe. Aber ohne Anstrengung der Anschauung ist es kaum möglich "aus der Masse des Stoffes die wahre Gestalt des Vergangenen zu lebensvoller Deutlichkeit herauszuarbeiten" und Bilder zu liefern
"von Menschen und Menschenleben mit dem ganzen Reichtum ihrer eigenartigen Ausgestaltungen, aufbewahrt in ihrer vollen individuellen Lebendigkeit. So reden zu uns durch den Mund der Geschichte, aus der Vergessenheit zu neuem Leben erstanden, vergangene Sprachen und vergangene Völker, ihr Glauben und Gestalten, ihr Ringen nach Macht und Freiheit, ihr Dichten und Denken."
Das Interesse für den Wert der personalen Individualität bestimmt auch den Sinn und Zweck der kulturhistorischen Forschungspraxis: den gegenwärtig Lebenden bietet sie die Möglichkeit, sich des Wertes der Einmaligkeit als eines Menschheitswertes bewußt werden und bewußt bleiben zu können:
"Was so vom individuellen Menschenleben gilt, das gilt erst recht von der Gesamtheit des geschichtlichen Prozesses: er hat nur Wert, wenn er einmalig ist. Dies ist das Prinzip, welches die christliche Philosophie in der Patristik siegreich gegen den Hellenismus behauptet hat. Im Mittelpunkt ihrer Weltansicht standen von vornherein der Fall und die Erlösung des Menschengeschlechts als einmalige Tatsachen. Das war die erste große und starke Empfindung für das unveräußerliche metaphysische Recht der Historik, das Vergangene in dieser seiner einmaligen unwiederholbaren Wirklichkeit für die Erinnerung der Menschheit festzuhalten."
WINDELBAND war sich also auch bewußt, daß seine Bestimmung der kulturhistorischen Denk- und Sprachform als idiographische selbst wieder kulturgeschichtlich bedingt war. Ohne ein westeuropäisches, von LEIBNIZ wie von KANT wahrgenommenes und gepflegtes Vor- und Selbstverständnis wäre sie ihm nicht möglich gewesen. WINDELBAND "dachte" nicht nur aus dem Geist der Deutschen Historischen Schule, er "tätigte" ihn auch.

Mit der Widerlegung des wissenschaftstheoretischen Methodenmonismus durch die Entdeckung und Charakterisierung von zwei wissenschaftlichen Denkformen ist es aber nicht getan. Die Rückbindung beider an ein jeweiliges Interesse erfüllt noch keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Ein psychisches Faktum wie Interesse kann keine logische Begründungsfunktion übernehmen. Für RICKERT, dessen Philosophie-Idee die der Systemphilosophie war, dachte WINDELBAND viel zu psychologisch. Auf einem psychologischen Begriff wie dem des Interesses ist eine allgemeine Wissenschaftslehre nicht zu errichten. Zudem war nur versichert, daß, und und nicht begründet, warum die idiographische Denkform selbst innerhalb der Naturwissenschaften, z. B. beim Studium der Entwicklungsgeschichte des Organismus, legitim ist. Ebenfalls war nur versichert, daß, aber nicht begründet worden, warum nicht jedes Stück beglaubigter Vergangenheit eine "historische" Tatsache im Sinne eines einmaligen und unwiederholbaren Ereignisses genannt werden kann und in ihrem Einmaligkeitswert anschauungsnah beschrieben zu werden verdient.

Das elementarste Wissenschaftlichkeitsmoment von Methode ist die Gegenstandsbezogenheit derselben. Also wird ein Begriff von empirischer Wirklichkeit eingeführt, der so weit ist, daß er die systemlogische Begründung sowohl für die "individualisierende" (=idiographische) wie "generalisierende" (=nomothetische) Denkform zu leisten vermag. Wirklichkeit begreift RICKERT als ein X, das unabhängig von jedem Aufgefaßtwerden das ist, was es ist, und so ist, wie es ist. Was "Wirklichkeit" als Inbegriff bewußtseinsabhängigen An-sich-Seins, d.h. vor jedem Aufgefaßt- und Vorgestelltwerden ist, ist nicht wiß- und nicht sagbar. "Nehmen wir die Wirklichkeit nur hin, wie sie an und für sich ist, so können wir überhaupt nichts von ihr aussagen...", außer Negatives wie "unbegrenzt", "uneinheitlich", "unübersetzbar", "unerschöpflich" "vieldeutig" usw. Insofern ist die Wirklichkeit auch als "irrationale zu bestimmen. Irrationalität stellt die Unbegreiflichkeit Ihres An-sich-Seins klar. Als unvermittelte Unmittelbarkeit ist die Wirklichkeit jeder Begriffsbildung, der "individualisierenden" wie der "generalisierenden", entzogen: das empirisch-unmittelbar Wirkliche wird gedacht - und insofern widerspricht RICKERT seinem Wirklichkeitsbegriff doch -
  • als in grenzenlos stetigen Übergängen befindlich (= Satz der Kontinuität alles Wirklichen) und
  • als immer wieder anders als anderes (= Satz der Heterogenität alles Wirklichen). Als das in jedem seiner Teile heterogene Kontinuum ist Wirklichkeit weder im Sinne einer Abbildtheorie adäquat zu reproduzieren noch im Sinne einer Ausdrucks- und Einfühlungstheorie auch nur annähernd zu beschreiben.
Nun sind wir aber schon im Alltag nie völlig desorientiert. Auch im vor- und außerwissenschaftlichen Leben wissen wir meist, "woran" wir sind. Also haben wir doch Kontakt mit der Wirklichkeit, obgleich sie ihrer inhaltlichen Seite nach nicht wißbar sein soll. RICKERTs Begründung für diesen paradox anmutenden Sachverhalt: auch im vor- und außer-wissenschaftlichen Stadium ist die Wirklichkeit immer schon in zwei Hinsichten aufgefaßt, d. h. für uns von uns umgeformt. Noch bevor die Wissenschaften "Macht über die Wirklichkeit" bekommen, ist bereits "eine Art von unwillkürlicher (d. h. vorwissenschaftlicher) Begriffsbildung" im Gange:
"Weitaus die meisten Dinge und Vorgänge interessieren uns nur durch das, was sie mit einem anderen gemein haben, und daher achten wir auch nur auf dies Gemeinsame, obwohl tatsächlich jeder Teil der Wirklichkeit von jedem anderen individuell verschieden ist, und nichts in der Welt sich genau wiederholt. Weil die Individualität der meisten Objekte uns also gleichgültig ist, so kennen wir ihre Individualität auch nicht, sondern diese Objekte sind für uns nichts anderes, als  Exemplare  eines allgemeinen  Gattungsbegriffs,  die durch andere Exemplare desselben Begriffs ersetzt werden können, das heißt, wir sehen sie, obwohl sie niemals gleich  sind,  als gleich an, und bezeichnen sie daher auch nur mit allgemeinen Gattungsnamen. Diese jedem bekannte Beschränkung des Interesses auf das Allgemeine im Sinne des einer Gruppe von Gegenständen Gemeinsame oder die  generalisierende Auffassung,  auf Grund deren wir mit Unrecht glauben, es gäbe wirklich so etwas wie Gleichheit und Wiederholung in der Welt, ist für uns zugleich von großem praktischen Werte. Sie gliedert die unübersehbare Mannigfaltigkeit und Buntheit der Wirklichkeit für uns in bestimmter Weise und macht es uns möglich, daß wir uns in ihr zurechtfinden."
Die generalisierende Auffassung der Wirklichkeit, der wir uns alltäglich befleißigen, ist eine die Wirklichkeit "umbildende" Auffassung. Diese Umbildung verfälscht die Wirklichkeit aber nicht, weil die Wirklichkeit in ihrem An-sich-Sein nicht wißbar ist. Dank ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit "läßt" sie sich generalisierend bestimmen. Dank ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit "läßt" die als  heterogenes Kontinuum  terminierte Wirklichkeit aber auch eine der generalisierenden Auffassungsform entgegengesetzte zu, und dies auch schon im vor- und außerwissenschaftlichen Alltagsleben: jeder weiß, daß ihn an seiner Umgebung auch interessieren kann, was ihm unersetzlich vorkommt.
"Dieser oder jener Gegenstand kommt vielmehr gerade durch das für uns in Betracht, was ihm allein eigentümlich ist, und was ihn von allen anderen Objekten unterscheidet. Unser Interesse und unsere Kenntnis bezieht sich dann also gerade auf seine Individualität, auf das, was ihn unersetzlich macht, und wenn wir auch wissen, daß er sich ebenso wie andere Objekte als Exemplar eines Gattungsbegriffs auffassen  läßt,  so wollen wir ihn doch nicht als gleich mit anderen Dingen ansehen, sondern ihn ausdrücklich aus seiner Gruppe herausheben, was sprachlich darin seinen Ausdruck findet, daß wir ihn nicht mit einem Gattungsnamen, sondern mit einem Eigennamen bezeichnen."
Nichts ist "an sich" etwas Besonderes oder bloß ein unabgehobener "Fall von". Was uns den Reiz des Einmaligen zu haben scheint oder den des Wiederholten und Regelrechten - das eine wie das andere ist immer schon ein "Produkt unserer Auffassung der Wirklichkeit, d. h. unserer vorwissenschaftlichen Begriffsbildung".

Diese die Wirklichkeit "profilierende" Alltagspraxis findet ihre Fortsetzung in der Wissenschaftspraxis. Keine Wissenschaft knüpft an eine anschauungsfrei gegebene Wirklichkeit an. Jede gewinnt ihr Material aus den schon vorliegenden Produkten der vorwissenschaftlichen, d. h. unwillkürlichen Begriffsbildung der natürlichen Lebenspraxis. So gibt es nicht nur in unseren vorwissenschaftlichen Kenntnissen zwei prinzipiell verschiedene Wirklichkeitsauffassungen, die generalisierende und die individualisierende, sondern es entsprechen ihnen auch zwei in ihren Zielen und ebenso in ihren letzten Ergebnissen logisch prinzipiell verschiedene Arten der wissenschaftlichen Bearbeitung der Wirklichkeit.

WINDELBAND überließ die nomothetisch-generalisierende Denkform und die idiographisch-idealisierende einem lediglich inventarisierbaren Interesse. Erst mit RICKERTs Einführung eines ontologischen Begriffs von Wirklichkeit erhielten sie ihre systematische Begründung. Denn der Begriff eines heterogenen Kontinuums provoziert geradezu die Anwendung einer der beiden wissenschaftlichen Begriffsbildungen. Je nach mitgebrachter Einstellung wird dieselbe empirische Wirklichkeit "Natur" oder ("Kultur"-) Geschichte: sie "wird Natur, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle". Das unverbundene Nebeneinander beider Wissenschaftsgruppen war durch Bezug auf eine "an sich" unbestimmte Wirklichkeit in eine methodologische Einteilung verwandelt worden.

Einer weiteren Systematisierung bedurfte die "willkürliche" Aufreihung historischer Kulturwissenschaften wie Literatur-, Religions-, Sprachgeschichte usw. Gewiß sind sie insgesamt Sinnwissenschaften. Kulturhistorisch erkenn- und darstellbar ist nur Sinngewordenes. Nur dieses gilt als historische Tatsache. Daher ist nicht alles früher Geschehene als solches schon eine "historische" Tatsache. Denn geschehen ist auch viel Sinneutrales. Also sind die aus der Vergangenheit übriggebliebenen Materialien (Zeugnisse, Dokumente, Überlieferungsstränge, Nachwirkungen usw.) auszuwählen. Es muß miteinander verknüpft werden, "was irgendwie für die Erinnerung der Gattung, für ihre wertbestimmte Selbsterkenntnis bedeutsam werden kann". Auswahl und Verknüpfung überließ WINDELBAND wiederum dem Interesse - in RICKERTs Augen also nur einem psychologischen und somit untauglichen Begriff. Interesse bedeutete ihm soviel wie subjektivistisches Privatinteresse. Wenn überhaupt Interesse, dann Interesse an einem "Allgemeinen". Die Beziehung auf ein Allgemeines garantiert erst Wissenschaftlichkeit. Die erforderlichen Sehpunkte", unter denen die notwendigen historischen Synthesen zu vollziehen sind, dürfen nicht im "Getriebe der Zeitwellen" untergehen. Sie müssen im Ewigen", d. h. hier zeitlos Geltenden liegen. Gelegentlich hatte schon WINDELBAND den Begriff der zeitlosen Geltung mit dem des Sollens im Sinne normativer Wertgeltung verbunden. Aber es war mehr eine intellektuelle Stimmung, in der er meditierte:
"Ewig zeitlos ist ... nur dasjenige, was gilt, ohne sein zu müssen ... Wenn ich mich auf das besinne, was sein soll, wenn ich den zeitlos gültigen Zweck zu dem meinigen mache, dann hebe ich mich empor über die Welt, . . . dann stehe ich, mitten in der Zeit, doch im Zeitlosen und Ewigen ... dann herrscht in mir etwas, was keine Zeit erzeugen und keine Zeit vernichten kann, etwas, was zwar in mir als einem zeitlich bestimmten Wesen mit der Zeit erscheint und mit der Zeit selbst wieder verschwindet, was aber seinem Inhalt nach zeitlos gilt ... Wenn das, was sein soll, in meinem Bewußtsein ans Licht tritt, so ist mir in meinem an die Zeit gebundenen Denken so zu Mut, als sei jenes schon längst vom Anbeginn der Zeiten her vorhanden, und als hätte ich mich seiner nur zu entsinnen gehabt. In den Weihestunden dieser Besinnung vergesse ich die wirkliche Welt, und in mir breitet sich die zeitlose Ewigkeit aus. Ihr anzugehören, mit meinem ganzen Sein in dieses ewige Sollen aufzugehen, - das ist meine wahre und vollkommene, meine einzige Seligkeit."
Bekenntnisworte dieser Art brachten RICKERT auf die begrifflich-systematische Gleichung von Sinn und (Kultur-)Wert. Kulturwerte sind Eigenwerte und gelten als solche unabhängig vom Wert des bloß natürlichen, d. h. bloß "vitalen Lebens". Die zeitlos geltenden Kulturwerte übernehmen die Funktion der Gesichtspunkte, unter denen historische Materialien ausgesucht und zu historischen Tatsachen und deren Zusammenhängen verknüpft werden. Fungieren sie als Auswahl- und Verknüpfungsprinzipien der kulturhistorischen Forschungs- und Darstellungspraxis, dann scheint die Gefahr eines historischen Relativismus gebannt. Und nicht nur das: durch die Zuordnung zu logischen, ästhetischen, ethischen und religiösen Werten erhalten diese Wissenschaften auch ihre wohlbegründete innere Gliederung. Das individualisierende Verfahren bezieht sich jeweils auf einen Wert. Die Masse des historischen Stoffs profiliert sich durch die Bindung an das System der Werte von Staat, Recht, Kunst, Religion, Wissenschaft.

Ist aber Kultur der Inbegriff der Güter, die wir um ihrer Werte willen pflegen, so sind die historischen Kulturwissenschaften selbst auch "wert"volle Wissenschaften in zweifacher Hinsicht: erstens, sofern sie dem Wert der Wahrheit genugtun, und zweitens, sofern sie dem Leben in der Gegenwart den erforderlichen Sinn und damit auch einen Wert vermitteln. Denn H. RICKERT läßt keinen anderen Sinn von Sinn zu als den Sinn des Wertes. Ihm ist der Sinn von Wert der einzige Sinn von Sinn. Fragen nach "dem Sinn unseres Lebens" beantworten sich "nur aufgrund von Werten, die gelten ...". Daher ist in RICKERTs Logik der Kulturwissenschaften auch ein leicht vibrierendes Pathos inmitten subtiler Distinktionen zu hören.

Pathos in kulturphilosophischer Literatur ist nie nur ein Zeichen für Gefühlsbetelligung, sondern auch dafür, daß Grenzen des empirisch Wißbaren überschritten und Gedanken ins bloß denkbar Spekulative vorgetragen werden. Nicht zu bestätigen ist der Gedanke, daß Kulturgeschichte die einzige oder gar die schlechthin exemplarische Kulturwissenschaft sei. Vielmehr bilden die Philologien den Kern der Kulturwissenschaften. Als Interpretationswissenschaften haben die Philologien nicht die Darstellung der Einmaligkeit raumzeitlicher Ereignisse in ihrem Wertbezug zu ihrer Forschungspraxis zur Aufgabe, sondern die Würdigung, d. h. das Verständnis des Sinnreichen, das weit über die Wertsphäre hinausreicht und auch den Ausdrucks- und Sachsinn umfaßt. Nicht die historische (=idiographische bzw. individualisierende), sondern die verstehende Denkform scheint die kulturwissenschaftliche zu sein, schon deshalb, weil in jedem kulturwissenschaftlichen Fach mit und an Texten gearbeitet wird. Das Verstehen als kulturwissenschaftliche Erkenntnisform war DILTHEYs Hauptthema. Darum nannte er ebenfalls "monopolisierend" - die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften "verstehende" Wissenschaften. THEODOR LITT und ROTHACKER korrigierten in Anknüpfung an WILHELM DILTHEY die Einseitigkeit der Badischen Schule.

Auch die Beschränkung des Sinnes von Sinn auf den Soll-Sinn von Wert war ein bloß spekulativer Gedanke. Die Religions- oder Kunstgeschichte wird sicher keinen Ehrgeiz in der Darstellung von Sinnlosem (als Sinnfreiem oder Unsinnigem oder Widersinnigem) zeigen; auch eine Wissenschaftsgeschichte nicht oder die Geschichte irgendeines anderen Kulturzweiges. Nur fragt sich, ob erst der Bezug auf den Wert des Heiligen, des Wahren, der Schönen die individualisierende Forschung beflügelt und Allgemeingültigkeit in die Darstellung bringt. Vor lauter Grübelei über die Wertqualität des Heiligen, des Wahren bzw. des Schönen innerhalb der Sphäre des Normgemäßen kämen z. B. eine Ketzergeschichte wie die G. ARNOLDs oder eine Weltkunstgeschichte wie die H. LÜTZELERs kaum zum Zuge.

Blickschärfe für das einmalig Besondere und wissenschaftliche Strenge holen sich die Kulturwissenschaften weniger aus dem Bezug auf eine zeitlose Wertsphäre als aus dem Bezug auf eine interessegeleitete innere Anteilnahme an aktuellen Fragestellungen. MAX WEBER führte deshalb den erkenntnislogischen Begriff des "Interesses" ein, und ROTHACKER entfaltete in der gleichen Absicht den "Satz der Bedeutsamkeit". Wären zeitlos geltende Kulturwerte des Wahren, Guten, Schönen und Heiligen die Bedingung für ein wissenschaftlich strenges und individualisierendes Verfahren, müßten die Kulturwissenschaften geradezu ein abgeschlossenes System bilden, und zwar in spiegelbildlicher Analogie zum Wertsystem. Schon ein Vorlesungsverzeichnis aber zeigt eine auffällige Diskontinuität in der Gruppe der Kulturwissenschaften. Es gibt mehr theologische Lehrstühle und zahlreichere in zwei Fakultäten aufgefächerte theologische Spezialwissenschaften, als es Lehrstühle z. B. für Vergleichende Religionswissenschaft, für Indologie oder Ägyptologie gibt.

Vom überzeitlichen Wert des Heiligen ist dieses Übergewicht nicht zu begreifen, wohl aber mit Rücksicht auf ein aktuelles vor- und außerwissenschaftliches Interesse. ROTHACKER: "Wir interessieren uns eben für die christliche Religion intensiver als für die außerchristlichen Religionen, weil wir lange vor Beginn der akademischen Studien Christen waren und sind." Oder: In Geltung war der Wert des Schönen seit der antiken Ästhetik. Aber erst die Begeisterung für die Renaissancekunst konstituierte die Kunstgeschichte als eigenes Forschungsgebiet. Die Anstöße zur kulturwissenschaftlichen Forschung gibt die vor- und außerwissenschaftliche Lebenspraxis. Sie kommen z. Teil aus den Anforderungen der Berufsbildung, z. B. eines höheren politischen Unterrichts wie zur Zeit der Sophistik. Mit missionarischen Interessen der Kirchenpraxis und nationalstaatlich betriebener Außen- und Wirtschaftspolitik ist die fachliche Etablierung der Völkerkunde und der Vergleichenden Religionswissenschaft verflochten, mit der ökonomischen Entwicklung im 19. Jahrhundert die Wirtschaftsgeschichte, mit einem traditionsstarken Humanitätsideal die Auffächerung der einstigen Altertumswissenschaft in eigene Lehrstühle für Griechisch, Latein, Mittellatein, Archäologie und Alte Geschichte.

Die Kulturwissenschaften bilden deshalb kein System, weil sie "in der Praxis des Lebens selber erwachsen" und sie "ihre ersten Begriffe und Regeln zumeist in der Ausübung der gesellschaftlichen Funktionen" finden. Darum bleiben ihre Ausgangspunkte auch "wandelbar in die grenzenlose Zukunft hinein, solange nicht chinesische Erstarrung des Geisteslebens die Menschheit entwöhnt, neue Fragen an das immer gleiche unerschöpfliche Leben zu stellen. Ein System der Kulturwissenschaften auch nur in dem Sinne einer definitiven, objektiv gültigen, systematisierenden Fixierung der Fragen und Gebiete, von denen sie zu handeln berufen sein soll, wäre ein Unsinn in sich: stets kann bei einem solchen Versuch nur eine Aneinanderreihung von mehreren, spezifisch besonderen, untereinander vielfach heterogenen und disparaten Gesichtspunkten herauskommen, unter denen die Wirklichkeit für uns jeweils, Kultur, d.h. in ihrer Eigenart bedeutungsvoll war oder ist.

Aus der Verlegung der Bedingungen kulturwissenschaftlicher Forschungspraxis in die Sphäre des Subjektiv-Wandelbaren ist aber nicht zu folgern, daß auch ihre Resultate in der Bedeutung "subjektiv" seien, daß man sagen müßte, für den einen gelten sie und für den anderen nicht. Wechselhaft ist doch nur der Grad, in dem sich ein Kulturwissenschaftler mehr für den einen oder anderen Gegenstand interessiert. Im "Wie?", in der Methode der Forschung aber ist "der Forscher selbstverständlich hier wie überall an die Normen unseres Denkens gebunden. Denn wissenschaftliche Wahrheit ist nur, was für alle gelten will, die Wahrheit wollen.

Ein Irrtum ist auch der Gedanke, daß in allen Kulturwissenschaften eine einzige Methode getätigt würde oder sogar getätigt werden müßte. Von einem Methodenmonismus innerhalb der Kulturwissenschaften kann seit ROTHACKERs Entdeckung der tetralogischen Struktur der kulturwissenschaftlichen Fachrichtungen keine Rede mehr sein. Methodenpluralismus ist keine Forderung, sondern Praxis. Zunächst: die Kulturwissenschaften sind thematisch auf bestimmte Sachgebiete (=Kulturzweige, Kultursysteme) wie Sprache, Wirtschaft, Kunst usw. bezogen. Insofern heißen sie mit Recht auch Fachwissenschaften. Dann: keines der kulturwissenschaftlichen Fächer (Sprach-, Erziehungs-, Kunst-, Literatur-, Religions-, Wirtschafts-, Rechts-, Staatswissenschaften, Theologie als Wissenschaft der  sapientia dei  [Weisheit Gottes - wp] usw.) "muß" an methodischen Einfällen so arm sein, daß es nur als ein "historisches" den Wissenschaftlichkeitsanspruch einlösen kann.

Die fachwissenschaftlichen Sachfragen der Sprache, Erziehung, Dichtung, Kunst, Religion usw. lassen außer dem historisch berichtenden Verfahren mindestens noch drei weitere zu: ein systematisch-philosophisches, ein analytisch-theoretisches und ein dogmatisch-explizierendes. Somit "kann" sich jedes kulturwissenschaftliche Fach auf vierfache Weise methodisch ausweisen. Das gilt prinzipiell und besagt nicht, daß die historische, systematisierende, theoretische und dogmatische Denkform auch institutionalisiert sein und sogar innerhalb eines jeden Fachs von vier entsprechenden Lehrstuhlinhabern gepflegt werden müßten oder daß für jede Denkform mindestens ein Abteilungsleiter vorhanden sein oder ein Lehrauftrag erteilt sein müßte! Das kann sein! Aber es ist auch nicht nur eine Etat-Frage. Es kommt auf die faktische Interessenlage an.

ROTHACKERs Diagnose betrifft nur die virtuelle logische Aufgliederung nach vier relativ selbständigen Forschungstendenzen, welche "horizontal" die nebeneinanderliegenden Fachwissenschaften durchziehen. Ungeachtet des unterschiedlichen Sachbezugs sind z. B. Sprach-, Kunst-, Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Allgemeine Pädagogik, Systematische Theologie usw. durch ein eigenes interfraktionelles Methodenbewußtsein verbunden; ebenso Sprach-, Kunst-, Rechts-, Staats-, Wirtschaftstheorie (Poetik als Dichtungstheorie usw.); in gleicher Weise Sprach-, Kunst-, Rechts-, Staats-, Wirtschafts-, Literaturgeschichte. Auch die dogmatische Denkform ist eine kulturwissenschaftlich legitime Methode. Man muß sie nur aufzufinden wissen. In Theologie und Jurisprudenz ist sie unschwer zu erkennen: es gibt Lehrstühle dafür. Bei Fragen nach geltendem Recht verweist der Jurist auf das Gesetzbuch, das er erläutert. Bei Fragen nach religiösen Pflichten greift der Theologe zur Glaubenslehre, zum Katechismus, und erläutert diese.

Innerhalb der Sprachwissenschaft bekundet sich die dogmatische Denkform z. B. in klassischen Rhetoriken, Programmen der Sprachgesellschaften, Grammatiken, sofern sie als Anweisungen richtigen Sprechens und Schreibens traktiert werden. Innerhalb der Staatswissenschaften äußert sie sich z. B. in der politischen Literatur des Liberalismus, der Demokratie, des Sozialismus, aber auch in Staatsutopien und -prophetien. Dabei ist zu bemerken, daß die Kulturwissenschaften nicht nur innerhalb der akademischen Lehre und Forschung blühen. Von dogmatischer Denkform diktiert sind auch merkantilistische und physiokratische Lehren - soweit sie mit Pathos wirtschaftspolitische Wahrheiten verkünden und - in oder zwischen den Zeilen - auf Gesinnungs- und Stimmenwerbung aus sind. Kunstwissenschaftliche Literatur, die sich offiziell als philosophische oder ästhetische Kunstlehre anbietet, entpuppt sich oft genug als Kunstdogmatik.

So z. B. ist G. SULZERs "Allgemeine Theorie der schönen Künste" eine Kunstdogmatik des 18. Jahrhunderts oder E. LANDMANNs "Lehre vom Schönen" eine Kunstdogmatik des George-Kreises. Künstlerästhetiken", Programmschriften und erst recht apologetische Kunstliteratur sind dogmatisch gedacht. Die dogmatische Kulturkritik konnte oben von der philosophischen Kulturkritik unterschieden werden. Es sind vier virtuelle Bindestrich-"Disziplinen" als legitime kulturwissenschaftliche Forschungseinrichtungen anzunehmen; z. B. für die Sprachwissenschaft: Sprach-Dogmatik, Sprach-Theorie, Sprach-Philosophie und Sprach-Geschichte. Und so mit jedem anderen Fach. Kulturwissenschaftliche Fachleute repräsentieren also nicht nur die kulturhistorische, sondern auch die drei anderen Denkformen. Innerhalb dieser vier möglichen Einstellungen spielen sich in fruchtbaren Zeiten der Kulturwissenschaften die für diese typischen Methodenkämpfe ab.
LITERATUR - Wilhelm Perpeet in Hans-Ludwig Ollig (Hg), Materialien zur Neukantianismus-Diskussion, Darmstadt 1987
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