p-4ra-3HoltzendorffF. TönniesA. StorchE. DürrG. Simmel     
 
EMIL von GEBSATTEL
Der Einzelne und der Zuschauer

"Es ist bekannt, daß Maler künstlerisch zugrunde gehen, wenn sie vom Publikum auf  eine Art von Bildern festgelegt werden, der Tyrannei dieser einschränkenden Identifikation erliegen. Und wiederum gründet sich in solchen Zusammenhängen gewisser Politiker zweiten oder dritten Ranges, die mit der Berufung auf ihre  Konsequenz nur ausdrücken, daß sie sich, statt von den Forderungen der aktuellen Situation von der generellen Erwartung ihrer Parteigenossen leiten lassen."

"Man vergegenwärtige sich beispielsweise einen Redner. Entweder merken wir: er ist bei der Sache, ganz und gar mit dem Inhalt seines Vortrages beschäftigt und mit dem Zeigen dieses Inhaltes. Oder aber wir bemerken: er  bedient sich der Inhalte nur, um sich selber zu zeigen, er schiebt sich selbst zwischen seine Inhalte und stellt sich selber zur Schau. Es fällt uns z. B. seine Akzentuierung auf, die bewirkt, daß das Licht von den Gegenständen seines Vortrages auf seine Person zurückfällt. Der Redner verhält sich zu uns also nicht wie zu Lernenden oder Diskutierenden, sondern eben wie zu einem Publikum, d. h. wie zu Zuschauern."


I. Der Zuschauer

FRIEDRICH NIETZSCHE erwähnt einmal, das Verhältnis des griechischen Menschen zu seinen Göttern sei das eines Darstellers zu einer Schar von Zuschauern höherer Ordnung. Gilt diese Vermutung, so verhält sich der griechische Mensch zu sich selber, als agierte er im Angesicht des Olymp. Er blickt gleichsam auf die Götter und erfaßt in der göttlichen Zuschauerlust wie in Spiegeln seine eigne, nun festlich gesteigerte Person. Ohne Zweifel ist es die Publizität des gesamten griechischen Lebens, welche FRIEDRICH NIETZSCHE veranlaßt, das religiöse Leben nach Analogie des öffentlichen zu interpretieren. Indem er das versucht, leitet ihn die Gesetzmäßigkeit der hellenischen Einbildungskraft, welche von schaulustigen Impulsen geführt, dazu neigt, für den Inbegriff der Lebensvorgänge, für die Lebensdarstellung selbst, eine neue erhöhte Stufe der Sichtbarkeit anzunehmen und diese in eins zu setzen mit der Schwelle der göttlichen Anteilnahme.

In der Tat gehört aber der Zuschauer zu den unerläßlichen Bestandteilen der menschlichen Umgebung. Das individuelle Leben spielt sich vor Zuschauern ab, es bildet sich an Zuschauern heran. Man spricht von der "Bühne des öffentlichen Lebens" und sagt wohl von einer politisch wichtigen Persönlichkeit sie sei "en vue" [zur Ansicht - wp] oder "die  Augen  des ganzen Volkes ruhen auf ihr". Ja, man glaubt geradezu etwas über den Wert des Mannes zu erfahren, wenn man hört, er sei  "angesehen",  oder wenn es heißt, "die öffentliche Meinung habe ihn fallen lassen." Es gibt Autoren, welche "das Publikum brüskieren" und solche, welche "auf eine starke Publikumswirkung aus sind". So rechnet die natürliche Psychologie überall mit dem Zuschauer wie mit einem festen Bestandstück ihrer Welt. Soweit sie natürliche Moral ist, rühmt sie den Mann, der "unabhängig ist von der Meinung der Zuschauer".

Wie der Zuschauer zu den wesentlichsten Umgebungsbestandteilen des Menschen gehört, so die Auseinandersetzung mit ihm zu den wesentlichsten Antrieben der Selbstverwirklichung. Der Zuschauer in seiner eigentlichen Gestalt ist ja nicht der über wahrnehmbare Reaktionen hinausgehobene, olympische Gott. Er verhält sich zum Darsteller und der Darsteller verhält sich zu ihm. Er ergreift Partei für oder gegen den Einzelnen. Der Einzelne bildet den Zuschauer nach sich um oder wird umgebildet. Der Zuschauer ist einer der wichtigsten Anlässe der Selbsterfassung. Ein Kind z. B. verfolgt Hühner. Es geht auf in der grausamen Lust an der Angst der gescheuchten Tiere. Ein Erwachsener kommt vorbei, er äußert sich nicht, er sieht zu. Das Kind aber erschrickt, es fühlt sich gesehen, im Zuschauer erfaßt es sein Tun und den Wert dieses Tuns. Der Zuschauer in der natürliche Pädagoge, er erzieht durch sein bloßes Dasein. Soldaten berichten von ihrer Angst in der Schlacht. Stärker aber als die Angst vor dem Feind, sei die Angst gewesen, feige zu  erscheinen.  Das Bild der eigenen Mutlosigkeit im Zuschauer nicht entstehen zu lassen wurde für sie zum Ansporn, Mut vorzutäuschen. Und aus der Durchführung der mutigen Rolle entstand dann allmählich und wuchs der echte, vom Zuschauer unabhängige Mut.

Für unsere Zwecke ist es vorerst ohne Belang, wer als Zuschauer fungiert, ob eine bestimmte, vielleicht geliebte Person, ob eine moralische oder ästhetische Instanz, ob die soziale, dem einzelnen anwohnende Gruppe, oder die Öffentlichkeit überhaupt. Auch daß den Graden der Unabhängigkeit vom Zuschauer Grade der Freiheit entsprechen, kümmert uns vorerst nicht. Es handelt sich einzig und allein um die Phänomene, nicht um deren Bewertung. Was treibt z. B. König Kandaules, daß Rhodopens Besitz ihn freudlos findet (1), es sei denn er genieße, aufgenommen in sein Glück, die neidischen Augen des Zuschauers mit? LA ROCHEFOUCAULD, der als Franzose erfahren ist in der Dialektik von Liebe und Sozietät, stellt es in gewissem Sinn fest, wenn er sagt, die meisten Liebhaber würden aufhören, Liebende zu sein, wüßten sie sich nicht in ihrer Rolle beneidet. Das heißt, erst der Hinblick auf den Neid des Zuschauers macht den Mann von Welt zum Liebhaber. Nicht der individuelle Wert der Geliebten verführt ihn, sondern der Affekt, der im Zuschauer entsteht, wenn sich er, Herr  X,  diese bestimmte soziale "Figur", mit ihr, der in den "Augen der Welt" Bevorzugten verbindet.

Überhaupt gibt es für den Charakterologen keinen prinzipielleren Unterschied zwischen Menschen als den, ob sie an irgendwelchen Realitäten in deren Selbstgegebenheit ihr Dasein orientieren, oder ob sie sich erst durch den Zuschauer hindurch zu ihnen verhalten. Wie LA ROCHEFOUCAULDs Liebhaber zur Frau, so verhält sich der spezifisch soziale Mensch zum Vaterland, zur Kirche, zu irgendwelchen Wertgebieten, zu Gott. Sicherlich gelangen viele, die, wie man sagt, dem Vaterland oder dem Staat dienen, nicht anders zur Einsicht in seine Existenz, als vermöge der formalen Folgerichtigkeit von Beifall und Kritik, zu welcher ihre Handlungen die anwohnende Gruppe der Berufsgenossen bewegen. Es geschieht dann das Besondere, daß nicht "das Vaterland" und sein Anspruch auf Selbsthingabe konstitutiv wird für die moralische Persönlichkeit des Dienenden, sondern der Zuschauer und die Regeln seines Beifalls oder seiner Kritik.

Vom Mitglied der Sozietät entsteht im Zuschauer ein Bild und die Angleichung an dieses Bild ist vielfach das Gesetz einer moralischen Existenz. Wieviele Menschen entwickeln aus keinem anderen Grund Geist, als daß sie im Ruf stehen Geist zu besitzen. RIVAROL hat mindestens zehn Jahre seines Lebens nur den RIVAROL kopiert, von dem alle Leute sagten, er sei der spirituellste Mann Frankreichs. Überall fast ins Leben der großen Verführer kommt der Zeitpunkt, von wo aus sie sich nicht mehr aus spontaner Leidenschaft um Frauen bemühen, sondern in der Hingabe an das allgemein verbreitete Bild ihres Don-Juanismus. Bildet die ansteigende Lebenskraft vielleicht die Ansicht der Zuschauer über unsere Person nach Maßgabe der eigenen Lebensbedürfnisse um, so übernimmt umgekehrt, bei nachlassender Plastizität oft die Erwartung des Zuschauers die Leitung und determiniert die Affekte, Haltungen, Handlungen einer Person zu Derivaten [Ableitungen - wp] der sozialen Ansicht über sie. Es ist bekannt, daß Maler künstlerisch zugrunde gehen, weil sie vom Publikum auf  eine  Art von Bildern festgelegt, der Tyrannei dieser einschränkenden Identifikation erliegen. Und wiederum gründet sich in solchen Zusammenhängen gewisser Politiker zweiten oder dritten Ranges, die mit der Berufung auf ihre "Konsequenz" nur ausdrücken, daß sie sich, statt von den Forderungen der aktuellen Situation von der generellen Erwartung ihrer Parteigenossen leiten lassen.

Immerhin begründet die feste Wahl einer bestimmen Zuschauergruppe noch eine wertvolle Kontinuität und Einheitlichkeit auch der vom Zuschauer wesentlich determinierten Persönlichkeit, die schwindet in dem Augenblick, wo durch ein Übergewicht der plastischen Tendenzen über die organisatorischen der Mensch zur Kreatur jedes beliebigen Anwesenden herabsinkt.  "Platon,"  sagt PLUTARCH in seiner Untersuchung über den Schmeichler, diesem antiken Pendant des Hysterikers -  "Platon  zeigte sich in Syrakus nicht anders als in der Akademie und gegen  Dionysos  ebenso wie gegen den  Dion." 
    "Alkibiades  dagegen zeichnete sich in Athen durch seine Witze, seinen Marstall, sein angenehmes und heiteres Lebens aus; zu Lakedämon aber schor er sich kahl, legte einen abgetragenen Mantel an und badete im Kalten; in Thrakien führte er Kriege und soff; als er aber nach Tissaphernes gekommen war, ergab er sich der Üppigkeit, Weichlichkeit und dem Großtun."
Hier  schwindet  also bereits die Wirksamkeit eines individuellen Prinzips der Lebensführung, welches sich sonst in der Selektion  eines,  spezifischen Selbstverwirklichungstendenzen homogenen Zuschauers, aus dem Bereich aller möglichen Zuschauertypen dokumentiert.

Es fehlt dieses individuelle Prinzip der Lebensführung aber vollständig in gewissen extremen Fällen der Hysterie. Diese Fälle sind charakterisiert durch die absolute Souveränität des Zuschauers. Der Zuschauer gewinnt solchen Kranken gegenüber die Bedeutung, welche eine falsche Milieutheorie der Umgebung des Menschen überhaupt zuschreibt: er erzeugt ihn. Der Kranke ist "das Produkt" des jeweiligen Zuschauers. Von jedem zufällig Anwesenden gehen suggestive Umbildungsanstöße aus, die der Kranke mit erstaunlichem Geschick verwendet, um sein Selbst aufzubauen und ein Spontaneitätszentrum vorzutäuschen, das ihm fehlt. Man sieht solche Leute sich fromm gebärden unter den Frommen, traurig unter den Traurigen, kunstbegeistert unter Künstlern; oder in subtileren Anpassungsvorgängen ein rasch erfundenes Gegenbild zum Zuschauer zu realisieren, zu dem der Zuschauer vielleicht mit Abscheu, Teilnahme, Leidenschaft in Werturteilen und Affekten stellungnehmend sich verhält. In der Aktion des Zuschauers, die durch ihn, den Kranken, ausgelöst wurde, erfaßt der Kranke sich mit und kommt für kurze Zeit zum Gefühl eines Selbst. Die Reaktion des Zuschauers wird ihm gleichsam zum Beweis seiner Existenz; für kurze Zeit täuscht den Kranken die fremde Lebensfülle, die abzulenken und auf sich zu beziehen ihm gelang, über seine eigene Lebensohnmacht hinweg.

Der Psychologe konstatiert also zwei Grenzfälle in der Auseinandersetzung der Einzelperson mit dem Zuschauer: einerseits die volle Unabhängigkeit des "in sich Ruhenden" vom sozialen Zuschauer (im Gegensatz zum "göttlichen Zuschauer" oder "dem Auge der Tugend"; vgl. PHILOSTRAT der Ältere, Leben des Appollonius von Tyana, erstes Buch, Kap. 35) - und dann die absolute Souveränität des Zuschauers im Hysteriker. Der Psychologe stellt weiterhin die Frage, welche psychischen Faktoren denn die Verbindung herstellen zwischen der Einzelperson und einer als "Zuschauer" charakterisierten Umgebung. Offenbar nämlich selektiert, wer zur Umgebung wie zu den Zuschauern sich verhält, von allen möglichen Beziehungen zu ihr eine besondere aus.

Er verhält sich zur Umgebung dann nicht wie zu den Gegenständen der Liebe oder des Hasses, nicht wie zu Beherrschten, Geleiteten oder Leitenden, auch nicht wie zu Gegenständen des Genusses oder des Nutzens, sondern eben wie zu Zuschauern. Dementsprechend haftet seinen Lebensäußerungen ein spezifischer, von allen reinen Ausdrucksbewegungen und aller natürlichen Manifestation eigenen Wesens gesonderter  Charakter der Selbstdarstellung  an. Dieser ist für den geübten Beobachter erschaubar, er ist ein Merkmal der Äußerungsvorgänge und veranlaßt das Urteil, die Äußerungsvorgänge seien durch einen konstant wirksamen Beachtungswunsch mitdeterminiert.

Man vergegenwärtige sich beispielsweise einen Redner. Entweder merken wir: er ist bei der Sache, ganz und gar mit dem Inhalt seines Vortrages beschäftigt und mit dem Zeigen dieses Inhaltes. Oder aber wir bemerken: er  bedient  sich der Inhalte nur, um sich selber zu zeigen, er schiebt sich selbst zwischen seine Inhalte und stellt sich selber zur Schau. Es fällt uns z. B. seine Akzentuierung auf, die bewirkt, daß das Licht von den Gegenständen seines Vortrages auf seine Person zurückfällt. Der Redner verhält sich zu uns also nicht wie zu Lernenden oder Diskutierenden, sondern eben wie zu einem Publikum, d. h. wie zu Zuschauern. Er fühlt sich beachtet und sucht die Beachtung. Und man kann fragen: Wieso und Warum? Diese Frage scheint dem natürlichen Psychologen höchst überflüssig; dem natürlichen Psychologen ist es durchaus selbstverständlich, daß die Menschen solche Wünsche haben, wie "sich zur Schau stellen", "Beachtung finden", "die Aufmerksamkeit auf sich lenken", oder gegenteilige, wie "sich verstecken" und "Angst vor Beachtung". Der natürliche Psychologe rechnet mit solchen Tendenzen, d. h. mit qualitativen Richtungen des Begehrens (des "elementaren Wollens"), die dem Blick des wissenschaftlichen Psychologen aufgrund seiner besonderen scientifischen Tradition durchschnittlich entzogen sind.

Fragt man, wieso entzogen, so ist zweierlei zu bedenken. Ordnet man nämlich die Mannigfaltigkeit der voluntaristischen Phänomene nach Gesichtspunkten, einerseits des von Vorstellungen, gewußten Werten und Zwecken geleiteten, also in diesem Sinn rationalisierten Wollens, - des Willens (voluntas) im eigentlichen Sinn, - andererseits des triebhaften, elementaren Wollens (volitiones), der Summe jener Antriebe, welche entweder die Triebmaterie des "Vernunftwillens" abgeben oder sich auf Kosten dieses Vernunftwillens befriedigen, so zeigt sich, daß die Schulpsychologie in ganz einseitiger Weise zu ihrem bevorzugten Untersuchungsobjekt den "Vernunftwillen" gemacht hat, und diesen selbst wieder in möglichster Reinigung von jedem triebhaften und emotionalen Einschlag. Ein intellektueller Determinismus ist Bedingung und Konsequenz dieser Einstellung. Von  spezifischen Richtungen  des elementaren Wollens (Begehrens), welche verbale, expressive und handlungsmäßige Äußerungen einheitlichen Wertes determinieren, zu sprechen, hat in diesem Zusammenhang freilich keinen Sinn. Eine zweite Denkgewohnheit steht der Annahme spezifischer Begehrungsrichtungen im Weg. Ich denke hierbei an die bekannten Versuche der Motivreduktion, welche, mit höheren Einheiten rechnend, dennoch ebenso falsch ökonomischen und konstruktiv-vereinfachenden Tendenzen gehorchen wie der Versuch z. B. das Willensphänomen aus Empfindungen herzuleiten und aufzubauen. Solchen Tendenzen liegen Behauptungen zugrunde, wie den folgenden: alles natürliche Wollen sei Wille zur Lust (BENTHAM), oder Wille zur Selbsterhaltung und -entfaltung (SPENCER), oder Wille zum Leben (SCHOPENHAUER), oder Wille zur Macht (NIETZSCHE), oder Wille zum Opfer (GUYAU). Eine solche positivistisch-rationalistische Theorie des natürlichen Wollens ist z. B. auch die Neurosenlehre FREUDs, die auf ihren eigentlichen Ausdruck gebracht lautet: Alles elementare Wollen ist  libido.  Richtig an allen Behauptungen solcher Art ist der nicht theoretische, der positivistische Teil. Richtig ist es in der Lust, der Macht, der Selbsterhaltung der  libido  usw. spezifische Richtkräfte des Wollens zu sehen, falsch dagegen jeder Versuch, eine dieser Richtkräfte zu verabsolutieren; z. B. die Macht in den Vordergrund zu stellen und nun rationalistisch auf sie alle möglichen Motive des Strebens zurückzuführen, im Eifer zu beweisen, daß sich auch im echten Opfer, in der echten Askese und Demut, im liebegeleiteten Geschlechtsgeschehen nur ein verkappter Machtwille durchsetzt; oder von anderer Seite her mit einer Theorie der Libido-Sublimierung den ganzen Stufenbau der qualitativ gesonderten, ursprünglichen Begehrensrichtungen decken zu wollen.

Entschließt man sich aber im Gegensatz zu jedem Versuch einer Motivreduktion die  anima concupiscilibis [konkurrenzfähige Seele - wp] der mittelalterlichen Seelenlehre mit einem neuen Blick in ihre Mannigfaltigkeit voneinander gesonderter, qualitativer Tendenzen unbefangen hinzunehmen, so wäre die Konstatierung einer besonderen, auf das Phänomen des Zuschauers bezogenen Erlebniseinheit z. B. des "Beachtungswunsches" oder des "Geltungswunsches" im Prinzip zumindest keine Inkonsequenz. In der Tat rechnet die Psychologie der gewöhnlichen Menschenbeobachtung, die Psychologie der Anwälte, Ärzte, Seelsorger, Dichter und Moralisen mit solchen Wunscheinheiten. Es ist dabei natürlich noch durchaus nichts über die Bewußtseinslage eines solchen Wunsches ausgemacht, und nichts über seine Verbindung mit anderen seelischen Tatsachen. Das gesamte Gebiet der Affektbegierden, ebenso wie das der Emotionen harrt noch der wissenschaftlichen Erschließung. Soll aber das Gebiet von einer Seite her in Angriff genommen werden, so darf man sich nicht an der besonderen, von den besonderen Tatsachen erforderten Methode des Vorgehens stoßen. Es ist selbstverständlich, daß eine Psychologie der Affektbegierden sich nicht der gleichen Methode bedienen kann, wie z. B. die Psychologie der Aufmerksamkeit, der Empfindungen oder Vorstellungen. Welcher Art diese Methode ist, möge der Versuch ihrer Anwendung erweisen.


II. Zur Psychologie des
Triebes nach Beachtung.

Zugrunde liegen unserer Untersuchung die Ergebnisse der natürlichen Psychologie. Der natürliche Psychologe rechnet wie gesagt mit dem Wunsch der Menschen die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu lenken. Es ist ihm weiter selbstverständlich, daß Haltungen angenommen und Äußerungen getan werden zum Zweck des Beachtetwerdens. Er beruft sich ferner vielleicht auf die Sprache. Die Sprache bereits unterscheidet zwischen Äußerungen, welche unabhängig und solchen, die in Abhängigkeit vom Zuschauer geschehen. Man sagt: "der Soldat zeigt Mut" und "er zeigt sich mutig". Genau genommen zeit, wer Mut zeigt etwas anderes, als wer  sich  mutig zeigt. Der eine zeigt eben Mut, der andere zeigt sich. Hierin liegt ein subtiler Unterschied. Denn selbstverständlich kann niemand Mut zeigen ohne selber in Erscheinung zu treten und sichtbar zu werden, allein trotzdem liegt ein spürbar Neues vor, wenn einer, der mutig handelt, mit dem Sichtbarwerden eines Mutes in eine emotionale, selbstdarstellerische Beziehung tritt. Man sagt auch: "eine Haltung  zeugt  von Mut" und diese Wendung weist noch deutlicher auf die "Selbstlosigkeit" der echten Mutdarstellung hin, die der wirklich Mutige seiner selbst und des Zuschauers vergessend leistet, des Mutes wegen, als er sagte: "der Mut, dieser objektive Weltinhalt soll sein, nicht ich, und nicht mein Ruhm!"

Noch weiter von der echten Mutdarstellung entfernt zeigt den einzelnen die Wendung:  "A  gebärdet sich mutig". Daß  A  sich mutig gebärdet, besagt nicht ohne weiteres:  A  "stellt sich" mutig; wie beschuldigen  A  mit dieser Wendung nicht ohne weiteres der Heuchelei. Dennoch enthält die Behauptung, es sei die Darstellung irgendetwas "Gebärde" - den Hinweis auf eine Inkongruenz zwischen dem Inhalt der als Gebärde charakterisierten Darstellung und der Verfassung des sich Äußernden: er gebärdet sich, er ist nicht mutig. Ja bereits die Wendung:  A  zeigt sich mutig, deutet auf ein solches Auseinandergehen von Verfassung und Äußerung: er zeigt sich eben, er ist es nicht. Dabei unterscheiden sich die mit beiden Wendungen bedeuteten Haltungen fundamental. Wer sich mutig  gebärdet  ist dem echten Mut ferner, als wer sich mutig zeigt. Wer sich mutig  gebärdet  sucht den Anschein des Mutes, ihn selbst aber nicht; wer sich mutig  zeigt,  sucht den Mut, ihn selbst; allerdings nur durch seine Darstellung hindurch. Die Gebärde des Mutes macht darum nicht mutig, das Sich-mutig-zeigen aber weckt den Mut und die Sprache konstatiert nur einen subtilen Unterschied zwischen einer Äußerung, die Ausdruck ist einer dauernd mutigen Verfassung (echte Mutdarstellung) und einer anderen Äußerung, welche die Funktion hat, jene mutige Verfassung erst zu erzeugen, und zu deren Hervorbringung der Einzelne sich auf den Zuschauer stützt ("sich zeigen").

Mut zeigen,  sich  mutig zeigen, und  sich  mutig gebärden sind also drei Stadien der Mutdarstellung. Ununterscheidbar vielleicht für das Auge des Zuschauers, unterscheiden sich die drei Stadien für den Psychologen genau. Wo Mut gezeigt wird, hat der Mut die Ichstelle inne; wo einer  sich  zeigt, hat der Wille zur Mutdarstellung von der Ichstelle Besitz ergriffen; wo einer sich gebärdet, füllt einzi und allein das Interesse am Eindruck der Gebärde (auf die eigene Person und) den Zuschauer die Ichstelle aus. Mithin lassen sich verschiedene Stufen des Einsseins einer Person mit ihren jeweiligen Äußerungen aufzeigen. Die vollkommene Einheit, da die Äußerung Ausdruck und unmittelbare Folge eines zentralen Soseins der Person ist. Die Einheit, welche noch Aufgabe ist und die in der Äußerung, in der Mutdarstellung z. B., unter Beiziehung des Zuschauers noch gesucht wird - das "Sichzeigen"  (2). Die Einheit, welche eine meist unbewußte Geschiedenheit der zentralen Ichsphäre und der jeweiligen Äußerung zusammenhält - das "Sichgebärden".  (Hierher gehört auch "die Heuchelei", der "Pharisäismus", der hysterische Affekt usw.) Schließlich das bewußte Auseinandertreten des zentralen Ich und der jeweiligen Äußerung - "die Verstellung".  Wie man sieht, entsprechen den Stufen des Einsseins einer Person mit dem von ihr Dargestellten in Bezug auf das Dargestellte Stufen seiner Echtheit.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß der Mutdarstellung als solcher niemand ihr Echtsein oder Unechtsein ansehen kann. Bliebe man überhaupt beim rein kategorialen Aspekt der Äußerungen, besonders der Handlungen stehen, so würde sich angesichts der prinzipiellen Zweideutigkeit aller darstellerischen Vorgänge höherer Ordnung niemals etwas über den moralischen Gehalt der Darstellung ausmachen lassen. Erst indem man die Mutdarstellung zurückverfolgt bis sie als Kundgebung einer lebendigen Persönlichkeit verständlich wird, erschließt sich ihr innerer Gehalt. Die Frage angesichts der Darstellung irgendeines Wertes lautet für den Psychologen stets: was bedeutet die Darstellung als  Selbstoffenbarung;  was ist der Inhalt der hier erfolgenden Selbstoffenbarung? - Sie lautet in unserem Fall: koinzidieren Mutdarstellung und Selbstoffenbarung? Wird in der Mutdarstellung ein Mutiger offenbar, oder treten Inhalt der Darstellung und Inhalt der Selbstoffenbarung auseinander? Offenbart sich hier vielleicht nur ein Eitler, einer, der als mutig gelten will? Dient die Mutdarstellung vielleicht selbstdarstellerischen Tendenzen?

Es ist ja klar: im Wesen aller menschlichen Äußerungen liegt es, sichtbar zu werden. Das Leben handelt gleichsam in die Sichtbarkeit hinein; ob diese Sichtbarkeit intendiert war oder nicht, sie widerfährt allen Äußerungen des Lebens. Ganz von selbst wird aber eben damit die verbale, expressive oder handlungsmäßige Darstellung innerer Zustände und Verfassungen einer Person zur  Selbstoffenbarung.  Der Charakter der Selbstoffenbarung heftet sich an die Äußerungen an, seien sie nun Ausdrucksbewegungen oder Werke. Und ganz entsprechend richtet sich die Beachtung der menschlichen Umwelt auf die Äußerungen des Darstellers und durch sie hindurch auch auf die Person. Moralische Pessimisten haben aufgrund dieses Zusammenhangs geschlossen, es sei in der Tat jede Äußerung auf Beachtung angelegt, eine Nebenintention verfälsche die Darstellung irgendwelcher Werte zur Selbstdarstellung, der Äußerungsdrang sei also mit einem Beachtungswunsch durchsetzt. So wenn BLAISE PASCAL einmal die Existenz sittlich reiner Taten in Frage stellt. Er tut es in unverbindlicher Weise, allein dennoch ist man verwundert. Ja, lautet seine Dialektik: entweder die sittliche edlen Taten sind bekannt geworden, dann weiß niemand, ob dieses Bekanntwerden nicht das Motiv der Taten war, oder sie sind nicht bekannt worden, dann ist die Vermutung sie existierten nur eine Hypothese. - Aber, wendet man ein, es gibt doch sittliche Taten, die offenbar auf ein Verborgenbleiben angelegt waren! - Wie fragt dann der Dialektiker: sind sie bekannt geworden, oder nicht? - Man muß zugeben, sie seien bekannt geworden! - Und mehr noch ist bekannt geworden: auch dies, daß sie auf ein Verborgenbleiben angelegt waren. O Gipfel der Eitelkeit und Heuchelei!

Es ist wohl evident, daß man aufgrund dieser Argumentation mehr über BLAISE PASCAL erfährt, als über die Natur der sittlichen Taten. PASCAL hat, wie man weiß, einen starken Hang zur Selbstwertdarstellung in sich zu korrigieren, seine Askese beweist es, die keine der Sinne, sondern des Selbst ist. Dieser intensive, eigene Beachtungswunsch macht ihn mißtrauisch gerade angesichts von Handlungen, welche man  edel  nennt, aber auch ruhmvoll und glänzend. In der Tat besteht nun aber fraglos eine Beziehung nicht nur zwischen Vollzug und Sichtbarwerden, sondern auch zwischen Anspannung und Glanz der jeweiligen Äußerung. Je mehr eine Äußerung zunimmt an Spannung, d. h. je stärker die Gegentendenz ist, gegen welche angehend sich eine Äußerung durchsetzt, desto drastischer wird die Äußerung. Ja, ganz ohne Absicht wird sie pittoresk [malerisch - wp] eindringlich und auffallend. Im Evangelium steht: wenn dein Fein dich auf die rechte Wange schlägt, so reiche ihm die linke dar! - Die Empfindung des Menschen von heute hierzu ist: warum dieser Aufwand, es genügt doch zu verzeihen, wozu die demonstrative Gebärde? Ist sie nicht übertrieben und ans Publikum gerichtet, fühlt dieser demütig Verzeihende sich nicht auf der Bühne, zeigt er sich nicht? - Selbstverständlich zeigt er sich nicht, nach der Intention des Evangeliums. Man vergesse eben nicht: die pathetische Geste der Vergebung ist dem natürlichen Gesetz abgerungen, einem anderen, herrschenden Gesetz, welches lautet: "Auge um Auge, Zahn um Zahn". Dieses nahe Gesetz und der von Tradition und Sitte eingeübte Vergeltungsdrang lassen sich gar nicht anders niederhalten denn mittels des expressiven Aufwandes: auch noch die linke Wange dem Schlag zu reichen. Ganz von selbst wird so die Darstellung der Feindesliebe pittoresk. Oder ein anderes Beispiel. PLUTARCH erzählt von einem Spartaner folgendes: Er habe auf seinem Schild als Abzeichen eine Fliege angebracht, und zwar in natürlicher Größe, also sehr klein. Da verlachten ihn seine Freunde und meinten, er sei feige und wolle sich verbergen. Nein, sagte der Soldat, im Gegenteil, so nahe will ich an den Feind herantreten, daß er die Fliege sieht, klein wie sie ist. - Auch hier sieht man: der Spartaner ist kein geborener Held, seine natürliche Regung ist in der Tat sich zu verbergen. Angst ist also wirklich in ihm, allein da ist sofort die überkompensierende Gegenregung, der Widerstand gegen die Angst, und der Mut in den er sich hineinsteigert, wie der Christ in die Verzeihung. Und diese Spannung zwischen einer heftigen Angst und dem sofort einsetzenden, stärkeren Mut findet in der "Symbolhandlung" des Fliegenabzeichens ihren Ausdruck. Sicher, einen  "auffallenden"  Ausdruck, auffallend genug, um sogar das Interesse der Nachwelt festzuhalten. Trotzdem wäre es ganz falsch zu glauben, der Lakonier habe dieses Interesse gesucht, oder überhaupt mit der mutigen Autosuggestion des Fliegenabzeichens sich an den Zuschauer gewandt.

Mit einem Wort: der Schluß vom objektiven Beachtungsanspruch einer Äußerung auf einen sie determinierenden Beachtungswunsch ist nicht zulässig. Ob wirklich ein selbstdarstellerischer Wille am Werk ist, entscheidet  immer  erst der jeweilige Gehalt der Selbstoffenbarung. Oft ist gerade die Geste der Bescheidung demonstrativ, oft determiniert den deutlichen Verzicht auf Beachtung in heimlicher Beobachtungswunsch. Man denke z. B. an den Kyniker DIOGENES. Von DIOGENES soll SOKRATES gesagt haben: Aus den Löchern seiner Kutte schaue die Eitelkeit hervor. Das klingt paradox, so als griffe die Eitelkeit ausgerechnet nach Lumpen und nicht nach purpurnen Gewändern. Nun erzählt aber der Scholiast, DIOGENES sei einmal im Bad gewesen und zugleich mit ihm ARISTIPP der Kyrenaiker. Dieser nun vertauschte beim Fortgehen sein Purpurgewand mit der verrissenen Kutte des DIOGENES. DIOGENES aber geriet, als er dies bemerkte, ganz außer sich, um nichts in der Welt wollte er das Purpurgewand anlegen. Dieser Bericht ist der Schlüssel zum Ausspruch des SOKRATES. Auch SOKRATES gewahrt die Kutte des DIOGENES; wie die anderen weiß er: mit einer Kutte lenkt man nicht die Beachtung der Zuschauer auf sich. SOKRATES aber ist sehr genau: er gewahrt auch die Löcher in der Kutte, und mit diesen Löchern, das erkennt er sofort, durch sie hindurch, angelt DIOGENES nach dem Zuschauer. Ja, so konstituiv ist das Kuttenbild im Zuschauer für das Selbstgefühl des DIOGENES, daß für sein Gefühl DIOGENES im Purpurgewand aufhört, DIOGENES zu sein.

Diese nahe Verbindung von Selbstgefühl und Beachtungswunsch wird uns noch beschäftigen. Zuerst aber eine Frage: Was läßt sich über den Ausdrucksgehalt der Kutte ausmachen, was bedeutet sie als  Selbstoffenbarung  des DIOGENES? Das Publikum sieht die Kutte, die Kutte dient der Darstellung von Bedürfnislosigkeit, es schließt ohne weiteres auf einen Bedürfnislosen. Es ist klar, ARISTIPP gewahrt nichts anderes als das Publikum, allein daran zweifelt er, ob das mittels der Kutte Dargestellt auch wirklich vorhanden ist. Und so stellt er ein Experiment an, er variiert die Beachtungsbedingungen - und wirklich, nun erweist sich, daß DIOGENES nicht nur Bedürfnislosigkeit, sondern in ihr sich selber darstellt. Wer nach diesem Experiment der Kutte des DIOGENES begegnet, begegnet nicht mehr einem Bedürfnislosen, sondern einem, der den Anschein der Bedürfnislosigkeit erwecken will. - Und nun denke man die Kutte des heiligen FRANZISKUS! Vielleicht ist auch sie zerrissen vom Wandern, Liegen, Beten im heiligen Berg. Sie gleiche der Kutte des DIOGENES genau. Dennoch verstummt hier die kyrenäische Skepsis. Das Ausdrucksmittel ist nur eines bei DIOGENES und FRANZISKUS, die  eine  zerrissene Kutte, und dennoch weiß ein jeder: des einen Bedürfnislosigkeit ist zur Schau getragen und macht ihn kund in seiner Eitelkeit; die des anderen aber kennt keinen Zuschauer, sondern ist echt bis auf den Grund, durch und durch nur lautere Begeisterung.

Und nun muß man fragen, was macht phänomenologisch den Unterschied zwischen den geschilderten Haltungen der Bedürfnislosigkeit aus? Beide, der Kyniker wie auch der Heilige verwandeln die Nutzhandlung des Kuttetragens in einen Ausdrucksvorgang. Zwei Ausdruckseinheiten also mit gleichem Ausdrucksmittel stehen zur Diskussion. Und niemand wird wohl behaupten, es sei das Tragen einer Kutte für den Heiligen weniger "charakteristisch", als für den Kyniker; d. h. es sei das Ausdrucksmittel der Kutte nur ein Zeichen für die tatsächliche Armut des Heiligen und nicht zugleich Ausdruck für eine persönliche Wahlbeziehung zur Armut, und eben damit eine Selbstoffenbarung dieser Person, einer Person, welche, weil sie die Armut in leidenschaftlicher Wahl gewählt hat, nun auch den Ausdruck der Kutte findet. Die Selbstoffenbarung ist hier also nur das unwillentliche Sichtbarwerden eines durch die Wahl der Armut geleisteten Aktes der Selbstverwirklichung, genauer der Selbsthingabe an Gott. Ganz anders aber DIOGENES. DIOGENES sthet in einem emotionalen Verhältnis zur Darstellung seiner Bedürfnislosigkeit einerseits; andererseits ist die Kutte hier nicht Ausdruck einer faktischen Wahlbeziehung zur Armut, sondern zur Verblüffung des Zuschauers. Es liegt also das Persönlichkeitszentrum des DIOGENES nicht in der Bedürfnislosigkeit selbst, sondern im Anschein der Bedürfnislosigkeit. In der Wahl dieses Anscheins wird er selber offenbar. Eben damit aber verändert sich der  Ausdrucksgehalt  der Kutte von Grund auf: sie bedeutet nicht mehr Darstellung von Bedürfnislosigkeit, sondern Selbstdarstellung mittels der Darstellung von Bedürfnislosigkeit.  Indem nämlich die Darstellung einer Eigenschaft im Hinblick auf den Zuschauer intendiert wird, wird ihre Darstellung zur Selbstdarstellung. 

Etwas ganz Neues liegt vor, wenn sich die Haltung des DIOGENES in einem Milieu ereignet, das auf die zur Schau getragene Armut nicht mit Verwunderung, sondern  mit Bewunderung  reagiert. Man denke etwa an einen unechten Jünger des FRANZISKUS. Seine Kutte deutet auf freiwillige Armut, Armut aber, so entscheidet die Stimmung der Umgebung, ist Tugend. Tugend findet Beifall, und der unechte Jünger, gierig, so nehmen wir an, nach diesem Beifall, sucht ihn mittels der Kutte. Was bedeutet dann die Kutte? Nicht mehr ist sie Ausdruck echter Armut, wie beim Meister, auch ist sie keine Gebärde kynischer Bedürfnislosigkeit. Der unechte Jünger geht vielmehr umher und scheint mittels der Kutte im Wertschein der freiwilligen Armut. Nicht nur stellt er sich zur Schau, er stellt sich im  Wertschein  der freiwilligen Armut zur Schau. In diesem  Wertschein  zeigt er sich, die Selbstdarstellung wird also zur  Selbstwertdarstellung  gesteigert, er sucht, der unechte Jünger, die Anerkennung, den Beifall, die Bewunderung, mit einem Wort  die Wertreaktion  der Umgebung. Die Kutte dient der Selbstwertdarstellung.

Ein Sichzeigen als Träger von Wertqualitäten charakterisiert also die Selbstwertdarstellung. Dazu noch ein anderes Beispiel. Dem Gesetz der triebhaften Aufmerksamkeit entsprechend lenkt das Neue die Aufmerksamkeit auf sich, das Gewohnte nicht. Das Neue ist eine Wertqualität bestimmter Art. Eine Begebenheit, die das Niveau des zu Erwartenden und darum Gewohnten überschreitet, wird zum Träger dieser Qualität und eben damit Erreger der triebhaften Aufmerksamkeit. Es mag sich nun finden, daß jemand eine besondere Empfänglichkeit für die Qualität des Neuen besitzt. Von der Neuheit, welche eine Begebenheit umschwebt, angelockt, wird er sich festgehalten fühlen, und umgekehrt nichts lieber zum Gegenstand seiner Mitteilung machen, als eben das Neue. Dann unterscheiden wir doch auf das Genaueste, ob wirklich der Wert der Begebenheit die Mitteilung veranlaßt, ein triebhaftes Hingerissensein des Mitteilenden durch die Qualität des Neuen und Auffallenden, oder ob der Wunsch selbst als der Mitteiler der erstaunlichen Begebenheit im Wertschein ihrer Neuheit zu erglänzen. Vielleicht ist es nur der Tonfall, die Unterstreichung eines "Ich", z. B. in der Wendung: "ich kam dazu" - und wir begreifen sofort: aha, der Erzähler meint sich, - und verspüren als höfliche Leute die Tendenz zu sagen: "nein, lieber Herr  X,  wie wissen Sie doch immer das Neueste!" So kann, wie der Typus des Neuigkeitskrämers lehrt, auch in einem dem Ich durchaus äußerlichen Wert ein Manifestationswert der eigentlichen Persönlichkeit gesehen werden. Wird dieser Wert der fremden Bewunderung in der Weise des Zeigens entgegengehalten, so nennen wir diese Haltung  "Selbstwertdarstellung". 

Es gibt aber nun eine Reihe selbstdarstellerischer Phänomene, welche sich von der eben geschilderten "reflektierten Selbstdarstellung" deutlich unterscheiden. Beispielsweise sei erinnert an die  echte repräsentative Selbstdarstellung;  eine Haltung gewählt, nicht um dem eigenen individuellen Selbst Glanz und Ansehen zu sichern, wohl aber einer Sache, eben der, welche man vertritt, und der man mit würdebetonter Haltung einen würdevollen Eingang in die Sichtbarkeit zu bereiten gewillt ist. So stellt der König  an  seiner Person die königliche Würde zur Schau, so der Gesandte die ihm fremde, aber doch hic et nunc [hier und jetzt - wp] in seiner Gestalt erscheinende Majestät des Königs, so vertritt der Standesangehörige erscheinungsmäßig seinen Stand usw. - Da ist ferner  die intendierte Selbstoffenbarung,  das Verhalten dessen, der in der Selbstmitteilung einen Wert erfaßt, wie wenn ein Verbrecher, den Drang nach Selbstenthüllung  (Raskolnikoff  bei DOSTOJEWSKI !) bis zur vorsätzlichen Veröffentlichung seines Verbrechens steigert (vgl. die Erinnerungen des  Staretz Sossima VI.  bei DOSTOJEWSKIs "Brüder Karamasoff"). Auch hier verhält sich der Einzelne zum Sichtbarwerden seiner Person. Was aber sein Verhalten von der Selbstdarstellung des Eitlen unterscheidet, das ist das Fehlen der egoistischen Triebfeder: die Selbstdarstellung ist in beiden Fällen der Darstellung eines überpersönlichen Wertes untergeordnet und nur ein Vehikel seines Erscheinens. Der Eitle dagegen hat ein subjektives Interesse am Sichtbarwerden seiner Person. Welcher Art dieses Interesse ist, bedürfte einer genaueren Untersuchung, jeder aber sieht sofort zwei Modifikationen dieses Interesses: einmal die "reflektierte Eitelkeit" des DIOGENES und der "reflektierte" Ehrgeiz des unechten Jüngers; daneben aber die naive, unbefangene, begierdelose Eitelkeit des in sich selber hemmungslos Verliebten, dem unablässig der Mund übergeht vom Gegenstand seiner Verliebtheit, dessen Verhalten eine fortwährende  Ichbetonung,  ein unablässiges umd die Reaktion des Zuschauers aber gänzlich unbekümmertes sich zur Schaustellen ist. Was die reflektierte Eitelkeit von der naiven Eitelkeit und damit die reflektierte Selbstdarstellung von der bloßen Ichbetonung unterscheidet, ist ein doppeltes: einmal die Wahl bestimmter Inhalte, auf welche sich die Eitelkeit beruft - DIOGENES ist eitel  auf  seine Bedürfnislosigkeit, ein anderer  auf  seine soziale Existenz,  auf  seine Belesenheit, seine Konnexionen usw., seine Selbstdarstellung gründet in einer selektierenden Identifikation der eigenen Person mit gewissen Werten, in denen er  sich selber  zur Schau stellt. Der naiv Eitle dagegen überzieht jede einzelne Äußerung und alle Gegenstände, welche den Vorzug haben, in seine Ichsphäre zu treten, wahllos mit dem "autoerotischen" Affekt. Während zweitens der reflektiert Eitle zum Zuschauer, seine Beachtung, Verwunderung, Anerkennung fordernd, eine Beziehung des Begehrens unterhält, verhält sich der naiv Eitle unbeirrbar emotional zu ihm, wie zu sich selber. Das Publikum ist ihm nur der Spiegel seiner eigenen Herrlichkeit. Wohl muß man sagen, daß sich auch DIOGENES in seiner Bedürfnislosigkeit wohlgefällt, oder gar der falsche Jünger in seiner Kutte; dieses Wohlgefallen gründet aber im Zuschauer und bedarf zu seiner Dauer der Beachtung oder Wertreaktion einer Umgebung. Diese sucht der reflektiert Eitle mittels der Selbstdarstellung.

Nehmen wir diese Richtung auf die fremde Beachtung als differentielles Merkmal der reflektierten Selbstdarstellung heraus, so fragt sich, welcher Art denn die vom Eitlen gesuchte Beachtung ist. Wie man weiß gibt es zwei prinzipiell verschiedene Arten der Beachtung, die eine wertgeleitet und unwillkürlich, die andere zweckgeleitet und willkürlich. Nur Wertqualitäten wendet sich die Beachtung unwillkürlich zu, erscheint jemand im Wertschein irgendeiner Qualität, z. B. des Schönen oder Häßlichen, des Intensiven oder Lebensarmen, des Neuen oder Altmodischen usw., so wird er Gegenstand der triebhaften Beachtung. Willkürlich ist z. B. die Beachtung, die jeder Staatsbürger eines gewissen Rayons [Bezirks - wp] beim Steuerbeamten erregt. Diese Beachtung gründet durchaus nicht in irgendeiner besonderen Qualität des Beachteten; sie ist geleitet vom Gesichtspunkt eines Zwecks, nämlich der Steuerforderung und entbehrt in Bezug auf den Einzelnen jeder individualisierenden, emotionalen oder affektiven Bedeutung.

Fragt man also, welche Art der Beachtung, so ist gewiß: an der Beachtung des Steuerbeamten wird dem Selbstdarsteller wenig gelegen sein, umso mehr aber an der triebhaften, unwillkürlichen, wertgeleiteten, den emotionalen Charakter des Interesses tragenden Beachtung eines engagierten, "beteiligten" Zuschauers. Und das ist das Entscheidende! Der Selbstdarsteller sucht die so  qualifizierte Beachtung  seiner Umgebung. Er sucht sie in der doppelten Qualifikation - entweder  als emotionale oder als wertende Beachtung.  Er pflegt mit einem Wort Selbstdarstellung oder Selbstwertdarstellung. So sucht DIOGENES die  Verwunderung, der unechte Jünger die  Bewunderung. Dabei mag der emotionale Zuschauer genauer als erotischer, neiderfüllter, gebluffter usw. charakterisiert sein, der Träger der Wertbeachtung im einzelnen Fall als sozialer, ästhetischer, moralischer Zuschauer. Immer wird, wo die fremde Beachtung als Wertbeachtung qualifiziert ist, die genauere phänomenologische Analyse der jeweiligen Reaktionen spezifische Haltungen konstatieren müssen,  qualifizierte Beachtungsreaktionen,  welche sich mit keinem Mittel der Assoziations-Psychologie auflösen und die als eigentümliche unzurückführbare Verhaltensformen von einer Psychologie der Funktionen zu bearbeiten sind. Solche Formen der Wertbeachtung sind z. B. Lob und Tadel, Beifall und Mißfallen, Anerkennung und Anerkennungsverweigerung, Achtung und Mißachtung, Bewunderung und Verwerfung, Vorziehen und Zurücksetzen. Alle Selbstwertdarstellung geschieht um solcher Reaktionen des Zuschauers willen und ist, der intendierten Reaktion entsprechend, eine  positive oder negative  Selbstwertdarstellung.

Mit solchermaßen qualifizierten Beachtungsreaktionen seiner Umgebung tritt nun der Selbstdarsteller in Fühlung und es fragt sich nur, welcher Art dieses Fühlungnehmen ist. Sagt man der Selbstdarsteller will oder intendiert die Beachtung, so ist das zumindest eine ungenaue Wendung. Es ist doch nicht so, als überlegt der Einzelne erst: diese oder jene Äußerungen und Verhaltensweisen machen Eindruck, als fällt er erst dieses Setzungsurteil und faßt dann den Vorsatz, den Sachverhalt des Setzungsurteils zu realisieren. Sondern ohne vorhergehende Überlegung, einer inneren Teleologie des Begehrens zufolge nimmt sein Auftreten jene Wendung, die wir als demonstrativ eitel, selbstdarstellerisch empfinden. Die Richtung des Begehrens auf die Beachtung und die Veränderung des Verhaltens im Sinne der Selbstdarstellung sind zwei Seiten eines unzerlegbaren, einheitlichen Vorgangs. Dieses Abzielen des Selbstdarstellers nennen wir ein Suchen. Der Selbstdarsteller "sucht" die fremde Beachtung. Besitzt man auch im Phänomen des Suchens ein Grundphänomen des Lebens, so bedarf es doch für die jeweilige Lebensstufe, auf der es sichtbar wird, einer besonderen Klärung.

Man sagt für gewöhnlich, der Einzelne habe ein  "Interesse an der Beachtung, welche er sucht und macht das Interesse gleichsam für die Richtung des Suchens verantwortlich. Was für ein Interesse aber hat nun der Einzelne an der Beachtung, welche er sucht? Sucht ein Tier Nahrung, so glaubt man zu wissen, gemeinhin, was das Tier bewegt: Selbsterhaltung, meinen Biologen, sei das Interesse des Tieres an der Nahrung. So auch Psychologen von DIOGENES: egoistische Motive, Motive der Selbsterhaltung oder Selbstentfaltung, eigensüchtige Interessen als veranlassen ihn, Beachtung zu suchen. Einmal sei Beachtung zu finden von Vorteil, lasse man doch die Gegenstände des öffentlichen Interesses nicht verhungern. Und dann befriedigt sich im Eindruck auf den Zuschauer des DIOGENES "Wille zur Macht", zwinge er doch durch sein Auftreten die Gedanken und Affekte der anderen zur Beschäftigung mit ihm. - Solche Erklärungsversuche müssen anerkannt werden, allein sie erklären das eine nicht, warum sich des Selbstdarstellers Nützlichkeitsstreben oder sein "Wille zur Macht" gerade auf dieses Ziel, ausgerechnet auf den Beachtungserfolg kapriziert [sich versteifen - wp]. Als gäbe es nicht zahllose andere und größere Sicherheit der Befriedigung gewährende Ziele für den Machtwillen. Warum gerade der Beachtungserfolg und speziell noch die Kutte? Außerdem könnte doch, wie der Theoretiker der Selbstsuch sich auf die egoistischen Motive beruft, so ein anderer gerade die "altruistischen" erwähnen. Oder heißt es nicht, den anderen lieben, so viel Wert auf seine Beachtung legen. Sieht man nicht DIOGENES allerlei opfern, sein Behagen, den Ruf eines wohlgekleideten Mannes usw., nur um das Interesse der Mitbürger zu bewegen. Und dann die Analyse des nahrungsuchenden Tieres! Bereits hier liegt der Fehler. Niemand kann doch im Ernst behaupten, es suche das Tier, indem es Nahrung sucht, gleicherweise auch seine Selbsterhaltung. Einmal sucht das Tier Nahrung, auch wo seine Selbsterhaltung gar nicht in Frage steht, andererseits sieht man zuweilen den Freßtrieb durchaus in einen Gegensatz geraten mit den Erfordernissen der Selbsterhaltung. Vielmehr verhält es sich nach menschlicher Erfahrung doch wohl so, daß Nahrung gesucht wird in Lust nach Nahrung. Wiederum werden positivistische Hedoniker behaupten, ja, es sei eben die Lust das Motiv der Nahrungsaufnahme und Lust das Motiv der Selbstdarstellung. Allein auch hiergegen müßte opponiert werden. Wie man aus dem Leben gewisser Neurotiker weiß, empfinden sie die fremde Beachtung mit höchster Unlust, und dennoch tun sie, in Gesellschaft, zwangsmäßig, mit höchstem Unbehagen alles, um aufzufallen. Es kann also ein Suchen der fremden Beachtung vergesellschaftet sein mit höchster Unlust an eben dieser Beachtung. Daß Lust den Beachtungserfolg begleitet, gestattet niemals den Schluß auf die determinierende Bedeutung dieser Lust.

Und doch enthält die Wendung, Lust an der Nahrung sei die Ursache, warum das Tier Nahrung, Lust an der Beachtung die Ursache, warum der einzelne Beachtung sucht, den Schlüssel für den richtigen Sachverhalt. Es handelt sich nur darum zu unterscheiden: die Lust als Motiv, wie z. B. ARISTIPP sie als Ziel dem Handeln vorsetzt und die Lust im Sinn von "Lust haben zu etwas". Bewegt die Lust im ersten Fall das Handeln als ein dem einzelnen bewußtseinsmäßig vorschwebender Wert, so bewegt sie es im zweiten Fall wie ein Affekt. Kann man vom Kyrenaiker in der Tat sagen, daß er die Lust sucht, so gilt vom Nichtkyrenaiker, daß er z. B. Nahrung, Geschlechtsbefriedigung, Ruhm usw. sucht, und nicht Lust, allerdings,  weil  er zur Nahrungsaufnahme, zum Ruhmgewinn usw. "Lust hat". Daher kann die Nahrungsaufnahme durchaus zur Unlust der Erkrankung führen, das interessiert hier nicht, das Nahrungsuchen selbst hat eben doch den Charakter "des Lüstens".

Der Deutlichkeit wegen empfiehlt sich hier jedoch ein Rekurs auf gewisse Grundlagen der emotionalen Psychologie. Gemeinhin unterbaut die biologische Betrachtung seelischer Dinge das System der Begierden mit einer Triebgrundlage und differenziert sie nach Trieben der Selbsterhaltung, Selbstentfaltung und Selbstwiederherstellung. Diese Triebe nun wären blind ohne die Fähigkeit des Lebewesens die Richtung zu erkennen, in welche die Triebe treiben, um die in ihnen angelegte Zielstrebigkeit zu realisieren. Dieses Erkennen ist jedoch kein bewußtes im Sinn von vorstellungsmäßigem Erkennen, wohl aber besitzt das Lebewesen in seiner gefühlsmäßigen Ansprechbarkeit durch Erhaltung, Expansion oder Restitution symbolisierende Werte ein Erkenntnisorgan selektiver Art, welches den Trieben gleichsam die Lichter ansteckt und die Bahnen weist, in welche die Triebe sich nun selbsttätig ergießen. Die strenge Sonderung eines Fonds von Konkupiszenz [sinnliche Begehrlichkeit - wp] im Dienst der Erhaltung, Expansion und Restitution des Selbst und eines gefühlsmäßigen Erkenntnisorgans im Dienst wiederum der Konkupiszenz ist indessen rein logischer Natur. In der Praxis tritt kein Trieb überhaupt, auch kein Trieb der Selbsthingabe in Aktion, der nicht gerichtet wäre, der ferner in seiner Gestalt als Begierde nicht auch Begierde wäre nach etwas, nach Nahrung z. B. nach Rache, nach Ruhm usw.

Von dieser Fühlbarkeit des Triebziels aber muß die Fühlbarkeit des Triebes selbst unterschieden werden. Ein solches Fühlbarwerden des Triebes ist z. B. gegeben im "Lüsten nach Speise und Trank", im "lüstern sein nach einem Weib", im "Gieren nach Ruhm und Anerkennung" usw. Daß ein Trieb zur Fühlbarkeit gelangt, besagt wiederum nicht, der Trieb kommt zu einer vorstellungsmäßigen Bewußtheit. Es ist immer noch etwas Neues, wenn einer, der nach Anerkennung giert zum Bewußtsein dieses seines Begehrens, des Ehrgeizes vielleicht, gelangt, ja sehr oft ist das zum Bewußtsein einer Begierde Gelangen ein Absterben der Begierde. Andererseits erzählen Reisende oder Soldaten, die in sehr große Not gerieten, von Zuständen des Hungers oder Durstes, da im Leidenden geradezu das Wissen schwindet um den Hunger oder Durst, welcher peinigt, in so rasender, alles Bewußtsein ertötender Gewalt nimmt das Verlangen von der Seele Besitz. Wie man hieraus außerdem noch gewahr wird, ist also das Fühlbarwerden eines Triebes oft ein sehr unlustvoller Zustand, allein dennoch wäre es wiederum falsch zu glauben, das Fühlbarwerden des Triebes  sei  dieser unlustvolle Zustand - genießen doch bekanntlich viele Menschen ihre Bedürfnisse. Oder sei es, wie Pessimisten meinen, die Unlust der Beweggrund der Begierde, welche nun nach einer Beseitigung des unlustvollen Zustandes Verlangen trägt, so als fräße z. B. das Tier, um seinen Hunger los zu werden, der es peinigt! Ja der Hunger entspricht in Wirklichkeit nur einer besonderen Zuspitzung des Triebes und ist gar nicht identisch mit jenem "Lüsten nach Speise", welches im Gegenteil oft eintretend gesehen wird, wo statt des Hungers nur eine generelle Naschhaftigkeit oder Gefräßigkeit am Werk ist. Man denke nur an Rom und den Brauch, nach Gastmählern durch künstliches Erbrechen die Aufnahmefähigkeit des Magens wiederherzustellen.

Dennoch ist das Fühlbarwerden eines Triebes auch nicht identisch mit seiner Wirksamkeit. Ehrgeizig nennen wir THEMISTOKLES, den der Lorbeer des MILTIADES nicht schlafen läßt, beachtungssüchtig DIOGENES in seiner verrissenen Kutte. Dennoch ist der Trieb nach ruhmvoller Beachtung in THEMISTOKLES zugleich wirksam und fühlbar, wirksam aber und nicht fühlbar in DIOGENES, welcher die Kutte wählt und mit ihr die Verwunderung der Zuschauer. Fühlbar wird der Trieb für DIOGENES erst dann, als durch den Kuttenraub die Befriedigungschance des Triebes schwindet; nun erst gerät er in Unruhe und Angst, für den Kundigen ein Anzeichen des zur Fühlbarkeit gelangten Triebes nach Beachtung.

Zur Wirksamkeit gelangt heißt der Trieb, sobald die Realisierungstendenz der im Trieb angelegten Zielstrebigkeit zur Wirksamkeit gelangt. Diese Realisierungstendenz tritt als aktive oder passive Tätigkeit des Einzelnen in Erscheinung. Dabei ist allerdings noch durchaus nicht gesagt, daß diese Tätigkeit motorischen Charakter haben muß. Man vergegenwärtige sich beispielsweise die Situation des ehrgeizig wachenden THEMISTOKLES. Das sind seine offenen, schlaflosen Augen und das die ehrgeizig vorwärtsstürmenden Wünsche, sie schieben sich zwischen ihn und seinen Schlaf. Sieht man aber genauer hin, so sind es gar keine Wünsche im eigentlichen Sinn, gar keine Triebimpulse in Wunschgestalt, die ihn bewegen. Niemand wird sich die Lage des Wachenden so denken, als läge er da, hinstarrend auf den Wunschinhalt, die Überbietung des MILTIADES und strebend nach Realisierung dieses Wunschinhalts. Sondern unablässig werden seine Gedanken die Realisierung des Wunschzieles vorwegnehmen. Die Phantasie überspringt die tatsächliche Lage. So wird der Perserkönig in seinen Gedanken gegen Griechenland auftreten; das sind die Heere der Barbaren und sie dringen heran. Griechenland in Angst ruft ihn zum Retter auf, und er steht an der Spitze der Landesmacht. Er wird die Situationen zu Ende gehen des Kampfes und des Sieges, er wird die Bedingungen stellen, den Beifall Athens vernehmen, kurz in immer wiederholten Anstürmen der Phantasie die Kluft überspringen, die ihn von der Realisierung seines Ehrgeizes trennt. - So erzählt  Raphael  in der "Peau de Chagrin" von BALZAC seine Phantasien:
    "Durch eine Art Spiegelung und eine Art Fieber, sah ich mich, der ich lebte ohne die Frauen meines Verlangens, von allem beraubt, hausend in einer Künstlermansarde, plötzlich umgeben von entzückenden Freundinnen. Ich jagte durch Paris, hingestreckt auf die weichen Polster einer glänzenden Equipage. Ich war verzehrt von einem ausschweifenden Leben, eingetaucht in Laster,  alles begehrend, aber auch alles besitzend,  mit einem Wort, in Nüchternheit trunken, wie in seiner Versuchung der heilige  Antonius." 
- Ja, diese Realisierungsversuche emotionaler Triebe können halluzinatorischen Charakter annehmen. So weiß man von Verdurstenden in der Wüste, daß Seen vor ihren Augen erscheinen, oder Oasen mit schaukelnden Palmen; Quellen hören sie rieseln, oder sie haben den Eindruck zu trinken und im Trinken nicht aufzuhören.

Bereits diese Tatsachen zeigen, daß die Wirksamkeit eines Triebes und sein Fühlbarwerden nicht koinzidieren. Solange der Verdurstende die halluzinatorische Durststillung erfährt, solange sich THEMISTOKLES in phantasierten Erfolgen ergeht, fühlt er nicht, der eine nicht den Durst, der andere nicht den Ehrgeiz. So auch das Kind an der mütterlichen Brust, es trinkt, es begehrt nicht mehr. Es begehrt in der Wiege, und sein Schreien ist ein Anzeichen für den zur Fühlbarkeit gelangten Trieb nach Nahrung. Analog THEMISTOKLES: mit einem Mal wird er aufschrecken aus seinen Phantasien und erkennen: das alles ist ja nur ein Spiel der Einbildungskraft. Ich liege hier, tatenlos, der Perserkönig hält Frieden, Griechenland ruht und MITIADES trägt den Lorbeer. So wacht der Verdurstende aus seine Halluzination zu seinem realen Verdursten auf. Hier aber, an dieser Stelle, an diesem Übergang von der phantasierten Triebrealisierung zur Einsicht in das Ungenügende der phantasierten Triebrealisierung liegt der Punkt, wo der Trieb zur Fühlbarkeit gelangt. Jetzt wird der Ehrgeiz dem Ehrgeizigen ein quälender Zustand, jetzt dürstet der Verschmachtende, begehrt der Asket, lüstet der Hungrige.

Was verändert sich nun aber durch das Fühlbarwerden des Triebes? Einmal, so scheint, die Gegebenheitsform des Triebziels. Äußert sich die Wirksamkeit des Triebes ursprünglich im phantasiemäßigen oder halluzinatorischen Auftreten von Gedanken, welche zu der im Trieb angelegten Zielstrebigkeit im Verhältnis des Zieles standen, so treten jetzt mit einem Mal Triebimpuls und Triebziel auseinander. Eben noch, - man denke an den ehrgeizig träumenden THEMISTOKLES, - kamen dem Phantasierenden ganz automatisch die das Triebziel symbolisierenden Gedanken, in denen er wie in Erfüllungen seines Ehrgeizes lebte, - jetzt, im zweiten Stadium der Triebwirksamkeit, treten das Ich und seine Gedanken auseinander. Die Gedanken gelten dem Ich nun nicht mehr als das Triebziel selbst, sie symbolisieren es nur; damit aber wird der Phantasiecharakter der Gedanken fühlbar und dieser negative Tatbestand, das Nur-Phantasiecharakter-Haben der Gedanken findet seine positive Kehrseite darin, daß eben jene Gedanken nun als Gegenstände des Wunsches, als Wunschinhalte vor Augen stehen. Neben dieser Veränderung in der Gegebenheitsweise des Triebziels steht die Veränderung im Ich. Lebte das Ich ursprünglich in seinen Gedanken, so lebt es jetzt im Verlangen nach einer Realisierung jener Gedanken. Man kann das genauer so ausdrücken, daß man sagt: solange das Ich Triebrealisierungen phantasiert, haben die das Triebziel symbolisierenden Gedanken die Ichstelle inne; sobald aber Triebimpuls und Triebziel auseinandertreten, gewinnt ein Wunsch nach Realisierung der Phantasieinhalte die Ichstelle.

Wie bereits angedeutet reicht die Wirksamkeit des Triebes weiter als seine Fühlbarkeit. Die Quellenhalluzination des Verdurstenden sind Anzeichen für die Wirksamkeit des Triebes; fühlbar dagegen wird er erst auf einer höheren Stufe seiner Wirksamkeit, da, wo die Quelle als Inhalt des Verlangens auftritt. Einen interessanten Beweis für diesen Zusammenhang liefern gewisse Übergangsphänomene des gesunden in das kranke, des normalen in das perverse Begehren. Neurotiker erzählen z. B. von gewissen geschlechtlichen Perversionen, sie hätten sie realisiert, dabei aber den allergrößten Ekel empfunden. Gefragt, wie sie bei so ausgesprochenen Ekelempfindungen dazu kamen die perverse Handlung auszuführen, erklären sie, sie hätten von der Existenz solcher Handlungen gehört und das habe ihre Phantasie beschäftigt. Zu gleicher Zeit angezogen und abgestoßen hätten sie den Eindruck einer Nötigung verspürt, die perverse Handlung auszuführen. Der Ekel wuchs dabei an, allein trotzdem geschah die Handlung. Dann allmählich, bei wiederholter Ausführung schwand der Ekel. Beobachtungen analoger Art haben Theoretiker des Begehrens veranlaßt zu schließen, es pervertiere erst das Begehren und diesem pervertierten Begehren folgt dann die Perversion des Fühlens. Dennoch ist dieser Schluß falsch, und die Analyse dieses Fehlschlusses ist überhaupt geeignet, hier einiges Licht zu verbreiten. Man übersieht nämlich, daß, wenn der Neurotiker auch im Vollzug der perversen Handlung gegen einen Affekt des Ekels anzugehen hat, dennoch ein eigentümlicher Anreiz von der ihm vorschwebenden, perversen Möglichkeit ausgeht. Er gibt selber an: die perverse Möglichkeit habe seine Phantasie beschäftigt. Er konstatier selbst ein Oszillieren seines Interesses an der Handlung zwischen Anziehung und Abstoßung, immer aber betont er das Interesse, die Fähigkeit der Handlung seine Phantasie in Anspruch zu nehmen. Damit aber ist das Entscheidende bereits gesagt. Es muß  eben der Lust- oder Ekelcharakter des Triebziels von seinem Anspruch auf das emotionale Interesse  unterschieden werden. Wenn man einen Melancholiker, dem seine depressive Lebensgrundstimmung immer wieder trübe Gegenstände vor Augen führt, einem Pessimisten, der aus der Fülle möglicher Inhalte ausschließlich die Leiden symbolisierenden Inhalte auswählt und gewahr wird, versichern wollte: er  sucht  diese Gegenständ düsteren Charakters auf, etwas in ihm wolle und wähle das Leiden, bejahe es und hänge ihm nach - so wird er mit Leidenschaft protestieren und sagen, man verstände ihn nicht, er leide doch am Leiden, er hasse es und wolle es durchaus nicht. Und doch ist wahr, daß er wie blind für alles, was  nicht  Leiden ist, daß sein Interesse stumpf ist für lustvolle Gegenstände und nur die schmerlichen betont. Hier findet man denselben Gegensatz: Ekel, Unlust, Widerwillen angesichts des Leidens und doch ein unzerstörbares Interesse an allem, was Leid ist, eine besondere emotionale Ansprechbarkeit durch dasselbe. Die gleiche emotionale Ansprechbarkeit aber findet man beim Neurotiker. Sie ist das Ursprüngliche und es ließe sich zeigen, daß überhaupt im ganzen Gebiet des Begehrens und Wünschens der Perversion des Strebens eine Perversion des Fühlens vorausgeht.

Man entsinnt sich vielleicht, wir gingen aus von der Frage: was für ein Interesse hat DIOGENES an der Beachtung des Zuschauers. Wir kamen auf die einfachere, näherliegende Frage: was für ein Interesse hat der Essende an der Nahrung. Es zeigte sich, daß man die biologische Betrachtung von der psychologischen abscheiden muß. Der Biologe findet, die Selbsterhaltung sei Gegenstand des Interesses für den Essenden. Für den Psychologen ist das Interesse ein emotionales. Dieses emotionale Interesse ist noch nicht die Nahrungsbegierde. Es gibt einen lustvollen, in der Voraussicht der möglichen Stillung angenehmen Hunger; einen unlustvollen, angesichts der Stillungsohnmacht qualvollen Hunger. Es gibt ein "Lüstern sein" nach Speise besonderer Qualität, die Naschhaftigkeit, und es gibt die Gier dessen, der sich in leidenschaftlicher Orgie und in Exzessen an die bloße Lust des Essens selbst verliert. Diese Möglichkeiten sind in der biologischen Perspektive samt und sonders als Modi des Wirksamseins von ein und demselben Trieb zu bewerten, des Eßtriebes; für die psychologische Betrachtung aber handelt es sich um besondere Arten des Fühlbarwerdens, immer des Eßtriebes, um differenzierte Ausarbeitungen des einen und gleichen emotionalen Interesses. Dieses emotionale Interesse ist in seinem Bestand davon abhängig, ob sein Gegenstand lust- oder unlustbetont vor Augen steht: unabhängig auch davon, ob sein eigenes Dasein mit Lust oder Qual verbunden ist. Es ist schließlich davon unabhängig, ob es in Phantasiebefriedigungen oder Realbefriedigungen übergeht. Dagegen läßt sich beweisen, daß es einen determinierenden Anteil hat:
    1. an der Selektion bestimmter, von  einem  Wert zusammengehaltener Gegenstände durch die Aufmerksamkeit,

    2. am Auftreten der das Triebziel symbolisierenden Gedanken,

    3. am Streben nach einer Durchsetzung des Ich dem Gegenstand gegenüber, wo das Ich aktiv und nach der Durchsetzung des Gegenstandes dem Ich gegenüber, wo sich das Ich in Selbsthingabe verhält,

    4. an der Triebhandlung selbst.
Der Zweck dieser Ausführungen ist in Kürze der, festzustellen, daß die Rede: "ein emotionales Interesse determiniere das Streben", gleichbedeutend ist mit der Annahme emotionaler Strebungen überhaupt. Strebungen (und Verhaltensweisen), welche durch ein emotionales Interesse identifizierbarer Qualität determiniert sind, gelten uns als emotionale (qualitative) Strebungen, gleichgültig, ob sich das Ich in solchen Strebungen als aktiv oder passiv tätig erweist; man wird sie am besten mit dem Namen der "Affektbegierden" bezeichnen. Eine solche Affektbegierde ist z. B. die Eßlust. Der Ausdruck "Affektbegierde" bezeichnet am deutlichsten die Zusammengesetztheit der qualitativen Strebung, in die zugleich ein emotionaler und voluntaristischer Faktor eingeht. Eine solche "Affektbegierde" aber ist auch alles auf die qualifizierte Beachtung des Zuschauers gerichtete Streben. Auch hier müssen von vornherein zwei Dimensionen des Beachtungstriebes unterschieden werden: die Dimension der Aktivität symbolisiert durch den  spontan  auf dem Weg der Selbstwertdarstellung Geltungserfoge aufsuchenden,  reflektierten Ehrgeiz,  und die Dimenson der Passivität, bezeichnet durch den Wunsch nach  Spontaneität der fremden Beachtung.  Beiden Dimensionen gemeinsam ist jedoch der Drang nach Expansion des eigenen Selbst in die Bedeutungssphäre des Zuschauers hinein. Es ist mit einem Wort der Trieb nach Beachtung ein Spezialfall des Triebes nach Selbsterweiterung, von ihm aber, und hierauf kommt es in diesem Zusammenhang an, durch eine qualifizierte Interessenrichtung emotionaler Natur abgespalten und verselbständigt.

Gerade  in der Ichbedeutung des Triebes  besitzen wir indessen eine Möglichkeit des tieferen Eindringens in die Natur des Triebes. Untersucht man nämlich die möglichen Stufen des Selbstgefühls, so finden sich ihnen zugeordnet besondere Manifestationen des Triebes nach Beachtung, welche eine systematische Ordnung der auf Beachtungsreaktionen abzielenden Impulse gestatten. Solche Differenzierungen des Triebes sind, beispielsweise, nicht systematisch gesprochen, die  exhibitionistische Zeigelust, der Beachtungswunsch  des DIOGENES, der  Geltungswunsch  des Heuchlers, des Posers, des heimlich Herrschsüchtigen; ferner der  Anerkennungsdurst  des Verkannten,  der  Ehrgeiz in allen seinen Formen,  die falsche Ruhmsucht  usw. Diesen Differenzierungen des Triebes entsprechen wechselnde Nuancen des emotionalen Interesses an der Beachtung und wechselnde Arten des Verhaltens; z. B. dem Interesse an der fremden Schaulust die Entblößung, dem Interesse am Beachtungserfolg die Selbstdarstellung, dem Interesse am Geltungserfolg die Modi der Selbstwertdarstellung.

Eine methodische Erwägung sei indessen hier noch verstattet. Offenbar nämlich besitzt man in den Bedingungen seines Fühlbarwerdens für die Erforschung der Wirksamkeit eines Triebes den wichtigsten Fingerzeig. Weiß man nun die allgemeinste Bedingung der Befriedigung für einen Trieb, so weiß man umgekehrt auch die allgemeinste Bedingung seines Fühlbarwerdens. Für den Trieb nach Beachtung gilt, daß er als gesondert fühlbare Erlebniseinheit in Befriedigung erlischt, überall da, wo zwischen dem aktiven oder passiven Beachtungsanspruch des Einzelnen und der Beachtungsbereitschaft seiner Umgebung das Gleichgewicht hergestellt ist. Erst wo dieses Gleichgewicht gestört ist, wo also z. B. der Beachtungserfolg hinter dem Beachtungsanspruch zurückbleibt, gelangt der Trieb nach Beachtung zur Fühlbarkeit und eben damit zu seiner fraglosesten Manifestation. Es repräsentieren sonst die zahllosen Variationen der Beachtungsbedingungen, wie sie das Leben selbst vornimmt, den für die Erforschung des Triebes von der höchsten Instanz in diesen Fragen selber angezeigten Weg, indem der Trieb, so unter den verschiedensten Umständen gestellt und zur Fühlbarkeit gelangend, gezwungen wird, sein Wesen ebenso wie seine Ichbedeutung zu enthüllen.
LITERATUR - Emil von Gebsattel, Der Einzelne und der Zuschauer, Zeitschrift für Pathopsychologie, Bd. 2, Leipzig und Berlin 1914
    Anmerkungen
    1) FRIEDRICH HEBBEL, Gyges und sein Ring
    2) Vgl. dazu das "So laßt mich scheinen, bis ich werde!" (GOETHE, Gedichte: Mignon)