cr-4DialektikDie Entstehung der Hermeneutik    
 
FRIEDRICH ERNST DANIEL
SCHLEIERMACHER

(1768-1834)
Kritik und Poesie

"Wir können nie ein Individuelles
durch die Sprache ausdrücken..."

Bei der Wissenschaft der Kritik ist es zunächst eine schwierige Aufgabe, sich über den Gegenstand derselben gehörig zu orientieren.

Wenn mehr Zeit wäre, würde es nicht ohne Interesse sein, wenn wir zu zeigen versuchten, wie die Aufgabe und die Benennung der Wissenschaft sich im Verlauf der Zeit modifiziert habe. So können wir aber nur auf die gegenwärtig Lage der Dinge sehen.

Fassen wir den Ausdruck 'Kritik' etymologisch, so kommt zweierlei in Betracht, einmal, daß die Kritik in irgendeinem Sinne ein Gericht, sodann, daß sie eine Vergleichung ist. Beides fällt zuweilen zusammen, geht aber auch zuweilen auseinander.

Das Wort, wie es technischer Ausdruck geworden ist, ist sehr schwer als eine wirkliche Einheit zu fassen. Wir gebrauchen es in Be-/ziehung auf wissenschaftliche Werke, wie auf Kunstwerke. Fassen wir diese doppelte Beziehung zusammen, so möchte für diese Kritik ein Ausdruck von FR. AUGUST WOLF nicht übel sein, nämlich der der doktrinalen Kritik. Die eigentliche Tendenz ist immer, einzelne Produktionen mit ihrer Idee zu vergleichen, das ist das Gericht, aber auch Einzelnes in Beziehung auf anderes Einzelnes zu betrachten, und das ist das Vergleichende.

Aber beides geht wieder in Eins zusammen, bildet 'eine' Doktrin. So bleibt noch der Gegensatz zwischen der historischen und philologischen Kritik. Die Aufgabe der historischen Kritik ist, ihre Einheit so gut als möglich zusammengefaßt, die, aus Relationen die Tatsachen zu konstruieren, also zu bestimmen, wie sich die Relation zur Tatsache verhalte. Die philologische wird in die höhere und niedere eingeteilt. Fragt man, was ist die höhere und was ist die niedere, so ist die Antwort nicht immer dieselbe. Bisweilen selbst bei Theoretikern, welche auf Wissenschaftlichkeit Anspruch machen, lautet sie sehr mechanisch.

Das Nächste, was wir zu tun haben, ist, zu untersuchen, wie sich die philologische Kritik zur historischen verhält. Von dieser sagt man im allgemeinen, sie sei die Kunst, aus vorhandenen Relationen die eigentliche Wahrheit einer Tatsache auszumitteln. Die Aufgabe ist auf diesem Gebiete ganz allgemein zu stellen. Wir finden nämlich überall eine Differenz zwischen der Relation und der Tatsache. Die Differenz kann geringer und größer sein, aber vorhanden ist sie in irgendeinem Grade immer. Wenn jemand erzählt, was er selbst erlebt hat, so ist das Analoge dies, wenn jemand etwas mit Worten beschreibt, was er selbst gesehen hat.

Etwas mit Worten beschreiben, und das mit Augen Gesehene sind irrationale Größen zu einander. Die Wahrnehmung ist nämlich ein Kontinuum, die Beschreibung kann es nicht sein. Die Aufgabe, durch Beschreibung den Gegenstand richtig darzustellen, kann nur auf verschiedene, nie auf dieselbe Weise gelöst werden. Es ist darin immer eine Verwandlung des Kontinuums, des konkreten Gegenstandes, in den diskreten, - in eine aus einzelnen Sätzen bestehende Beschreibung, worin immer ein Urteil des Beschreibers mit enthalten ist, und notwendig einiges nicht beschrieben, übergangen, anderes zusammengezogen wird, weil sonst die Beschreibung eine unendliche werden müßte. Es gleicht diese Verwandlung eines Kontinuums der Verwandlung einer Fläche in einen einzelnen Punkt.

Dabei kann man verschieden zu Werke gehen, und so kann auch das Übergangene verschieden ergänzt werden. Wenn aus der Beschreibung eines unbekannten Tieres zwei voneinander unabhängig sich ein Bild davon herstellen, so werden die Bilder sehr verschieden sein. Ebenso mit der Erzählung einer Tatsache. Natürlich ist es von besonderer Wichtigkeit zu wissen, wie der Erzählende verfahren sei. Je mehr er mir bekannt ist, seine Art wahrzunehmen, seine Neigungen, in der Wahrnehmung etwas zu übersehen, von dem Wahrgenommenen aufzunehmen und auszulassen, desto mehr läßt sich die Tatsache aus der Erzählung ermitteln.

Also die Ermittlung der Tatsache aus den Relationen ist die Aufgabe der historischen Kritik. Hier stehen wir aber auf einem Grenzpunkt. Denn hätten wir von einer Tatsache nur eine Erzählung, so wäre die Lösung der Aufgabe eine rein hermeneutische Operation. Aber wenn wir die Regeln der Hermeneutik auf geschichtliche Werke besonders anwenden, so geht die Ermittlung der Tatsache über das hermeneutische Gebiet hinaus. Nur die Ermittlung der Wahrnehmung, woraus die Erzählung hervorgegangen ist, ist hermeneutische Aufgabe. Zu wissen, wie das gewesen ist, ist hermeneutische Aufgabe. Zu wissen, wie das gewesen ist, was der Erzähler wahrgenommen hat, ist allerdings Ausmittlung der Tatsache im Gemüt des Erzählers, aber es beruht das nicht mehr auf seiner Rede, sonder auf anderweitigen Kenntnissen von ihm, kurz es geht in die angrenzende historische Kritik über.

Wenn wir den geraden Weg der Untersuchung einschlagen, so werden wir von jener allgemeinen Formel ausgehen müssen, die wir für die Kunsttätigkeit überhaupt aufgestellt haben, und fragen, welches ist denn die eigentümliche Produktivität der Poesie?

Die freie Produktivität, wie wir früher gesagt, die von der gebundenen Tätigkeit sich löst, ist für die Kunst das Allgemeine; die Produktivität der Mimik und Musik war in den Bewegungen, die sich als Äußerung der innern Zustände zeigten; im gewöhnlichen Leben erfolgen diese als bloße Reaktionen gegen äußere Einflüsse, in der Kunst dagegen sind sie von diesen unmittelbaren Einflüssen entbunden, und sollen diese Funktion, durch Bewegung und Ton das Innere zu manisfestieren, in ihrer ganzen Vollständigkeit darstellen.

In der bildenden Kunst haben wir es zu tun mit der sinnlichen Vorstellung, wie sie als Bild ist. Die Auffassung ist hier überhaupt bedingt durch die dem Geiste innewohnenden Gestaltensysteme als Formen seiner Tätigkeit, aber die Auffassung im Einzelnen ist bedingt durch die Gegenstände, die nicht reine Produktionen der bildenden Kraft sind, sondern durch andere Kräfte bedingt, diese soll die Kunsttätigkeit befreien, und beides in der Natur und dem Geiste in seiner Reinheit darstellen.

Hier haben wir also von der einen Seite den durch innere Zustände des Selbstbewußtseins in Bewegung gesetzten Willen, der wieder diese freien Bewegungen hervorruft. In der bildenden Kunst war es die Tätigkeit, wodurch der Geist in das hineingeht, was ihm die Natur für seine Sinne bietet.

Womit hat es nun die Poesie zu tun, wenn wir sie ohne Beziehung zu jenen Künsten an und für sich betrachten? Hier werden wir zunächst dabei stehen bleiben müssen zu sagen, alle poetische Kunsttätigkeit ist Tätigkeit in der Sprache; aber freilich muß sie hier wieder ein eigentümliches Gebiet haben, da keineswegs all Tätigkeit der Sprache und auf jede Weise poetisch sein kann.

Fragen wir nun, was die Sprache eigentlich ist, so müssen wir notwendig auf die Identität zurückkommen zwischen Denken und Reden, und zwar Denken im weitern Sinne genommen, aber doch so, daß das sinnliche Bild nicht mit inbegriffen ist, sondern nur alles, was in das Gebiet der Vorstellung hineinfällt. Wenn wir nun die Poesie ebenso, wie die bildende Kunst, als freie Tätigkeit auf etwas beziehen, was ursprünglich als gebundene Tätigkeit und Auffassung gegeben ist, so folgt, die Auffassung von Gegebenem in der Form der Vorstellung hat es mit der Wahrheit zu tun, und sobald wir uns diese Aufgabe verallgemeinern, so sehen wir gleich, daß wir uns auf dem Gebiete der Wissenschaft befinden. Denn die Vorstellung und das Auffassen in der Form der Vorstellung im weitesten Umfange muß auf einer bestimmten Stufe der Allgemeinheit oder Besonderheit stehen, und diese alle gehören wesentlich zusammen, und jede einzelne Produktion hat ihre Wahrheit, insofern sie hier eine gesetzmäßig bestimmte Stelle einnimmt, als von diesem Zusammenhange abhängig ist.

Dieser Zusammenhang ist aber, sofern er durch das Denken gegeben ist, die Wissenschaft dessen, was ist. Hier sind wir also ganz in dem Gebiete der Wissenschaft, und es läßt sich etwas Analoges aufstellen, wie bei den bildenden Künsten. Wir beziehen die verschiedenen Abstufungen des Besonderen und Allgemeinen auf die Naturgegenstände im weitesten Sinne, den Menschen und das menschliche Tun darin begriffen, so daß wir es also auf dieselbe Weise ansehen, wie es in der Wirklichkeit gegeben ist, und wie es uns auf geistige Weise einwohnt, und an etwas zum Bewußtsein gebraucht werden soll.

Aber wollte man nun weiter fortfahren und sagen, hiert gilt es ebenso, die Vorstellung von dem zu befreien, was ihr Fremdartiges anhängt, so gelangen wir dadurch keineswegs in das Gebiet der Kunst, sondern bleiben in dem Gebiete der Wissenschaft. Nun aber müssen wir die Poesie ganz davon lösen, denn jeder sieht, daß ihre Forderung eine ganz andere ist, als die Läuterung der ursprünglichen Auffassung im Bewußtsein zur wissenschaftlichen Wahrheit.

Sollen wir diese Analogie ganz aufgeben, weil sie nicht in die Kunst führt, so hat es die Poesie allerdings mit der Sprache zu tun, aber nicht insofern sie die äußere Hinstellung ist derjenigen Funktion, die sich auf das wirkliche Sein bezieht. Auf diese Weise trennen wir die Tätigkeit der Poesie von der wissenschaftlichen Tätigkeit ab, allein wir haben doch nur etwas Negatives aufgestellt.

Fragen wir also, ob denn die Sprache überall noch etwas anderes ist, als nur dieses, was wir, selbst im weitesten Sinne genommen, ihren logischen Gehalt nennen; dann alles dies, was sich in der Sprache darauf bezieht, ist die Sache der Wissenschaft, und da gibt es eine ganz analoge Ergänzung der Auffassung, die durch die Wirklichkeit des Gegenstandes, d.h. durch die Erfahrung bedingt ist, durch eine freie Produktivität des Geistes, die die Form des Seins für sich hinstellt; allein dies ist nicht die Produktivität der Kunst, sondern eine andere.

Was aber bleibt dann der Sprache übrig, worin die Poesie eigentlich ihr Wesen haben könnte? Die Sprache wird ursprünglich ebenso ein Innerliches, wie wir dies von allen anderen Kunstzweigen auch gesagt haben, daß die ursprüngliche Produktivität eine innerliche sei; sie wird aber äußerlich nur durch den Ton. Dieser hat ein Analogon mit dem musikalischen Element, und immer in dem Gebrauch der Sprache bekommen wir einen Eindruck von diesem musikalischen Element. Allerdings ist nun da vieles indifferent, z.B. in der Sprache der Geschäftstätigkeit abstrahiert jeder von dem, was wir im allgemeinen Wohlklang nennen wollen.

Aber es gibt anderes, wo wir eine Berücksichtigung dieses Elements verlangen. Hier leuchtet schon eine Analogie uns entgegen mit der Kunst, insofern sie sich auf den Ton als Element der Musik bezieht. Dieses musikalische Element der Sprache produziert sich immer mit, indem wir uns der Sprache zu irgendeinem Behuf bedienen, tritt aber nicht in ihrem ganzen Wesen in der Sprache auf, weil diese Seite zurückgedrängt ist. Sehen wir daher die Sprache überhaupt als eine geistige Funktion an, so haben wir hier den eigentlichen Anknüpfungspunkt, und es ist demgemäß die Poesie die zur Freiheit gewordene Produktivität in der Sprache nach ihrem musikalischen Element.

Die Sprache soll darin heraustreten als eine Totalität von Wohlklang. Aber da wird gleich eingewandt werden, ob denn der Inhalt etwas völlig Gleichgültiges sei; - und dies traut sich niemand zu behaupten. Dann aber haben wir mit dem jetzt Aufgestellten auch nicht das eigentliche Wesen der Poesie getroffen, sondern nur etwas. Jedoch wird niemand ein Werk für poetisch halten, wo die Sprache keine Richtung hat auf den Wohlklang; aber es liegt darin auch noch nicht der Unterschied zwischen Prosa und Poesie.

Wie verhält es sich aber mit dem Inhalt? Gegenüber der Behandlung des Inhalts in der Wissenschaft ist in einem gewissen Sinne die Wahrheit des Inhalt für die Poesie etwas Gleichgültiges; in einem andern Sinne ist sie es offenbar nicht, und wenn wir diesen Unterschied finden können, so werden wir uns wohl völlig zurechtfinden in Beziehung auf das Wesen der Poesie.

Betrachten wir einmal dies nicht an der Sache selbst, sondern an Beispielen, aber von allgemeiner Art. Denken wir uns ein episches Gedicht und fragen, ist hier die Wahrheit des Inhalts als ein geschichtliche Gegebenes bei dem Gedicht von Belang, so ist dies zu verneinen; so wie wir bei dem Einzelnen, woraus das Gedicht besteht, stehen bleiben, so ist uns die Wahrheit gleichgültig, und die Personen eines epischen Gedichtes könnten völlig erdichtet sein; ob es einen Achilles, Ajas usw. gegeben hat, ist für das Gedicht ganz gleich.

Aber dies ist nicht für die Wahrheit des Einzelnen gleichgültig, denn wenn ich sage, der Dichter führt mir einen Menschen vor, wie ich mir gar keine denken kann, als ist im Einzelnen nicht nur nicht die Wahrheit der menschlichen Natur, wenigstens nicht in der bestimmten Beziehung, in der er sie hinstellt, so wie ich diese Wahrheit vermisse, so hilft mir auch aller Wohlklang nichts, das eine hebt das andere auf, ich möchte gern diesen Wohllaut des Gedichts genießen, aber ich werde durch den Mangel an Wahrheit zurückgestoßen.

Fragen wir aber, ist die Wahrheit die Vollkommenheit des Gedichts als solches, so ergibt sich nur, daß sie, genau genommen, conditio sine qua non ist zwischen dem Dichter und dem, der sich sein Werk aneignen soll, weil man den Wohlklang nicht anders auffassen kann, als an dem Inhalte, und wenn das letztere wegen Mangels an Wahrheit nicht angeht, so wird jenes als störend zurückgewiesen. Ob aber nun diese Wahrheit des Inhalts mehr ist, als daß die logische Wahrheit notwendige Bedingung ist in einem weiteren Sinne, können wir auf dem gegenwärtigen Standpunkte der Untersuchung noch gar nicht behaupten.

Ohne dieselbe hätte man nur eine Art von Musik, keine Sprache; aber wie ein Werk nicht poetisch ist, wo keine Richtung auf Wohlklang darin enthalten ist, so auch nicht, wo keine Richtung auf diese Wahrheit ist. Allein es muß dabei die Poesie, sofern sie in der Sprache arbeitet, immer gelöst bleiben von der rein logischen Richtung, sei es als empirische und auf die Aufassung des einzelnen Wirklichen hingewandt, oder sei sie spekulativ. Auf der andern Seite ist aber das eigentliche Spezifische der dichterischen Begeisterung immer noch näher zu bestimmen. Offenbar muß in dem Dichter beständig die Sprache leben, aber zunächst in ihrer Richtung auf den Wohlklang.

Indem nun der logische Wert ein anderer sein muß, als der poetische, so ist hier die Frage, worin dieser Wert liegen kann in dem Gebiete der Sprache.

Das Logische und Musikalische sind zwei Richtungen, die der Sprache gemeinsam angehören; es kann ein Satz als Ausdruck in der Sprache seinem logischen Gehalt nach eine vollkommen genügende Bildung haben, aber er verletzt uns, indem er das Musikalische nicht befriedigt; auf der andern Seite kann uns ein Satz in dieser Beziehung befriedigen, aber doch seinem Inhalte nach als ganz leer erscheinen. Beides sind also ganz verschiedene Elemente; und es unterscheiden sich die Sprachen wieder selbst darin, daß die eine sich mehr nähert der Vollkommenheit von Seiten des einen, die andere von Seiten des andern Elements.

Wenn wir aber die logische Seite betrachten, so werden wir davon ausgehen müssen, daß es gar kein Denken gibt ohne Sprache, auch wenn wir das rein innerliche Denken und den vom sinnlichen Bilde gelösten Verstand nehmen, so können wir die Sprache nicht entbehren. Hier scheint daraus hervorzugehen, als ob dieses beides, die Sprache abstrahiert vom Denken und dieses Musikalische, ein und dasselbe sei.

Wenn wir es als Forderung aufstellen, so ist es auch allerdings richtig. Wenn man aber dies geistige Funktion in ihrer wirklichen Erscheinung betrachtet, so gibt es eine gewisse Differenz zwischen Gedanken und Ausdruck, die noch etwas anderes ist, als die zwischen Denken und Musik; es kann der Ausdruck den Gedanken ganz identisch in den andern hinübertragen, das ist dann seine Vollkommenheit, aber die meisten wirklichen Mitteilungen in der Sprache nähern sich diesem nur.

Fragt man nun, liegt hier eine Unvollkommenheit im Denken oder in der Sprache zugrunde, so wird die Entscheidung vielen sehr zweifelhaft sein, es läßt sich denken, daß dies in einem Mangel an Übung in der Sprache bestehe, aber keineswegs in der Unvollkommenheit des Denkens gegründet sei; ein anderer wird sagen, wo eine Unvollkommenheit des Ausdrucks ist, da ist auch eine Unvollkommenheit des Denkens. Worauf beruht nun diese Differenz des Urteils.

Offenbar darauf, daß der eine die reine Identität voraussetzt, der andere, daß er voraussetzt, es gebe eine Tätigkeit in der Sprache, die nicht zugleich Tätigkeit im Denken sei, als auch eine Übung in der Sprache, die größer oder geringer sein kann, bei demselben Grade des Denkens. Dieses vermag die verschiedenen Ansichten miteinander auszusöhnen; wenn wir fragen, worin liegt diese Übung, so kommen wir auf das zurück, was ich als die spezifische Begeisterung des Dichters dargestellt habe.

Je mehr er innerlich spricht, und die Sprache in ihm lebt, desto mehr wird er Meister derselben sein. Dieses, was uns vorläufig nur noch als ein unbekanntes Etwas erscheint, hat aber doch eine Beziehung auf das Denken, denn wenn der eine der Sprache so Meister ist, daß er seine Gedanken unmittelbar in mich übertragen kann, so daß ich mir dieselben sogleich anzueignen vermag, während der andere dies so wenig ist, daß ich sein Sprechen immer ergänzen muß, so ist dies etwas, was mit dem Denken zusammenhängt, aber doch nicht das Logische und Musikalische. Ersteres nicht, weil es sonst die größere oder geringere Unvollkommenheit im Denken sein müßte.

Fragen wir nun weiter, welches das uns unbekannte Element sei, was wir aber nur in seinen Folgen erkennen, so ist jede Sprache zunächst die Darlegung eines eigentümlichen Complexus von Begriffen, eigentümlich insofern, als keine Sprache ganz in eine andere aufgeht, ihrem eigenen Elemente nach. Fragen wir aber, wie sich die Sprache ihren Elementen nach zu diesem Complexus von Begriffen verhält, so finden wir in allen Sprachen, nur mehr oder weniger, so zusammengehörige Ausdrücke, daß wir sie nicht mehr auf eine einfache Weise an den Begriff heften, sondern daß die Differenz ihres logischen Inhalts erst einer Erklärung bedarf; damit besteht dies vollkommen, daß man zugibt, es sind in einer Sprache nicht zwei Wörter vorhanden, welche ganz gleichen Inhalt haben; aber es ist dies eine Differenz, die sich nicht auf dieselbe Weise sogleich in den Gedanken überträgt, sondern sie fordert hier eine Erklärung.

Hier sehen wir also allerdings eine Differenz zwischen dem Denken und Sprechen, die in der Sprache selbst ihren Sitz hat. Hier ist nun ein Gegenstand für eine solche Übung, wodurch eine Meisterschaft in der Sprache entsteht, die größer oder geringer sein kann, bei derselben Vollkommenheit im Denken. Allein ich keineswegs behaupten, daß so die unbekannte Größe schon zu einer bekannten geworden ist, sondern ich habe bloß einen Ort aufgestellt, wo sie sichtbar ist, ohne daß sie bestimmt ist.

Wenn diese aber wesentlich in die spezifische poetische Begeisterung ausgehen soll, und wir diese genauer bestimmen wollen, so dürfen wir nun nicht mehr bei dem abstrakten Begriffe der Poesie stehen bleiben, sondern wir müssen die Funktion in ihrer Verschiedenheit anschauen; aber weil es auf das Spezifische hierbei ankommt, so müssen wir die Differenz von anderwärts hernehmen. Da kommen wir nun auf die vorläufige Betrachtung zurück, mit der wir anfingen; wir wollen es jedoch nun umgekehrt machen und fragen: zugegeben, daß das Musikalische der Sprache dem Poetischen wesentlich sei, es erschöpfe dabei jedoch keineswegs die poetische Produktion, die ganze logische Richtung dagegen läge außerhalb der poetischen Produktion, was ist es dann, was uns die Poesie gibt außer dem Wohlklang in der Sprache?

Wir müssen uns dieses erst an einzelnen verschiedenen Fällen vergegenwärtigen. Denken wir uns ein Element eines epischen Gedichts, wo einzelne Personen in bestimmter Tätigkeit dargestellt werden, so erscheint uns, wenn wir mehrere dieser Arbeiten vergleichen, die eine vollkommener, die andere unvollkommener, worauf beruht diese Differenz?

Je mehr mich der Dichter nötigt und in Stand setzt, mir von einer Person ein vollkommenes Bild zu machen, desto vollkommener ist seine Darstellung für mich; je weniger mir dagegen dies durch seine Darstellung gelingt, ob ich gleich dazu aufgefordert werde, desto unvollkommener ist seine Darstellung. Was verlangen wir also hier? Der Dichter hat nichts in seiner Gewalt, als Wörter, die immer in dem Gegensatz des Allgemeinen und Besonderen sind, aber es soll ein vollkommen einzelnes Bestimmtes daraus werden; er soll also etwas geben, was sich eigentlich nicht durch die Sprache geben läßt, denn die Sprache gibt immer nur das Allgemeine, aber durch die Art, wie er dieses ineinander flicht, will er dies erreichen. Je vollkommener er dies erreicht, desto besser ist es.

Dem sehr nahe kommt etwas sonst seiner Natur nach sehr Entgegengesetztes, was wir hier vergleichen wollen. Nehmen wir z.B. die Beschreibung einer Planze in einem botanischen Handbuch; da soll nicht ein bestimmtes Einzelne gegeben werden, sondern die Spezies, und freilich soll auch ein Bild in uns hervorgerufen werden, aber nur ein so veränderliches Schema der Gattung, daß man sich darin unendliche Exemplare denken kann.

Die Sprache, die Allgemeinheit ist, setzt mich in den Stand, diesen Typus zu unterwerfen, so daß man die Pflanze darnach zeichnen könnte, dann ist die Beschreibung vollkommen. Doch ist dieses rein das Gegenteil vom Poetischen, weil die Beschreibung durch ein Aggregat von allgemeinen Ausdrücken besteht, und nichts anderes, als daß ein allgemeines beschrieben werden soll. Wenn aber auf diese Weise eine bestimmte Pflanze beschrieben werden soll, so ist dies unmöglich.
LITERATUR - F.D.E. Schleiermacher, Hermeutik und Kritik, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt/Main 1977