ra-2V. CathreinG. SimmelL. FeuerbachE. AdickesSchleiermacher    
 
LEO TOLSTOI
Was ist Religion
und worin besteht ihr Wesen?


"Jegliche religiöse Lehre in ihrem wahren Sinn, wie grob dieselbe auch ist, stellt immer die Beziehung des Menschen zum Unendlichen fest, welches ein und dasselbe für alle Menschen bleibt. Jegliche Religion erkennt den Menschen als gleich nichtig vor dem Unendlichen, und darum schließt jegliche Religion in sich immer den Begriff der  Gleichheit aller Menschen vor demjenigen, was sie als Gott betrachtet. So ist also die Anerkennung der Gleichheit aller Menschen unvermeidlich die Grundeigenschaft jeder Religion."

"Jede menschliche Tätigkeit wird durch drei Beweggründe hervorgerufen: durch das Gefühl, durch die Vernunft und durch die Eingebung von Außen - eine Eigenschaft, welche von den Ärzten Hypnotismus genannt wird. Bisweilen handelt der Mensch nur unter dem Einfluß des Gefühls, bestrebt, das zu erreichen, was er begehrt; bisweilen handelt er unter dem alleinigen Einfluß der Vernunft, welche ihm das zeigt, was er  tun soll; bisweilen und am allerhäufigsten handelt der Mensch, weil er sich selbst oder Andere ihm eine gewisse Tätigkeit suggeriert haben, und er unbewußt der Suggestion gehorcht."

"Die Mittel der Eingebung sind nun immer und überall ein und dieselben. Diese Mittel bestehen darin, unter Benutzung desjenigen menschlichen Zustandes, wo der Mensch am meisten empfänglich für Eingebungen ist, (Kindesalter, wichtige Lebensereignisse - Todesfall, Geburten, Eheschließungen), auf ihn durch Werke der Kunst einzuwirken: durch Architektur, Bildhauerkunst, Malerei, Musik und dramatische Vorstellungen, und in diesem Zustand der Empfänglichkeit - welcher dem ähnelt, der bei einzelnen Menschen durch ein halbes Einschläfern erreicht wird - ihm das zu suggerieren, was den Eingebern wünschenswert ist."


I.

Immer und überall in der menschlichen Gesellschaft ist zu gewissen Perioden ihres Lebens eine Zeit angebrochen, wo die Religion von ihrer Grundbedeutung anfangs abwich, dann, immer mehr und mehr abweichend, ihre Grundbedeutung verlor und schließlich in den einmal festgestellten Formen erstarrte; und dann wurde ihre Wirkung auf das Leben der Menschen eine immer geringere.

In solchen Perioden gibt die gebildete Minorität, welche an die bestehenden Religionssatzungen nicht mehr glaubt, sich nur den Anschein, daß sie daran glaubt, weil sie dies zwecks des Zurückhaltens der Volksmassen in den bestehenden Lebensverhältnissen für nötig erachtet; die Volksmassen dagegen, obgleich durch die  vis inertiae [Kraft der Trägheit - wp] in den einmal bestehenden Religionsformen festgehalten, werden in ihrer Lebensweise schon nicht mehr von den Anforderungen der Religion geleitet, sondern nur von Volkssitten und Regierungsgesetzen.

Dies ist vielfältig in den verschiedenen menschlichen Gesellschaftsgestaltungen der Fall gewesen. Aber niemals war das der Fall, was jetzt in unserer christlichen Gesellschaft vor sich geht. Niemals war es der Fall, daß die reiche, herrschende, höher gebildete Minorität, welche den allergrößten Einfluß auf die Massen hat, nicht nur an die bestehende Religion nicht glaubte, sondern davon überzeugt war, daß in unserer Zeit kein Mensch mehr eine Religion braucht; daß sie den Menschen, welche an der Wahrheit der konfessionellen Religion einen Zweifel hegen, nicht etwa irgendeine andere, vernünftigere und klarere Religionsdoktrin, als die bestehende, beibrachte, sondern diese Lehre: die Religion habe überhaupt ihre Zeit überlebt und sei jetzt nicht nur ein unnützes, sondern sogar ein schädliches Organ im Leben der Gesellschaft, von der Art etwa, wie der Blinddarm im Organismus des Menschen. Die Religion wird von Menschen dieser Art nicht als etwas uns aus innerer Erfahrung Bekanntes studiert, sondern als eine äußere Erscheinung - wie etwa eine Krankheit, von welcher gewisse Leute befallen zu werden pflegen, und welche wir nur nach äußeren Symptomen erforschen können.

Nach der Meinung einer Gruppe von diesen Menschen ist die Religion aus der Beseelung aller Naturerscheinungen hervorgegangen, (Animismus); nach der Meinung einer anderen Gruppe - aus der Möglichkeitsvorstellung von Beziehungen zu unseren verstorbenen Vorfahren; nach der Meinung einer dritten - aus der Furcht vor den Naturgewalten. Und da - so folgern die gelehrten Leute unserer Zeit weiter - da die Wissenschaft bewiesen hat, daß Bäume und Steine nicht beseelt werden können, und daß die toten Vorfahren schon nicht mehr empfinden, was die Lebenden tun, und daß die Naturerscheinungen sich aus natürlichen Ursachen erklären: so ist auch die Notwendigkeit der Religion aufgehoben und damit auch die Beschränkungen, welche die Menschen infolge religiöser Gläubigkeit sich auferlegten. Nach der Meinung der Gelehrten gab es eine Zeitperiode der Unwissenheit - die religiöse. Diese Periode ist von der Menschheit bereits lange überlebt; es sind nur spärliche, atavistische [schon überwunden geglaubte - wp] Merkmale davon übrig geblieben. Später gab es eine metaphysische Periode, und auch diese ist überlebt. Jetzt leben wir, wir aufgeklärten Leute, in der wissenschaftlichen Periode, in der Periode der positiven Wissenschaft, welche die Religion ablöst und die Menschheit auf eine so hohe Stufe der Entwicklung führen wird, wie sie niemals hätte erreichen können, wenn sie den abergläuischen religiösen Lehren unterworfen geblieben wäre.

Zu Anfang des Jahres 1901 hielt der berühmte französische Gelehrte BERTHELOT eine Rede (1), worin er seinen Zuhörern den Gedanken aussprach, daß die Zeit der Religion vorüber ist und daß die Religion jetzt durch die Wissenschaft ersetzt werden muß. Ich zitiere diese Rede deshalb, weil sie mir zuerst in die Hände file und weil sie in der Hauptstadt der gebildeten Welt von einem allseits anerkannten Gelehrten gehalten wurde; aber der gleiche Gedanke wird beständig und überall ausgesprochen, angefangen bei philosophischen Abhandlungen bis zu Zeitungsfeuilletons hinab. Herr BERTHELOT sagt in seiner Rede, daß früher zwei Ursachen gab, welche die Menschheit in Bewegung setzten: die Gewalt und die Religion. Nunmehr aber seien diese bewegenden Kräfte überflüssig geworden, weil an ihre Stelle die Wissenschaft getreten ist. Unter der Wissenschaft versteht Herr BERTHELOT augenscheinlich, ebenso wie alle an die Wissenschaft glaubenden Menschen, eine solche Wissenschaft, welche alle Gebiete menschlicher Erkenntnis umfaßt, dieselben harmonisch vereinigt und, je nach ihrer Wichtigkeit, untereinander einordnet; und welche solche Methoden beherrscht, daß alle von ihr erreichten gegebenen Größen die unzweifelhafte Wahrheit darstellen. Da aber eine solche Wissenschaft in Wirklichkeit nicht existiert; und da das, was Wissenschaft genannt wird, nur eine Sammlung zufälliger, durch nichts untereinander verbundenen Kenntnissen bildet, die oft gänzlich unnötig sind und nicht nur keine unzweifelhafte Wahrheit darstellen, sondern auch durch die Bank die gröbsten Irrtümer - heute als Wahrheiten aufgestellt und morgen umgestoßen - enthalten: so ist es ersichtlich, daß der Gegenstan nicht existiert, welcher nach Herrn BERTEHLOTs Meinung die Religion ersetzen soll. Darum ist aber auch die Behauptung von Herrn BERTHELOT und von ihm gleichgesinnten Männern, daß die Religion durch die Wissenschaft ersetzt werden wird, vollkommen willkürlich und nur gegründet auf den durch nichts gerechtfertigten Glauben an die unfehlbare Wissenschaft, völlig gleich dem Glauben an eine unfehlbare Kirche. Indessen aber sind Männer, welche Gelehrte heißen und sich für Gelehrte halten, vollkommen davon überzeugt, daß bereits eine solche Wissenschaft existiert, welche die Religion ersetzen soll und kann und letztere sogar aufgehoben hat.
    "Die Religion hat ausgedient; an irgendetwas außer der Wissenschaft zu glauben, ist Unwissenheit. Die Wissenschaft ordnet alles, was nötig ist, umd in Leben darf man sich nur von der Wissenschaft leiten lassen" -
so denken und sprechen, wie die Gelehrten selbst, so auch die Leute der großen Menge, die - obgleich sehr weit von der Wissenschaft entfernt - doch den Gelehrten glauben und vereint mit diesen behaupten, daß die Religion ein überlebter Aberglaube ist und man sich im Leben nur von der Wissenschaft leiten lassen muß, d. h. eigentlich von nichts, weil die Wissenschaft ihrem eigensten Zweck gemäß - der Erforschung alles Bestehenden - keine Anleitung für das Leben der Menschen geben kann.


II.

Die gelehrten Männer unserer Zeit haben entschieden, daß Religion nicht nötig ist; daß die Wissenschaft sie ablösen wird, wenn sie dieselbe nicht schon abgelöst hat; inzwischen aber hat, wie früher, so auch jetzt, ohne Religion niemals eine menschliche Gesellschaft gelebt und kann ohne sie nicht leben; weder eine menschliche Gesellschaft, noch ein einzelner vernünftiger Mensch. (Ich sage deshalb vernünftiger Mensch, weil der unvernünftige Mensch, ebenso wie das Tier, auch ohne Religion leben kann.) Und zwar kann der vernünftige Mensch aus dem Grund nicht ohne Religion leben, weil nur die Religion dem vernünftigen Menschen die ihm notwendige Anleitung darüber gibt, was er zu tun hat und was er früher und was später tun soll. Der vernünftige Mensch kann gerade deshalb ohne Religion nicht leben, weil die Vernunft eine Eigenschaft seiner Natur ist. Jedwedes Tier wird in seinen Handlungen - ausgenommen diejenigen, zu welchen das direkte Bedürfnis seiner Triebbefriedigung es hinreißt - von der Überlegung der nächsten Folgen seines Handelns geleitet. Indem das Tier diese Folgen mittels der ihm zu Gebote stehenden Hilfsmittel der Erkenntnis überlegt, bringt es seine Handlungen mit jenen Folgen in Einklang, und es wird immer ohne zu schwanken in ein und derselben Art und Weise dieser Überlegung entsprechend handeln. So fliegt z. B. die Biene nach Honig aus und trägt ihn in den Stock, weil sie im Winter die von ihr gesammelte Nahrung für sich und die Jungen braucht, und über diese Erwägung hinaus weiß sie nichts und kann sie nichts wissen; ebenso verfährt der Vogel, der sein Nest flicht, oder von Norden nach Süden zieht und umgekehrt. Ebenso verfährt auch jedes andere Tier, wenn es eine Handlung vollzieht, die nicht einem direkten sofortigen Bedürfnis entspringt, sondern durch die Überlegung erwarteter Folgen bedingt ist. Nicht so der Mensch. Der Unterschied zwischen dem Menschen und dem Tier besteht darin, daß sich die Erkenntnisfähigkeit des Tieres auf das beschränkt, was wir Instinkt nennen, während die fundamentale Erkenntnisfähigkeit des Menschen die Vernunft ist. Die Biene, die ihre Nahrung einsammelt, kann keinen Zweifel darüber hegen, ob es gut oder schlecht ist, sie einzusammeln. Aber der Mensch, welcher die Ernte oder die Früchte einsammelt, kann nicht umhin, daran zu denken - ob er nicht für die zukünftige Zeit das Wachstum des Korns oder der Früchte vernichtet? oder daran - ob er durch sein Einsammeln dem Nächsten die Nahrung entzieht? Er kann nicht umhin, auch daran zu denken: was wird aus jenen Kindern werden, welche er ernährt? und mancherlei anderes. Die wichtigsten Fragen der Lebensführung können durch den vernünftigen Menschen nicht endgültig entschieden werden, und zwar gerade durch die Überfülle an Folgen, welche er nicht umhin kann, zu sehen. Jeder vernünftige Mensch fühlt, wenn er es nicht weiß, daß er in den allerwichtigsten Lebensfragen weder von persönlichen Gefühlsregungen über die nächsten Folgen seiner Tätigkeit, weil er zu viel verschiedene und oft entgegengesetzte Folgen sieht, d. h. solche, die ebenso wahrscheinlich wohltätig wie schädlich einwirken können, sowohl was ihn, als was andere Menschen betrifft. Es gibt eine Legende, wie ein Engel, der auf die Erde zu einer gottesfürchtigen Familie niederstieg, daselbst ein Kindchen tötete, welches in der Wiege lag; und als man ihn fragte, weshalb er dies getan hat, erklärte er, daß dieses Kind der größte Bösewicht geworden wäre und das Unglück seiner Familie gestiftet hätte. Aber nicht nur die Frage, welches Menschenleben nützlich, unnütz oder schädlich ist - alle wichtigsten Lebensfragen können vom vernünftigen Menschen nicht auf die Erwägung ihrer nächsten Beziehungen und Folgen hin entschieden werden. Der vernünftige Mensch kann sich nicht durch jene Überlegung befriedigt fühlen, durch welche das Tier sich leiten läßt. Der Mensch kann sich als Mensch betrachten und als Mitglieder der Gesellschaft, des Volkes, welches Jahrhunderte lebt; kann und soll sogar unbedingt (weil ihn die Vernunft unaufhaltsam führt) sich als einen Teil der ganzen unendlichen Welt betrachten, welche endlose Zeiten lebt. Und darum sollte der vernünftige Mensch in Bezug auf die unendlich kleinen Lebenserscheinungen, die seine Handlungen beeinflussen können, das tun und hat es auch immer getan, was man in der Mathematik mit "die Integralgröße finden" bezeichnet; d. h. außer den Beziehungen zu den nächsten Lebenserscheinungen soll er seine Beziehung zur ganzen, in Zeit und Raum unendlichen Welt feststellen, wobei dieselbe als ein Ganzes begriffen wird. Und eine solche Feststellung der Beziehungen des Menschen zum Ganzen, von welchem er sich selbst als einen Teil fühlt und aus welchem er eine Anleitung für seine Handlungen entnimmt, das ist es eben, was Religion genannt wurde und genannt wird. Und darum war die Religion immer, wsa sie zu sein nicht aufhören kann, eine Notwendigkeit und eine unabweisbare Lebensbedingung für den vernünftigen Menschen und die vernünftige Menschheit.


III.

So wurde die Religion immer von Menschen aufgefaßt, welche des höchsten, d. h. des religiösen Bewußtseins nicht entbehrten, das den Menschen vom Tier unterscheidet. Die älteste und gebräuchlichste Definition der Religion, wovon sich auch das Wort selbst herleitet:  religio (religare = binden) besteht darin, daß  die Religion das Band zwischen Menschen und Gott ist.  "Les obligation de l'homme envers Dieu, voilá la religion" [Die Pflicht des Menschen Gott gegenüber - mit einem Wort: Religion | wp], sagt VAUVENARGUES. Die gleiche Bedeutung legen der Religion SCHLEIERMACHER und FEUERBACH bei, in dem sie anerkennen:
     Die Grundlage der Religion ist des Menschen Erkenntnis seiner Abhängigkeit von Gott.  "La religion est une affaire entre chaque homme et Dieu." [Religion ist eine Angelegenheit zwischen jedem Menschen und Gott. - wp] (Bayle) "La religion est le résultat des besoins de l'ame et des effets de l'intelligence." [Religion ist das Ergebnis der Bedürfnisse der Seele und der Auswirkungen der Intelligenz. - wp] (Benjamin Constant) Die Religion ist für den Menschen ein gewisses Hilfsmittel der Realisation seiner Beziehung zu den übermenschlichen und geheimen Kräften, von welchen er sich abhängig glaubt. (Goblet d'Alviella). "Religion ist die Erklärung des Menschenlebens mittels der Verbindung der Menschenseele mit jenem geheimnisvollen Geist, dessen Herrschaft über die Welt und über sich vom Menschen anerkannt wird und mit welchem er sich vereint fühlt." (Albert Reville).
So wurde und wird also das Wesen der Religion auch jetzt von Menschen, die der höchsten menschlichen Eigenschaft nicht beraubt sind, als eine Feststellung seitens des Menschen, bezüglich seiner Beziehungen zu einem unendlichen Wesen oder den Wesen aufgefaßt, deren Macht er über sich fühlt. Und diese Beziehung, wie verschieden sie auch immer für die verschiedenen Völker und in verschiedenen Zeiten sein mag, bestimmt doch immer für die Menschen ihre Bedeutung in der Welt, aus welcher natürlicherweise auch die Anleitung für ihre Handlungsweise entsprang. Der Jude verstand seine Beziehung zum Unendlichen in der Weise, daß er ein Glied des von Gott aus allen Völkern auserwählten Volkes ist und daß er deshalb vor Gott den von Gott mit diesem Volk geschlossenen Vertrag erfüllen muß. Der Grieche verstand seine Beziehung in der Weise, daß er, abhängig von den Stellvertretern der Unendlichkeit - den Göttern, - tun muß, was ihnen angenehm ist. Der Brahmane verstand seine Beziehung zum unendlichen Brahma in der Weise, daß er eine Offenbarung dieses Brahma ist und daß er durch die Lebensentsagung nach einer Wiedervereinigung mit diesem höchsten Wesen streben muß. Der Buddhist verstand und versteht seine Beziehung zum Unendlichen in der Weise, daß er, aus einer Lebensform in die andere beständig übergehend, unvermeidlich leiden muß; daß die Leiden aus Leidenschaften und Wünschen hervorgehen; und daß er deshalb nach der Vernichtung aller Leidenschaften und Wünsche und nach dem Übergang ins Nirvana streben muß. Jedwede Religion ist die Feststellung der Beziehung des Menschen zu einem unendlichen Dasein, an welchem er sicht selbst teilhabend fühlt, und aus welchem er die Leitung für seine Wirksamkeit entnimmt. Stellt darum die Religion die Beziehung des Menschen zum Unendlichen nicht fest, wie zum Beispiel der Götzendienst oder die Magie, so ist das schon keine Religion mehr, sondern nur eine Entartung derselben. Wenn auch die Religion die Beziehung des Menschen zu Gott feststellt, aber mit Behauptungen feststellt, die der Vernunft und den gleichzeitigen Kenntnissen der Menschen nicht entsprechen, so daß der Mensch diesen Behauptungen nicht glauben kann, so ist dies ebenfalls keine Religion mehr, sondern nur ein Gleichnis von ihr. Wenn die Religion nicht das Leben des Menschen mit dem unendlichen Dasein vereinigt, so ist das auch keine Religion mehr. Und ebenfalls ist keine Religion - die Forderung, an solche Satzungen zu glauben, aus welchen eine bestimmte Richtung der menschlichen Wirksamkeit nicht entspringt.

Die wahre Religion ist eine solche, welche im Einklang mit der Vernunft und mit dem Wissen des Menschen für ihn eine Beziehung mit dem ihn umgebenden unendlichen Leben feststellt, die sein Leben mit dieser Unendlichkeit verbindet und seine Wirksamkeit lenkt.


IV.

Ungeachtet dessen, daß nirgendwo und niemals die Menschen ohne Religion weder gelebt haben, noch leben, sprechen die gelehrten Männer unserer Zeit - ebenso wie jener Arzt wider Willen von MOLIÈRE, der versichert, daß sich die Leber auf der linken Körperhälfte befindet und sagt: "Nous avons changé tout cela" [Das wurde alles geändert. - wp] -, daß es möglich und nötig ist, ohne Religion zu leben. Aber wie die Religion es war, so bleibt sie auch die hauptsächlichste bewegende Kraft, das Herz im Leben der menschlichen Gesellschaft, und wie ohne Herz, so kann auch ohne sie kein vernünftiges Leben bestehen. Es gibt auch jetzt noch viel verschiedene Religionen, weil der Ausdruck der menschlichen Beziehung zum Unendlichen, zu Got oder zu Göttern, verschieden ist, je nach der Zeit und je nach der Entwicklungsstufe der verschiedenen Völker; aber niemals hat auch nur eine einzige menschliche Gesellschaft seit jener Zeit, wo Menschen als vernünftige Geschöpfe existierten, ohne Religion leben können, und darum hat sie auch nicht und kann sie auch nicht ohne Religion gelebt haben und leben.

Es ist wahr, es gab und es gibt im Leben der Völker Perioden, wo die bestehende Religioin so entstellt war und so hinter dem Leben zurückblieb, daß sie dasselbe schon nicht mehr lenkte. Aber dieses zu gewisser Zeit in jeder Religion eintretende Aufhören der Einwirkung auf das Leben der Menschen pflegt nur zeitweilig zu sein. Die Religion besitzt wir alles Lebendige die Eigenschaft, zu keimen, sich zu entwickeln, zu altern, abzusterben, aufs Neue geboren zu werden, und bei jeder Wiedergeburt immer in vollendeterer Form als früher aufzuerstehen. Nach einer Periode der höchsten Entwicklung der Religion bricht immer eine Periode ihrer Entkräftung und Erstarrung an, worauf gewöhnlich eine Periode der Wiedergeburt und der Feststellung einer vernünftigeren und klareren Religionslehre, als die frühere war, beginnt. Solche Zeitabschnitte der Entwicklung, des Absterbens und der Wiedergeburt gibt es in allen Religionen. So war es in der tiefsinnigen brahmanischen Religion; sobald sie zu altern und in einmal festgestellten groben Formen zu versteinern begann, welche von ihrem Grundgedanken abwichen: da erschienen auch von der einen Seite eine Wiedergeburt des Brahmanismus, und von der anderen die hohe Lehre des Buddhismus, welche den Begriff der Menschheit von ihrer Beziehung zum Unendlichen vorwärts bewegten. Ein solcher Verfall war auch in der griechischen und römischen Religion eingetreten und ebenso erschien als Folge des bis zur höchsten Stufe gediehenen Verfalls das Christentum. Dasselbe war der Fall mit dem Kirchen-Christentum, welches in Byzanz zur Bilderdienerei und Vielgötterei entartete, worauf als Gegengewicht dieser Entstellung des Christentums einerseits die Paulisten erschienen, andererseits im Widerstand zur Lehre von der Dreieinigkeit und der Gottesgebärerin, der strenge Islam mit seinem Grunddogma des einzigen Gottes auftrat. Dasselbe trat im päpstlichen mittelalterlichen Christentum ein, welches die Reformation hervorrief. So bilden also die Perioden der Entkräftigung der Religion, im Sinne ihrer Einwirkung auf die Mehrheit der Menschen, die notwendige Bedingung des Lebens und der Entwicklung aller religiösen Lehren. Dies geht aus dem Grund hervor, daß jegliche religiöse Lehre in ihrem wahren Sinn, wie grob dieselbe auch ist, immer die Beziehung des Menschen zum Unendlichen feststellt, welches ein und dasselbe für alle Menschen bleibt. Jegliche Religion erkennt den Menschen als gleich nichtig vor dem Unendlichen, und darum schließt jegliche Religion in sich immer den Begriff der Gleichheit aller Menschen vor demjenigen, was sie als Gott betrachtet, - sei dieser Gott nun der Blitz, der Wind, ein Baum, ein Tier, ein Heros, ein toter oder sogar ein lebender Herrscher, wie dies in Rom der Fall war. So ist also die Anerkennung der Gleichheit aller Menschen unvermeidlich die Grundeigenschaft jeder Religion. Da aber in Wirklichkeit eine Gleichheit der Menschen unter sich niemals und nirgends bestand oder besteht, so bemühten sich die Leute, für welche eine Ungleichheit vorteilhaft war, sofort beim Erscheinen einer neuen religiösen Doktrin - die immer die Anerkennung der Gleichheit aller Menschen in sich schloß - diese Grundeigenschaft der religiösen Lehre dadurch zu verhehlen, daß sie die religiöse Lehre selbst entstellten. Dies geschah auch immer und überall, wo eine neue religiöse Doktrin erschien. Und dies geschah meistenteils nicht bewußt, sondern nur als eine Folge davon, daß die Menschen, für welche eine Ungleichheit vorteilhaft war, die Mächtigen, die Reichen, sich mit allen Mitteln bemühten, der religiösen Lehre eine solche Deutung zu geben, so daß die Ungleichheit möglich blieb, um vor der angenommenen Lehre als gerecht zu bestehen, ohne doch daei die eigene Lage zu ändern. Diese Entstellung der Religion, bei welcher die über Andere Herrschenden sich zur Herrschaft berechtigt halten konnten, wurde natürlicherweise auf die Massen übertragen und flößte diesen Massen den Glauben ein, daß ihre Unterwerfung unter die Herrschenden eine Forderung der von ihnen bekannten Religion ist.


V.

Jede menschliche Tätigkeit wird durch drei Beweggründe hervorgerufen: durch das Gefühl, durch die Vernunft und durch die Eingebung von Außen - eine Eigenschaft, welche von den Ärzten Hypnotismus genannt wird. Bisweilen handelt der Mensch nur unter dem Einfluß des Gefühls, bestrebt, das zu erreichen, was er begehrt; bisweilen handelt er unter dem alleinigen Einfluß der Vernunft, welche ihm das zeigt, was er tun soll; bisweilen und am allerhäufigsten handelt der Mensch, weil er sich selbst oder Andere ihm eine gewisse Tätigkeit suggeriert haben, und er unbewußt der Suggestion gehorcht. Unter normalen Lebensbedingungen haben alle diese drei bewegenden Kräfte an der Handlungsweise des Menschen Teil. Das Gefühl reißt den Menschen zu einer gewissen Handlungsweise hin; die Vernunft untersucht, ob diese Handlungsweise gemäß dem umgebenden Milieu, der Vergangenheit und der mutmaßlichen Zukunft ist; und die Suggestion zwingt den Menschen, ohne zu fühlen und zu denken, Handlungen auszuführen, die durch das Gefühl hervorgerufen und durch die Vernunft gebilligt werden. Wenn das Gefühl nicht wäre, so würde der Mensch keine einzige Tat unternehmen; wenn die Vernunft nicht wäre, würde sich der Mensch auf einmal vielen sich widersprechenden und ihm und anderen schädlichen Gefühlen hingeben; wenn nicht die Fähigkeit bestände, der eigenen und fremden Eingebung zu gehorchen, so müßte der Mensch ohne Unterlaß jenes Gefühl erfahren, welches ihn zu einer gewissen Handlungsweise aufruft und müßte seine Vernunft beständig zur Prüfung der Zweckmäßigkeit dieses Gefühls anstrengen. Und darum sind alle diese drei bewegenden Kräfte eine Notwendigkeit für jegliches, auch das einfachste, menschliche Tun. Wenn der Mensch von einem Ort an den andern geht, so geschieht dies deshalb, weil das Gefühl ihn antrieb, von einem Ort an den andern zu gehen, weil die Vernunft diese Absicht guthieß, die Mittel der Ausführung vorschrieb (im gegebenen Fall das Schreiten auf einem gewissen Weg), und weil die Muskeln des Körpers gehorchen und der Mensch auf dem vorgeschriebenen Weg geht. In der Zeit, während er geht, werden sowohl sein Gefühl, wie seine Vernunft für eine andere Tätigkeit frei, was nicht der Fall sein könnte, wenn die Fähigkeit, der Eingebung zu gehorchen, nicht existieren würde. So geschieht dies bei allen menschlichen Handlungen und auch bei der wichtigsten von ihnen - der religiösen Tätigkeit. Das Gefühl ruft das Bedürfnis einer Feststellung der menschlichen Beziehungen zu Gott hervor; die Vernunft bestimmt diese Beziehung; die Eingebung bewegt den Menschen zum Handeln, welches aus dieser Beziehung entspringt. Aber dies geschieht nur so lange in dieser Art und Weise, wie die Religion noch keiner Entstellung ausgesetzt war. Sobald aber diese Verschlechterung beginnt, so wird sich die Eingebung mehr und mehr verstärken, und die Tätigkeit des Gefühls und der Vernunft immer schwächer werden. Die Mittel der Eingebung sind nun immer und überall ein und dieselben. Diese Mittel bestehen darin, unter Benutzung desjenigen menschlichen Zustandes, wo der Mensch am meisten empfänglich für Eingebungen ist, (Kindesalter, wichtige Lebensereignisse - Todesfall, Geburten, Eheschließungen), auf ihn durch Werke der Kunst einzuwirken: durch Architektur, Bildhauerkunst, Malerei, Musik und dramatische Vorstellungen, und in diesem Zustand der Empfänglichkeit - welcher dem ähnelt, der bei einzelnen Menschen durch ein halbes Einschläfern erreicht wird - ihm das zu suggerieren, was den Eingebern wünschenswert ist.

Diese Erscheinung kann man bei allen alten Glaubenslehren beobachten: sowohl bei der erhabenen Lehre des Brahmanismus, die zu einer groben Anbetung zahlloser Abbilder in verschiedenen Tempeln bei Gesang und Räuchern entartet ist, wie auch bei der altindischen Religion, die von den Propheten gepredigt wurde, und die sich dann in eine Anbetung Gottes in einem herrlichen Tempel bei feierlichen Gesängen und Umzügen verwandelte; ferner bei erhabenen Buddhismus, der sich mit seinen Klöstern und Abbildungen  Buddhas,  mit seinen zahllosen, feierlichen Zeremonien, in den geheimnisvollen Lamaismus und in den Taoismus mit seiner Zauberei und mit seinen Beschwörungen verwandelt hat.

In allen religiösen Doktrinen, wenn sie zu entarten anfangen, verwenden immer die Wächter der Religionslehre alle Anstrengungen darauf, den Menschen das zu suggerieren, was sie selber brauchen, indem sie dieselben zugleich in einen Zustand geschwächter Vernunfttätigkeit versetzen. Nötig aber war es bei allen Religionen, immer dieselben drei Satzungen zu suggerieren, welche als Basis all der Einstellungen dienten, denen die alternde Religion ausgesetzt war. Erstens dies: daß es eine besondere Art Menschen gibt, welche allein als Mittelsperson zwischen den Menschen und Gott oder den Göttern dienen können; zweitens dies: daß Wunder geschahen und geschehen, welche die Wahrheit dessen beweisen und bekräftigen, was diese Mittelspersonen zwischen Menschen und Gott sprechen; und drittens dies: daß es bestimmte Worte gibt, die auswendig wiederholt werden oder in Büchern geschrieben stehen, welche den unwandelbaren Willen Gottes oder der Götter ausdrücken, und die deshalb heilig und unfehlbar sind. Und sobald unter dem Einfluß der Hypnose nur einmal diese Satzungen angenommen waren, so wurde auch alles, was die Mittelspersonen zwischen Gott und den Menschen sprechen, als heilige Wahrheit angenommen, und das Hauptzielt der Religionsentstellung ist erreicht - nicht nur die Gesetze der Gleichheit aller Menschen sind verhüllt, sondern es ist auch die Feststellung und Bekräftigung der allergrößten Ungleichheit vollbracht, einer Einteilung in Kasten, einer Scheidung in Menschen und in Heiden, in Rechtgläubige und in Ungläubige, in Heilige und Sünder. Ganz dasselbe geschah und geschieht im Christentum: die vollkommene Ungleichheit der Menschen untereinander wurde anerkannt; die Unterscheidung geschah nicht nur im Sinne des Verständnisses der Lehre - in den Klerus und das Volk -, sondern auch im Sinne der gesellschaftlichen Stellung - in Gewalt besitzende Menschen und solche, die sich jener Gewalt unterwerfen mußten, welche Gewalt nach der Lehre des PAULUS als von Gott selbst eingesetzt anerkannt wird.


VI.

Die Ungleichheit der Menschen, nicht nur des Klerus und der Laien, sondern auch der Reichen und der Armen, der Herren und der Knechte, ist durch die christliche Kirchenreligion in derselben bestimmten und schroffen Form aufgestellt worden, wie auch in anderen Religionen. Wenn wir indessen nach jenen gegebenen Größen urteilen, welche wir über den anfänglichen Zustand des Christentums nach der in den Evangelien zum Ausdruck gekommenen Lehre haben, so scheint es, daß die hauptsächlichsten Methoden der Entstellung, die in anderen Religionen gebraucht werden, vorausgesehen waren, und daß eine Warnung davor klar ausgesprochen wurde. Gegen den Stand der Priester war geradezu gesagt, daß kein Mensch der Lehrer des andern sein kann, (nennt euch nicht Väter und Lehrer); dagegen war gesagt: man solle Büchern eine geheiligte Bedeutung zuschreiben, der Geist und nicht der Buchstabe sei das Wichtige; und die Menschen sollten nicht menschlichen Überlieferungen glauben; und das ganze Gesetz und die Propheten, d. h. alle Bücher, welche man für heilige Schriften hielt, führten nur darauf hinaus, daß dur mit deinem Nächsten so verfahren sollst, wie du willst, daß man dir tue. Wenn nichts gegen die Wunder gesagt ist und im Evangelium selber Wunder beschrieben sind, als ob sie von  Jesus  selbst vollzogen worden wären, so ist trotzdem aus dem ganzen Geist der Lehre ersichtlich, daß die Wahrheit der Lehre  Jesu  sich nicht auf Wunder gründete, sondern auf die Lehre selbst. ("Wer wissen will, ob meine Lehre wahr ist, der mag tun nach meinen Worten.") Die Hauptsache ist, daß das Christentum die Gleichheit der Menschen nicht erst als Folgerung aus der Beziehung der Menschen zum Unendlichen verkündet hat; sondern, daß es als Grundlehre die Brüderlichkeit aller Menschen aufstellt, da alle Menschen als Kinder Gottes anerkannt werden. Und darum sollte es unmöglich scheinen, das Christentum so zu entstellen, daß das Bewußtsein der Gleichheit der Menschen untereinander vernichtet wird. Aber der menschliche Verstand weiß sich zu helfen, und es wurde, vielleicht unbewußt oder halb bewußt, ein noch völlig neues Mittel  (truc,  wie die Franzosen sagen) dazu ausgedacht, die Warnung des Evangeliums und die offenbare Verkündigung der Gleichheit aller Menschen unwirksam zu machen. Dieser  truc  besteht darin, daß die Unfehlbarkeit nicht nur einem gewissen Buchstaben zugeschrieben wurde, sondern auch einer gewissen Versammlung von Menschen, welche die Kirche heißen, und welche das Recht haben, diese Unfehlbarkeit den von ihnen auserwählten Menschen zu überliefern.

Es wurde eine kleine Hinzufügung zu den Evangelien erdacht, nämlich dies:  Christus  habe, als er gen Himmel fuhr, gewissen Menschen das ausschließliche Recht übergeben, nicht nur den Menschenkindern die göttliche Wahrheit zu lehren, (er übergab zugleich buchstäblich nach dem Vers des Evangeliums auch das Recht, welches gewöhnlich nicht benutzt wird - unverletzlich zu sein für Schlangen, jegliches Gift und Feuer), sondern auch die Menschen selig zu machen oder zu verdammen und, was die Hauptsache ist, dieses Recht auch anderen Menschen zu übergeben. Und sobald nur der Begriff der Kirche fest aufgestellt war, so wurden auch schon alle Satzungen des Evangeliums unwirksam, welche eine Entstellung verhindern sollten, da die Kirche sowohl der Vernunft, als auch den für heilig anerkannten Schriften vorging. Die Vernunft wurde als Quelle des Irrtums bezeichnet; das Evangelium aber wurde nicht so ausgelegt, wie es der gesunde Menschenverstand verlangte, sondern wie es diejenigen haben wollten, welche die Kirche bildeten.

Und darum wurden alle drei früher genannten Methoden einer Religionsentstellung - die Priesterschaft, die Wunder und die Unfehlbarkeit der Schrift - auch im Christentum in voller Kraft anerkannt. Anerkannt wurde die Gesetzmäßigkeit des Satzes, daß Mittelspersonen zwischen Gott und den Menschen existieren, weil die Kirche die Notwendigkeit und Gesetzlichkeit der Mittelspersonen anerkannte; anerkannt wurde die Wirklichkeit der Wunder, weil die unfehlbare Kirche dieselben bezeugte; anerkannt wurde die heilige Bibel, weil die Kirche sie anerkannte.

Und so wurde das Christentum ebenso entstellt, wie alle anderen Religionen, mit dem Unterschied nur: daß gerade aus dem Grund, weil das Christentum mit besonderer Klarheit seine Grundsatzung von der Gleichheit aller Menschen als Kindern Gottes verkündete, es nötig war, die ganze Lehre besonders stark zu entstellen, um diese ihre Grundsatzung zu verhehlen. Und dies wurde dann auch mit Hilfe des kirchlichen Begriffs ausgeführt und in einem solchem Maß, wie es noch bei keiner religiösen Doktrin geschehen war. Und in der Tat, niemals hatte irgendeine Religion Satzungen, welche so offenbar mit der Vernunft und mit dem gleichzeitigen Wissen der Menschen nicht übereinstimmten, und solche unsittlichen Satzungen gepredigt, wie die, welche das kirchliche Christentum predigt. Um schon von allen Abgeschmacktheiten des Alten Testaments zu schweigen, wie z. B. die Erschaffung des Lichts vor der Sonne; die Erschaffung der Welt von sechstausend Jahren; das Unterbringen aller Tiere in der Arche Noah; und auch von verschiedenen, unsittlichen Abscheulichkeiten zu schweigen, wie z. B. die Vorschrift der Tötung von Kindern und ganzer Völkerschaften auf göttlichen Befehl hin; und auch von jenem abgeschmackten Sakrament zu schweigen, von dem schon VOLTAIRE sagte, daß es alle möglichen ungereimten religiösen Doktrinen gäbe, aber daß noch niemals eine solche bestanden hätte, bei welcher der hauptsächlichste religiöse Akt darin besteht, seinen eigenen Gott aufzuessen -: was kann unsinniger als das sein, daß die Gottesgebärerin - sowohl Mutter wie Jungfrau ist; daß sich der Himmel öffnete und von dort eine Stimme erschallte; daß  Christus  gen Himmel geflogen ist und dort irgendwie zur Rechten des Vaters sitzt; oder daß Gott einer sei und drei, und zwar nicht drei Götter, wie  Brahma, Vischnu  und  Shiva,  sondern einer und zu gleicher Zeit drei? Und was kann unsittlicher sein, als die entsetzliche Lehre, nach welcher Gott zornig und rachgierig ist, alle Menschen für die Sünde  Adams  bestraft und zu ihrer Erlösung seinen Sohn auf die Erde sendet, wobei er im Voraus weiß, daß die Menschen ihn töten und deswegen verdammt werden; und was unsittlicher, als, daß die Erlösung der Menschen von der Sünde darin besteht, getauft zu werden, oder zu glauben, daß all dies sich gerade so zutrug, und daß Gottes Sohn durch die Menschen zwecks Erlösung der Menschen getötet wurde, und daß diejenigen, welche das nicht glauben, von Gott mit ewigen Qualen bestraft werden würden. Auch davon nicht zu sprechen, was von einigen als Beifügung zum Hauptdogma dieser Religion gerechnet wird, wie z. B. all das Glauben an verschiedene Reliquien, an die Bilder verschiedener Mütter Gottes, an Bittgebete, welche je nach ihrer Spezialität, an verschiedene Heilige gerichtet werden; auch nicht zu sprechen von der Lehre der Prädestination der Protestanten: so sind doch die von allen anerkannten Hauptgrundlagen dieser Religion, die durch *Nikäische Glaubensbekenntnis festgestellt wurden, so ungereimt und unsittlich, in einem solchen Widerspruch mit gesunder menschlicher Empfindung und Vernunft gebracht, daß die Menschen daran nicht glauben können. Die Menschen können mit den Lippen gewisse Worte wiederholen, aber sie können nicht an das glauben, was keinen Sinn hat. Man kann mit den Lippen sagen: ich glaube daran, daß die Welt vor sechstausend Jahren erschaffen wurde; oder sagen: ich glaube, daß  Christus  gen Himmel fuhr und dort sitzt zur Rechten des Vaters; oder dies: daß Gott einer und zugleicher Zeit drei ist; aber glauben an all das kann niemand, weil diese Worte eben keinen Sinn enthalten. Und darum glauben die Menschen unserer Welt, welche sich zu diesem entstellten Christentum bekennen, in Wirklichkeit an gar nichts. Und darin besteht die Eigentümlichkeit unserer Zeit.


VII.

Die Menschen unserer Zeit glauben an gar nichts, bilden sich aber dennoch ein, daß sie einen Glauben haben, nach jener falschen Glaubensauslegung, die sie aus der Epistel an die Ebräer, die unrichtigerweise PAULUS zugeschrieben wird, entnommen haben. Der Glaube ist nach jener Auslegung die Verwirklichung (hypostasis) des Erwarteten (elenchos), die Zuversicht auf das Unsichtbare. Aber wenn wir auch davon schweigen wollen, daß der Glaube nicht die Verwirklichung des Erwarteten sein kann, da der Glaube ein seelischer Zustand ist, die Verwirklichung des Erwarteten abr ein äußerer Vorgang, so ist doch der Glaube auch nicht die Zuversicht auf das Unsichtbare, denn diese Zuversicht ist, wie es auch in der weiteren Erläuterung gesagt ist, durch das Vertrauen auf ein Zeugnis von der Wahrheit begründet, Vertrauen und Glauben aber sind zwei vreschiedene Begriffe. Der Glaube ist weder Hoffnung, noch ist er Vertrauen, sondern er ist ein besonderer seelischer Zustand. Der Glaube ist das Bewußtsein des Menschen von seiner Stellung im Weltall, welche ihn zu gewissen Handlungen verpflichtet. Der Mensch handelt seinem Glauben entsprechend, nicht darum, wie dies im Katechismus gesagt ist, weil er an das Unsichtbare wie an etwas Sichtbares glaubt, und auch nicht darum, weil er das Erwartete zu empfangen hofft; sondern nur, weil er, nachdem er seine Stellung im Weltall bestimmt hat, natürlicherweise dieser Stellung entsprechend handelt. So bearbeitet der Landmann die Erde, und so schifft der Seemann über das Meer, nicht darum, wie dies im Katechismus gesagt ist, weil sie beide an das Unsichtbare glauben, oder für ihre Tätigkeit eine Belohnung zu erhalten hoffen, (diese Hoffnung existiert, aber nicht von ihr werden sie geleitet), sondern darum, weil sie diese Tätigkeit für ihren Beruf halten. So handelt auch der religiös-gläubige Mensch in einer gewissen Art und Weise nicht darum, weil er an das Unsichtbare glaubt, oder für seine Tätigkeit eine Belohnung erwartet, sondern weil er seine Stellung im Weltall begriffen hat und nun naturgemäß dieser Stellung entsprechend handelt. Wenn der Mensch einmal seine Stellung in der Gesellschaft dahin bestimmt hat, daß er ein Arbeiter, oder ein Handwerker oder ein Beamter, oder ein Kaufmann ist, so wird er es für nötig halten, so zu arbeiten und arbeitet auch so, wie der Arbeiter, der Handwerker, der Beamte oder der Kaufmann. Ganz ebenso wird auch der Mensch im allgemeinen, der auf diese oder jene Weise seine Stellung im All bestimmt hat, unvermeidlich und naturgemäß dieser Bestimmung entsprechend verfahren (bisweilen sogar nicht nach der Bestimmung, sondern nach einem dunklen Bewußtsein davon). So wird z. B. ein Mensch, der seine Stellung im Weltall dahin bestimmt hat, daß er ein Glied des von Gott auserwählten Volkes ist, welches die Forderungen dieses Gottes erfüllen muß, um den Schutz dieses Gottes zu genießen: er wird so leben, daß diese Forderungen erfüllt werden. Ein anderer Mensch dagegen, welcher seine Stellung dahin bestimmt, daß er aus verschiedenen Daseinsformen hervorging und hervorgeht, und daß von seinen Handlungen mehr oder weniger seine bessere oder schlechtere Zukunft abhängt: er wird sich im Leben von dieser Auffassung leiten lassen. Und die Handlungsweise eines dritten Menschen, der seine Stellung dahin bestimmt, daß er eine zufällige Vereinigung von Atomen ist, in welchen ein zeitweiliges Bewußtsein aufgeflammt ist, das dann wieder für immer vernichtet werden muß, wird von den zwei ersteren verschieden sein.

Die Handlungsweise dieser Menschen wird eine völlig verschiedene sein, weil sie ihre Stellung verschieden aufgefaßt haben, d. h. verschiedenen Glaubens sind. Der Glaube ist dasselbe, was die Religion, mit dem Unterschied nur, daß wir unter dem Wort  Religion  eine von allen beobachtete äußere Erscheinung verstehen, mit Glauben dagegen dieselbe Erscheinung bezeichnen, wenn sie der Mensch in sich selber erfährt. Der Glaube ist das Bewußtsein des Menschen von seiner Beziehung zur unendlichen Welt, als welchem die Richtung seines Tuns entspringt. Und darum pflegt der wahre Glaube niemals unvernünftig zu sein, ist niemals mit den bestehenden Kenntnissen  nicht  in Einklang; und die Übernatürlichkeit und Sinnlosigkeit können ihm nicht eigen sein, wie dies gemeint wird und wie sich dies auch ein Kirchenvater mit den Worten aussprach:  credo quia absurdum  [Ich glaube, weil es absurd ist. - wp]. Im Gegensatz dazu enthalten die Behauptungen des wahrhaften Glaubens, obgleich sie nicht bewiesen werden können, in sich nicht nur nichts Vernunftwidriges und dem Wissen der Menschen Widersprechendes, sondern sie klären immer über das auf, was im Leben ohne Glaubensinhalt sich als unvernünftig und widerspruchsvoll darstellt.

Zum Beispiel, wenn der Jude des Altertums daran glaubte, daß es ein höchstes, ewiges, allmächtiges Wesen gäbe, welches die Welt, die Tiere und den Menschen usw. erschaffen und versprochen habe, sein Volk zu beschützen, wenn das Volk seine Gesetze erfüllen würde: so glaubte er durchaus nichts Unvernünftiges, nichts, was mit seinen Kenntnissen nicht im Einklang stand; sondern im Gegenteil, diese Glaubensauffassung erklärte für ihn viele, ohne dieselbe unerklärliche Erscheinung des Lebens.

Ebenso, wenn der Hindu daran glaubte, daß unsere Seelen in Tieren waren, und daß sie je nach unserem guten oder bösen Leben in höhere oder niedere Tiere übergehen können, erklärte er sich durch diesen Glauben viele ihm ohne denselben unbegreifliche Erscheinungen. Dasselbe ist mit dem Menschen der Fall, der das Leben für ein Übel hält und als Ziel des Lebens die Ruhe erachtet, welche durch eine Vernichtung des Begehrens erreicht wird. Er glaubt nicht an irgendetwas Unvernünftiges, sondern im Gegenteil an etwas, das seine Weltanschauung vernünftiger gestaltet, als sie ohne diesen Glauben gewesen wäre. Das Gleiche ist beim wahrhaften Christen der Fall, der glaubt, daß Gott der geistige Vater aller Menschen ist, und daß das höchste Wohl des Menschen dann erreicht wird, wenn er seine Kindschaft zu Gott und die Brüderlichkeit aller Menschen untereinander anerkennt. Alle diese Glaubensauffassungen können zwar nicht bewiesen werden, aber sie sind in sich selber nicht unvernünftig, sondern verleihen im Gegenteil den Lebenserscheinungen eine vernünftigere Bedeutung, welche ohne diese Glaubensauffassungen als vernunftlos und widerspruchsvoll erscheinen. Außerdem verlangen alle diese Glaubensauffassungen, indem sie die Stellung des Menschen im Weltall bestimmen, unvermeidlich gewisse dieser Stellung entsprechende Handlungen. Und darum: wenn eine religiöse Lehre unsinnige Satzungen behauptet, welche nichts aufklären, sondern nur das Verständnis des Lebens noch mehr verwirren, so ist dies kein Glaube, sondern eine derartige Entstellung desselben, daß sie schon die Haupteigenschaften eines wahren Glaubens verloren hat, und nicht nur nichts vom Menschen fordert, sondern für die Menschen eine dienliche Bedeutung erhält. Einer der Hauptunterschiede zwischen dem wahren Glauben und einer Entstellung desselben ist, daß bei einer Glaubensentstellung der Mensch fordert, daß Gott für seine Opfer und Gebete seine Wünsche erfüllt, dem Menschen dient; beim wahren Glauben dagegen fühlt der Mensch, daß Gott von ihm, dem Menschen, das Verständnis seines Willens fordert, daß er fordert, daß der Mensch Gott dient.

Und gerade dieser Glaube lebt nicht nur nicht in den Menschen unserer Zeit, sondern sie wissen nicht einmal, was Glaube ist und verstehen unter dem Wort  Glauben  entweder eine Wiederholung dessen mit den Lippen, was ihnen als Wesenheit des Glaubens ausgegeben wird, oder eine Erfüllung von Zeremonien, die zur Erlangung des von ihnen Begehrten mitwirken sollen, wie das kirchliche Christentum dies lehrt.


VIII.

Die Menschen unserer Welt leben ohne jeglichen Glauben. Ein Teil der Menschen, die gebildete, reiche Minorität, hat sich von den kirchlichen Einflüssen befreit und glaubt an garnichts, weil sie jeglichen Glauben entweder für eine Dummheit hält, oder nur für ein nützliches Werkzeug zur Beherrschung der Massen. Die ungeheure, arme, ungebildete Majorität dagegen, mit wenigen Ausnahmen wirklich gläubige Menschen, die sich unter dem Einfluß der Hypnose befinden, denkt, daß sie an das glaubt, was man ihr unter dem Anschein des Glaubens suggeriert, was aber kein Glaube ist, weil es dem Menschen nicht seine Weltstellung erklärt, sondern sie nur verdunkelt. Aus dieser Lage und den gegenseitigen Beziehungen zwischen der ungläubigen und heuchelnden Minorität und der hypnotischen Majorität setzt sich das Leben unserer Welt, der sogenannten christlichen, zusammen. Und dieses Leben, sowohl der Minorität, welche in ihren Händen das Mittel zum Hypnotisieren hält, wie auch der hypnotisierten Mehrheit ist entsetzlich; entsetzlich wegen der Härte und Sittenlosigkeit der Herrschenden und wegen der Erdrückung und Verdummung der großen arbeitenden Massen. Niemals, zu keinen Zeiten des religiösen Verfalls, erreichte die Geringschätzung und das Vergessen der Haupteigenschaft jeglicher Religion und besonders der christlichen - der Gleichheit der Menschen - eine solche Stufe, wie sie in unserer Zeit erreicht ist. Die Hauptursache der in unserer Zeit so furchtbaren Härte des Menschen gegen den Menschen, besteht außer in einem vollkommenen Fehlen der Religion auch noch in jener verfeinerten Komplizierung des Lebens, welche vor den Menschen die Folgen ihrer Handlungen verbirgt. Wie grausam auch ATTILA und DSCHINGIS KHAN und ihre Mannen gewesen sein mochten: als sie selber Auge in Auge Menschen erschlugen, mußte der Vorgang des Tötens ihnen unangenehm sein und noch unangenehmer die Folgen des Tötens, die Wehklagen der Verwandten, die Gegenwart der Leichname, so daß die Grausamkeit durch ihre eigenen Folgen gemildert wurde. In unserer Zeit dagegen töten wir die Menschen durch eine so komplizierte Übertragung, und die Folgen unserer Härte werden so sorgsam vor uns weggeräumt und versteckt, daß es gar keine die Härte aufhaltende Einwirkung gibt, daß die Grausamkeit der Einen gegen die Anderen sich immer mehr vergrößert und und vergrößert, und in unserer Zeit Grenzen erreicht hat, bis zu welchen sie früher noch nie gelangte.

Ich denke, wenn in unserer Zeit - nicht etwa der als Bösewicht bekannte NERO - sondern der allergewöhnlichste Unternehmer Lust hätte, einen Teich aus menschlichem Blut zu machen, damit nach der Vorschrift gelehrter Ärzte kranke, reiche Leute darin baden könnten, so dürfte er ungehindert seine Sache einrichten, vorausgesetzt, daß er sie nur in den gebräuchlichen, anständigen Formen ausführen würde. Zum Beispiel: wenn er die Leute nicht mit Gewalt zwänge, ihr Blut entströmen zu lassen, sondern sie in eine solche Lage brächte, daß sie ohne dieses Opfer nicht leben könnten; und wenn er außerdem die Geistlichkeit und die Gelehrten einlüde, damit die Erstere den neuen Teich einweiht, wie sie Kanonen, Gewehre, Gefängnisse und Galgen weiht, und die Zweiten Beweise für die Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit einer solchen Anstalt heraussuchten, so wie sie auch Beweise für die Unerläßlichkeit der Kriege und der geduldeten Häuser herausgefunden haben. Das Grundprinzip jeglicher Religion - die Gleichheit der Menschen untereinander - ist bis zu einem solchen Grad vergessen, aufgegeben und von allen möglichen ungereimten Dogmen in der konfessionellen Religion verrammelt; in der Wissenschaft aber ist diese nämliche Ungleichheit unter dem Anschein des Kampfes ums Dasein und des Verbleibs der Befähigtesten (the fittest) bis zu einem solchen Grad als unerläßlichste Lebensbedingung anerkannt: daß die Vernichtung von Millionen Menschenleben für die Gemächlichkeit der herrschenden Minorität als gewöhnlichste und notwendigste Lebenserscheinung gilt und beständig vor sich geht.

Die Menschen unserer Zeit können sich nicht genug freuen über die glänzenden, kolossalen Erfolge, welche die Technik im 19. Jahrhundert gemacht hat.

Es ist kein Zweifel daran, daß niemals in der Geschichte ein ähnlicher materieller Erfolg, d. h. ein ähnliches Beherrschen der Naturkräfte stattgefunden hat wie der im 19. Jahrhundert errungene, aber es ist auch kein Zweifel daran, daß niemals in der Geschichte das Beispiel eines derartigen sittenlosen Lebens, so los und ledig aller die tierischen Triebe des Menschen zurückhaltenden Kräfte, gewesen ist, wie dasjenige, welches unsere christliche Menschheit lebt, während sie sich immer mehr und mehr zerspaltet. Der materielle Erfolg, welchen die Menschen des 19. Jahrhunderts erreichten, ist in der Tat groß; aber dieser Erfolg wurde und wird erkauft durch eine solche Verachtung der elementarsten Forderungen der Gleichheit, wie sie die Menschheit noch niemals, selbst nicht in den Zeiten von DSCHINGIS KHAN, ATTILA oder NERO erreicht hatte.

Es ist kein Zweifel daran, daß die Panzerschiffe, die Eisenbahnen, der Buchdruck, die Tunnels, die Phonographen, die Röntgenstrahlen usw. sehr gut sind. All dies ist sehr gut; aber gut ist auch, unvergleichlich über alles gut, wie RUSKIN gesagt hat, - das Leben des Menschen, welches jetzt erbarmungslos millionenfach für die Erwerbung von Panzerschiffen, Eisenbahnen, Tunnels untergeht, die nicht einmal das Leben verschönen, sondern es nur verunstalten. Darauf erwidert man gewöhnlich, daß man bereits darüber nachdenkt und mit der Zeit auch solche Vorsichtsmaßregeln erfinden wird, wobei die Menschenleben nicht mehr so ins Verderben gestürzt werden, wie es jetzt allgemein der Fall ist, - aber dies ist unwahr. Sobald die Menschen nicht alle Menschen für ihre Brüder halten, und solange das menschliche Leben nicht für den allerheiligsten Gegenstand gilt, welcher nicht nur nicht verletzt werden darf, sondern welchen zu erhalten als allererste, unerläßlichste Pflicht gerechnet wird: d. h., wenn die Menschen zueinander sich nicht religiös verhalten, so werden sie immer für ihren persönlichen Vorteil das Leben des Nächsten vernichten. Nicht ein einziger Narr wird darauf eingehen, Tausende auszugeben, wenn er dasselbe Ziel erreichen kann, indem er Hunderte unter Zugabe einiger Menschenleben ausgibt, welche sich in seiner Gewalt befinden. In Chicago werden durch die Eisenbahnen jährlich annähernd die gleiche Anzahl Menschen zermalmt, und die Inhaber der Eisenbahnen ergreifen, aus vollkommen triftigen Gründen, keine Vorsichtsmaßregeln, bei deren Anwendung die Menschen nicht zermalmt werden; denn sie berechnen, daß die jährliche Entschädigung der Beschädigten und ihrer Familien geringer ist, als die Prozente der Summe, die zu solchen Vorsichtsmaßregeln erforderlich wäre.

Es kann sehr wohl sein, daß Menschen, welche für ihren eigenen Vorteil Menschenleben aufs Spiel setzen, durch die öffentliche Meinung beschämt oder gezwungen werden, Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Aber solange die Menschen nicht religiös sind und ihre Taten nur vor den Menschen und nicht vor Gott tun, werden sie, während sie an einer Stelle Vorsichtsmaßregeln treffen, um das Leben der Menschen zu bewahren, in einer anderen Sache wieder Menschenleben opfern, als das vorteilhafteste Material, sobald es sich um Gewinn handelt.

Es ist leicht, die Natur zu erobern und Eisenbahnen in Menge zu bauen und auch Dampfschiffe, Museen usw., wenn man die Menschenleben nicht schont. Die ägyptischen Herrscher waren stolz auf ihre Pyramiden, und wir geraten in Entzücken über sie, weil wir die Millionen Sklavenleben vergessen, die bei diesen Bauten zugrunde gingen. So geraten wir auch in Entzücken über unsere Ausstellungspaläste, unsere Panzer, unsere überseeischen Telegraphen und vergessen dabei, womit wir das alles bezahlen. Stolz sein auf all das könnten wir nur dann, wenn all das frei von Freien geschaffen worden wäre und nicht von Knechten.

Christliche Völker haben die amerikanischen Indianer bekriegt und unterjocht, gleicherweise die Hindus, die Afrikaner; jetzt bekriegt und unterwirft man die Chinesen und ist stolz darauf. Aber eben diese Eroberungen und Unterjochungen gehen nicht daraus hervor, daß die christlichen Völker geistig höher als die unterworfenen Völker stehen, sondern im Gegenteil daraus, daß sie geistig unvergleichlich niedriger als jene stehen. Nicht zu reden von den Hindus und Chinesen, so gab und gibt es doch auch bei den Zulus irgendwelche religiöse, verpflichtende Grundsätze, welche gewisse Handlungen vorschreiben und andere verbieten; bei unseren christlichen Völkern dagegen gibt es solche nicht. Rom eroberte die ganze Welt gerade dann, als es anfing, sich von jeder Religion loszumachen. Ganz dasselbe, nur im stärksten Grad, geht auch jetzt bei den christlichen Völkern vor. Sie alle befinden sich unter den ganz gleichen Bedingungen des Wegfalls der Religion, und darum sind sie ungeachtet der inneren Zwietracht alle insgesamt zu einer föderativen Räuberbande vereinigt, in welcher Diebstahl, Raub, Unzucht, der Mord einzelner Personen und der Massen - sich nicht nur ohne die geringsten Gewissensbisse, sondern sogar mit größter Selbstzufriedenheit vollziehen, wie erst unlängst in China geschehen ist. Die Einen glauben an gar nichts und brüsten sich damit; die Andern heucheln, daß sie an das glauben, was sie zu ihrem Vorteil unter dem Anschein des Glaubens dem Volk suggerieren; und die Dritten - die ungeheure Mehrheit, das ganze Volk, - nehmen für Glauben jene Eingebung, unter welcher sie sich befinden und unterwerfen sich sklavisch allem, was die sie beherrschenden, selbst an nichts glaubenden Inspiratoren von ihnen fordern.

Und diese Inspiratoren fordern dasselbe, was alle NEROs fordern, die bemüht sind, mit irgendetwas die Leere ihres Lebens auszufüllen: die Befriedigung ihrer unsinnigen, nach allen Seiten übergreifenden Prachtliebe. Prachtaufwand aber läßt sich durch nichts anderes erreichen, als durch Menschenunterjochung; sobald aber erst die Unterjochung besteht, vergrößert sich auch der Aufwand und die Vergrößerung des Aufwandes zieht unwandelbar eine Verstärkung der Unterjochung nach sich, weil nur hungrige, frierende, von der Not gefesselte Menschen ihr ganzes Leben hindurch etwas tun können, was sie selbst nicht brauchen, sondern was nur zum Zeitvertreib ihrer Gebieter dient.

LITERATUR Leo Tolstoi, Was ist Religion und worin besteht ihr Wesen?, Leipzig 1902
    Anmerkungen
    1) Revue de Paris, Januar 1901