cr-2RichterHumeNavon     
 
ERNST HOFFMANN
Montaignes Zweifel

"Es spricht für ein tiefes Verständnis Montaignes, wenn Malebranche sagte, er wage nicht, eine einzige Entscheidung Montaigne auch nur zu prüfen; man habe sich ihm zu unterwerfen, auch wo man ihn nicht verstehe. Malebranche fühlte, daß Montaigne nur als Ganzes genommen werden könne. Und als Ganzes war er mit seiner Schärfe, Klarheit und Bildung der typische Vertreter der französischen Renaissance, wie Bruno mit seinem Enthusiasmus der italienischen und Paracelsus mit seiner Schwerfälligkeit und dunklen Tiefe der der deutschen. Von den nationalen Eigentümlichkeiten aber abgesehen zeigt Montaignes geistiges Gepräge diejenigen drei Züge, die für das sechzehnte Jahrhundert überhaupt die markanten sind: den Naturbegriff der Renaissance; die humanistische Gesinnung; und die Überzeugung der Reformation von der nicht vermittelbaren Irrationalität des Glaubens."

MONTAIGNE gilt als einer der Wegbereiter der Neueren Philosohie und zugleich als Begründer der modernen Skepsis. In welchem Zusammenhang aber steht beides? Welche Bedeutung hatte seine Skepsis für die Geburt des neuen philosophischen Geistes? Ist sie mit der Bedeutung etwa des CUSANUS oder des PARACELSUS vergleichbar?

CUSANUS führt die neue Epoche herauf, indem er das Bewußtsein des denkenden Geistes um seine eigenen positiven Erkenntnismethoden zum Problem macht. Die Selbsterkenntnis des wissenschaftlichen Denkens bricht an; das Erkenntnisproblem in moderner Form bereitet sich vor; die Vernunft fragt bei sich selber an. - Bei PARACELSUS tritt neben das Erkenntnisproblem das Willensproblem, neben das theoretische das sittliche, und läßt die Lösung bereits in verwandter Richtung sichtbar werden: Der Mensch kann nicht nur einfach  Teil"  des großen Weltganzen sein und sich willenlos dem Geschehen dieses Ganzen einfügen lassen; sondern sofern der Mikrokosmos das große Ganze zu begreifen trachtet, ist er darüber hinaus, nur Fleisch und Bein vom Makrokosmos zu sein. Kraft des Begreifens steht er dem Makrokosmos mit einer eigentülichen Eigenmächtigkeit gegenüber. Er kann das Begriffene nützen. Mit dem  unsichtbaren  Wissen um die  sichtbare  Natur ist ein Moment der Aktivität und Freiheit da, welches selbst vor der  Konstellation  nicht mehr Halt zu machen braucht. - So tief CUSANUS noch in der Scholastik wurzelt, er ist ihr erster Zerstörer; denn nicht mehr Begriffe, sondern das Begreifen ist sein Problem. So tief PARACELSUS in Magie und Astrologie wurzelt, er ist ihr erster Überwinder; denn nicht das Gestirn  Coeleste,  welches unseren Willen meistert, sondern der Wille in uns, der  innere Mars,  der sich dem Einfluß des sichtbaren Gestirns entwindet, ja diesen seinerseits meistert, beginnt ihn zu beschäftigen.

Muß es da nicht von vornherein ein Rückschritt auf dem eingeschlagenen Weg sein, wenn sich jetzt radikale Skepsis zu Wort meldet? Ist Skepsis nicht Verzicht? Wird nicht der positive Weg, auf dem das Erkenntnisproblem im Sinne einer Aktivität des Erkennens und das Willensproblem im Sinne der Willensfreiheit einer Lösung entgegengehen, mit der Skepsis sofort wieder verlassen? Es ist notwendig, die eigentümlich und originale Tendenz von MONTAIGNEs Zweifel zu verstehen, damit er nicht als ein die Erkenntnis leugnender, sondern im Gegenteil als ein die Erkenntnis vorbereitender Zweifler erscheint; nicht als ein der Willensfreiheit entgegenarbeitender, sondern als ein ihr vorarbeitender. Es kommt darauf an festzustellen, zu welchem unter den Typen philosophischer Zweifler MONTAIGNE gehört.

Es gibt einen Zweifel, der darin besteht, daß jemand sich grundsätzlich nicht festlegen will. Also er  will  etwas. Er will frei bleiben von Entscheidungen, weil er fürchtet, jede Entscheidung ziehe ihn hinüber oder herüber und lege ihn fest auf diese oder jene Seite. Das antike Bild für diese Art des Zweifels ist die Waage. Es bedeutet: der Mensch will im Gleichgewicht bleiben. Es ist nicht zufällig, daß sich die Skepsis in dieser Form systematisch gerade zu der Zeit entwickelte, als die hellenische Menschheit ihre beiden Stützen, nationale Religion und nationalen Staat, verloren hatte und, losgerissen von jeder Verankerung, dem Sturm preisgegeben schien. Das war der passende Moment gewesen zu lehren: die Entwurzelung und ihre moralischen Folgen kommen daher, daß man an die Polis und an die Götter geglaubt, daß man sich ihnen hingegeben hatte. Man hatte sich verloren, weil und soweit man  sich  an sie verloren hatte. Man darf sich nicht durch ein radikales Ja oder radikales Nein binden; sonst wird das Selbst unfrei. Der Weise behauptet sein Selbst, behauptet seine moralische Unabhängigkeit von der Welt dadurch, daß er sich nicht zu einer Entscheidung, auch nicht zu einer logischen, zwingen läßt. Denn sie könnte falsch sein. - So wird der prinzipielle Zweifel zu einem positiven Akt, zu einem Akt der Selbsthauptung, in welchem das Ich den Halt, den einzig möglichen, findet und sich nunmehr unabhängig weiß. Dieser Akt allein ist Freiheit. Denn sobald ich Urteile fälle, über Güter oder Werte, über Seele oder Gott, bestimmen sie schon mein Handeln, treiben mein Leben in eine bestimmte Richtung. Sie haben mich, nicht ich sie. Das Motto des autonomen Geistes heißt:  Dienst! 

Diese Art der Skepsis, die pyrrhonische, ethische, ist stark in MONTAIGNEs Schriften vertreten; aber sie bildet nicht den Kern seiner Skepsis. Alle antiken Argumente aus SEXTUS EMPIRICUS übernimmt er; aber die Skepsis PYRRHONs, weil sie nichts riskiert, kann nicht die MONTAIGNEs sein. PYRRHONs Zweifel ist zwar deshalb philosophisch, weil er nicht aufs Geratewohl hin zweifelt, sondern aus einem Grund: Es soll bei allem Zweifeln schließlich ein Unbezweifelbares übrig bleiben, nach dem der Zweifelnde verlangt und das er sucht. Und dieses allem Zweifel Entzogene, Letzte ist für PYRRHON die tiefe, sittliche Gewißheit, daß das Selbst unversehrt erhalten werden soll und daß es durch allseitige Abwehr tatsächlich unversehrt erhalten werden kann. Das bedeutet aber, daß, um nichts zu verlieren, nichts gewagt werden dürfe. Das Motiv dieser Skepsis muß demjenigen der Skepsis MONTAIGNEs schroff entgegengesetzt sein. Denn gerade dadurch ist MONTAIGNE Renaissance-Philosoph, daß er das Äußerste an Wagemut leistet. Er experimentiert mit seinem Selbst auf jede erdenkliche Weise, um zu erfahren, was und wieviel es aushalten kann.

Neben dem ethischen steht eine zweite Art des Zweifels. Sie beruth auf einem logischen Motiv. Durchmustern wir die Lehrinhalte der Wissenschaften in der Linie ihrer geschichtlichen Entwicklung, so schwindet jegliche Konstanz der Resultate und alle erscheinen in Relativität aufgelöst. Das Recht des Denkens kann nicht bestritten werden, geradezu alle Urteilsinhalte in Zweifel zu ziehen und jedem Resultat den Anspruch auf objektive Gültigkeit zu versagen. Gelten immerhin die Sätze der Mathematik noch als sicher, so ist selbst zu ihnen zu sagen, daß sie ihre Sicherheit nur kraft einiger Axiome haben, die als zwingend auftreten. Aber wer gewährleistet dieses Zwingende? Sind nicht gerade Axiome nur durch Zirkelschluß beweisbar?

Diese Art der Skepsis unternimmt es offenbar, die Erkenntnisinhalte an einem  Maßstab  zu messen und dann zu erklären: sie sind als ungenügend befunden. Diese Skepsis nimmt also an, daß es einen  Maßstab  geben muß, der objektiv ist. Die Erkenntnisinhalte sind relativ, da sie den Anspruch auf objektive Wahrheit nicht erfüllen. Also besteht dieser Anspruch! Die Form meines logischen Bewußtseins verlangt Absolutheit, aber die Inhalte bleiben dahinter zurück; das reine Sein der Kopula ist nirgends wirklich erfüllt. Es ist offenbar, daß eine solche Skepsis alle Erkenntnisinhalte in Zweifel zieht, gerade um das Erkenntnisideal, die Erkenntnisform, nicht preisgeben zu müssen. Die Absolutheit einer Erkenntnis, welche diesen Namen verdienen würde, der Begriff einer vollkommenen Wahrheit soll so fest stehen, daß nichts an Inhalten an ihn herangelassen wird, die auch nur irgendwie fragmentarisch oder relativierbar wären. Das ist die Form, in der die spätere Akademie in Athen philosophierte, ARKESILAOS und KARNEADES. Das Kennzeichen dieser Skepsis ist der brückenlose Abgrund zwischem Absoluten und Relativen. MONTAIGNE übernimmt seitenweise, kapitelweise auch die alten Argumente dieser Akademie; freilich mehr, um die Erkenntnisinhalte in Frage zu stellen, als um das Erkenntnisideal zu behaupten. Auch diese Art von Skepsis liefert ihm nur Mittel, nur Materialien. Hinaus will er auf etwas ganz anderes, weder auf Ethisches noch auf Logisches, sondern auf Psychologisches. Und darauf beruth die Klassizität seiner Leistung. Aller ethische und logische Skeptizismus ist etwas Vorletztes, das in der neueren Philosophie nur noch in Systemen zweiten und dritten Ranges Unterkunft findet. Alle  epoche  [Zurückhaltung - wp] ist eine Haltung, die vor dem sittlichen  Du sollst  zunichte wird; aller logische Relativismus wird zum Kennzeichen des Halbgebildeten, nachdem das Wissen durch KEPLER und GALILEI jene Gesetzesform erhalten hat, in der es von sich sagen darf -  nicht:  ich bin die Wahrheit; aber: in mir ist Wahrheit;' vollends seitdem DESCARTES den klassischen Ausdruck für den Wahrheitsbegriff der neuen Epoche formuliert hat. Hingegen die psychologisch motivierte Skepsis MONTAIGNEs ist eine Lotung, die auf ihrem Gebiet letzte Tiefen wirklich erreicht und Substanz vom Boden des seelischen Ozeans heraufholt. Sie hat für die neuere Zeit genau die Bedeutung, welche die sophistische Skepsis für die Antike gehabt hat. Sie interessiert sich lediglich für das einzelne, wirkliche, individuelle Ich, das da zweifelt, und fragt: Wie muß dieses konkrete Wesen beschaffen sein, daß es überhaupt zweifeln, immer zweifeln, an allem zweifeln kann?

Der pyrrhonische Zweifler zweifelt immer nach rechts und zugleich nach links; der akademische Zweifler zweifelt immer unten, um zugleich an einem Oben nicht zweifeln zu brauchen. Die Bedingung für den einen Zweifel ist die alternative Zweiheit der beiden Seiten, zwischen denen Gleichgewicht sein soll. Die Bedingung für den andern die unaufhebbare Zweiheit von Absolutem und Relativem, welche systembildend sein soll. Beide Zweifler zweifeln also überhaupt nur bedingt. MONTAIGNE aber zweifelt unbedingt, weil ihn ganz allein das Zweifeln selber oder vielmehr der Zweifelnde interessiert. Dieses Subjekt faßt er in einer vor ihm unerhörten Isolierung. Das Zweifeln ist ihm die typisch kritische Haltung gegenüber den Dingen; erst durch das Zweifeln wird sich das Ich bewußt, daß es nicht ein Stück der Dingwelt ist, sondern ein Subjekt gegenüber Objekten; und nun erst ist es jeder Maskierung entkleidet. Der psychische Akt dieses Zweifelns ist das Gegenteil von pyrrhonischem Gleichgewicht. Indem das Ich ununterbrochen und an allem zweifelt, bringt es sich vielmehr ununterbrochen  aus  dem Gleichgewicht. Dieser Zweifel gehört zu den Symptomen der unverwüstlichen Lebenskraft des Ich. Das bare, aller Hüllen entblößte Ich ist: Unruhe, Widerspruch gegen System, Tendenz allem Starren zu entschlüpfen, unablässige Bewegung. Der Akt des Zweifelns, so gefaßt, ist auch Gegenstück zum akademischen Zweifel. Das Ich, das restlos Bewegung ist, will von einem Beharren und Sein auch des Erkenntnis ideals  nichts mehr wissen. Es entsteht bei MONTAIGNE wie bei GORGIAS die Frage: Wie verträgt sich dieses Wesenhafte der Seele mit den Systemen, in denen der Mensch mitten drinsteht, mit Recht, Staat, Gesittung usw.? "Alle Dinge werden nach ihrem eigenen Wert eingeschätzt, nur der Mensch nicht ... Warum laßt ihr ihm, wenn ihr ihn prüfen wollt, seine Hüllen und seine Vermummung?"

Wenn MONTAIGNEs Skepsis psychologisch motiviert heißt, so ist hier Psychologie nicht in der modernen Wortbedeutung, sondern in jener älteren zu verstehen, welche vorliegt, wenn wir etwa sagen, ein Geistlicher müsse ein guter Psychologe sein, denn er soll Seelsorge treiben; oder ein Lehrer, denn man verlange von ihm Seelenführung: Psychologie also als Menschenkenntnis, als Einsicht in Charaktere, als Blick für das Ich. In diesem allgemeinen Sinn, in dem letztlich jeder Psychologe sein will, da es ein ganz ursprüngliches Bedürfnis ist, andere zu verstehen; in diesem allgemeinen Sinn, in welchem vor allem die Psychologie von jeher Sache der großen Künstler war, ist MONTAIGNE Psychologe genug und seine Psychologie Kunst. Er schreibt als Vorrede folgende Worte:
    "Dieses Buch ist ehrlich; es kündet dir von Anfang an, daß es nur für den vertrautesten Kreis bestimmt ist. Ich habe dabei weder an deinen Nutzen noch an meinen Ruhm gedacht; meine Kraft reicht für solche Zwecke nicht aus. Meinen Verwandten und Freunden ist es gewidmet, damit sie da einige Züge meiner Art und meiner Neigungen wiederfinden möchten und mich auf diese Weise, wenn ich nicht mehr unter ihnen weile (und das wird bald sein) frisch und gesund im Gedächtnis bewahren, so wie sie mich gekannt haben. Hätte ich damit um den Beifall der Menschen buhlen wollen, so würde ich mich gewiß mit fremden Federn geschmückt haben. Ich will mich aber in meiner ungekünstelten, natürlichen, alltäglichen Art zeigen, ohne Zwang und ohne Verstellung,  denn ich male mein Selbstporträt.  Da wird von meinen Fehlern, meinen Schwächen und meinem wahren Charakter ganz ausführlich die Rede sein, soweit die schuldige Achtung vor dem Publikum es gestattet. Gehörte ich jenen Volksstämmen an, die noch in der süßen Freiheit primitiver Naturgesetze leben sollen, so hätte ich mich sehr gern - ich versicher dich - nach allen meinen Seiten hin und  völlig nackt  gezeigt. So bin ich selbst, lieber Leser, der Inhalt meines Buches; es ist nicht recht, daß ein so unbedeutendes und nichtiges Subjekt dich in deinen Mußestunden beschäftigen soll. Darum lebe wohl!"
Es ist leicht einzusehen, was es für die Geschichte des neuen Geistes bedeutete, daß dieser Plan konzipiert wurde, den MONTAIGNE durch Wendungen ausdrückt wie  Ich male mein Selbstporträt  oder  Ich studiere mich selbst; dies ist meine Physik und Metaphysik.  War jemals dieser Gedanke vorher gefaßt worden? Von MARC AUREL sicher nicht; dieser sprach  zu sich;  aber nicht  über sich.  Wer an AUGUSTINs Bekenntnisse erinnert, ist durchaus im Irrtum. AUGUSTIN malt nie und nirgends ein  nacktes  Ich, sondern er malt den Rhetor AUGUSTIN und den Neuplatoniker und den Sektierer und den Christen; und er malt das alles mit den Farben des Christen. Er berichtet vom Leben seiner Jugend als von Sünde; denn es gehört zum christlichen Ethos, das Fleisch zu erniedrigen. Jedenfalls malt er ein gläubiges oder ein liebendes, ein irgendwie hingegebenes Ich. MONTAIGNE würde sagen: vom Rhetor und Platoniker und Christen AUGUSTIN gibt es keine Physik; all das sind dogmatische Hüllen, welche das Ich umgeben und verdecken. Ich aber suche das bare, an gar nichts hingegebenes Ich und deshalb betreibe ich die Skepsis an allen Dogmen. Der Zweifel muß die kirchlichen, wissenschaftlichen, moralischen Schleier erst vom Subjekt abgelöst haben, damit das nunmehr freigelegte Ich rein als Natur seziert werden kann.
    "Von zwei oder drei alten Schriftstellern wissen wir, daß sie diese Weg eingeschlagen haben; aber wir könnten nicht behaupten, daß sie dieselbe Art und Weise gewählt haben wie ich, da uns nichts anderes überliefert ist als ihre Namen. Niemand ist inzwischen auf ihren Bahnen gewandelt."
Es handelt sich also um einen Gegenstand des Porträtierens, an den sich noch nie jemand herangewagt hatte; und im Wagemut der Entdeckung dieses Gegenstandes steckte echtes Menschentum der  Renaissance:  Achtung vor der schlechthinnigen Tatsache des Ich-seins, Persönlichkeitsstolz und Entfaltungsdrang des Individuums. Ist MONTAIGNEs Lehre Psychologie, so ist sie dennoch vom selben Zeitgeist wie die Erkenntnistheorie des CUSANUS, wie die Ethik des PARACELSUS. Gegen die Scholastik gerichtet, insofern als gezeigt werden soll, daß ein Begriffsapparat niemals heranreicht an ein Ich; daß ein System und eine Summa von Dogmen niemals Platz bietet für den Reichtum des Persönlichen; daß sich die Seele nicht irgendwo an einem Ort einer Begriffspyramide bannen und fixieren läßt. Die Seele ist Natur und damit, für den Denker der Renaissance, unendliche Natur; das seelische Leben entzieht sich wie die gesamte Natur der Internierung im scholastischen, MONTAIGNE schon von der Schule her verhaßten Begriffskerker. MONTAIGNE zweifelt an allem; in der Tat. Aber nur deshalb, weil alles sich als Dogma gibt. Sein Zweifel will hinaus darauf, daß alle Dogmen zerschellen an der Tatsache, daß das Ich, welches doch Subjekt aller Dogmen sein muß, dogmatisch nicht faßbar ist. Es entschlüpft jeder Fixierung; es ist wie ein Wild, das sich nicht einfangen läßt, das in jedem Augenblick ein anderes sein kann, wenn es nur will. Vom Standpunkt der Vernunft aus nennt MONTAIGNE die Unsterblichkeit eine widersinnige Vorstellung; als kirchliche Verkündung aber sei sie zu achten und beizubehalten. Er teilt die Liebe der Renaissance zur antiken Kultur, als Katholik aber macht er die Verurteilung alles Heidentums mit. Er erklärt die Ehe für naturnotwendig und unentbehrlich für jeden Menschen, aber er preist das Zölibat des Priesters. Er durchschaut das Trügerische der Astrologie, denkt aber nicht daran, sich ihr praktisch zu entziehen. Er verteidigt mit der gleichen Sicherheit die beiden Sätze: Man darf sich nicht töten, denn auch Selbstmord ist Mord, und: Man darf sich das Leben nehmen, denn nur das Nehmen fremden Eigentums ist verboten. Als Renaissance-Moralist betrachtet er den Menschen mit seinen Trieben als von Grund auf gut, der kirchlichen Philosophie aber gibt er zu, das innerste Wesen des Menschen sei böse. Dieses Fluktuieren seines eigenen Ich, oder vielmehr dieses Fluktuieren-können ist der eigentliche Gegenstand seines Interesses. Das Ich ist ihm ein Gebilde, welches nur in der einen Hinsicht geformt ist, daß es alle Formen annehmen kann, ein PROTEUS [Meister der Verwandlung - wp] und daher nicht wißbar - und ist uns doch das nächste, was wir wissen sollten, wenn wir überhaupt etwas wissen könnten. - Es ist kein Zufall, daß unter den von MONTAIGNE gründlichst studierten Werken der Alten die Biographien den ersten Platz einnehmen.

Mit welcher Virtuosität MONTAIGNE diesen PROTEUS porträtiert, der zugleich jeder Beeinflussung zugänglich ist, komme sie woher sie wolle, zugleich jedem Einfluß mit dem Mutwillen der Frage und des Zweifels entgegentritt, ist hier nicht die Aufgabe darzustellen. Das fluktuierende Wesen des Geistes wird erst deutlich erkennbar - so hat er gesagt -, wenn es sich durch fortgesetzte Übung ausprägt. Und zu dieser Übung muß die schriftstellerische Selbstdarstellung kommen; "sie fördert das Leben des Ich; denn nunmehr weiß es, daß es zur Schau gestellt wird." "Jeder Zustand der Seele wie des Körpers, muß zum Genuß werden, indem die Seele - sich nicht etwa bedingungslos hingibt, sondern ihn  wohlgefällig  betrachtet. So geht sie nicht verloren, sondern findet sich selbst" - und entgeht "der häßlichsten unter allen Krankheiten: der Verachtung des eigenen Daseins". "Das Leben ist selbst noch im Niedergang angenehm, ja seine kurze Befristung erhöht nur den Genuß." Dieses Experimentieren und Porträtieren kann zwar gefährlich werden; aber "wer wollte den Genuß des Weines verbieten, nur weil kraftlose Naturen sich berauschen?" "Dem wohlgebauten Haupt wird der Zweifel zum guten Kopfkissen." -

Unser Zusammenhang erfordert nur, das Problem zu fixieren. Und das ist gegeben durch die Zeitlage. Die Epoche der Philosophie ist vorbei, in welcher die Dogmen selber der Gegenstand der Philosophie sind. Das Subjekt lebt in seiner Eigenmächtigkeit auf und richtet an sich selbst die Frage, wie es denkt (CUSANUS), wie es will (PARACELSUS), wie es existiert (MONTAIGNE); und es entdeckt in jeder Hinsicht eine Unendlichkeit der Entfaltungsmöglichkeiten und nennt diese Unendlichkeit: Natur.

MONTAIGNEs Zweifel ist - das sollten die vorstehenden Ausführungen zeigen - in seinem Motiv nicht zu verstehen ohne die antischolastischen Tendenzen der Renaissance. Philosophie und Wissenschaft der Zeit nannten sich  neu  und waren sich bewußt, daß sie ein neues Zeitalter der Geisteskultur heraufführten. Aus HEGELs Schule stammt das Gleichnis: die großen Epochen seien  Krisen  der Menschheit; wie aber die kritischen Epochen im Leben des Einzelnen die Zeiten der Selbsterkenntnis seien, so seien auch im Leben der Geschichte die bedeutendsten Epochen diejenigen, in denen die Menschheit selbst sich nach innen wandte und die Philosophie dem Geist einen Spiegel seines eigenen Seins vorhielt. Ist dies richtig, ist das  gnothi sauton  [Erkenne dich selbst! - wp] die Signatur der Krisis, so leuchtet die Verwandtschaft des fünften Jahrhunderts vor CHRISTUS mit dem sechzehnten nach CHRISTUS ein. Und diese innerliche, tiefe Verwandtschaft läßt sich in eigentümlicherweise am  Humanismus  MONTAIGNEs unmittelbar aufzeigen. Nicht nur, daß der von einem deutschen Humanisten unterrichtete Knabe, der noch mit sechs Jahren nicht französisch sprechen konnte, als Mann vielleicht alle Zeitgenossen an Kenntnis der Alten übertraf; nicht nur, daß er wie alle Humanisten die Antike als das ausschließliche Mittel benutzte, um seinen Gedanken Form und Gefäß zu geben; sondern er glaubte - und das ist das Bezeichnende -, mit seiner Skepsis SOKRATES selbst wieder auf den Thron der Philosophie erhoben zu haben. "Spricht SOKRATES über irgendetwas anderes ausführlicher als über sich selbst? Lehrte er nicht seine Schüler am häufigsten von sich selbst zu sprechen? Nicht über die Lektion in ihrem Buch, sondern über die Beschaffenheit und die Regungen ihrer Seele?" Diese Art von Sokratik mag seltsam, ja komisch wirken, wenn man bedenkt, daß MONTAIGNE alle Argumente aus PYRRHON, aus KARNEADES, ja aus der Sophistik nimmt. Aber es kommt eben nicht so sehr auf die Argumente, auf die Vehikel seiner Skepsis an als auf ihr Motiv. Und sein Motiv ist in der Tat sokratisch, insofern es ein  gnothi sauton  ist. Selbsterkenntnis, Krisis ist stets in einem eminenten Sinne ein Akt der Freiheit; und die Selbsterkenntnis MONTAIGNEs war der Durchbruh des Ich durch das Gehege, mit dem es von der Scholastik umzäunt war. Es ging in philosophischer Hinsicht nicht anders als in astronomischer. Wie die Nova Astronomia die sphärischen Schalen zerbrach, welche das Mittelalter zwischen Erde und Himmel eingefügt hatte, um die Erde als starr ruhend in das Zentrum der Welt zu bannen, so mußte die Nova Philosophia, wie BRUNO es mit vollendeter Klarheit sah, das Schalensystem von Dogmen zerbrechen, das zwischen dem menschlichen Geist und Gott sich aufgeschichtet hatte. Die Kosmologie gab der Erde eine Natur, wie die Natur des Mondes und der Sonne, der Planeten und anderer Sterne war, so daß kein Gestirn vollkommenere Substanz hatte als die Erde. Ebenso löste die Philosophie den menschlichen Geist aus jenem System heraus, das über ihm Dämonen und vorgezogene Geister lokalisiert hatte, machte ihn dem Weltgeist verwandt und gleichgeartet, machte ihn zum Teil der Weltvernunft, wie die Erde zum Teil des Weltleibes geworden war, und nannte ihn Natur. Hier spielte SOKRATES zum zweiten Mal die Rolle des Wegbereiters für den Platonismus. Im übrigen ist der pyrrhonische SOKRATES MONTAIGNEs nicht weniger sokratisch als der plotinische PLATON FICINs platonisch war.

In der Skepsis MONTAIGNEs steckt aber nicht nur Renaissance und Humanismus, sondern ein Drittes kommt hinzu. Jeder Leser von MONTAIGNEs Apologie des RAIMUND von SABUNDE weiß, daß es sich in MONTAIGNEs Werken um einen letztlich gescheiterten Versuch handelt, einen wissenschaftlichen Relativismus zu vereinigen mit religiösen Dogmatismus. Es ist das Eigentümliche an MONTAIGNEs historischer Gestalt, daß bei aller unerhörten Kühnheit seines Denkens praktisch so gut wie nichts herauskommt. So zum Beispiel macht ihn sein starkes Empfinden für den Wert des Individuums zu einem der ersten Verkünder der Menschenrechte; aber er widerrät alle praktische Maßnahmen, die zu ihrer Durchführung dienen könnten. Mit andern Worten, es ist ein augenfälliger Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, der sich namentlich als Widerspruch zwischen Philosophie und Religion immer wieder bei ihm zeigt. Diese Erscheinung ist nun aber nicht nur charakterologisch zu erklären aus seiner Hinneigung zu Ästhetentum und seinem Mangel an weltgestaltender Initiative. Sie ist auch nicht nur historisch daraus zu erklären, daß er zwei Zeitaltern angehörte, dem Mittelalter und der Renaissance, und auf der Grenzscheide beider stehend noch gewissermaßen zugleich mittelalterlich gebunden und durch die neue Epoche aus der Gebundenheit befreit war. Sondern auch diese Seite seines Wesens, dieser eigentümliche Januskopf seiner Persönlichkeit, hat etwas Philosophisches ansich. MONTAIGNE setzt den Gegensatz, nicht weil er ihn aus Schwäche nicht überwinden kann, sondern weil er ihn aus Mut und Kraft erst eigentlich prägen und durchführen will. Worauf er hinauswill, ist nämlich nichts anderes als der Gegensatz zwischen Glauben und Wissen. Er bestreitet, daß das Wissen als wahr erweisen könne, was für den Glauben Überzeugung sei. Er ist also auch hier einem scholastischem Dogma feind, dem des Thomismus, sofern dieses eine Versöhnung zwischen natürlicher Erkenntnis und übernatürlicher Offenbarung anstrebt. Vielmehr auch darin sieht MONTAIGNE Reichtum und Reiz des menschlichen Geistes, daß Glauben und Wissen als zwei geschieden Provinzen in ihm Platz haben. "Alle Lehre kommt vom Menschen und geht zum Menschen. Aber nur was von Gott stammt, hat die Macht, überzeugen zu können." Gerade in seiner scheinbaren Konzilianz [Versöhnung - wp] und Hinneigung zur Kirche, gerade wo er den Glaubenssätzen nachgibt und ihren Primat über die weltliche Wissenschaft anerkennt, ist er im Grunde gegen die herrschende Richtung der Scholastik gewendet und weist durch die Antithese zwischen der Relativität des Wißbaren und dem Absolutheitscharakter des Glaubens auf diejenigen Wege hin, welche die  Reformation  gegangen ist.

Es ist in der schriftstellerischen Eigenart MONTAIGNEs begründet, daß man nicht durch einzelne Belege ein Bild von seiner Wesensart vermitteln kann. Frankreich hat ihn, dessen  bester Leser  SHAKESPEARE war, zum Lehrer erkoren nicht wegen einzelner Lehrstücke, sondern wegen seiner heroischen geistigen Haltung, die in jedem seiner Sätze dieselbe war. Dadurch ist Frankreich das Land der klassischen Psychologie geworden und das Land des philosophischen Essays; wobei dieses Wort nicht im Sinne einer populären Diatribe [Zeitvertreib - wp], wie Aufklärung und Romantik sie lieferten, sondern im Sinne MONTAIGNEs:  Versuche,  von einem unerschöpflichen, fortwährend fluktuierenden Stoff Teilansichten zu gewinnen. Dieser Versuch muß - seinem Wesen nach - Versuch bleiben, er kann nicht System werden. Und dennoch geben MONTAIGNEs Versuche ein Ganzes. Das eben ist das Geheimnis seines Könnens. Es spricht für ein tiefes Verständnis MONTAIGNEs, wenn MALEBRANCHE sagte, er wage nicht, eine einzige Entscheidung MONTAIGNEs auch nur zu prüfen; man habe sich ihm zu unterwerfen, auch wo man ihn nicht verstehe. MALEBRANCHE fühlte, daß MONTAIGNE nur als Ganzes genommen werden könne. Und als Ganzes war er mit seiner Schärfe, Klarheit und Bildung der typische Vertreter der französischen Renaissance, wie BRUNO mit seinem Enthusiasmus der italienischen und PARACELSUS mit seiner Schwerfälligkeit und dunklen Tiefe der der deutschen. Von den nationalen Eigentümlichkeiten aber abgesehen zeigt MONTAIGNEs geistiges Gepräge diejenigen drei Züge, die für das sechzehnte Jahrhundert überhaupt die markanten sind: den Naturbegriff der Renaissance; die humanistische Gesinnung; und die Überzeugung der Reformation von der nicht vermittelbaren Irrationalität des Glaubens.
LITERATUR - Ernst Hoffmann, Montaignes Zweifel, Logos - Internationale Zeitschrift für Philosophie und Kultur, Bd. 14, Tübingen 1925