E. SprangerFrischeisen-KöhlerTrendelenburgO. LiebmannKirchmann | |||
Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen [2/2]
III. Der Naturalismus 1. Der Mensch findet sich bestimmt von der Natur. Sie umfaßt seinen eigenen Körper so gut wie die Außenwelt. Und gerade die Zuständlichkeit des eigenen Körpers, die mächtigen animalischen Triebe, welche denselben durchwalten, bestimmen sein Lebensgefühl. So alt wie die Menschheit selber ist eine Ansicht und Behandlung des Lebens, welche dessen Kreislauf in der Befriedigung der animalischen Triebe und der Dienstbarkeit unter die Außenwelt, aus der sie ihre Nahrung saugen, erfüllt. Im Hunger, im Geschlechtstrieb, im Altern und im Sterben sieht der Mensch sich den dämonischen Mächten des Naturlebens untertan. Er ist Natur. HERAKLIT und der Apostel PAULUS bezeichnen in ähnlichen Worten voll Verachtung dies als die Lebensauffassung der sinnlichen Masse. Sie ist permanent, es gab keine Zeit, in der sie nicht einen Teil der Menschen regiert hätte. Selbst in den Zeiten der straffsten Herrschaft einer östlichen Partnerschaft bestand diese Lebensphilosophie des sinnlichen Menschen, und auch während der Katholizismus jede theoretische Äußerung dieses Standpunktes unterdrückte, ist sehr viel von den "Epikureern" die Rede; was in philosophischen Lehrsätzen nicht ausgesprochen werden durfte, erklang in den Liedern der Provenzalen, in manchem deutschen höfischen Gedicht, in den französischen und deutschen Tristanepen. Und wie PLATON das Genußleben der Junker und Geldmänner und ihre Genußlehre schildert, ganz so tritt es uns dann wieder als die Lebensphilosophie der Weltleute im 18. Jahrhundert entgegen. Zur Befriedigung der Animalität tritt ein Moment hinzu, in welchem der Mensch am meisten von seinem Milieu abhängig ist: Freude an Rang und Ehre. Überall liegt dieser Weltauffassung dasselbe Verhalten zugrunde - die Unterordnung des Willens unter das animalische den Körper durchwaltende Triebleben und unter dessen Beziehungen zur äußeren Welt: das Denken und die von ihm geleitete Zwecktätigkeit sind hier in der Dienstbarkeit dieser Animalität, sie gehen darin auf, ihr Befriedigung zu schaffen. Diese Lebensauffassung findet zunächst ihren Ausdruck in einem beträchtlichen Teil der Literatur aller Völker. Zuweilen als ungebrochene Kraft der Animalität, häufiger im Kampf mit der religiösen Weltanschauung. Ihr Streitruf ist die Emanzipation des Fleisches. In diesem Gegensatz gegen die notwendige, jedoch furchtbare Disziplinierung der Menschheit durch die Religiosität liegt das geschichtliche, relative Recht dieser Reaktion einer immer neu geborenen und sich betätigenden Bejahung des natürlichen Lebens. Wenn diese Lebensverfassung Philosophie wird, so entsteht der Naturalismus. Dieser behauptet theoretisch, was in ihr Leben ist: der Prozeß der Natur ist die einzige und die ganze Wirklichkeit; außer ihm besteht nichts; das geistige Leben ist nur formal als Bewußtsein nach den in diesem enthaltenen Eigenschaften von der physischen Natur unterschieden, und diese inhaltlich leere Bestimmtheit des Bewußtseins geht aus der physischen Wirklichkeit nach einer Naturkausalität hervor. Die Struktur des Naturalismus ist von DEMOKRIT zu HOBBES und von ihm bis zu einem System der Natur gleichmäßig: Sensualismus als Erkenntnistheorie, Materialismus als Metaphysik und ein zweiseitiges praktisches Verhalten - der Wille zum Genuß und die Aussöhnung mit einem übermächtigen und fremden Weltlauf durch die Unterwerfung unter denselben in der Betrachtung. Das philosophische Recht des Naturalismus liegt in zwei Grundeigenschaften der physischen Welt. Wie überwiegend sind doch innerhalb der in unserer Erfahrung gegebenen Wirklichkeit die Ausdehnung und Kraft der physischen Massen! Sie umfassen als ein Unermeßliches und kontinuierlich Erstreckendes die spärlichen geistigen Erscheinungen: so angesehen erscheinen diese wie Interpolationen im großen Text der physischen Ordnung. Daher der natürliche Mensch bei der theoretischen Betrachtung solcher Verhältnisse sich dieser Ordnung gänzlich unterworfen finden muß. Und zugleich ist die Natur der ursprüngliche Sitz aller Erkenntnis von Gleichförmigkeiten. Schon die Erfahrungen des täglichen Lebens lehren, diese Gleichförmigkeiten festzustellen und mit denselben zu rechnen, und die positiven Wissenschaften der physischen Welt nähern sich durch das Studium dieser Gleichförmigkeiten der Erkenntnis eines gesetzlichen Zusammenhangs derselben: so verwirklichen sie ein Ideal der Erkenntnis, welches den auf Erleben und Verstehen gegründeten Geisteswissenschaften unerreichtbar ist. Nun aber treiben die in diesem Standpunkt enthaltenen Schwierigkeiten in einer ruhelosen Dialektik den Naturalismus zu immer neuen Fassungen seiner Stellung zu Welt und Leben. Die Materie, von welcher er ausgeht, ist eine Erscheinung des Bewußtseins; so verfällt er dem Zirkel: aus demjenigen, was nur als Phänomen für das Bewußtsein gegeben ist, dieses selber ableiten zu wollen. Es ist ferner unmöglich, aus der Bewegung, welche als Phänomen des Bewußtseins gegeben ist, die Empfindung und das Denken abzuleiten. Die Unvergleichbarkeit dieser beiden Tatsachen führt, nachdem das Problem vom antiken Materialismus bis zum System der Natur in den verschiedensten Versuchen sich als unlösbar erwiesen, zu der positivistischen Korrelativität des Physischen und des Geistigen. Auch diese ist starken Bedenken unterworfen. Und schließlich erweist sich die Moral des ursprünglichen Naturalismus als unzureichend, die Entwicklung der Gesellschaft begreiflich zu machen. 2. Ich beginne mit der erkenntnistheoretischen Seite des Naturalismus. Er hat seine erkenntnistheoretische Grundlage am Sensualismus. Unter Sensualismus verstehe ich die Zurückführung des Erkenntnisvorgangs oder seiner Leistungen auf die äußere sinnliche Erfahrung und der Wert- und Zweckbestimmungen auf den in der sinnlichen Lust und Unlust enthaltenen Wertmaßstab. So ist der Sensualismus der direkte philosophische Ausdruck der naturalistischen Seelenverfassung. Daher ist hier im Ansatz bereits das psychogenetische Problem des Naturalismus gegeben, aus einzelnen Eindrücken die Einheit des Seelenlebens als eine unitas compositionis [einheitliche Schöpfung - wp] abzuleiten. Der Sensualist leugnet weder die Tatsache der inneren Erfahrung noch die der denkenden Verknüpfung des Gegebenen, aber er findet in der physischen Ordnung die Grundlage für jede Erkenntnis von einem gesetzlichen Zusammenhang des Wirklichen, und die Eigenschaften des Denkens werden ihm selbstverständlich oder mittels einer Theorie zu einem Teil des sinnlichen Erfahrens. Die erste Theorie des Sensualismus ist von PROTAGORAS geschaffen worden. Die universelle Vernunftkraft, die im menschlichen Denken wirksam ist, war in der Metaphysik vor ihm noch nicht von den physischen Eigenschaften des Menschen, vom Atmungsprozeß und den eindringenden körperlich aufgefaßten Sinnesbildern, getrennt. PROTAGORAS lehrte nun, daß im Zusammenwirken von zwei Bewegungen, einer äußeren und einer im Menschen verlaufenden organischen, die Wahrnehmung entsteht, und wie ihm nun Wahrnehmung und Denken ungetrennt waren, leitete er aus den so entstehenden Wahrnehmungen das ganze Seelenleben ab; auch Lust, Unlust und Antrieb erklärte er aus dem Zusammenwirken der beiden Bewegungen. Er war also zweifellos Sensualist. Und er bereits entdeckte von diesem Standpunkt aus die in demselben gelegenen phänomenalistischen und relativistischen Konsequenzen. Die Relativitätslehre des PROTAGORAS findet jede Erkenntnis, Wertsetzung oder Zweckbestimmung durch das schlechthin Empirische der menschlichen Organisation bestimmt; sie schließt also eine Vergleichbarkeit dieser Leistungen mit den äußeren Vorgängen, auf welche sie sich beziehen, aus. So haben Erkenntnis, Wertbestimmung und Zwecksetzung nur eine relative Gültigkeit, nämlich in der Korrelation auf diese Organisation. Das Bindeglied zwischen dem Subjekt und seinem Gegenstand in der Annahme einer allgemeinen gleichen Vernunft, die im Universum wirkt und so als Gleiches das Gleiche erkennt, ist hier aufgehoben. Die sinnliche Organisation zeigt im Reich des Animalischen, das bis zum Menschen reicht, die verschiedensten Formen, und von jeder aus muß eine ganz verschiedene Welt entstehen. Die bloße empirische Tatsächlichkeit der sinnlichen Organisation, die Gebundenheit allen Denkens an sie und die Einordnung dieser Organisation in einen physischen Zusammenhang bilden die Grundlage aller Relativitätslehren des gesamten Altertums. Wie ist von solchen Voraussetzungen aus eine Erfahrung und eine Erfahrungswissenschaft möglich? Das war nun das höchste Problem. Mathematik, Astronomie, Erdkunde, Biologie wuchsen beständig, und die sensualistische Skepsis mußte deren Möglichkeit begreiflich machen. Schon die Wahrscheinlichkeitslehre des KARNEADES enthielt in sich die Tendenz, einen positivistischen Ausgleich zwischen den sensualistischen Voraussetzungen und den Erfahrungswissenschaften herzustellen. Die Gültigkeit der Erkenntnis wird in seiner Skepsis aus den dem griechischen Geist so gemäßen Relationen vom Abbilden eines objektiv Äußeren durch Vorstellungen hinüberverlegt in die innere Übereinstimmung der Wahrnehmungen untereinander und mit den Begriffen zu einem widerspruchslosen Zusammenhang. Im Ideal einer höchsten erreichbaren Wahrscheinlichkeit, in der Unterscheidung der Stufen derselben war ein Standpunkt gewonnen, von welchem aus gleichzeitig die Metaphysik bekämpft und dem Erfahrungswissen ein wenn auch bescheidenes Maß an Geltung gesichert werden konnte. Aber erst als die große Epoche der Begründung der mathematischen Naturwissenschaft im siebzehnten Jahrhundert eine Ordnung der Natur nach Gesetzen erkannt hatte, trat der Sensualismus in seine letzte entscheidende Periode. Die Naturwissenschaft hatte sich nun als unangreifbares Erfahrungswissen konstituiert, und der Sensualismus mußte diese Tatsache anerkennen, sich zu ihr ins Verhältnis setzen und die skeptischen Folgerungen der früheren Zeit überwinden. Dies war die große Leistung von DAVID HUME. Er hat selbst seine Philosophie als die Fortsetzung der akademischen Skepsis angesehen. Und in der Tat kehren bei ihm die Hauptzüge dieser Skepsis wieder - die bloß empirische Tatsächlichkeit unserer sinnlichen Organisation und des mit ihr zusammenhängenden Denkens; hieraus folgend die Aufhebung jedes Verhältnisses von Abbildung zwischen dem auffassenden Geist und der objektiven Welt, sonach die Verlegung der Welterkenntnis in die bloße Übereinstimmung der Wahrnehmungen untereinander und mit den Begriffen. Aber diese Sätze erlangen durch seine Analyse die fruchtbarste Fortentwicklung: aus den Regelmäßigkeiten des Geschehens erwachsen Eingewöhnungen zu bestimmten Verbindungen: in der diesen innewohnenden Assoziativkraft liegt der ausschließliche Grund für die Begriffe von Substanz und Kausalität. So entstehen Folgerungen, welche die Grundlagen des Positivismus bilden sollten. Der inhaltliche Zusammenhang der Welt mittels der Bänder von Substanz und Kausalität wird zum sekundären Effekt der animalischen Tatsachen von Eingewöhnung und Assoziation; die Erfahrungswissenschaft wird auf die Gleichförmigkeiten von Koexistenz und Sukzession der Erscheinungen unter Ausscheidung jeden Wissens von inneren Beziehungen, von Wesen, Substanz oder Kausalität eingeschränkt; solche Gleichförmigkeiten bilden genau so den Gegenstand unseres Wissens von geistigen wie von den physischen Tatsachen: alle Teile der Welt sind zu einer Gesetzmäßigkeit verknüpft. Der innerste Geist des Systems von DAVID HUME ist ein Sensualismus; aber seine großen Ergebnisse haben sich in der positivistischen Erkenntnistheorie von D'ALEMBERT ab losgelöst von den metaphysischen Voraussetzungen: der Positivismus wurde eine Methode, und der Naturalismus selber machte diesem phänomenalistischen Standpunkt gegenüber in FEUERBACH, MOLESCHOTT, BÜCHNER die "Sonnenklarheit des Sinnlichen", machte schon in COMTE den Zusammenhang der physischen Tatsachen untereinander und die Abhängigkeit der psychischen von ihnen, wie die neue Gehirnphysiologie sie lehrte, geltend. 3. Die Metaphysik des Naturalismus erhielt im Zeitalter nach PROTAGORAS ihre mechanistische Grundlage. Die mechanische Erklärung ist an und für sich ein positiv-wissenschaftliches Verfahren, und entsprechend mit ganz verschiedenen Weltansichten verträglich: erst wenn nichts als Mechanismus in der Wirklichkeit anerkannt wird, wenn Begriffe, welche für das Naturerkennen nur Hilfsmittel seines Verfahrens sind, als Entitäten behandelt werden, entsteht die mechanistische Metaphysik. Die Ursachen der Bewegungen werden nun in die einzelnen stofflichen Elemente des Universums verlegt, und auf diese Elemente werden nach irgendeiner Methode die geistigen Tatsachen zurückgeführt. Aus der Natur wird jene ganze Innerlichkeit ausgeschieden, welche Religion, Mythos und Dichtung in sie verlegt hatten: sie ist nun seelenlos geworden, nirgends setzt ein einheitlicher Zusammenhang ihrer technischen Interpretation Grenzen. Dieser Standpunkt gestattet erst, dem Naturalismus eine strenge wissenschaftliche Form zu geben. Sein Problem wird jetzt, aus der mechanischen Anordnung körperlicher Teile nach Gesetzen die geistige Welt abzleiten. Eine unermeßliche Literatur unternahm, diese Aufgabe zu lösen. Ihre Höhepunkte bilden das epikureische System und seine glänzende Darstellung durch LUCRETIUS, das düster gewaltige System von HOBBES, welches folgerichtig die ganze geistige Welt unter dem Gesichtspunkt des Lebensdranges auffaßte, aus dem dann der Kampf der Individuen, der Stände und der Staaten um die Macht hervorgeht, im Frankreich des 18. Jahrhunderts das System der Natur, welches das Geheimnis der Ungläubigsten und Genußsüchtigsten aller Zeiten in seinen leblosen Formeln aussprach, und schließlich die fanatische materialistische Doktrin von FEUERBACH, BÜCHNER, MOLESCHOTT und ihren Genossen. Die Macht dieser Theorien lag in ihrem Aufbau auf dem Boden der äußeren räumlichen, sinnfälligen Wirklichkeit, die dem exakten naturwissenschaftlichen Denken zugänglich ist. Sie enthielten nirgendwo einen dunklen Rest unfaßlicher Kräfte. Es war da kein Winkel, in dem sich ein selbständig Geistiges oder Transzendentes verbergen konnte. Alles war rational und natürlich. Denn der Kampf gegen die Mächte der Religiosität und einer spiritualistischen Metaphysik mit ihren Dunkelheiten ist die Seele dieser materialistischen Metaphysik. Und darin lag ihr geschichtliches Recht, daß sie das Bündnis der Kirche mit der Gewaltherrschaft in der Gesellschaft überwinden wollte. In einer solchen Ordnung der Dinge ist für die Betrachtung der Welt unter dem Gesichtspunkt des Wertes und des Zwecks kein Raum. Werte und Zwecke sind hier blind erzeugte Produkte des Naturlaufs, welche nur für den Menschen ein besonderes Interesse haben, weil er sich selbst durch sein Innenleben der Mittelpunkt der Welt ist und nach seinen Gefühlen, Strebungen und Zielen alles bemißt. 4. Das Lebensideal des Naturalismus mußte ein doppeltes sein nach seinem zweifachen Verhältnis zum Naturlauf. Der Mensch ist Sklave des Naturlaufs durch seine Leidenschaft - ein listiger rechnender Sklave und er steht doch über demselben durch die Macht seines Denkens. Schon das Altertum entwickelte beide Seiten des naturalistischen Ideals. Der Sensualismus des PROTAGORAS enthielt schon die Bedingungen für den Hedonismus des ARISTIPPOS. Denn in den Berührungen der sinnlichen Organisation mit der Außenwelt enstehen nach ihm wie die Sinneswahrnehmungen so auch die sinnlichen Gefühle und Begehrungen, und diese können nicht die objektiven Werte, die in der Wirklichkeit enthalten sind, ausdrücken, sondern nur das Verhältnis, in welchem das Subjekt mit seinem Gefühlsleben zu ihnen steht. ARISTIPPOS folgerte hieraus, daß in der Lust als der in unserer sinnlichen Organisation stattfindenden besten Bewegung ausschließlich der Maßstab und das Ziel des richtigen Handelns enthalten ist. Im physischen Zusammenhang unserer Animalität mit der äußeren Natur, wie er sich in den sinnlichen Bewegungen kundgibt, muß der inhaltliche Maßstab und das Ziel der Lebenskunst aufgesucht werden. Die sokratische Besonnenheit wird hier zum souveränen Spiel des formalen, mit den Lustwerten rechnenden Denkens, welches sich über die Konventionen, ja über die objektiven Ordnungen des Lebens erhebt. Aber im optischen Auffassen und ästhetischen Genießen, das eine so große Rolle im griechischen Geist spielte, gab es ein anderes Ideal, und auch dieses lagt im Gesichtskreis jener naturalistischen Metaphysik, wie sie DEMOKRIT, EPIKUR und LUCRETIUS vertreten haben. Die Erfahrungen des Lebensdranges führten demselben entgegen. Es ist die Gemütsstille, welche in dem entsteht, welcher den unverbrüchlich festen, überdauernden Zusammenhang des Universums in sich aufnimmt. In einem Lehrgedicht des LUCRETIUS fand diese Seelenverfassung ihren Ausdruck. Er erlebte in sich die befreiende Macht der großen kosmischen, astronomischen und geographischen Weltansicht, welche die griechische Wissenschaft geschaffen hatte. Das unermeßliche Universum, seine ewigen Gesetze, die Entstehung der Weltsysteme, die Geschichte der Erde, die sich mit Pflanzen und Tieren bedeckt und schließlich den Menschen hervorbringt: diese Konzeption ließ ihn die politischen Intrigen und die armseligen Götterpuppen seines Volkes tief unter sich gewahren. Ja das Einzelleben selber, mit seinem Durst nach Genuß und Macht, das Ringen der Einzelexistenzen auf dem römischen Welttheater schrumpfte unter diesem kosmischen Gesichtspunkt zusammen: "Fromm ist, wer gefaßten Geistes auf das Weltall blickt." Schon im Altertum hatte die Erfahrung, die der nach Sinnenglück verlangende Mensch im Weltlauf macht, die Starrheit der Lehre von der sinnlichen Lust als dem Ziel des Lebens gelöst. Die dauernde geistige Lust war neben der sinnlichen zur Geltung gelangt. Und die entscheidende Aufgabe, aus den Elementen der sinnlichen Lust- und Unlustgefühle die Kultur in ihrem Reichtum und ihrer Größe abzuleiten, hatte schon damals die epikureische Schule mittels der Annahme des Fortschritts der Entwicklung aufzulösen unternommen. Aber erst die moderne Zeit brachte wissenschaftlich gültige Hilfsmittel für die naturalistische Erklärung der geistigen Entwicklung. Solche waren das Verständnis des geistigen Lebens aus seinem Milieu, die Ableitung des wirtschaftlichen Lebens aus den Interessen des Individuums, die der höheren Kultur aus dem ökonomischen Fortschritt, und die Evolutionstheorie, welche die Summierung minimaler Änderungen unermeßlicher Zeiträume hindurch den intellektuellen und moralischen Eigenschaften der Menschen zugrunde zu legen gestattete. Das naturalistische Ideal, wie es nach dem Verlauf einer langen Kulturentwicklung LUDWIG FEUERBACH verkündete, der freie Mensch, der in Gott, Unsterblichkeit und der unsichtbaren Ordnung der Dinge die Phantome seiner Wünsche erkennt, hat einen mächtigen Einfluß auf die politischen Ideen, die Literatur und die Dichtung geübt. Ich gehe wieder von der Tatsache der Verwandtschaft zwischen einer großen Anzahl von Systemen aus, die, als in einer Lebensverfassung, einer Stellung zur Welt gegründet, die Entscheidung der im Lebensrätsel enthaltenen Probleme in einer bestimmten Richtung in sich schließt und so diese Systeme zu einem zweiten Typus der Weltanschauung verbindet. 1. Der Idealismus der Freiheit ist die Schöpfung des athenischen Geistes. Die formende, gestaltende, souveräne Energie in diesem wird in ANAXAGORAS, SOKRATES, PLATON, ARISTOTELES zum Prinzip des Weltverständnisses. CICERO hat nachdrücklich seine Übereinstimmung, sein Gefühl von Verwandtschaft mit SOKRATES und allem Sokratischen der griechischen Folgezeit ausgesprochen. Und hervorragende christliche Apologeten und Väter finden sich sowohl mit dem sokratischen Geist als auch mit der römischen Philosophie in einem bewußten Verhältnis von Übereinstimmung. Die schottische Schule beruth dann weiter ganz auf der Denkrichtung CICEROs und ist sich zugleich ihrer Gemeinschaft mit jenen älteren christlichen Schriftstellern bewußt. Und eben ein solches Bewußtsein von Verwandtschaft verknüpft mit diesen früheren Schriftstellern KANT und JACOBI, MAINE de BIRAN und die ihm verwandten französischen Philosophen bis auf BERGSON. Dieses Bewußtsein von Verwandtschaft ist begleitet von einer scharfen Polemik der Vertreter dieser Richtung gegen das naturalistische System. Das Bewußtsein gänzlicher Verschiedenheit vom Naturalismus in Lebensauffassung, Weltanschauung und Ideal durchdringt bis in die Fingerspitzen jeden dieser Denker und die tiefsten am mächtigsten. Aber auch der Gegensatz zum Pantheismus wurde von diesem Idealismus der Persönlichkeit immer deutlicher zu Bewußtsein gebracht. Wenn sich von der religiösen Personifikation der Gottheit und dem persönlichen Verkehr mit ihr der ältere griechische Pantheismus gesondert hatte, so stellte sich dann SOKRATES wieder diesem Pantheismus gegenüber und die herrschende römische Philosophie betonte ihre Verwandschaft mit SOKRATES. Auch die ältere christliche Philosophie weiß sich mit den Vertretern des Idealismus der Freiheit und der Personalität sowohl im Gegensatz gegen den Naturalismus wie auch gegen den Pantheismus eins. Und dieselbe Stellung tritt im Kampf der späteren christlichen Philosophie gegen den objektiven Idealismus des IBN ROSCHD [Averroes - wp] wieder hervor. Sie macht sich dann in der Renaissancezeit geltend im Kampf des GIORDANO BRUNO gegen jede Art von christlicher Philosophie und dieser gegen den neuen Pantheismus BRUNOs. Und von dieser Zeit an setzt sie sich fort im Streit zwischen SPINOZA und jeder Lehre von der Personalität oder Freiheit, zwischen LEIBNIZ und mehreren Verteidigern der Freiheitslehre, schließlich dann in den Kämpfen zwischen KANT, FICHTE, JACOBI, FRIES und HERBART einerseits, andererseits SCHELLING, HEGEL und SCHLEIERMACHER. Alle großen philosophischen Kämpfe der letzten Jahrhunderte empfangen ihren leidenschaftlichen Charakter aus der Verbindung, in welcher die von einem Problem ausstrahlenden Gegensätze mit den verschiedenen Weltanschauungen stehen. Der Streit von BAYLE gegen SPINOZA hat das Bedürfnis von Schulterfreiheit gegenüber dem Determinismus zu seiner Wurzel. Der Streit VOLTAIREs gegen LEIBNIZ ist der einer vom Menschen ausgehenden praktischen Bewußtseinsstellung, welche sonach zunächst auch die Freiheit aufrecht zu erhalten strebt, gegen die kontemplative in der Anschauung des Universums gegründete Metaphysik. ROUSSEAU stellt dann eine Philosophie der Personalität und der Freiheit mit ungeheurem Erfolg den verschiedensten Formen von Naturalismus oder Monismus gegenüber. Die Diskussion zwischen JACOBI und SCHELLING betrifft die Hauptprobleme, die zwischen den objektiven Idealismus und der Philosophie der Personalität schweben, und kein leidenschaftlicherer Streit als dieser ist jemals geführt worden. So empfängt auch die Polemik von HERBART gegen die monistische Philosophie ihre Heftigkeit aus dem Gefühl, daß die großen Wahrheiten des theistischen Systems von diesem Monismus in Frage gestellt würden, während sich doch derselbe zugleich zum Verteidiger der christlichen Weltansicht aufwarf, die in ihren tiefsten Wurzeln theistisch ist. Und die Bitterkeit, mit welcher FRIES und APELT den Kampf gegen die monistische Spekulation führen, ist gleichmäßig bedingt vom Haß gegen die Entstellung der Erfahrungswissenschaften der Natur durch SCHELLING und HEGEL und gegen die Auflösung des christlichen Theismus unter der Hülle einer Verteidigung des Christentums. 2. Diesem Bewußtsein von Zusammengehörigkeit und von Gegensatz, welches die Vertreter des Idealismus der Freiheit untereinander verbindet und vom objektiven Idealismus wie vom Naturalismus absondert, entspricht die tatsächliche Verwandtschaft zwischen den verschiedensten Systemen dieses Typus. Und zwar besteht das Band, welches Weltanschauung, Methode und Metaphysik in diesen Systemen zusammenhält, darin: das Verhalten, welches sich jeder Gegebenheit mit souveränder Selbstherrlichkeit gegenübersetzt, enthält in sich die Unabhängigkeit des Geistigen von all diesen Gegebenheiten; der Geist weiß sein Wesen als von jeder physischen Kausalität verschieden. Mit einem tiefen ethischen Blick hat FICHTE den Zusammenhang zwischen dem persönlichen Charakter einer Gruppe von Denkern und dem Idealismus der Freiheit im Gegensatz zu jedem Natursystem gesehen. Diese freie Selbstmacht findet sich dann zugleich in einem Verhältnis zu anderen Personen gebunden: nicht physisch, sondern in einer sittlichen Norm und Verpflichtung; so entsteht der Begriff eines Personenreiches, in welchem die Individuen, nach Normen und doch innerlich frei, verbunden sind. Nun ist weiter mit diesen Prämissen jederzeit die Beziehung der freien, innerlich durch das Gesetz gebundenen, verantwortlichen Individuen und des Personenreiches zu einer absoluten persönlichen und freien Ursache verknüpft. Von der Lebensverfassung aus ist dies darin gegründet, daß die spontane und freie Lebendigkeit sich als Kraft findet, welche andere Personen nach deren Freiheit bestimmt, zugleich aber erlebt, wie in ihr selbst andere Personen eine Kraft geworden sind, von der sie ihrer eigenen Spontaneität entsprechend bestimmt wird. So wird diese lebendige willentliche Art von Bestimmen und Bestimmtwerden zum Schema des Weltzusammenhangs überhaupt: sie wird gleichsam in den Weltzusammenhang selber projiziert: sie wird in jedem Verhältnis wiedergefunden, in welchem sich das Subjekt des systematischen Denkens findet, bis zum umfassendsten. Und so wird nun die Gottheit losgelöst vom Zusammenhang physischer Kausalität und als ein ihr gegenüber Herrschendes begriffen - eine Projektion der zwecksetzenden Vernunft, welche den Gegebenheiten gegenüber selbstmächtig ist. Diesen Begriff der Gottheit haben ANAXAGORAS und ARISTOTELES durch das Verhältnis der Gottheit zur Materie philosophisch bestimmt und genauer ausgedrückt. Im christlichen Begriff der Schöpfung aus dem Nichts, aus dem Nichtseienden, erhält diese personale Gottesidee ihre radikalste metaphysische Fassung; denn dieselbe drückt die Transzendenz der Gottheit dem Kausalgesetz gegenüber aus, das in der natürlichen Welt nach der Regel des ex nihilo nihil fit [von nichts kommt nichts - wp] regiert. Und in KANT wird dann diese Transzendenz Gottes für das Welterkennen, das nach dem Satz vom Grund seine Wahrheiten verknüpft, kritisch gerechtfertigt: Gott ist nur da für den Willen, der ihn kraft seiner Freiheit fordert. 3. So entsteht die Struktur, welche in diesem Typus der Weltanschauung allen Systemen gemeinsam ist. Erkenntnistheoretisch wird sich dieser Typus, sobald er sich seiner Voraussetzung nach philosophischer Methode bewußt wird, auf die Tatsachen des Bewußtseins begründen. In der Metaphysik durchläuft diese Weltanschauung verschiedene Formen. Sie tritt in der attischen Philosophie zuerst auf als Konzeption der bildenden Vernunft, welche die Materie zur Welt gestaltet. Die große Entdeckung des vom Naturzusammenhang unabhängigen begrifflichen Denkens und moralischen Wollens und seines Zusammenhangs mit einer geistigen Ordnung ist in PLATON der Ausgangspunkt dieser Konzeption und bleibt auch in ARISTOTELES die Grundlage. Vorbereitet vom römischen Willensbegriff und der römischen Anschauung eines regimentalen Verhaltens Gottes zur Welt bildet sich im Christentum die zweite Konzeption: die Schöpfungslehre. Sie wird aus den im willentlichen Verhalten erfahrenen Beziehungen eine transzendente Welt aufbauen. Die eigenen Gottesbegriffe des christlichen Bewußtseins sind das Verhältnis des Vaters zu seinen Kindern, der Umgang mit Gott, die Vorsehung, als das Symbol eines regimentalen Waltens über der Welt, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit. Ein langer Weg ist dann durchlaufen worden von da bis zur höchsten Läuterung dieses Gottesbewußtseins in der deutschen Transzendentalphilosophie. In schlanker heroischer Größe baut hier der Idealismus der Freiheit, wie es an SCHILLER am vollkommensten gesehen wird, die übersinnliche Welt auf, welche allein für den Willen da ist, weil sie von seinem Ideal des unendlichen Strebens aus gesetzt wird. 4. Diese Weltanschauung besitzt in den Tatsachen des Bewußtseins eine allgemeingültige Grundlage. Sie ist als das metaphysische Bewußtsein des heroischen Menschen unzerstörbar: in jeder großen handelnden Natur wird sie sich erneuern. Aber sie vermag ihr Prinzip nicht wissenschaftlich allgemeingültig zu definieren und zu begründen. So beginnt auch hier wieder eine ruhelose Dialektik ihr Werk, welche von Möglichkeit zu Möglichkeit vorwärts geht, unfähig doch, zu einer Auflösung ihres Problems zu gelangen. Der in Familie, Recht und Staat zweckbewußt wirksame Wille wurde vom römischen Denken in Lebensbegriffen entwickelt, und diese wurden schließlich auf angeborene Anlagen für die Lebensführung zurückgeführt. So ruhte die Sicherheit der Lebensführung auf einem Unzugänglichen und Unbeweisbaren. In einem Zirkel wurde die Regelhaftigkeit der Lebensordnungen auf nativistische Voraussetzungen gegründet, welche doch selber nur aus den Ordnungen des Lebens, aus der Übereinstimmung der Völker erwiesen werden konnten. So begründete die römische Lebensphilosophie ihren Idealismus der Persönlichkeit. Das christliche Bewußtsein bestimmte darauf als Prinzip dieses Standpunktes die Transzendenz des Geistes, seine Unabhängigkeit von allen natürlichen Ordnungen. Aber diese ist doch nur ein symbolischer Ausdruck für die Erfahrungen des Willens in der Aufopferung, in der Überschreitung des natürlichen Nexus der Motivation durch die Hingabe des Lebens, für die Kraft, der Verwirklichung einer übersinnlichen Ordnung zu leben. Das Ideal des Heiligen ist sich selber Beweis, vermag aber durch keine Formel zu einem logischen Bewußtsein erhoben zu werden. KANT und die Transzendentalphilosophie unternahmen dann, diesen idealen Willen zu bestimmen und allgemeingültig zu begründen. Ein Unbedingtes als höchste Norm und höchster Wert wurde dem Weltlauf gegenüber geltend gemacht. Der Versuch mißlang. Aber im französischen Idealismus der Person, von MAINE de BIRAN an bis auf BERGSON, in der idealistischen Form des Pragmatismus, wie sie in JAMES und verwandten Denkern auftrat, und in der großen transzendentalphilosophischen Strömung in Deutschland erneuerte er sich. Seine Macht ist unzerstörbar, und nur seine Formen und Beweise wechseln. Diese Macht beruth auf einer Lebensverfassung, welche vom handelnden Menschen ausgeht und für die Zwecksetzung eine feste Regel fordert. SCHILLER ist der Dichter dieses Idealismus der Freiheit, wie CARLYLE sein Prophet und Historiker ist:
Ging in ewigem Gefechte Einst Alcid des Lebens schwere Bahn, Rang mit Hydern und umarmt' den Leuen, Stürzte sich, die Freunde zu befreien, Lebend in des Totenschiffers Kahn. Alle Plagen, alle Erdenlasten Wälzt der unversöhnten Göttin List Auf die will'gen Schultern des Verhaßten - Bis sein Lauf geendigt ist - Bis der Gott, des Irdischen entkleidet, Flammend sich vom Menschen scheidet Und des Äthers leichte Lüfte trinkt. Froh des neuen ungewohnten Schwebens, Fließt er aufwärts, und des Erdenlebens Schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt. |