ra-3J. WachB. ErdmannG. SimmelE. SprangerW. DiltheyO. Liebmann   
 
EDUARD SPRANGER
Lebensformen
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I. Methodologische Vorbemerkungen
II. Die idealen Grundtypen
III. Die Mischung der Typen
IV. Ethische Folgerungen

"Dieser Mensch, der überall und nirgends zu finden ist, dieser aus abstrakten seelischen Funktionen zusammengesetzte Mensch interessiert uns nicht mehr; vielmehr brauchen wir einen Gesichtspunkt, der den Menschen in die Verflechtungen des geistig-gesellschaftlichen Lebens selber hineinstellt. Wir erfassen ein unübersehbares Gewimmel tausendfältiger Lebensformen: auf der Bühne des Lebens wandeln zusammen der Held, der Geschäftsmann, der Träumer, der Erzieher, der Sentimentale, der Künstler, der Demokrat, der Gelehrte, der Einsame, der Gebrochene, der Liebhaber, der Salonmensch, die Hamlets, die Lears, die Leicesters, die Napoleonen und die Cäsaren, die Narren und die Philosophen - ein unzählbares Volk."


I.
Methodologische Vorbemerkungen

Die an KANT anknüpfende kritische Philosophie hat das Verdienst, zwei Probleme zum Bewußtsein erhoben zu haben, die fortan zum unverlierbaren Bestand des philosophischen Denkens gehören werden: nämlich einerseits die Frage nach den Bedingungen der Erkennbarkeit und Bestimmbarkeit einer gegenständlichen Welt (oder gegenständlicher Welten) überhaupt, und andererseits die Frage nach den Voraussetzungen, auf denen das naturwissenschaftliche Erkennen im Besonderen beruth. In beiden Fällen liegt das Verdienst in der Aufdeckung des Problems, nicht in der endgültigen Lösung; denn wie jede Einzelwissenschaft, so ist vor allem auch die Philosophie eine unendliche Aufgabe, und auf der unaufhörlichen gegenseitigen Befruchtung von positiver Forschung und Kritik der Erkenntnis beruth der Fortschritt des Wissens, dessen Prinzip und Gesetz zwar in uns lebt, dessen Abschluß selbst uns aber nicht beschieden ist.

Das dritte Problem: die  besonderen  Voraussetzungen der Geisteswissenschaften, ist zwar mannigfach in Angriff genommen worden, jedoch selten aufgrund einer täglichen Berührung mit diesen Wissenschaften selbst; öfter in der Form des Herausspinnens von Methoden aus der formalen Logik, die dann natürlich zur Spekulation zurückführen müssen. Aber erst, wo der Kritizismus sich mit den Einzelwissenschaften zu einer gemeinsamen Arbeit verbindet, kann er produktiv werden. Ein kleines Stück dieser Verbindung herzustellen, ist auch die Absicht der folgenden Erörterungen. Da aber niemand auf so engem Raum eine allgemeine Grundlegung der Geisteswissenschaften geben kann, auch wenn ein so umfassendes Wissen überhaupt noch möglich wäre, so kommt es darauf an, das Problem an einem besonders instruktiven Punkt zu ergreifen, um von hier aus eine Anzahl wichtiger Verbindungslinien zu verfolgen. Und da von den verschiedensten Standpunkten aus immer wieder die Singularität oder Einzigartigkeit der Erscheinungen als dasjenige herausgehoben wird, was die Geisteswissenschaften grundsätzlich von den Naturwissenschaften trennt, so liegt es nahe, einen fruchtbaren Ausgangspunkt gerade an dieser Stelle zu suchen, nämlich im  Problem der Individualisierung. 

Ich will jedoch bekennen, daß ich von dieser Seite ursprünglich nicht hergekommen bin, sondern von der Anschauung konkreter Lebenstatsachen selbst. Ob man das Leben mit dem Auge des Forschers durchwandert, ob man als Mitspieler in das Gewirr seiner Geschehnisse verflochten wird oder seinen Abglanz im Spiegel der Dichtung auffängt, - überall findet man den Menschen und findet man ihn nicht. Denn "was ist der Mensch?" fragt schon, freilich in einem anderen Sinn, ein altes Psalmenwort. Alles ist menschlich, was von Menschen geschieht und erfahren wird. Aber was der Mensch selbst ist, das möchte wohl unsere Zeit noch viel weniger als irgendeine frühere sich auszusprechen getrauen. Das Platonische:  autos ho anthropos kath auton  auch nur im Sinne eines umschreibbaren Begriffs oder einer leidlich realisierbaren Anschauung, entschwindet in nebelhafte Fernen, wenn wir es zu haschen suchen. Bisweilen begegnet uns auf dem Boden desselben Parketts eine Natur, die einer uns äußerlichen fremden Welt entstammt, und doch kann sie uns wie ein Verwandtes, lange Gekanntes berühren; bisweilen geht jahrzehntelang ein Mensch neben uns her: aber die Mauer bleibt, die uns von ihm scheidet, und schon ein tieferer Blick in seine Welt macht uns erstarren. Wir nennen diese fortschreitende Differenzierung des modernen Menschen seinen Individualismus und forschen nach der Abwandlung der Individualitäten. Der Begriff  Individualität  aber, der über LEIBNIZ und MARSILIUS FICINUS aus PLATOs  Phaidon  herzustammen scheint, deckt durch seine naturwissenschaftliche Symbolik die Erscheinung nicht, die hier gemeint ist. Wir meinen auch nicht ein bloßes Ansicht der Seele, das als formendes Prinzip in die gemeinsame Welt der Gegenstände hineingestellt wäre, sondern wir meinen den Menschen in seiner mannigfachen Verflechtung mit den Inhalten des Lebens selbst, das unlösbare Produkt von beiden: der natürlich-geistigen Welt und der geheimnisvoll formenden und geformten Individualität. Dieses Ganze aber in seinem organischen Zusammenhang nennen wir eine  Lebensform. 

Die Art, wie wir uns denkend mit den mannigfachen Lebensformen in Berührung setzen, bezeichnen wir als  Verstehen Noch ehe wir etwas vom logischen und methodologischen Charakter dieses Verfahrens wissen, können wir wohl dies sagen, daß es sich dabei um eine stark individualisierende Auffassung handelt, insofern ihr Gegenstand konkret  hic et nunc [hier und jetzt - wp] erscheint, unter den Bedingungen von Raum und Zeit, die bekanntlich eine ganz besondere und mit dem Begrifflichen zunächst nicht vergleichbare Seinsweise begründen. Und auf gleicher Linie steht das im Hintergrund auftauchende Problem, ob einer solchen Individualisierung der Lebensformen gegenüber die kantische Ethik mit der strengen Allgemeinheit ihrer Gesetzgebung noch anwendbar sein wird. Dies also ist der Ausschnitt von Problemen, der im folgenden zur Verhandlung kommen soll: ein Stück "Naturgeschichte der Menschheit", ein Stück aus der Theorie des Verstehens, und ein Stück Ethik, sofern sie unmittelbar an das Vorangehende anknüpft.

In einer Theorie des Verstehens würde, wenn sie ausgeführt wäre, fast die ganze Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften enthalten sein. Das Ganze kann hier nicht gegeben werden, sondern Gegenstand der Untersuchung ist die Leistung des Verstehens in der Auffassung der Lebensformen. Greifen wir nun zunächst in das populäre Bewußtsein hinein: wir erfassen ein unübersehbares Gewimmel tausendfältiger Lebensformen; auf der Bühne des Lebens wandeln zusammen der Held, der Geschäftsmann, der Träumer, der Erzieher, der Sentimentale, der Künstler, der Demokrat, der Gelehrte, der Einsame, der Gebrochene, der Liebhaber, der Salonmensch, die Hamlets, die Lears, die Leicesters, die Napoleonen und die Cäsaren, die Narren und die Philosophen - ein unzählbares Volk. Und doch löst jeder dieser Namen in uns einen unmittelbaren Reflex aus: wir verstehen, was jeder von ihnen sagt. Tragen wir nun wirklich nach dem Muster von PLATOs vielköpfigem Tier dieses ganze Kabinett von Geschöpfen, einschließlich aller künftig denkbaren, in uns herum, oder beziehen wir, sowie wir die Fülle denkbarer geometrischer Figuren auf eine begrenzte Anzahl von Normalfiguren zurückführen und an ihnen messen, auch diese unzählbaren Individua auf bestimmt kontruierte Typen gesetzlicher Art zurück?

Der erste Standpunkt wird von denen vertreten, die das Verstehen für eine ganz unmittelbare Erkenntnis, gleichsam für ein restloses Einswerden von Subjekt und Sache halten. Sie sind geneigt, aus diesem Prozeß des Verstehens alles Kategoriale entfernt zu denken und eine völlige Koinzidenz [Übereinstimmung - wp] des geistigen Objektes mit dem Subjekt anzunehmen. So heißt es in einem neueren Werk:
    "Das Verstehen wird in sich selbst begriffen und ist aus sich selbst heraus vollkommen klar; es erweist sich aber als das, was es ist, an der Sache, die es durchdringt, am Inhalt, den es in sich aufgenommen hat und mit dem absoluten Befehl ausstattet, daß dieser Inhalt der Wirklichkeit entspricht." (1)
Auch der Begriff der Identifikation der Selbststellung bei MÜNSTERBERG ruht auf dieser Grundansicht. Daran ist nun natürlich etwas Richtiges: einmal insofern, als das Verstehen fremder Lebensformen zunächst in ganz unreflektierter, scheinbar einheitlicher Akt des Auffassens ist, wie auch das Sehen, das Urteilen und Schließen, ehe sie zu erkenntnistheoretischer Besinnung erhoben sind; andererseits insofern, als auch der zu einem kritischen Bewußtsein erhobene Erkenntnisakt zuletzt seine Evidenz, das Zwingende, in sich selbst tragen muß, ganz wie wiederum das Sehen, das Urteilen und Schließen. Aber schon aus der letzten Andeutung folgt, daß es zuvor doch einer Analyse dieses Aktes bedarf, und daß auch das Verstehen in eine Anzahl unterscheidbarer Momente auseinandergelegt werden kann, von denen wir hier nur einige Seiten herausheben.

Es ist - und darin hat der andere Standpunkt seine Grundlagen - von BENNO ERDMANN (2) durch eine ausführliche Analyse des Apperzeptionsvorgangs beim Verstehen nachgewiesen worden, daß es durchaus alle Merkmale an sich trägt, die den Erkenntnisvorgang auszeichnen; es gleicht nicht nur insofern der Apperzeption überhaupt, als in ihm neue Gegebenheiten durch früher gebildete Zusammenhänge aufgefaßt und eingeordnet werden, sondern es lassen sich in ihm wie bei jedem Erkennen apriorische Faktoren von den nur empirischen sondern. Es soll nun von denjenigen Erkenntnisbestandteilen, die das Subjekt an den Erfahrungsstoff heranbringt, hier alles ausgeschieden werden, was seinerseits auch wieder nur eine Ablagerung früherer Erfahrungen ist. Beim Verstehen, das in so hohem Maß von der tatsächlichen Lebenserfahrung abhängt, wird das nicht wenig sein. Was dann übrig bleibt, will ich als  kategoriale Bestandteile  bezeichnen, den Begriff freilich weiter und anders fassend als KANT. Sie sind selbst nicht eigentlich Erfahrungs stoff;  die Ausdrucksweise andererseits, daß sie  vor  aller Erfahrung sind, führt leicht irre. Wir werden als nur die sagen, daß sie für jede Erfahrung auf diesem Gebiet leitend sind und daß jeder Stoff sich ihnen einordnet und unterordnet. Und eben deshalb kommen sie erst an der Erfahrung zum Bewußtsein. Aber sie sind eine Ausstattung des nach dieser Richtung erkennenden Bewußtseins und bestimmen deshalb alles, was überhaupt in geordneter Form zum Bewußtsein kommen kann. Sie sind im Lebensbewußtsein selbst enthaltene Auffasungsformen, denen sachliche Zusammenhänge in der Struktur des Geisteslebens korrespondieren.

Hierhin gehören nun beim Verstehen zunächst Erkenntnisformen von ganz allgemeiner Bedeutung. Von ihnen soll hier nicht die Rede sein, da sie gemeinschaftliche Grundlagen aller oder zumindest mehrerer Wissenschaften bilden: also die für die Erfahrungswelt grundlegenden Ordnungsformen der Räumlichkeit und Zeitlichkeit, die Kategorien der Kausalität, Substantialität, Quantität, Qualität usw. Wenn ich die Handlungsweise eines historischen Menschen "verstehen" will, so bin ich keineswegs "unmittelbar" in ihm drin, sondern ich muß ihn an seinem Ort, zu seiner Zeit, in seiner besonderen Art als ein Wesen lokalisiert denken, ehe ich zur Erörterung seiner Geistesbestimmtheit übergehen kann. Darin steckt eine eigene Welt von Problemen.

Uns aber interessiert allein derjenige Überschup an Kategorien, der für die Grundlegung anderer Wissenschaften noch nicht in Betracht kommt, vielmehr spezifisch geisteswissenschaftlicher Art ist. Und auch hier wollen wir uns beschränken auf die Aufgabe, Lebensformen zu verstehen, d. h. zunächst die Besonderheit einzelner Menschen, als hätten wir nur die Aufgaben des Biographen im Auge. Schon der Ausdruck "Lebens form"  deutet darauf hin, daß wir hier keine beliebige zufällige Kombination von Eigenschaften usw. annehmen, sondern daß wir eine Notwendigkeit des inneren Zusammenhangs voraussetzen, durch die das Anschaulich-Konkrete überhaupt erst verständlich wird. In diesen  Voraussetzungen  aber sind nun offenbar diejenigen kategorialen Formbestimmtheiten enthalten, denen wir nachspüren.

Ein Beispiel: wir reden ROUSSEAU, als Biographen oder als Historiker überhaupt. Dem reinen Empirismus entspräche es auf dem Gebiet des Verstehens, wenn wir ihn nur in der konkreten Fülle seiner Situationen und Äußerungen zeichnen würden, fast fotografisch getreu. Das ist die  nichtdenkende  Geschichtsschreibung, die vielleicht noch fleißiger geübt würde, als es tatsächlich der Fall ist, wenn nicht dieses Bemühen ins Uferlose führen müßte. Die Verwechslung von Materialsammlung und Geschichtsschreibung ist trotzdem nicht selten. Indem aber die Frage herausspringt, was denn nun an dieser Fülle das Wesentliche ist und wie dieses Wesentlich unter sich zusammenhängt, in diesem Augenblick werden leitende Kategorien sichtbar. Sie wechseln mit der Fragestellung: ROUSSEAU in der Geschichte der Romanliteratur sieht anders aus und ist in anderer Hinsicht wesentlich als in der Geschichte des politischen Denkens oder der Musik. Aber um dieser wechselnden Vielheit zu entgehen, haben wir unsere Fragestellung zugleich eingeschränkt und ausgedehnt auf die Ergründung der  Lebensform,  d. h. auf etwas Typisches an ihm. Sofern wir ihn nach dieser Richtung betrachten, tritt eigentlich mehr zurück, daß er ein Mann des 18. Jahrhunderts war (wennschon es nicht ganz verschwinden kann). Es handelt sich dann um diese individuelle Natur, die doch, sofern ihr Besonderes  ausgesprochen  werden kann, auch wieder unter einen allgemeinen Gesichtspunkt fallen muß. Nun ist die Frage, welche Seite denn eigentlich an diesem  Proteus  die herrschende war, oder um welches bleibendes Zentrum er sich etwa bewegte. Soll man es suchen in seiner politischen Stellung, die die französische Revolution befruchtet hat? Oder in der geschichtsphilosophischen Theorie, mit der er seine Schriftstellerlaufbahn begann? Oder ist die mitleidsvolle Menschenliebe das Herz seines Daseins? Ja, vielleicht liegt der Schlüssel in der seltsamen Reaktion seiner träumerischen Gefühlswelt, so daß wir ihn am reinsten da fassen würden, wo er Künstler ist und seine Art zu erleben in der Form dichterischen Bekennens von sich haucht? Irgendwie wird man sich entscheiden müssen, und wäre es auch nur in  der  Form, daß man zwei oder drei dieser Seiten zu einer Gesamtstruktur dauernd ineinander wirken ließe. Was so entsteht, ist nicht eigentlich der historische ROUSSEAU (im Sinne der von manchen für möglich gehaltenen "reinen" Erfahrung) -, ihn fängt keine Geschichtsschreibung in ihre Netze - sondern der  aufgefaßte ROUSSEAU, d. h. aber auch  der ROUSSEAU, der für die Wissenschaft allein in Betracht kommen kann. Denn Wissenschaft ohne eine Auffassung, ohne leitende Gesichtspunkte und Kategorien ist keine Wissenschaft. Sie muß also, und auch dann, wenn sie ROUSSEAU nur als ein Glied der Entwicklung des 18. Jahrhunderts einordnen will, die  Lebensform  dieses Mannes, seine Struktur und sein Zentrum erkennen.

Der Historiker vollzieht diese Arbeit in der Regel unbewußt. Der Erkenntnistheoretiker aber lernt an dieser seiner Arbeit wiederum die kategorialen Bestandteile. Auf sie weit mehr als auf den Stoff richtet sich  sein  Interesse. Nachdem also die Geschichtsschreibung bereits einen gewissen Stand erreicht hat, kann nunmehr die allgemeine Frage aufgeworfen werden, welche Kategorien zur Beurteilung der Lebensformen maßgebend sind. Ganz wie KANT die mathematische Naturwissenschaft voraussetzen mußte, um ihre leitenden Grundsätze herauszulösen.

Damit verlassen wir für eine längere Zeit die Theorie des Verstehens als solche und wenden uns zunächst der  Theorie der Lebensformen selber  zu, als einem Stück geisteswissenschaftlicher Probleme, vielleicht könnte man sie auch ein Stück komplexer, geisteswissenschaftlicher  Psychologie  nennen.

Indem wir diesen Namen aussprechen, bietet sich also zunächst die Psychologie als eine Führerin auf diesem Gebiet an. Bei der Vieldeutigkeit ihres Namens erscheint hier aber auch eine Psychologie, die nicht weit genug trägt. Wollen wir die Menschen nur nach den verschiedenen seelischen Funktionen klassifizieren? Der Versuch ist nicht neu (3); schon aus der alten Lehre von den Seelenvermögen reicht die Einteilung der Lebensformen in Gefühls-, Willens- und Verstandesmenschen herüber. Den ersten Typus mag man dann durch die uralte Temperamentenlehre noch weiter einteilen. NIcht die Unbestimmtheit der Grenzen macht diesen Gesichtspunkt für unsere Zwecke untauglich. Sein Vorzug ist der, daß er sozusagen für  den  Menschen überhaupt gilt, ganz unabhängig von den Unterschieden der Zeiten und den Besonderheiten der Kulturlage. Aber darin liegt auch seine Grenze: eben dieser Mensch, der überall und nirgends zu finden ist, dieser aus abstrakten seelischen Funktionen (wie man ihre Zahl auch erweitern mag) zusammengesetzte Mensch interessiert uns nicht mehr; vielmehr brauchen wir einen Gesichtspunkt, der den Menschen in die Verflechtungen des geistig-gesellschaftlichen Lebens selber hineinstellt, oder, um eine alte Ausdrucksweise zu gebrauchen: der den subjektiven Geist sogleich in seiner Beziehung zum objektiven Geist darstellt.

Auch dieser Anforderung genügen gewisse vorhandene Typen: der Mensch des 18. Jahrhunderts, der Kleriker des Mittelalters, der Mensch der Naturalwirtschaft oder der Feudalverfassung, der Grieche in den Tagen des PERIKLES, das alles sind ebenfalls allgemeine Typen. Aber in sie ist wieder  zuviel  Erfahrung und  zuviel  geschichtliche Anschauung eingegangen, als daß sie den Anspruch auf eine allgemeine kategoriale Bedeutung machen könnten. Mit demselben Recht könnte man die Lebensformen nach der Unzahl der Berufe einteilen: Kaufleute, Gelehrte, Politiker, Juristen, Künstler, Landwirte: auch diese Gesichtspunkte können brauchbar werden, nur nicht für eine  allgemeine  geisteswissenschaftliche Theorie der Lebensformen, die auf Prinzipien, nicht auf bloßer Sammelarbeit ruhen soll.

Wir befinden uns hier an einem wichtigen Entscheidungspunkt der Methode, insofern einerseits die Gefahr naheliegt, in der Mannigfaltigkeit möglicher Lebensformen jeden leitenden Gesichtspunkt zu verlieren, andererseits aber die noch größere Gefahr, aus irgendwelchen spekulativen Gesichtspunkten, die der Sache selbst fremd sind, eine Einteilung der gesuchten Typen rein konstruktiv zu vollziehen.

KANT durfte sich an einem ähnlichen Wendepunkt auf die Tatsache bestehender Wissenschaften und auf eine (freilich auch diskutable) Anzahl von Grundformen des Urteils berufen. Wir haben es deshalb schwerer, weil die bestehenden Geisteswissenschaften über Aufgabe und Methode keineswegs einig sind. Doch öffnet sich uns ein verwandter Weg:

Wenn die gesuchten Kategorien, durch die die Lebensformen voneinander gesondert werden können, nicht bloß subjektive Denkbehelfe sind, sondern zugleich konstitutiv für die Wirklichkeit, so müssen sich diese grundlegenden Unterschiede im Laufe der allgemeinen geistig-gesellschaftlichen Entwicklung in der Weise wirksam betätigt haben, daß sie ganz spezifische Gebilde und Strukturen herausgearbeitet haben, in denen die betreffenden geistigen Seite gleichsam vergrößert erscheinen. Oder  besser  umgekehrt (d. h. analytisch, statt synthetisch) -: in den gesonderten Geistesgebieten, die sich im Laufe der Kulturentwicklung immer deutlicher differenziert haben, liegt ein Hinweis auf Formprinzipien, die in langsamer Wirkung und Entwicklung diese eigenartigen Gebilde erzeugt haben, wie sie heute als massive Kultursysteme vor uns liegen. Reduktion dieser Geistesgebiete auf ihr grundlegendes Prinzip muß also zugleich diejenigen geistigen Grundmotive zeigen, die im einzelnen Menschen wirksam sind, insofern er an jedem dieser Gebiete in höherem oder geringerem Grad teil hat und in sie verflochten ist.

Es ist hier nicht möglich und nicht erforderlich, diese Methode in ihrem ganzen Umfang zu begründen. Ihr wesentlichstes Merkmal ist dies, daß sie nicht individualpsychologisch und nicht spekulativ ist, sondern daß sie die Einzelseele in einer Verflechtung mit der objektiven Kultur beläßt und gerade das  Band,  das Kultur und Einzelleben zusammenhält, nach seinen wichtigsten Hauptformen kennenzulernen sucht. Beide werden nicht im Verhältnis von Makrokosmos und Mikrokosmos gedacht, also z. B. nicht der Staat als Mensch im Großen. Wohl aber wird die Voraussetzung gemacht, daß dem Prinzip, das den Staat als Ganzes erzeugt und trägt, ein bestimmt verwandtes Prinzip im Individualbewußtsein entspricht. So wenig die wissenschaftliche Methode auf Abstraktionen verzichten kann, so wichtig ist es doch für die Geisteswissenschaften, an  dieser  Stelle zunächst keine Abstraktion mehr treten zu lassen: die Geschichte der Wissenschaft lehrt, daß weder die Annahme abstrakter Individuen, noch die metaphysische Hypostasierung objektiver Kulturgebilde unter Abstraktion von ihrem erlebten Reflex in der Einzelseele für die wissenschaftliche Forschung selbst auf die Dauer genügt. Wir zerschneiden also  diesen  Lebensfaden nicht, sondern lassen Individualpsyche und die sogenannte Sozialpsyche ungetrennt, behalten uns aber vor, diese Verschlingungen selbst auf  abstrakte  einfache Grundprinzipien zurückzuführen, so einfach, wie sie in der Wirklichkeit natürlich nie anzutreffen sind.

Demnach wäre also die nächste Frage, welche objektiven Kulturgebiete als selbständig gelten können. Die Aufzählung, die ich im Folgenden gebe, bedarf natürlich ausführlicher Diskussion durch die ganze weitere Darstellung und erscheint zunächst rein dogmatisch. Übrigens hängt die Absicht des Ganzen und das Grundverfahren nicht davon ab, ob man die Aufzählung für vollständig hält. Selbständige Gebiete des Kulturlebens sind:  Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft, Staat, Kunst, Religion Nicht selbständig - als Kulturgebiete - sind Recht, Sittlichkeit (4), Erziehung. Man wird sich hier an ähnliche Einteilungen bei SCHLEIERMACHER und HERBART erinnert finden. SCHLEIERMACHER kennt vier Kulturgebiete oder Lebenskreise, nämlich das an 1., 3., 4. und 6. Stelle genannte, wobei freilich die Gesellschaft als "freie Geselligkeit" und die Religion sogleich in der Kirche  organisiert  erscheint, während das 2. und 5. Gebiet ganz fehlen. HERBART kommt von seinen fünf sittlichen Ideen auf fünf Kultursysteme, die jedoch nicht am geschichtlichen Leben selbst entwickelt sind und deshalb hier nicht näher erörtert werden sollen.

Die von uns aufgestellten  sechs  Gebiete sind mit den Namen benannt, die sie in der allgemeinen Terminologie tragen. Es ist aber damit nicht gesagt, daß diese Namen ihren ganzen Inhalt und ihre eigentliche Bedeutung decken. Es ist also nötig, zunächst ganz kurz das Prinzip zu formulieren, wodurch jedes dieser Gebiete sich als selbständig und unvertauschbar darstellt. Darin liegt natürlich ein Maximum an Abstraktion. Die  Wissenschaft  ist die Herausarbeitung der objektiven Welt in einem geistigen System, dessen mannigfache Bestandteile mit dem Gesamtnamen  Erkenntnis  befaßt werden können, sofern man unter ihn auch das reine Denken einbezieht. Die  Wirtschaft  vertritt und das System der Erzeugung objektiver austauschbarer Güter und damit die Gesamtheit der durch Arbeitsteilung erzeugten Berufskreise, sofern sie nicht unter einen der fünf anderen Gesichtspunkte gehören. Der größte Teil des Erwerbslebens in seinem Wechsel von Produktion und Konsumtion fällt unter diesen Titel. Die  Gesellschaft  ist das System, das durch die auf Trieb oder Reflexion beruhende Zweckgemeinschaft (Kooperation) unter Menschen erzeugt wird und je nach dem Inhalt des wirkenden sozialen Motivs höchst verschiedene Formen annehmen kann. Wenn wir hiervon in der Abstraktion den  Staat  sondern, so muß durch ihn ein wesentliches Moment repräsentiert sein, das in ihm am entwickeltsten in Erscheinung tritt. Dieses Moment ist die  Macht  von Menschen über Menschen, wodurch kraft mannigfacher Mittel die Willensrichtung der einen den andern aufgenötigt wird, während die Gesellschaft,  abstrakt  betrachtet, nur die freie Interessengemeinschaft ohne diesen modifizierenden Faktor bedeutet. In der  Kunst  tritt jene Umbildung der Wirklichkeit am deutlichsten hervor, die in weniger entwickelten Vorstufen durch das allgemeine  Phantasieleben  erfolgt, nämlich eine Beziehung der gegenständlichen Inhalte auf subjektive Gefühlswerte im Gegensatz zu den rein objektiven Erkenntnisformen des ersten Systems. Die  Religion  schließlich als objektives Gebilde in ihrer reinsten Entfaltung bezieht die Totalität des Lebens auf einen höheren Zusammenhang der Dinge, durch den der geistige Zustand der  Erlösung  bewirkt wird, oder in der religiösen Sprache: der Friede Gottes. - Wir können daher auch andere und zugleich weitere Namen einführen, nämlich:  Erkenntnissystem, Erwerbssystem, Zweckgemeinschaftssystem, Machtsystem, Phantasiesystem  und  Erösungssystem. 

Wie man sieht, handelt es sich in allen diesen Systemen um ausgesprochene  Zweck richtungen, teleologische Zusammenhänge. Das wesentliche aller geisteswissenschaftlichen Einsicht aber ist dies, daß keine dieser Zweckrichtungen anders als in der Abstraktion für sich selbständig gedacht werden kann. Vielmehr greifen alle diese Zwecksysteme ineinander und durcheinander. Sie befinden sich in einer organischen Verlagerung und Verschlingung; am engsten das System der Gemeinschaft und der Macht; aber keins kann völlig ohne die anderen realisiert werden: z. B. gibt es keine Religion ganz ohne Gemeinschaftsbildung und kirchliche Organisation, keine ohne Erkentnis der Wirklichkeit, wirtschaftliche Grundlagen und begleitende Phantasiebildungen. Die Totalität des Lebens wirkt in jedem Kultursystem, und nur der höchste Beziehungspunkt eines jeden wird jeweilig abstrakt herausgehoben. Darin liegt einerseits die besondere Schwierigkeit des geisteswissenschaftlichen Erkennens - und diese ganze Untersuchung bildet ja nur ein Stück des Erkenntnissystems - andererseits aber liegt nun in der Auffassung der  besonderen  Art der Verschlingung und Verlagerung der Fortschritt des Erkennens zu den konkreten Geistes- und Kulturgebilden.

Aber nicht ihnen gilt ja eigentlich unsere Untersuchung, sondern den  Lebensformen.  Und wir setzten voraus, daß diese sechs geisteswissenschaftlichen Grundkategorien, die die Kultursysteme voneinander scheiden, zugleicht Hinweise enthalten auf die besondere Struktur und die Arten der einzelnen Lebensformen. Denn da ja der Einzelne nur im Zusammenhang dieser individuellen Kulturbedingungen (gleichsam im Schoß des objektiven Geistes) existiert, so wird er auch durch entsprechende Verzahnungen mit dem ganzen Gefüge verbunden sein: auch in ihm werden sich also diese Grundrichtungen des teleologischen Verhaltens wiederfinden, und es wird vielleicht möglich sein, von ihnen aus einige abstrakte Grundformen des Einzellebens zu finden, wie sie selbst abstrakte Grundformen des Kulturlebens bedeuten.

Wer gewöhnt ist, sich mit lebendiger Seele und einem Anflug ästhetischer Freude den Reichtum menschlicher Naturen zu versenken, dem wird diese Arbeit wie eine trostlose Entseelung erscheinen. Unsere Aufgabe aber ist eine  methodische:  sie soll der Wissenschaft und Philosophie des Geistes dienen, nicht der Anregung der Phantasie. Überdies wird sie jener lebendigen Auffassung die Grundrichtungen zeigen, von denen auch sie unbewußt geleitet ist: denn ob das Erkennen auf das Leben angewandt wird oder rein theoretisch ist - als Erkennen bewegt es sich in festen Bahnen; sie also müssen wir finden.

Aber noch sind unsere methodologischen Erwägungen nicht beendet. Angenommen nämlich, es sei möglich, den bezeichneten Geistesgebieten entsprechend sechs Grundtypen der Lebensformen zu konstruieren, den  theoretischen  Menschen, den wirtschaftlichen, Menschen, den sozialen Menschen, den Machtmenschen, den Phantasiemenschen' und den  religiösen Menschen,  so haben wir damit nur Überschriften, aber noch keinen Einblick in die innere Struktur dieser Lebensformen. Diese innere Struktur wird der inneren Gliederung jener Zwecksysteme irgendwie korrespondieren. Deshalb ist unsere Aufgabe nur zu erfüllen, wenn wir zunächst die ideale Struktur der betreffenden Kulturgebiete charakterisieren. Dies geschieht in der Form, daß wir hypothetisch und abstrakt den sie beherrschenden Zweck absolut setzen und sodann in einem Verfahren, das vorwiegend deduktiv aus unserem totalen Lebensbewußtsein folgert, prüfen, wie sich die anderen fünf Zweckrichtungen diesem Gipfelzweck unterordnen, nebenordnen und eingliedern. Jeder Zentralzweck wirkt gestaltend und strukturell formend auf die ihm sekundären Zweckzusammenhänge. Diese Untersuchung werden wir der Kürze halber sogleich an der korrespondierenden Lebensform durchführen. Also beginnen wir jeden Teil mit der definitorisch formulierten Struktur des Gebietes, z. B. der Erkenntnis (A), setzen den theoretischen Menschen als den ihm korrespondierenden einseitigen (so nirgends vorfindbaren) Individualtypus und verfolgen dann, welche Bedeutung für diesen Menschen das wirtschaftliche, das soziale, das politische, das ästhetische und das religiöse Moment hat (B). So  mutatis mutandis [unter vergleichbaren Voraussetzungen - wp] in jedem weiteren Teil. Dabei berühren wir natürlich das Gebiet von sechs mehr oder weniger entfalteten Geisteswissenschaften: die Erkenntnistheorie, die Ökonomik, die Soziologie, die Politik, die Ästhetik und die allgemeine Religionswissenschaft. Man braucht diese Namen nur zu nennen, um einzusehen, daß es sich hier nicht um methodisch so sicher fundierte Disziplinen handelt, wie etwa die auf Mathematik ruhenden Wissenschaften. Außerdem liegt es im Wesen der Philosophie, daß sie nicht nur gegebene Ansichten und Resultate übernimmt, sondern, aufgrund einer Überschau über den Totalzusammenhang, auch hier und da abändernd, ratend, neuernd eingreift. Nur darf diese Erhebung über das wirkliche Verfahren der Einzelwissenschaften nie bloß bis zur formalen Spekulation führen. Wenn also auch selbstverständlich z. B. der Nationalökonom hier nicht das Ganze seiner Methoden, Interessen und Gesichtspunkte wiederfinden kann, schon weil er heute nicht mehr, wie etwa die klassische Epoche seiner Wissenschaft, bis zu diesem Grad der Abstraktion zurückgeht, so muß doch zumindest das zur Sprache kommen, was die Ökonomik zur Ökonomik macht. Denn durch dieses Moment unterscheidet sie sich von der Soziologie oder der Politik, wie etwa die Erkenntnis durch ein Spezifisches von ästhetischem oder religiösem Verhalten geschieden sein muß. Es ist wahrscheinlich, daß bei einem solchen Abgrenzungsversuch, der übrigens zu den wesentlichsten ungelösten Aufgaben der Geisteswissenschaften gehört, manche einseitige Entscheidung aus dem Bewußtsein des Verfassers heraus mit unterläuft. Deshalb sei es wiederholt, daß von den besonderen Gesichtspunkten, die im folgenden maßgebend werden, der Ertrag des Ganzen nicht abhängt; vielmehr allein davon, daß das Problem überhaupt einmal in seiner ganzen Verzweigung aufgerollt wird und ein gemeinsamer Boden für weitere Arbeit entsteht.

Wir werden uns aber nicht damit begnügen dürfen, die bezeichneten, einseitigen und extremen,  nur  konstruierten Lebensformen abzuleiten, wenn wir nicht in einer solchen Lebensferne bleiben wollen, daß der Methodik der geisteswissenschaftlichen Arbeit zuletzt doch nichts Positives hinzugefügt wird. Vielmehrt werden wir dem Grundtypus die wichtigsten Schattierungen (C) anreihen müssen und zwar derart, daß unsere Einteilung zuletzt keinen wesentlicheren Typus ganz ausläßt. Dabei ist aber eine weitere Gefahr zu verhüten. Der Theoretiker der sich dem Tpyus I unvermeidlich annähert, ist in Versuchung, diese Unterteilung von fertigen Begriffen aus zu vollziehen, so wie etwa KANT sein Schema von  Quantität, Qualität, Relation  und  Modalität  auch da angewandt hat, wo es dem Stoffgebiet nicht ohne Gewalt und ärgerliche Vieldeutigkeit aufgezwängt werden konnte. In unserem Fall ist die Gefahr noch größer, weil unsere Aufgabe nicht auf dem Gebiet bloßer Erkenntniskritik liegt, sondern auf die Fülle des Lebens bezogen werden soll. Die Begriffsbildung darf also nicht aus einer bloß logischen Division und Partition erfolgen, die für alle sechs Lebensgebiete die gleichen Maßstäbe lieferte, sondern jedes Gebiet muß wiederum in der Besonderheit seiner Struktur genommen werden und aus ihr müssen die Schattierungen des Grundtypus folgen. Man kann z. B. das soziale Gebiet nicht nach denselben Gesichtspunkten behandeln wie das Gebiet des Erkennens; sondern es muß von der Besonderheit der sozialen Verbände ausgegangen werden. Diese aber können wieder nach verschiedenen Gesichtspunkten eingeteilt werden, z. B. nach dem psychologischen Motiv, das dem Verband zugrunde liegt, oder nach dem Umfang, den er als fertiges Gebilde hat. Das sind dann wieder Einteilungsgründe, die sich etwa nicht auf die Religion übertragen lassen. Andererseits aber gehen doch auch diese differenten Einteilungen von Begriffen aus, nicht nur von vorgefundenen Varietäten. Und gewisse  äußerliche  Verwandtschaften der Einteilungsprinzipien werden sich finden. Es sei deshalb zum Schluß bemerkt, daß wir fünf heuristische Prinzipien anwenden werden: die Einteilung nach dem Maß von Spontaneität und Rezeptivität, nach den gegenständlichen Inhalten, nach der Art und Methode ihrer Gestaltung durch das Subjekt, nach dem Umfang dieser Aneignung und Bearbeitung, schließlich nach dem Gegensatz; daß wir aber auf dieses Mittel der Komposition und Darstellung kein entscheidendes Gewicht legen. Es ist vielmehr nur deshalb zur Anwendung gekommen, weil in den betreffenden Einzelwissenschaften noch keine so einheitliche, allgemein anerkannte Gliederung des Gebietes herrscht, daß wir uns an diese anlehnen könnten.

So müssen dann also in dieser Untersuchung, wenn sie wirklich nicht den Charakter eines Essays, sondern wissenschaftlicher Forschung und systematischer Darstellung tragen soll, die fundamentalen Fragen der Geisteswissenschaft überhaupt zur Sprache kommen, nämlich diejenigen Kategorien und Gesichtspunkte, die den Prozeß des Verstehens durchziehen und ihn zu einem Erkenntnisprozeß machen. Und wir werden sehen, daß sich auch für die Ethik, von deren Aufgaben wir bisher geschwiegen haben, daraus neue Gesichtspunkte ergeben.
LITERATUR - Eduard Spranger, Lebensformen, Festschrift für Alois Riehl, Halle a. d. Saale 1914
    Anmerkungen
    1) WALTHER KÖHLER, Geist und Freiheit, Tübingen 1914, Seite 91, auch 85.
    2) BENNO ERDMANN, Erkennen und Verstehen, Sitzungsberichte der Berliner Akademie, 1913
    3) Die Einteilung des ARISTOTELES in den  bios apolaustikos [Leben der Lust - wp], praktikos und  theoretikos  fällt  ungefähr  damit zusammen.
    4) Hierüber habe ich vor kurzem noch anders gedacht. Vgl. "Über die Stellung der Werturteile in der Nationalökonomie",  Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung und Verwaltung,  Aprilheft 1914.