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ALFRED LEHMANN
Die Hypnose

"Wir können eigentlich niemals eine Ursachenkette auf psychischem Gebiet finden; unsere Empfindungen gehen und kommen, ohne daß wir in der einen die Ursache zur nachfolgenden finden können. Deshalb suchen wir beständig die Ursache des augenblicklichen Bewußtseinszustandes außerhalb uns selbst, das heißt außerhalb des Bewußtseins selbst, und deshalb werden wir genötigt, in einer physischen Außenwelt die eigentliche Ursache des Wechsels der Bewußtseinsphänomene zu suchen."

"Wir treffen in unserem Bewußtsein fortwährend nur Empfindungen und Vorstellungen mit den daran geknüpften Gefühlstönen, Lust und Unlust, wir treffen nicht zugleich eine Menge  Willen. Schon der Sprachgebrauch muß daher den Verdacht rege machen, daß die gewöhnliche Dreiteilung der Psychologie nicht logisch ist; der Wille läßt sich nicht mit Empfindungen und Gefühlen in eine Reihe stellen; denn während diese Worte elementare Bewußtseinszustände bezeichnen, ist dies mit dem Wort  Wille durchaus nicht der Fall."

"Ich lege ein 20 Gramm schweres Gewicht in jede Hand und wende mit geschlossenen Augen meine ganze Aufmerksamkeit auf die Empfindung der rechten Hand; den Druck in der linken Hand bemerke ich dann gar nicht mehr. Die Konzentration der Aufmerksamkeit kann daher schwerlich etwas anderes bewirken, als daß Empfindungen entstehen, unterschieden werden, die sonst nicht aufkommen würden."


V o r w o r t

Als ich meine Untersuchungen anfing, versuchte ich es, die cartesianische Theorie über das Verhältnis zwischen Geist und Körper durchzuführen, da sich diese bisher vollständig ausreichend erwiesen hat, um die Äußerungen des normalen Seelenlebens zu erklären; ich kam aber bald zu der Einsicht, daß eine einheitliche Erklärung der hypnotischen Erscheinungen nach bekannten physiologischen und psychologischen Gesetzen unter dieser Voraussetzung unmöglich war. Die erwähnte Theorie ließ sich wohl bis zu einem bestimmten Punkt durchführen, aber von da an stand sie ganz machtlos; eine Erklärung des Tatsächlichen ließ sich nur mittels einer Reihe sonderbarer Hilfshypothesen geben, wodurch ich bald dazu geführt wurde, an meiner theoretischen Grundlage zu zweifeln. Ich sah mich also genötigt, dieselbe einer eingehenden Kritik zu unterwerfen, und das Resultat hiervon wurde die, in der Einleitung der vorliegenden Arbeit skizzierte Ansicht, welche der "psychophysische Materialismus" genannt worden ist. Dieselbe liegt, mehr oder weniger deutlich ausgesprochen, vielen psychiatrischen und psychophysischen Arbeiten der neueren Zeit zugrunde, und meine Darstellung enthält insofern nichts Neues; ich habe es jedoch vorgezogen, sie gleich anfangs auseinanderzusetzen, um über die theoretischen Voraussetzungen im Reinen zu sein.

Der Name "psychophysischer Materialismus" ist zum Teil irreführend, weil sich hierunter prinzipiell verschiedene Theorien verbergen können. Was ich darunter verstehe, stimmt in allem Wesentlichen mit der Ansicht MÜNSTERBERGs, dessen Schriften mir erst später in die Hände gekommen sind, so daß ich unsere Übereinstimmung nur als eine Stütze für die Richtigkeit meiner Betrachtungen ansehen kann. Es wird doch nicht der Aufmerksamkeit des Sachkundigen entgehen, daß in einem einzelnen Punkt (über die Natur der Aufmerksamkeit) ein nicht unerheblicher Unterschied zwischen unseren Ansichten besteht; die Hauptsache wird aber davon nicht berührt. Dagegen hat meine Ansicht mit derjenigen Theorie, welche KROMAN in seiner neuerdings erschienenen "Logik und Psychologie" als psychophysischen Materialismus bezeichnet, nur den Namen gemeinsam. KROMAN bezeichnet nämlich hiermit eine Wechselbeziehung zwischen dem Physischen und Psychischen innerhalb der Grenzen des Atoms; die Annahme eines solchen Kausalverhältnisses macht aber eben, meines Erachtens, jede Erklärung komplexer psychischer Phänomene unmöglich, und es scheiden sich also die zwei Theorien in diesem Hauptpunkt. Trotzdem kann jede für sich mit gleichem Recht den Namen beanspruchen.

Schließlich möchte ich noch um Nachsicht bitten für die sprachlichen Unbeholfenheiten, die sich gewiß in meiner Arbeit finden, die aber für einen Ausländert kaum zu vermeiden sind.



E i n l e i t u n g

Wenn man dem Jahrzehnt, das sich seinem Abschluß nähert, einen besonderen Namen in der Geschichte der Wissenschaft beilegen sollte, würde man dasselbe am untrüglichsten das Dezennium des Hypnotismus nennen können. Es gibt nämlich kaum ein zweites Gebiet, auf dem die Wissenschaft nur annäherungsweise so große und bedeutsame Fortschritte in den letzten zehn Jahren gemacht hat, als eben auf dem des Hypnotismus. Die hypnotischen Erscheinungen sind ohne Zweifel so lange bekannt gewesen, wie Menschen gelebt haben, aber Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sind sie erst vor etwa zehn Jahren geworden. Freilich haben hervorragende Forscher wie BRAID, LIEBÉAULT und mehrere andere sich schon früher mit diesen Erscheinungen beschäftigt, und sie haben auf diesem Gebiet Verschiedenes von Bedeutung geleistet, aber diese Versuche stehen so vereinzelt, und sind in den langen Zwischenräumen so vollständig in Vergessenheit geraten, daß sie so gut wie gar keinen Einfluß auf die Entwicklung der Wissenschaft ausgeübt haben. Die hypnotischen Phänomene sind bis in die neueste Zeit beständig von einer so dicken Atmosphäre von Scharlatanerie umgeben gewesen, daß die einzelnen Forscher, die zu verschiedenen Zeiten durch die Atmosphäre zum festen Kern zu dringen versucht haben, von den Zeitgenossen über einen Kamm mit den unwissenschaftlichen Magnetiseuren geschert worden sind. Man hatte in den wissenschaftlichen Kreisen nur ein mitleidiges Achselzucken für diese Bestrebungen, die man übrigens ignorierte, gerade so wie wir heutzutage - aber freilich mit bedeutend größerem Recht - die Achsel zucken, wenn wir hören, daß ein bekannter Forscher sich mit spiritistischer Geisterbeschwörung oder dergleichen beschäftigt.

In diese Sachlage brachten CHARCOTs epochemachende Untersuchungen über den Hypnotismus bei den Hysterischen und das Auftreten des dänischen Magnetiseurs HANSEN in verschiedenen Städten Deutschlands eine durchgreifende Veränderung. Die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt wurde gleichzeitig von zwei verschiedenen Seiten den hypnotischen Erscheinungen zugewandt, und eine Reihe angesehener Forscher sowohl in Deutschland als auch in Frankreich widmeten sich mit Eifer dem Studium dieser sonderbaren Erscheinungen, deren Realität schnell außer allen Zweifel gestellt wurde. Von diesem Zeitpunkt an kann man daher gewiß mit Recht die wissenschaftliche Entdeckung des Hypnotismus datieren, und in den seitdem verflossenen zehn Jahren sind die Untersuchungen so weit durchgeführt, daß die Zukunft schwerlich viel Neues zu dem, was wir nun kennen, wird hinzufügen können. Das ganze Gebiet ist dermaßen in allen Richtungen durchexperimentiert, daß in experimenteller Beziehung kaum viel Anderes zu tun übrig sein kann, als die Bedingungen etwas genauer festzusetzen, unter denen einzelne fragliche Phänomene auftreten. Dagegen ist eine andere, ebenso wesentliche Seite der Sache vorläufig in hohem Grad vernachlässigt, nämlich die Erklärung der Phänomene. Es ist allerdings kein Mangel an Erklärungsversuchen, aber es ist kaum eine der bisher aufgestellten Theorien, die sich durchführen läßt. Der wesentlichste Grund hierzu dürfte in dem Umstand zu suchen sein, daß es besonders Physiologen und Ärzte sind, die sich bisher mit dem Hypnotismus beschäftigt haben, und die meisten Erklärungen haben deshalb einen einseitig physiologischen Zuschnitt. Die Hypnose hat aber auch ihre psychische Seite, und ohne diese zu berücksichtigen, wird man schwerlich eine genügende Erklärung erreichen. Dies ist übrigens auch bestimmt von mehreren der größten Autoritäten auf dem Gebiet des Hypnotischen ausgesprochen, und diejenigen Forscher, die man gewöhnlich mit dem Namen "Nancyschule" bezeichnet, haben in ihren Erklärungen keine geringe Rücksicht auf die geistigen Zustände unter Hypnose genommen. Aber der Versuch einer konsequenten Durchführung einer Theorie liegt noch nicht vor. (1)

Die Aufgabe, deren Lösung ich hier versuchen will, ist diese, zu einem wirklichen Verständnis der hypnotischen Phänomene zu kommen. Wir haben es in der Hypnose mit einem besonderen psychophysischen Zustand zu tun; es kommt also darauf an, nachzuforschen, worin die Eigentümlichkeiten desselben bestehen. Der Hypnotisierte ist ja noch Mensch, wie sehr auch sein Zustand von dem des normalen Menschen abweicht; es ist daher aller mögliche Grund zu der Vermutung vorhanden, daß die hypnotischen Zustände nur extreme Fälle von Zuständen sind, die wir bei den normalen Menschen kennen, und daß dieselben folglich den allgemeinen physiologischen psychologischen Gesetzen unterworfen sind. Es fragt sich also nur, worin die eigentümliche Pointierung besteht, welche die Hypnose kennzeichnet; kann man dieselbe finden, und darauf all die hypnotischen Erscheinungen in Übereinstimmung mit allgemein bekannten Gesetzen erklären, so wird unsere Kenntnis des psychophysischen Lebens dadurch offenbar eine sehr bedeutende Erweiterung erhalten.

Eine nicht geringe Schwierigkeit hat man bei einer solchen Untersuchung zu bekämpfen. Die Hypnose ist ein psychophysischer Zustand, und eine jede Erklärung muß daher, wie schon erwähnt, sowohl das Physische wie das Psychische berücksichtigen. Ein jeder, der einigermaßen mit modernen psychologischen und psychophysischen Arbeiten vertraut ist, wird nun wissen, daß eine solche Doppeltrücksicht zum Physischen und Psychischen gewöhnlich in der Art genommen wird, daß alles, was sich nicht physiologisch erklären läßt, ganz ruhig dem Psychischen in Rechnung gestellt wird, und zum Teil umgekehrt. Man tut dies deshalb so ruhig, weil die Seele und das Gehirn noch heutzutage so unbekannte Größen sind, daß man ohne Gefahr zu laufen, sofort durch Tatsachen widerlegt zu werden, denselben die merkwürdigsten Funktionen aufbürden kann. Wenn wir uns daher von vorherein sichern wollen, daß die Erklärung der hypnotischen Phänomene, zu der wir gelangen, nicht ein fortwährendes Hin- und Hergreifen zwischen Geist und Körper werden soll, so müssen wir notwendigerweise damit anfangen festzustellen, wie wir uns das Verhältnis zwischen diesen beiden Faktoren denken sollen.


Die populäre Auffassung des Verhältnisses zwischen Seele und Körper ist wohl die, daß die Seele ein vom Körper verschiedenes, mit gewissen "Vermögen" ausgestattetes Wesen ist. Diese Auffassung wird noch aufrechterhalten von einer freilich nicht zahlreichen Schule von Philosophen, die wir der Kürze wegen die Cartesianer nennen können, indem die Theorie zunächst zu CARTESIUS zurückgeführt werden kann, obgleich sie im Laufe der Zeit sehr modifiziert worden ist. Sie stützen sich zur Begründung der Theorie vornehmlich auf die drei unbestreitbaren Tatsachen:
    1. Es besteht ein fortwährender Wechsel der Zustände in unserem Bewußtsein.

    2. Aber der einzelne Mensch hat dessenungeachtet die Gewißheit, daß er es ist, der all diese Zustände hat.

    3. Die Bewußtseinszustände erfolgen nach körperlichen Veränderungen und werden von solchen nachgefolgt.
Hieraus nun wird gefolgert: da ich, ungeachtet des beständigen Wechsels in meinem Bewußtsein, die Gewißheit habe, daß es dasselbe Ich ist, welches alle diese Zustände, Empfindungen und Gefühle hat, so muß das Ich, die Seele, eine Einheit sein. Und diese Einheit muß in einer Wechselwirkung, in einem Kausalverhältnis zur Außenwelt, dem Physischen im weitesten Sinne stehen, indem die Bewußtseinszustände auf selbige folgen, und wiederum selbst körperliche Veränderungen herbeiführen können.

Gegen diese Theorie hat die andere, weit zahlreichere Schule, die Spinozisten, Einwendungen erhoben, indem sie besonders behauptet haben, daß ein Kausalverhältnis zwischen Seele und Körper sich nicht mit den physischen Axiomen, besonders nicht mit dem Gesetz der Inertie [Trägheit - wp] in Einklang bringen läßt. Ich will nicht näher hierauf eingehen, weil ich die Überzeugung habe, daß dieses Räsonnement undurchführbar ist. Man kann die besagte Theorie gewiß nicht nach einem, sei es apriorischen, sei es empiristischen Prinzip umstoßen. Es ist hier wie überall, nur auf dem Weg der speziellen Erfahrungen, daß sich eine Hypothese umstoßen läßt, aber diesen Weg hat man, soweit ich weiß, noch nicht betreten. Es ist natürlich vollständig wissenschaftlich berechtigt, auf der Grundlage einzelner ganz einfacher Beobachtungen eine Hypothese, wie die in Frage stehende, aufzustellen, und zu versuchen, dieselbe auf alle speziellen Phänomene durchzuführen. Zeigt es sich aber bei der Anwendung der Hypothese auf die Detailuntersuchungen, daß sie überflüssige Annahmen enthält, so sind diese ohne Zweifel aufzugeben. Und auf diesem Punkt meine ich, daß sich diese Hypothese angreifen läßt. Die körperlichen und seelischen Zustände sind uns erfahrungsmäßig als zwei miteinander eng verbundene Erscheinungsreihen gegeben. Diese feste Verbindung läßt sich nun durch zwei verschiedene Annahmen erklären: entweder sind die Erscheinungen der einen Reihe eine Wirkung der anderen, oder aber die beiden Reihen sind Wirkungen derselben unbekannten Ursache. Von Anfang an ist jede dieser Möglichkeiten gleich denkbar; man kann sich also für die eine oder die andere Annahme nur dadurch entscheiden, daß es untersucht wird, welche von den Hypothesen die Tatsachen am besten erklärt oder die wenigsten Hilfshypothesen erforderlich macht. Und in dieser Beziehung scheint die spinozistische Annahme viele Vorzüge vor dem cartesianischen Kausalverhältnis zu haben.

Die Cartesianer nehmen nämlich an, daß eine Einwirkung auf ein Sinnesorgan eine Bewegung im Gehirn hervorbringt; diese bewirkt, daß in der Seele eine Empfindung entsteht, welche wiederum in der Seele ein Gefühl hervorruft; das Gefühl setzt den Willen in Bewegung, diese greift aufs Neue ins Gehirn ein, und bewirkt Muskelkontraktionen usw. Man nimmt also einen physisch-psychisch-physischen Kausalzusammenhang an, und wird dadurch genötigt, um die zusammengesetzten Seelenzustände zu erklären, eine größere oder geringere Anzahl Hilfshypothesen aufzustellen. Ursprünglich war diese Anzahl sehr groß, indem man für jede anscheinend neue Wirksamkeit, auf die man stieß, ein neues "Vermögen" annahm. Die neueren Forscher haben zwar die Anzahl bedeutend reduziert, es sind aber genug übrig geblieben. Das Vermögen, Empfindungen hervorzubringen, wieder hervorzubringen (reproduzieren) und zu schätzen, zu fühlen und wollen ist sicherlich die geringste Anzahl, mit der die Cartesianer sich begnügen können. Der Ausweg, einige der genannten psychischen Wirksamkeiten als Resultate rein physischer Verhältnisse zu erklären, steht nämlich den Cartesianern nicht offen, da der Ursachverlauf ihrer Auffassung nach psychisch ist von dem Moment an, da eine Empfindung durch einen äußeren Reiz erzeugt worden ist, bis der Wille wieder in das Gehirn eingreift. Nun haben aber gerade die neueren psychophysischen Untersuchungen es im höchsten Grad wahrscheinlich gemacht, daß alles, zu dessen Erklärung man besondere psychische Wirksamkeiten aufgestellt hat, sich ohne derartige spezielle Hilfshypothesen als Konsequenzen bekannter Gesetze für unser Nervensystem verstehen läß. Nur der Umstand selbst, daß die verschiedenen Bewegungen des Zentralnervensystems Seelenzustände erzeugen, läßt sich natürlicherweise nicht als eine Folge gegenseitiger Anziehungen und Abstoßungen physischer Atome erklären; hier können wir eine Hypothese nicht entbehren; es kommt nur darauf an, dieselbe so zu formen, daß sie einerseits das erklären kann, was faktisch erklärt werden soll, und andererseits nicht mehr als das streng Erforderliche enthält.

Indem, wie schon gesagt, eine hochgradige Wahrscheinlichkeit dafür herbeigebracht ist, daß die Bewegungen im Gehirn in einer rein physischen Kausalbeziehung zueinander stehen, wird man also von der cartesianischen Auffassung zu der zweiten der oben erwähnten Annahmen: die physischen und psychischen Zustände sind Wirkungen derselben unbekannten Ursache, hingewiesen. In diesem Satz ist eigentlich schon alles Gesagt, was für die psychologische Forschung notwendig ist. Will man sich dennoch, was kaum zu vermeiden ist, das Verhältnis veranschaulichen, ohne weitgehende Annahmen über die Natur des Unbekannten zu machen, so kann dies auf folgende Weise möglichst einfach geschehen. Die Materie, das Existierende, oder wie man es nun nennen will, besitzt außer der physischen Aktivität, die wir in den Anziehungen und Abstoßungen der Atome kennen, zugleich eine psychische Aktivität, die sich durch die Erzeugung von lust- oder unlustbetonten Empfindungen kennzeichnet. Diese physische und psychische Aktivität muß als Eigenschaft an dem unbekannten zugrunde Liegenden aufgefaßt werden, welches wir eben vermöge der zwei Eigenschaften, wodurch es sich bemerkbar macht, die "psychophysische Materie" nennen können. Nun kennen wir die psychischen Eigenschaften der Materie nur auf ganz beschränkten Gebieten, nämlich unter keinen Umständen außerhalb der organischen lebenden Wesen, und mit Sicherheit nur da, wo die Materie wie ein Zentralnervensystem organisiert auftritt. Hierin ist aber nichts Merkwürdiges, denn wir können auch nicht die physischen Eigentümlichkeiten der Materie überall nachweisen. Die große Anziehung, Affinität, des Wasserstoffs zum Sauerstoff äußert sich nur, wo diese beiden Stoffe unter bestimmten Wärmeverhältnissen in bestimmten Mengeverhältnissen zusammenkommen. Es müssen also überall besondere Bedingungen erfüllt sein, damit die eigentümlichen Eigenschaften der psychophysischen Materie sich geltend machen sollen.

Das Physische und das Psychische können also als Eigenschaften an demselben unbekannten Stoff betrachtet werden, und wir müssen uns daher das Verhältnis zwischen diesen beiden Grundeigenschaften der Materie auf dieselbe Art denken, wie wir das Verhältnis der rein physischen Eigenschaften eines Körpers zueinander auffassen. Wenn wir z. B. in einem Körper eine Wärmeveränderung hervorrufen, so werden dadurch die gegenseitigen Anziehungen und Abstoßungen der Atome modifiziert, und dies gibt sich durch eine ganze Reihe von Veränderungen im physischen Verhalten des Körpers zu erkennen; seine Zustandsform, sein Leitungsvermögen für Wärme und Elektrizität, seine Farbe usw. wird verändert, aber es sind diese Veränderungen nur verschiedene Formen, worunter die atomistischen Veränderungen, die Variation der physischen Aktivität der Materie, sich uns an den Tag legt. In Analogie hiermit fassen wir das Verhältnis des Physischen zum Physischen auf. Es ist möglich, daß Veränderungen in der psychischen Aktivität vor sich gehen, sobald zwei früher isolierte Atome in ihre gegenseitige Wirkungssphäre kommen, hierüber wissen wir aber nichts, und es hat für uns kein großes Interesse. Wo wir aber mit einem Gehirn, einem Zentralnervensystem zu tun haben, da wissen wir, daß gewisse Veränderungen in diesem von psychischen Phänomenen begleitet sind, und das fassen wir analog mit den genannten physischen Eigenschaftsänderungen auf. Es kann hier keine Änderung der physischen Aktivität eintreten, ohne daß die psychische Aktivität gleichfalls modifiziert wird. Diese psychischen Änderungen treten, wenn sie die  erforderliche  Stärke haben, als betonte Empfindungen auf; die ganze Summe der betonten Empfindungen des einzelnen Individuum ist das, was das Bewußtsein genannt wird. Ich lege besonderen Nachdruck auf den Umstand, daß es wahrscheinlich nur bei einem hinlänglichen Stärkegrad ist, daß die Änderungen der psychischen Aktivität im Bewußtsein auftreten, denn die Erfahrung lehrt uns, daß die einzelnen Bewußtseinsphänomene sich nur als ganz isolierte Schimmer darstellen. Wir können eigentlich niemals eine Ursachenkette auf psychischem Gebiet finden; unsere Empfindungen gehen und kommen, ohne daß wir in der einen die Ursache zur nachfolgenden finden können. Deshalb suchen wir beständig die Ursache des augenblicklichen Bewußtseinszustandes außerhalb uns selbst, das heißt außerhalb des Bewußtseins selbst, und deshalb werden wir genötigt, in einer physischen Außenwelt die eigentliche Ursache des Wechsels der Bewußtseinsphänomene zu suchen.

Die Cartesianer werden wohl gegen diese ganze Auffassung einwenden, daß das Ich, die Einheit des Bewußtseins, vollständig verschwindet. Dies folgt jedoch keineswegs aus unserer Hypothese. Gleichwie die physischen Atome Verbindungen von sehr verschiedener Festigkeit bilden können, so läßt es sich ja auch denken, daß die Materie, eben vermöge ihrer psychischen Aktivität, äußerst verschiedene Verbindungen bilden kann. Nun tritt unser Gehirn, als physische Größe betrachtet, wie eine Einheit auf, die an keinem Punkt beschädigt werden kann, ohne daß das Seelenleben darunter leidet. Die Vermutung liegt daher nahe, daß dasselbe, als psychische Größe betrachtet, eine bei weitem festere Einheit, als irgendeine chemische Verbindung ausmacht. Wir können doch bekanntermaßen die Seele nicht aus dem Gehirn herausdissezieren [zergliedern - wp] ; nach unserer Hypothese folgt dieses geradezu als Konsequenz davon, daß die psychische Aktivität überall auftritt, wo die Materie sich unserem körperlichen Auge als Gehirn zeigt. Ein jedes operative Eingreifen in dasselbe hat daher eine Verringerung der Seelenenergie zur Folge, aber die Einheit bleibt stets unverändert. Und dieser Einheit sind wir uns bewußt. Vom ganzen Organismus empfängt das Gehirn unaufhörlich Impulse durch die verschiedenen Nervenleitungen; das Zentralorgan wird daher in einer annähernd konstanten Bewegung gehalten, die eine entsprechende psychische Bewegung im Gefolge hat, welche offenbar gerade dasjenige ist, was wir das Gemeingefühl, das Ichgefühl nennen. Hört die konstante Bewegung momentan auf, so hört damit das Individuum auf, seiner bewußt zu sein; wechselt die Art der Bewegung periodisch, so entsteht das Doppelbewußtsein, wenn die Veränderungen hinlänglich groß sind. Wird eine solche Veränderung chronisch, so haben wir Geisteskrankheit; das Individuum kennt sich selbst nicht mehr.

Meines Erachtens entspricht die hier aufgestellte Hypothese durch eine Anwendung sehr kleiner Mittel allen Forderungen, die man bisher an eine Hypothese über das Verhältnis zwischen dem Physischen und dem Psychischen gestellt hat. Ich habe nur die Annahme gemacht, daß das Existierende eine psychophysische Materie ist, die, wie der Name es andeutet, mit den Eigenschaften physische und psychische Aktivität begabt ist, und das Verhältnis zwischen diesen habe ich analog mit dem Verhältnis zwischen den physischen Eigenschaften der Körper aufgefaßt. Aus dieser Annahme folgen als natürliche Konsequenzen die ununterbrochene Verbindung der körperlichen Äußerungen mit den geistigen, unser Glaube an eine physische Außenwelt, die Einheit des Bewußtseins usw. Hiermit glaubt ich nun zwar keine Hypothese aufgestellt zu haben, welche den Forderungen einer religiösen oder philosophischen Weltanschauung entspricht; dies liegt überhaupt außerhalb der Grenzen der psychologischen Forschung. Alles, was ich beabsichtige, ist, eine solche Darstellung des Verhältnisses zwischen dem Geistigen und dem Körperlichen zu geben, daß unser Wissen in einem gegebenen Augenblick unter einen einzelnen Gesichtspunkt zusammengefaßt werden kann. Für die Möglichkeit hiervon habe ich aber noch den Beweis zu liefern. Es ist nämlich einleuchtend, daß, wenn man als Träger des Seelenlebens ein Wesen annimmt, mit ebenso vielen geistigen Eigenschaften ausgestattet, wie es komplexe psychische Zustände zu erklären gibt, so hat man verhältnismäßig leichte Arbeit. Ich habe jedoch nur  eine  Form für die Äußerung psychischer Aktivität, nämlich die betonten Empfindungen, angenommen, und folglich gilt es jetzt nachzuweisen, wie die vielerlei zusammengesetzten Seelenzustände zuwege gebracht gedacht werden können. Erst wenn ein solcher Nachweis durchgeführt ist, kann die Hypothese als berechtigt betrachtet werden.


Was nun zuerst die Annahme eines besonderen Unterscheidungs- und Schätzungsvermögens betrifft, so ist diese ohne Zweifel eine für die Psychologie überflüssige Annahme, ganz davon abgesehen, welcher Hypothese über das Verhältnis zwischen Seele und Körper man im Übrigen den Vorzug geben mag. Wir haben ja nämlich niemals eine ganz isolierte Empfindung; das Gemeingefühl muß unter allen Umständen immer existieren, und auf diesem Hintergrund erheben sich alle einzelnen Empfindungen. Selbst nach einer tiefen Ohnmacht wird kaum beim ersten äußeren Reiz die Rede davon sein können, daß eine isolierte Empfindung entsteht. Wenn der Bewußtlose mit dem Ausruf: "Wo bin ich", erwacht, so scheint es damit schon gegeben, daß das Bewußtsein des Ichs, das in einem Gemeingefühl gegründet ist, sich eingefunden hat, ehe irgendein äußerer Reiz seinen Einfluß geltend machen kann. Aber hieraus folgt dann geradezu, daß eine Empfindung haben (perzipieren) das Nämliche bedeutet, wie dieselbe zu sondern, sie von anderen gleichzeitigen Bewußtseinszuständen zu unterscheiden. Steht dies fest, so ist es einleuchtend, daß auch nicht der bewußte, willkürliche Vergleich die Annahme eines besonderen Vermögens fordert. Es sei die Frage von einem Vergleich zwischen den Farben mehrerer Objekte. Ich bringe alsdann die Objekte so nahe aneinander, wie möglich, so daß sie eine zusammenhängende Fläche bilden. Habe ich nun mehrere Empfindungen, so beurteile ich unmittelbar die Objekte als verschieden gefärbt; kann ich im Gegenteil nicht mehrere Empfindungen auffassen, drücke ich dies durch das Urteil aus: "Die Objekte haben dieselbe Farbe." Kann ich aus äußeren Ursachen die Objekte nicht miteinander in Berührung bringen, so erreiche ich annäherungsweise dasselbe dadurch, daß ich das Auge so schnell wie möglich von dem einen auf das andere werfe, und die Aufmerksamkeit (darüber mehr weiter unten) nur auf dasjenige richte, welches verglichen werden soll, während ich von demjenigen absehe, das sich in den Zwischenräumen zeigt. Das Urteil über Gleichheit oder Unterschied wird in diesem Fall, wie die Erfahrung lehrt, etwas unsicherer, aber dies versteht sich auch leicht. Es ist nämlich nun nicht eine Reihe sozusagen gleichzeitiger Empfindungen, die unterschieden, in ihrem Verhältnis zueinander aufgefaßt werden, sondern dagegen eine Empfindung, die von einer Reihe ganz gewiß noch klarer Erinnerungsbilder unterschieden wird.

Auf dieselbe Weise, wie es bei einem Vergleich einzelner Empfindungen geht, verhält es sich auch bei zusammengesetzten Zuständen. Wenn ich z. B. die Definition: Das Pferd ist ein vierfüßiges Tier, welches - usw., als richtig anerkenne, so beruth diese Schätzung augenscheinlich darauf, daß das Gesichtsbild, welches das Wort  Pferd  in meinem Bewußtsein erregt, nicht von dem Bild geschieden werden kann, welches die Definition vor mir aufrollt. Schritt für Schritt verschmelzen die beiden Bilder, so daß ich gar nicht zwei Bilder erhalte, sondern nur eins, und deshalb erkläre ich das Urteil für wahr.

Wenden wir uns nun an die Vorstellungsreproduktion, so kann ich nicht anders sehen, als daß die Cartesianer, um dieselbe zu erklären, ein besonderes psychisches Vermögen, die Vorstellungen aneinander zu knüpfen, annehmen müssen. Faktisch haben sie es immer getan, und die Annahme ist von ihrem Gesichtspunkt aus unvermeidlich, denn wenn eine Empfindung aufgekommen ist, so hat die Kausalreihe den psychischen Grund betreten. Ruft nun diese Vorstellung eine andere hervor, so muß dieser Prozeß auch rein psychisch verlaufen, oder mit anderen Worten: Die Seele muß das Vermögen haben, Vorstellungen aneinander zu knüpfen. (Über die Einwendungen hiergegen siehe weiter unten.) Wie wir das Verhältnis auffassen, ist dies indessen eine überflüssige Annahme, da Assoziation und Reproduktion sich durch bekannte physiologische Gesetze erklären lassen. Wir wissen, daß, je häufiger eine gewisse Bewegung im Nervensystem stattgefunden hat, desto leichter kommt sie aufs Neue vor; hierauf beruth der Einfluß aller Übung. Wenn daher zwei Gehirnbewegungen häufig gleichzeitig verlaufen sind, so ist eine Disposition zu diesen Bewegungen hergestellt. Kommt nun die eine derselben aus der einen oder anderen Ursache wieder, so muß diese Bewegung, da es sich ja nicht annehmen läßt, daß sie spurlos verschwindet, sich verbreiten, in das Gehirn irradiieren [ausstrahlen - wp], und die Bewegung, zu welcher von früher her eine besondere Disposition vorlag, entsteht natürlich aufs Neue. Aber eine jede der stark hervortretenden Bewegungen im Zentralorgan ist, zufolge unserer Hypothese, von entsprechenden psychischen Bewegungen, betonten Empfindungen, begleitet. Es hat daher für das bewußte Individuum den Anschein, als hätte die eine Vorstellung die andere nach sich gezogen; aber wir verstehen die Sache ohne Hilfshypothese als eine Folge des für die physische Materie geltenden Gesetzes der Inertie [Trägheit - wp]. Eine Bewegung kann nicht von selbst aufhören, sondern nur dadurch, daß die Energie an andere Teile abgegeben wird.

Dieser Erklärung der Vorstellungsreproduktion kann der Cartesianer wohl zum Teil beitreten. Von seinem Standpunkt aus hindert nichts die Annahme, daß sich eine durch Sinnesreiz hervorgebrachte Bewegung im Gehirn verbreiten und an verschiedenen Punkten mit der Seele in Wechselwirkung treten kann. Dadurch entsteht dann eine Reihe aufeinanderfolgender Vorstellungen; dem bewußten, selbstbeobachtenden Individuum bekommt es den Anschein, als hätten diese Vorstellungen sich gegenseitig hervorgerufen, während ihre Aufeinanderfolge in der Tat das Resultat eines rein physischen Prozesses ist. Insoweit scheint der Cartesianer also auch die Hilfshypothese von einer rein psychischen Reproduktionswirksamkeit entbehren zu können; die Erklärung läßt sich aber schwerlich in allen Fällen durchführen. Wir wissen nämlich erfahrungsgemäß, daß starke Gefühle immer von einer Störung der Vorstellungsreproduktion begleitet sind. Nach der Auffassung der Cartesianer ist das Gefühl der Lust und Unlust das Resultat einer rein psychischen Wirksamkeit, eine Schätzung, wonach die Bedeutung der gegebenen Vorstellungen für den ganzen Bewußtseinszustand des Ichs festgesetzt sind. Sollen nun diese Schätzungsresultate, die Gefühle, in die Vorstellungsreproduktion störend eingreifen können, so ist dies nur möglich unter einer von zwei Bedingungen. Entweder muß die Wiedererzeugung der Vorstellungen eine rein psychische Wirksamkeit sein, und in einem solchen Fall ist es leicht zu verstehen, daß die Gefühle Einfluß darauf haben können, oder auch muß die Vorstellungsreproduktion durch eine physische Wirksamkeit entstehen, und alsdann müssen die Gefühle in das Gehirn eingreifen und die Bewegungen daselbst modifizieren können. Welchem von diesen zwei Auswegen der Cartesianer den Vorzug einräumt, wird er in beiden Fällen genötigt, eine Hilfshypothese aufzustellen, für die wir keinen Gebrauch haben.

Ich kann hier nicht auf die psychologischen Detailuntersuchungen über die Natur des Gefühls eingehen. Diese Frage habe ich in einer größeren Arbeit (2) behandelt, und kann mich daher hier darauf beschränken, mein Resultat anzuführen. Als die wahrscheinlichste Hypothese, die sich augenblicklich über die Natur des Gefühls aufstellen läßt, habe ich folgende gefunden:
    "Die Lust ist die psychische Folge davon, daß ein Organ während seiner Arbeit keine größeren Energiemengen verbraucht, als die Ernährungswirksamkeit ersetzen kann; die Unlust hingegen ist die psychische Folge eines jeden Mißverhältnisses zwischen Verbrauch und Ernährung, indem dieselbe entsteht, sowohl wenn der Verbrauch von Energie den Zugang überschreitet, als auch wenn der Zugang wegen der Unwirksamkeit des Organs das Maximum überschreitet, welches aufgenommen werden kann."
Dies heißt mit anderen Worten nur, daß eine jede Empfindung ihr eigentümliches Gepräge von den Verhältnissen erhält, unter denen sie erzeugt wird. Wenn die Bewegung im Nervensystem, welche die Empfindung hervorruft, die Energie der arbeitenden Teile erschöpft, so erhält die Empfindung ein Gepräge von Unlust, widrigenfalls wird sie lustbetont sein. Empfindungen und Gefühle sind nach dieser Auffassung nicht zwei verschiedene Gruppen psychischer Elemente, die nur mehr oder weniger fest miteinander verbunden sind; es gibt nur  eine  Art von Bewußtseinszuständen, nämlich betonte Empfindungen; die Betonung kann aber bald Lust, bald Unlust sein. Nach dieser Auffassung kann man leicht die Bedeutung der Gefühlsbetonung für den Vorstellungsverlauf erklären. Die starke Lust oder Unlust kann gar nicht als Ursache der in Frage stehenden Störungen aufgefaßt werden, sie sind eine Folge derselben, und es liegen dann auch zahlreiche Beobachtungen vor, die andeuten, daß sich die Sache wirklich so verhält (3). Der Cartesianer würde beide oben berührte Hilfshypothesen vermeiden können, wenn er auf diese Erklärung eingehen könnte; das wird er aber schwerlich können, ohne prinzipiell seine ganze Grundauffassung der Seele aufzugeben.


Es bleibt nur noch ein Punkt übrig, der der eigentliche Probierstein der Hypothese sein wird, nämlich das Problem des Willens. Als die einzige Äußerungsform der psychischen Aktivität habe ich die betonten Empfindungen aufgestellt und durch diese Annahme scheinen wir daher in Streit zu geraten, nicht bloß mit einer jeden beliebigen Seelentheorie, sondern geradezu mit der Erfahrungspsychologie selbst, welche ja außer den betonten Empfindungen auch mit Willensäußerungen operiert. Es wird jedoch unschwer sein darzulegen, daß es eben im genauesten Anschluß an die Erfahrung ist, wenn ich die Existenz des Willens als besondere psychische Äußerungsform in Abrede stelle, und es wird daher das Hauptargument gegen die Cartesianer, daß sie genötigt sind, etwas anzunehmen, das sich nirgends nachweisen läßt. Für den Cartesianer ist hier kein Ausweg frei. Wenn die Ursachreihe nach seiner Auffassung psychischen Grund betreten hat, so muß sie erfahrungsmäßig wieder auf einen physischen zurücktreten können; die Seele muß demgemäß durchaus einen Willen, d. h. das Vermögen, die physische Materie in Bewegung zu setzen, haben. Das ist aber eben eine rein hypothetische Annahme; der Wille als besondere psychische Wirksamkeit läßt sich in unserem Bewußtsein nicht nachweisen. Wir treffen daselbst fortwährend nur Empfindungen und Vorstellungen mit den daran geknüpften Gefühlstönen, Lust und Unlust, wir treffen nicht zugleich eine Menge Willen. Schon der Sprachgebrauch muß daher den Verdacht rege machen, daß die gewöhnliche Dreiteilung der Psychologie nicht logisch ist; der Wille läßt sich nicht mit Empfindungen und Gefühlen in eine Reihe stellen; denn während diese Worte elementare Bewußtseinszustände bezeichnen, ist dies mit dem Wort  Wille  durchaus nicht der Fall. Der läßt sich nur mit Begriffen wie  Gedächtnis, Phantasie, Verstand, Vernunft  usw., über welche längst Einigkeit unter den Psychologen herrscht, in eine Reihe stellen. Kein Psychologe braucht heutzutage diese Ausdrücke um Anderes, als zusammengesetzte geistige Phänomene zu bezeichnen, welche sich durch elementare Prozesse erklären lassen. Nur der  Wille  ist bis in die neueste Zeit ungestört stehen geblieben wie ein besonderes psychisches Element oder Wirksamkeit; verschiedene Psychologen, scheint es, haben doch nun eingesehen, daß diese Auffassung durchaus gegen die Resultate der Selbstbeobachtung streitet. In aller Kürze wollen wir nun diesen Zustand analysieren.

Es herrscht gewiß volle Einigkeit darüber, daß der eigentliche Willensmoment auf dem Punkt gesucht werden muß, wo der anscheinende Übergang zwischen dem Seelenzustand und den Muskelbewegungen vor sich geht. Ob es eine trieb- oder instinktmäßige Anregung ist, die sich unmittelbar in einer körperlichen Bewegung zu erkennen gibt, oder ein Beschluß zur Handlung wird, es muß das Willenselement da gesucht werden, wo der Übergang stattfindet. Betrachten wir nun allein die Ausführung eines Beschlusses, welche doch die klarste und bewußteste Willensäußerung ist, so finden wir in unserem Bewußtsein zwischen dem Beschluß und der ausgeführten Bewegung niemals neue psychische Elemente, sondern nur Vorstellungen. Der Beschluß wird zur Handlung in dem Moment, da eine klare Vorstellung von der auszuführenden Bewegung im Bewußtsein auftaucht. Anderes als ein solches Erinnerungsbild einer Bewegung hat kein Mensch bisher im Bewußtsein unmittelbar vor dem Eintreten der Handlung entdeckt, und an dieses scheint daher die Muskelbewegung unmittelbar assoziiert zu sein. An eine natürliche Hypothese des Verhältnisses zwischen Seele und Körper müssen wir daher die Forderung stellen, daß sie diesen Übergang von der Bewegungsvorstellung zur Bewegung selbst ohne Annahme irgendeines mystischen Zwischengliedes erklären kann. Aber diese Forderung wird vollständig erfüllt von der hier entwickelten Hypothese, welche die Willensäußerungen in Analogie mit den Vorstellungsassoziationen erklärt.

Wie bekannt sind es nur die quergestreiften Muskeln (mit Ausnahme des Herzens), die unter der Herrschaft des Willens stehen. Aber die Bewegung dieser Muskeln können wir empfinden, welches dagegen nicht der Fall ist mit den Bewegungen des Herzens und der glatten Muskeln. Während wir immer die Biegungen der Glieder und des Körpers, die Atmungsbewegungen usw. empfinden können, empfinden wir niemals den Schlag des Herzens (nur unter abnormen Verhältnissen den Stoß des Herzens gegen die innere Wand der Brusthöhle), auch nicht die Gedärmperistaltik und die Bewegungen der anderen vegetativen Organe. Dadurch wird es aber verständlich, warum die quergestreiften Muskeln willkürlich bewegt werden können, die anderen hingegen nicht. Denn beim Embryo und dem kleinen Kind findet eine Mannigfaltigkeit sogenannter "impulsiver" Bewegungen, d. h. Muskelzusammenziehungen statt, die durchaus unabhängig sind von einem bloß noch dämmernden Bewußtsein des Individuums, und wahrscheinlich durch Ausladungen überflüssiger Nervenenergie entstehen. Aber die Bewegungen selbst kann das Individuum empfinden, und es bildet sich dadurch nach und nach eine feste Assoziation zwischen der bestimmten Muskelzusammenziehung und der Empfindung derselben. An einem gewissen Punkt fängt alsdann das Kind an, unter gegebenen Umständen die Bewegungsempfindungen reproduzieren zu können, und diese ziehen dann geradezu die Bewegung nach sich; anfangs natürlich unsicher und herumtappend, mit weitläufigen Mitbewegungen (z. B. die rastlosen Schwingungen der Zunge beim Kind, das schreiben lernt), aber allmählich werden sie sicherer und mehr beherrscht, indem die wachsende Übung die Assoziation zwischen Bewegung und Empfindung fester macht. Und da eine jede Assoziation, wie oben erwähnt, als rein physischer Prozeß aufgefaßt werden kann, so lassen sich die gewollten Bewegungen also auch ohne die Annahme irgendeines besonderen Mittelgliedes zwischen dem Bewußtseinszustand und der Handlung verstehen.


Es gibt doch noch eine sogenannte Willensäußerung, die im Obigen keine Erklärung gefunden hat, nämlich die Aufmerksamkeit, die wohl ohne Übertreibung als der rätselhafteste aller Seelenzustände bezeichnet werden kann. Wir wissen alle aus Erfahrung, welche außerordentlich große Bedeutung die Aufmerksamkeit für unser Bewußtseinsleben hat; sehen wir aber näher zu, um den eigentümlichen Bewußtseinszustand zu finden, der die Aufmerksamkeit genannt wird, so finden wir nichts. Alles, was sich im Allgemeinen über die unbekannte Größe, die Aufmerksamkeit sagen läßt, ist dies, daß wenn dieselbe auf einen Zustand gerichtet ist, alle anderen  ganz  oder  teilweise  aus dem Bewußtsein verschwinden. Ich sitze in meiner Arbeit vertieft, und das Ticken der Uhr, das Wagengerassel auf der Straße und das Geschwätz im anstoßenden Zimmer existieren durchaus nicht für mich. Oder ein anderes Beispiel: ich lege ein 20 Gramm schweres Gewicht in jede Hand und wende mit geschlossenen Augen meine ganze Aufmerksamkeit auf Empfindung der rechten Hand; den Druck in der linken Hand bemerke ich dann gar nicht mehr. Aber, wenn ich in meine eigenen Gedanken vertieft die Straße entlang gehe, habe ich doch immer so viel Aufmerksamkeit übrig für die umgebende Welt, daß ich denen, die mir begegnen, ausweichen kann; aber sehr viel mehr, als daß es ein Mensch ist, an dem ich vorübergehe, werde ich nicht gewahr. Wenn ich einen Augenblick darauf Auskunft über das Aussehen des Betreffenden geben sollte, würde ich in großer Verlegenheit sein. Ab und zu kann wohl ein einzelner Vorübergehender meine Aufmerksamkeit etwas mehr fesseln, und ich beobachte dann deutlicher, so daß ich hinterher entscheiden kann, was es eigentlich war, wodurch meine Aufmerksamkeit gelenkt wurde. Aus diesen und analogen Fällen läßt sich der Schluß ziehen, daß es sehr viele Grade der Aufmerksamkeit gibt, und daß ein gewisser Grad von Aufmerksamkeit erforderlich ist, damit eine Empfindung überhaupt entstehen kann; ist die Aufmerksamkeit vollständig in einer Richtung konzentriert, so kommen andere Sinnesreize gar nicht zu Bewußtsein. Dies wird das erste Resultat einer Untersuchung der Aufmerksamkeit; wir müssen aber die Sache noch etwas näher ins Auge fassen, um nachzuspüren, was psychisch vor sich geht, wenn die Aufmerksamkeit auf eine einzelne Vorstellung gerichtet wird.

Ich sehe, in Gedanken vertieft, einen Menschen an, und bin mir eben bewußt, daß es ein Mann ist, vor dem ich stehe. Ich richte nun die Aufmerksamkeit auf das Gesichtsbild und die Vorstellung seines Gesichtsausdrucks, seiner Kleidung in allen ihren Einzelheiten tritt hervor. Was geschieht nun dabei? Werden nur die im Voraus bestehenden Empfindungen stärker? Dies kommt mir höchst unwahrscheinlich vor, denn es ist mir noch niemals gelungen, selbst durch das meist energische Stieren auf ein Stück weißes Papier, es dahin zu bringen, daß die Mitte desselben heller aussah, als die mehr peripheren Teile, und doch hätte dies geschehen können müssen, wenn die Empfindung, auf welche die Aufmerksamkeit besonders konzentriert wurde, intensiver als die anderen gleichzeitigen Empfindungen wurde. Die Konzentration der Aufmerksamkeit kann daher schwerlich etwas anderes bewirken, als daß Empfindungen entstehen, unterschieden werden, die sonst nicht aufkommen würden. Oder mit anderen Worten: Die Hinwendung der Aufmerksamkeit auf ein Objekt scheint nur zu bewirken, daß dieses jetzt in seinen Einzelheiten aufgefaßt wird, während vorher nur die gröbsten Umrisse in das Bewußtsein traten. Unser Resultat wird also dasselbe wie vorher, nämlich daß ein gewisser Grad von Aufmerksamkeit erforderlich ist, damit gegebene Differenzen im Ganzen unterschieden werden können.

Die Aufmerksamkeit scheint demnach entweder als vollständig mit der Perzeption (Unterscheidungswirksamkeit), oder als eine notwendige Bedingung für das Eintreten derselben aufgefaßt werden zu müssen. In der sogenannten  unwillkürlichen  Aufmerksamkeit sind die Perzeption oder Unterscheidung der Empfindungen und die Aufmerksamkeit durch einen starken Sinnesreiz von seiner früheren Richtung in eine neue gelenkt wird, so entdecke ich ein meinem Bewußtsein nichts anderes, als daß der Bewußtseinszustand gewechselt, eine Veränderung erfahren hat. Wenn es also wirklich etwas gibt, das Aufmerksamkeit genannt werden kann, und das eine notwendige Bedingung für alles Empfinden ist, so muß eine gewisse Stärke der Sinnesreize ausreichen, diese Bedingung für das Entstehen eines Bewußtseinszustandes zuwege zu bringen. Nun wissen wir aber aus Erfahrung, daß es möglich ist, die Aufmerksamkeit nicht bloß auf eine im Augenblick gegebene Empfindung, sondern auch auf eine erwartete, künftige zu richten; hieraus scheint dann zu folgen, daß die Aufmerksamkeit nicht mit der Perzeption der Empfindung, sondern nur mit der Möglichkeit einer solchen gleichbedeutend sein kann. Sie ist daher sicherlich etwas von der Empfindungsperzeption Verschiedenes, ob dies aber physisch oder psychisch ist, ist noch nicht entschieden. Soll es psychisch sein, muß es sich auf die eine oder andere Weise im Bewußtsein als etwas von den betonten Empfindungen Verschiedenes äußeren, und es fragt sich daher, ob sich so etwas nachweisen läßt.

In allen Fällen, wo die Aufmerksamkeit  willkürlich,  d. h. aus inneren Motiven, auf eine Vorstellung gelenkt wird, bemerkt man eine eigentümliche Spannung, die umso stärker wird, je exklusiver die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Vorstellung konzentriert wird. Diese Spannung ist doch sicherlich nicht die Aufmerksamkeit selbst, sondern bloße Empfindungen, von Muskelzusammenziehungen herrührend, welche die Konzentration der Aufmerksamkeit begleiten. Sind es Gesichtswahrnehmungen, auf die wir uns konzentrieren, bemerkt man eine Spannung bei den Augen; wendet man die Aufmerksamkeit auf Lauteindrücke, lokalisiert sich die Spannung um das Ohr; suchen wir deutliche Erinnerungsbilder hervorzurufen, so zieht sich die Spannung von allen Sinnesorganen fort und wird ganz unbestimmt im Gehirn als Ganzes lokalisiert. Aber in all diesen Erscheinungen ist durchaus nichts neues Psychisches, wir finden nur mehr oder weniger bestimmt lokalisierte Organempfindungen. Diese können doch unmöglich die Aufmerksamkeit ausmachen, denn eine Gruppe von Empfindungen kann ja nicht die notwendige Bedingung dafür sein, daß eine Empfindung überhaupt entstehen soll. Die Spannung selbst bemerke ich nämlich nur, wenn ein gewisser Grad an Aufmerksamkeit derselben zugewandt ist; gehe ich vollständig in einer äußeren Wahrnehmung auf, werde ich mich der Spannungsempfindungen gar nicht bewußt werden. Wenn diese aber selbst Aufmerksamkeit erfordern, um unterschieden zu werden, können sie nicht mit der Aufmerksamkeit identisch sein. Einige Forscher führen wohl an, daß sich bei der Aufmerksamkeit ebensowohl wie bei jeder anderen Willensäußerung ein eigener Zustand des Willens geltend machen soll, der sich nur erfahren, aber nicht beschreiben läßt, und finden hierin eine Stütze für die Annahme eines besonderen "Willens" als etwas von allen anderen psychischen Zuständen Verschiedenes. Dieser eigentümliche Zustand des Willens läßt sich zwar ganz gewiß nicht leugnen, aber ich bezweifle sehr, daß man bei scharfer Selbstbeobachtung irgendetwas anderes als eben Organempfindungen darin finden wird; diese zeichnen sich ja auch in manchen Fällen dadurch aus, ganz unbeschreiblich zu sein.

Die Selbstbeobachtung gibt demnach keinen Anhaltspunkt für die Behauptung einer besonderen psychischen Willenswirksamkeit; es ist also nur noch die Frage, inwiefern wir eine solche rein hypothetisch annehmen sollen, um dadurch Phänomene zu erklären, die uns sonst unverständlich sein würden. Daß dies in all den Fällen überflüssig ist, wo der "Wille" äußere Bewegungen hervorbringt, haben wir gesehen. Alle Willensäußerung ist motiviert, d. h. sie wird durch betonte Vorstellungen verursacht, und ob man sich nun denkt, daß eine solche betonte Vorstellung (in der gewollten Handlung den Beschluß, im Trieb die Vorstellung vom Gegenstand des Triebes) direkt  die  Bewegungsvorstellungen reproduziert, welche die Muskelzusammenziehungen auslösen, oder aber man annimmt, daß sie erst einen hypothetischen Willen in Bewegung setzt, der dann Bewegungsvorstellungen mit daran geknüpften Bewegungen hervorbringt, so wird der Prozeß in beiden Fällen in allem Wesentlichen derselbe. Nur erhält man bei der Annahme eines hypothetischen Willens ein durch Selbstbeobachtung nicht nachweisliches Glied mit in die Rechnung, dessen Bedeutung ausschließlich diejenige sein wird, daß es den ganzen Prozeß unverständlich macht. Nur derjenige, der an einen wirklich ursachlosen Willen glaubt, bedarf eines solchen mystischen Faktors, der, in den Willensprozeß aufgenommen, diesen durchaus unberechenbar macht; aber mit solchen Faktoren braucht sich die Wissenschaft nicht zu befassen. Die Hypothese vom Willen als besondere psychische Wirksamkeit ist daher überflüssig für all die Willensprozesse, die sich durch Muskelbewegungen äußern. Es bleibt nur noch zu untersuchen übrig, ob die Hypothese für das Verständnis der Aufmerksamkeit nötig ist.

Das Resultat unserer obigen Untersuchungen wurde, daß es viele Grade von Aufmerksamkeit gibt, daß ein gewisser geringer Grad eine notwendige Bedingung dafür ist, daß eine Empfindung überhaupt unterschieden werden kann, und daß eine vollständige Konzentration der Aufmerksamkeit auf eine einzelne Vorstellung alle anderen ausschließt. Können wir nun, ohne physiologische Hypothesen, die natürlich nicht im Geringsten den psychologischen vorzuziehen sind, aufzustellen, dieses Faktum erklären? In unserem Bewußtsein finden wir nichts Psychisches, das die notwendige Bedingung für das Entstehen der Empfindungen ist, und es ist daher wahrscheinlich, daß diese Bedingung physischer Natur ist. WUNDT hat angenommen, daß die mit Aufmerksamkeit aufgefaßten, apperzipierten Empfindungen in einem besonderen sensorischen Zentrum, dem Apperzeptionszentrum, entstehen. Diese Annahme erklärd jedoch, meines Erachtens, nicht, wie es viele Grade der Aufmerksamkeit geben kann, so daß es viele Stufen zwischen der dunklen, perzipierten, und der vollends apperzipierten Empfindung gibt. Und noch weniger enthält die Annahme eine direkte Erklärung der Ursache, weshalb die vollends apperzipierte Empfindung alle anderen vom Bewußtsein ausschließt. Meines Erachtens läßt sich die Aufmerksamkeit, ohne die doch jedenfalls die hypothetische Annahme eines besonderen Zentrums, allein durch bekannte physiologische Verhältnisse erklären.

Damit eine Empfindung oder Vorstellung entstehen soll, muß zufolge unserer Grundhypothese über das Verhältnis zwischen Seele und Körper eine physische Bewegung im Gehirn vor sich gehen. Eine solche Bewegung ist aber eine Arbeit, die auf Kosten der Spannkräfte der Nervenzentren ausgeführt wird. Die Bedingung für die Ausführung der Arbeit ist daher ein fortwährender Stoffwechsel, wodurch der verbrauchte Stoff fortgeschafft und neuer zugeführt wird. Dies wird kontinuierlich durch den Blutumlauf besorgt; wir wissen aber, daß die Blutmenge, die durch einen bestimmten Teil des Haargefäßnetzes passiert, selbst bei ganz unverändertem Herzschlag äußerst variabel, und besonders davon abhängig ist, ob das betreffende Organ arbeite oder sich in Ruhe befindet. Sobald ein Organ arbeitet, wird reflektorisch ein verstärkter Blutzufluß hervorgerufen, so daß die Ernährung desselben reichlicher wird, und diese Veränderung kann sehr stark lokalisiert sein. Anzunehmen, daß dasselbe im Gehirn stattfinden kann, läßt sich wohl kaum als Hypothesten-Aufstellen bezeichnen, da die Arterie, die besonders das Gehirn durchblutet (Carotis interna), und die Verzweigungen derselben in ihrem Bau, soweit man bis jetzt weiß, nicht im Geringsten von anderen Arterien abweicht. Es ist daher im allerhöchsten Grad wahrscheinlich, daß eine Bewegung im Sensorium nicht entstehen kann, ohne daß sich das Blutzuströmen zu dem betreffenden Punkt steigert, womit dann folgt, daß der Blutzufluß zu allen anderen Punkten abnimmt, so daß ihr Arbeitsvermögen geschwächt wird. Und hierdurch scheint das ganze Phänomen, das wir die Aufmerksamkeit nennen, ganz ohne Zwang erklärt werden zu können.

Die Unterhaltung einer physischen Bewegung im Sensorium wird, zufolge unserer Grundhypothese, gleichbedeutend mit der Unterhaltung der psychischen Arbeit sein, wodurch das sukzessive Entstehen der verschiedenen betonten Empfindungen ermöglicht wird. Daß ein gewisser Grad an Aufmerksamkeit zum Entstehen einer Empfindung notwendig ist, ist somit nur der unbestimmte Ausdruck der Selbstbeobachtung dafür, daß die Veränderungen des psychischen Zustandes unmerkbar sein werden, wenn der arbeitende Teil des Sensoriums keine erhöhte Ernährung erhält. Die verschiedenen Grade der Aufmerksamkeit werden dadurch möglich, daß der Blutzufluß innerhalb sehr weiter Grenzen variiert werden kann. Daß alle anderen Vorstellungen verschwinden, wenn die Aufmerksamkeit ausschließlich auf eine einzelne konzentriert ist, versteht sich als Konsequenz davon, daß der Blutzufluß zu anderen Teilen des Sensoriums nur gering sein kann, wenn in einem einzelnen Punkt ein Maximum ist. Wenn die Aufmerksamkeit unwillkürlich von einem äußeren Sinnesreiz gefesselt wird, so versteht sich dies wie ein vasomotorischer Reflex zu dem Teil des Sensoriums, den die Bewegung trifft. Und es ist gleichfalls leicht erklärbar, daß das unwillkürliche Fesseln ziemlich starke Reize erfordert, um hergestellt zu werden, wenn die Aufmerksamkeit vorher auf etwas anderes gerichtet ist. Denn in einem solchen Fall soll die neue Bewegung im Gehirn reflektorisch den ganzen schon bestehenden Zustand der Haargefäße verändern, eine Erweiterung bewirken, wo Verengung war, und umgekehrt, und dies wird selbstverständlich umso größere Arbeit erfordern, je größer die Zustandsveränderung sein soll. Nimmt man an, was wohl im höchsten Grad wahrscheinlich ist, daß die Empfindungen verschiedener Modalitäten (von verschiedenen Sinnesorganen herrührend) in verschiedenen Teilen des Sensoriums entstehen, so erklärt sich dadurch auch das wohlbekannte Phänomen, daß es viel leichter ist, die Aufmerksamkeit von einer Empfindung zur anderen übergehen zu lassen, wenn diese beiden zum selben Sinnesgebiet gehören, als wenn sie verschiedenen angehören.

Was nun schließlich die willkürliche Aufmerksamkeit betrifft, so muß diese, unserer allgemeinen Auffassung der Aufmerksamkeit gemäß, darauf beruhen, daß eine vasomotorische Veränderung in einem bestimmten Teil des Gehirns durch eine schon bestehende Bewegung im Gehirn hervorgerufen werden kann. Hierin ist keine Schwierigkeit; kann eine durch Sinnesreiz entstandene Bewegung im Gehirn einen vasomotorischen Reflex zu der arbeitenden Stelle selbst herbeiführen, so muß eine auf einem anderen Weg entstandene Bewegung wohl dasselbe bewirken können. Woher kommt aber das Willkürliche? Wie wird das Individuum in den Stand gesetzt, die Aufmerksamkeit gerade auf den Moment zu richten, der im Augenblick Bedeutung hat? Die Möglichkeit hiervon liegt schon darin gegeben, daß die Aufmerksamkeit sich nur an das richtet, was Bedeutung hat. Denn daß eine Erinnerung, eine Beobachtung oder ein Gedanke eine besondere Bedeutung oder Interesse für uns hat, will ja nur sagen, daß sich vorzugsweise an selbige eine Reihe betonter Vorstellungen knüpfen. Wenn daher, um ein bestimmtes Beispiel zu nehmen, ein einzelner Moment in einer Wahrnehmung vorzugsweise eine solche Gruppe betonter Vorstellungen reproduziert, so wird die dadurch hervorgebrachte Bewegung stärker sein als die anderen gleichzeitigen Bewegungen, und damit folgt dann wieder ein stärkerer vasomotorischer Reflex. Oder mit anderen Worten: Die Aufmerksamkeit ist vorzugsweise auf diesen einzelnen Punkt der Wahrnehmung gerichtet worden. Auf analoge Weise kann die willkürliche Richtung der Aufmerksamkeit in anderen Fällen erklärt werden. Da jede Willkürlichkeit ein Motiv, betonte Vorstellungen, voraussetzt, so müssen die denselben ensprechenden Gehirnbewegungen immer die Ursache dazu enthalten, daß vasomotorische Veränderungen auf einem bestimmten Punkt des Gehirns eintreffen.

Hiermit dürfte dargelegt sein, daß anderweitige Hypothesen, als diejenige, von der wir ausgegangen sind, nicht notwendig sind, um die komplizierten psychischen Phänomene zu verstehen. Ein ausführlicher Beweis für die Hinlänglichkeit der Hypothese kann natürlich nur in einer einheitlichen Darstellung der gesamten Psychologie gegeben werden; eine solche zu geben wird hoffentlich eine Zukunftsaufgabe für mich sein. Hier habe ich mich auf eine Skizze der Hauptpunkte beschränken müssen, aber schon diese dürfte hinlänglich gezeigt haben, daß die vollständige Durchführung innerhalb der Grenzen der Möglichkeit liegt.

LITERATUR - Alfred Lehmann, Die Hypnose, Leipzig 1890
    Anmerkungen
    1) Nachdem dies geschrieben war, ist ein umfangreiches Werk erschienen: PIERRE JANET, L'automatisme psychologique, Paris 1889, das seinem Inhaltsverzeichnis nach wesentlich theoretischer Natur zu sein scheint.
    2) A. LEHMANN, Hovedlovene for det menneskelige Fölelsesliv, Kopenhagen 1890 [Die Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens.]
    3) Siehe oben zitiertes Werk, besonders den Abschnitt über das Verhältnis des Gefühls zu den körperlichen Zuständen.