ra-1M. MarquardO. PlümacherA. HorwiczA. TaubertC. Braigvon Hartmann    
 
EDUARD von HARTMANN
Ist der Pessimismus
wissenschaftlich zu begründen?


"In der Tat sind die Gegner, mit denen mein Pessimismus zu kämpfen hat, heute noch dieselben, mit welchen seinerzeit Kant zu kämpfen hatte, die Leute auf und außerhalb des Katheders, deren Verstand das Maß des gesunden Menschenverstandes nicht überragt und deshalb im Dienst des instinktiven Glückseligkeitstriebes einen irdischen oder transzendenten, offenen oder verkappten Eudämonismus befangen ist, der kann und will sich natürlich auch den eudämonologischen Optimismus nicht rauben lassen, der mag sich mit einem bloß teleologischen Optimismus der Entwicklung nicht zufrieden geben, welcher ihm als eine bloße Verhöhnung seiner eigentlichen Sehnsucht erscheint und außerdem dem gesunden Menschenverstand als eine höchst problematische Spekulation der Phantasie gilt."

Vorwort

Als die SCHOPENHAUERsche Philosophie in den 50er und 60er Jahren eine stille Gemeinde um sich sammelte, da trat der Zunftphilosophie zum ersten Mal der Pessimismus als eine lebendige Macht gegenüber, aber man nahm dieselbe nicht ernsthaft und begnügte sich damit, über das "pathologische Interesse" an den "krankhaften Grillen" eines "dilettantischen Sonderlings" die Achseln zu zucken. Als dann um die Wende des sechsten Jahrzehnts meine "Philosophie des Unbewußten" eine rasche Verbreitung und Beachtung fand, da genügte das Stichwort, daß dies eine "Philosophie des Pessimismus" und ihr Autor ein "Nachtreter SCHOPENHAUERs" sei, um in den philosophischen Fachkreisen den Stab über sie zu brechen. Aber man fühlte sich doch durch die äußeren Erfolge dieser pessimistischen Philosophie gezwungen, sich nunmehr eingehender mit dem Pessimismus zu beschäftigen und ihn nicht mehr unter der Würde einer Kritik und Widerlegung zu erachten. Es erschien eine Reihe Kritiken von meist recht hochmütiger und wegwerfender Haltung, die von dem geringen Verständnis zeugten, mit welchem die vorurteilsvollen Verfasser den zu beurteilenden Gegenstand betrachtet hatten.

Erst durch AGNES TAUBERTs Schrift: "Der Pessimismus und seine Gegner" (Berlin 1872) wurde der philosophischen Kritik klar gemacht, daß sie so leichten Kaufs denn doch nicht davon komme und seitdem warfen sich viele tüchtige Kräfte mit Ernst auf das Studium der Frage und veröffentlichten in deutscher, französischer, englischer und holländischer Sprache eine ansehnliche Zahl umfangreicher Pessimismusschriften, welche zwar großenteils noch von den landläufigen Vorurteilen und Mißverständnissen durchtränkt sind, aber doch meist einen würdigen Ton sachlicher Polemik anschlagen. (Ich nenne unter vielen anderen nur ein Dutzend Autornamen: VOLKELT, HUBER, GASS, PFLEIDERER, REHMKE, TRAUTZSCH, GOLTHER, WEYGOLDT, SCHEFFER, BUSSY, CARO, SULLY und verweise im Übrigen auf das Verzeichnis in den Vorworten der Philosophie des Unbewußten.) Wenn die besten unter diesen Arbeiten die empirische Wahrheit des Pessimismus einräumen, so treffen sie doch alle in dem Hauptvorwurf zusammen, daß der Pessimismus als solcher keine Ethik zulasse und daß deshalb auch meine Philosophie, weil sie pessimistisch sei, nicht etwa bloß zufällig, sondern notwendig und wesentlich  ethiklos  sein und bleiben müsse.

Als nun meine "Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins" erschien, konnte dieser Vorwurf von den Kritikern nicht mehr aufrecht erhalten werden, denn nun lag ja die Ethik des Pessimismus vor ihnen. Konnten sie nun nicht mehr behaupten, daß der Pessimismus nichts tauge, weil er ethiklos sei, so kehrten sie nunmehr den Spieß um und fanden, daß  meine  Ethik nichts tauge, weil sie, um auf besagten Hammel zurückzukommen, "die Ethik des  Pessimismus"  sei. Das Vorurteil erwies sich auch hier stärker als die Logik und machte blind gegen den fehlerhaften Kreislauf dieses Gedankenganges. Für mich aber lag in dieser Erfahrung die Lehre, daß eine gerechtere Würdigung meiner Philosophie erst dann zu erwarten sei, wenn den hartnäckigen Vorurteilen gegen den Pessimismus die Spitze abgebrochen sein würde und daß das bisher zur Bekämpfung dieser Vorurteile Geschehene hierzu praktisch unzulänglich gewesen sein müsse.

Diese Einsicht wurde für mich bestimmend, noch einmal der Erörterung des Pessimismus näher zu treten, obwohl ich schon an verschiedenen anderen Stellen meiner Schriften diesen Gegenstand behandelt und mit der Widerlegung der von der Kritik vorgebrachten Einwendungen beschäftigt hatte. Wenn ich in den nachfolgende Abhandlungen die Resultate dieser Beschäftigung mit dem Gegenstand vorlege, so bitte ich dabei im Sinn zu behalten, daß ich nicht nur in Bezug auf meine eigenen früheren Schriften, sondern auch in Bezug auf die weit verbreitete Pessimismusschrift von AGNES TAUBERT bemüht gewesen bin, Wiederholungen zu vermeiden, daß also für Leser, die sich ein vollständiges Urteil über den Gegenstand bilden wollen, durch die vorliegenden Abhandlungen die Berücksichtigung jener früheren Veröffentlichungen keineswegs überflüssig wird. -

Die Vorurteile gegen den Pessimismus lassen sich dahin zusammenfassen, daß er erstens gar keinen Boden in der Geschichte der Philosophie habe, sondern der zufällige barocke Einfall eines paradoxen Dilettanten (SCHOPENHAUER) sei, der nur von ebensolchen außerhalb der philosophischen Entwicklung stehenden Dilettanten kopiert und ausgebeutet werde, daß er zweitens gar kein wissenschaftliches Problem behandle und in seiner willkürlichen Subjektivität keiner wissenschaftlichen Begründung fähig sei und daß er drittens eine schädliche, gefährliche und verderbliche Lehre sei, welche die Menschen bloß unglücklich mache und die Stellung verkehre, welche der Mensch zu den unleugbar vorhandenen Leiden der Welt eigentlich einzunehmen habe. -

Was zunächst das erste dieser Vorurteile betrifft, so ist es allerdings eine allgemein verbreitete Meinung, daß der Pessimismus als philosophische Doktrin und als integrierender Bestandteil eines philosophischen Systems von SCHOPENHAUER datiere und in Verbindung hiermit steht die Annahme, erstens, daß die spezifische Färbung des SCHOPENHAUERschen Pessimismus maßgebend sei für den philosophischen Pessimismus überhaupt und zweitens, daß der philosophische Pessimismus im Allgemeinen bedingt sei durch die persönliche misanthropische [menschenfeindliche - wp] und bizarre Stimmung seines Begründers. Hieran ist soviel richtig, daß SCHOPENHAUER der erste Philosoph war, welcher den Pessimismus im Zusammenhang und in glänzender Form darstellte und seine Wichtigkeit als Bestandteil des Systems in nachdrücklicher Weise betonte und daß infolgedessen erst durch SCHOPENHAUER der Pessimismus größere Beachtung, Anerkennung und Bekämpfung gefunden hat. Aber es ist nicht richtig, daß SCHOPENHAUER der Begründer des philosophischen Pessimismus ist; vielmehr gebührt diese Ehre oder, wie viele meinen, diese Unehre dem Altmeister der neuesten deutschen Philosophie, IMMANUEL KANT, und zwar stellt sich bei KANT der philosophische Pessimismus in seiner Reinheit dar, ungetrübt von persönlichen Stimmungen und unentstellt von quietistisch-asketischen Auswüchsen.

Wenn diese Tatsache bisher sich der allgemeinen Beachtung entzogen hat, so liegt der Grund darin wohl darin, daß die Darstellung der pessimistischen Ansichten KANTs in verschiedenen Schriften desselben zerstreut ist, zum Teil gerade in solchen, welche wenig gelesen werden, so daß dem Leser, der seine Aufmerksamkeit nicht besonders auf diesen Punkt richtet, wohl öfters pessimistische Aussprüche in KANTs Werken begegnen, doch ohne daß ihm der systematische Zusammenhang aller vor das Bewußtsein tritt. Dieser Umstand war es wenigsten bei mir persönlich, welcher bis vor kurzem das richtige Verständnis des Kantischen Pessimismus hintenanhielt und erst ganz neuerdings bei wiederholter Lektüre der KANTschen Werke die Erkenntnis in mir auftauchen ließ, daß hier ein Akt historischer Gerechtigkeit zu vollziehen sei, dadurch, daß diese Erkenntnis durch zusammenhängende Darstellung der einschlägigen Kantischen Lehren zum Gemeingut der Wissenschaft gemacht werde.

Durch die Erfüllung dieser Aufgabe muß die gesamte praktische Weltanschauung KANTs in einem neuen Licht erscheinen, deren Betrachtung gegen die Durchforschung seiner erkenntnistheoretischen Leistungen ungebührlich zurücgesetzt wird; nicht zum Geringsten aber muß durch dieselbe das Verständnis des Pessimismus, seiner wahren Bedeutung so wie seines ethischen Wertes gefördert werden. Die immer wiederkehrende Unterstellung, daß der Pessimismus nur das Erzeugnis des subjektiven Mißmuts und der persönlichen Übellaunigkeit, aber nicht das Resultat einer objektiven Auffassung und Beurteilung des Lebens sei, muß vor der anerkannten Nüchternheit und Objektivität des KANTschen Denkens verstummen; die Anklage, daß der Pessimismus die Grundlagen der Sittlichkeit und Religion untergrabe und die Behauptung, daß ein religiös-ethischer Idealismus den empirischen Pessimismus nicht nur vollkommen überwinde, sondern in sein Gegenteil verkehre, müssen mindestens stark erschüttert werden durch die Tatsache, daß KANT durch seinen Pessimismus nicht gehindert worden ist, der große Reformator der Moral zu werden und den religiös-ethischen Idealismus in einer bisher unbekannten Reinheit und Hoheit zu lehren, daß er aber diesen Idealismus nicht trotz, sondern vielmehr mittels seines Pessimismus zu erreichen vermochte und deshalb eine Überwindbarkeit des Pessimismus wenigstens für die Erscheinungswelt nicht zugab.

Der Nachweis des Pessimismus bei KANT eröffnet endlich eine neue Perspektive für das Verständnis der Geschichte der neuesten Philosophie. Es ist bekannt, daß FICHTE, SCHELLING und HEGEL die Grundgedanken ihrer optimistischen Entwicklungslehre von KANT entlehnt haben; aber auch die Grundgedanken des SCHOPENHAUERschen Pessimismus finden sich bis in die kleinsten Zügen hinein bei KANT vorgebildet, so daß SCHOPENHAUER sämtliche Konturen zu de farbenreichen Bild seines Pessimismus ganz wohl aus KANTs Schriften hätte entnehmen können, wenn er sie nicht aus seinem Stimmungspessimismus heraus selbständig gestalte hat. Beide Richtungen der KANTschen Nachfolgerschaft entwickeln also Keime der Kantischen Philosophie, aber die eine nur den evolutionistischen oder Entwicklungs-Optimismus, die andere nur den Pessimismus in Bezug auf die Glückseligkeit des Daseins oder den eudämonologischen Pessimismus; indem erstere den Pessimismus ignoriert, letztere den Pessimismus zum asketischen Quietismus und zur Gegnerschaft gegen jede Entwicklungslehre überspannt, erscheinen beide Richtungen als feindliche, einander aufhebende Gegensätze. Aber der Widerspruch zwischen beiden ist nur scheinbar, denn die selbständig entfalteten Bestandteile der KANTschen Philosophie sind in dieser selbst harmonisch vereinigt; es kommt also nur darauf an, die durch KANTs Nachfolger ausgeführten Seiten in der Weise synthetisch zu verknüpfen, wie das Verhältnis ihrer keimartigen Anlagen bei KANT es vorzeichnet. Wer das vollbringt, der schließt Ende und Anfang dieser geschichtlichen Entwicklungsphase zusammen, so daß das Ende in voller Entfaltung und Ausführung besitzt, was im Anfang nur embryonisch vorgebildet war; wer diese Aufgabe löst, der folgt, auch wenn ihm dabei von der Antizipation seiner Lösung durch KANT noch nichts bekannt war, nicht dem paradoxen Einfall einer subjektiven Laune, sondern der zwingenden Logik einer objektiv-historischen Gedankenbewegung.

Wenn man es meiner Philosophie zum Vorwurf macht, daß sie die anscheinend unvereinbaren Gegensätze es evolutionistischen Optimismus (HEGELs) und des eudämonologischen Pessimismus (SCHOPENHAUERs) zu vereinigen unternimmt, so kann ich nunmehr diese an meine Adresse gerichteten Vorwürfe an eine ältere und besser akkreditierte Firma, an die KANTs, überweisen. Diejenigen, welche mit einer Widerlegung des SCHOPENHAUERschen Pessimismus auch den meinigen mit widerlegt zu haben glaubten, haben bereits angefangen, sich zu überzeugen, daß sie ein unrechtes Ziel aufs Korn genommen hatten; wenn sie aber ihren Ärger hierüber in den Vorwurf kleiden, daß in mir der eigentliche Pessimismus, der SCHOPENHAUERs, sich selbst untreu geworden und entartet sei, so verkennen sie die Tatsache, daß ich den in SCHOPENHAUER bereits degenerierten Pessimismus nur zu seiner echten historischen Urform, zur Kantischen, zurückgeführt habe. Beim ungemessenen Ansehen, welches grade die Kantische Philosophie gegenwärtig in den Kreisen der Kathederphilosophie genießt, kann die Enthüllung, daß letztere in meinem Pessimismus nichts anderes als die Kantische Philosophie bekämpft, nicht verfehlen, einen geradezu verblüffenden Eindruck hervorzubringen. Die Verwahrungen und Einschränkungen werden sicher nicht ausbleiben; aber die Tatsachen liegen zu offen und unzweideutig da, um durch Proteste an ihnen rütteln und mäkeln zu können, so daß man sich wohl oder übel in die unbequeme Situation wird finden müssen.

In der Tat sind die Gegner, mit denen mein Pessimismus zu kämpfen hat, heute noch dieselben, mit welchen seinerzeit KANT zu kämpfen hatte, die Leute auf und außerhalb des Katheders, deren Verstand das Maß des gesunden Menschenverstandes nicht überragt und deshalb im Dienst des instinktiven Glückseligkeitstriebes einen irdischen oder transzendenten, offenen oder verkappten Eudämonismus befangen ist, der kann und will sich natürlich auch den eudämonologischen Optimismus nicht rauben lassen, der mag sich mit einem bloß teleologischen Optimismus der Entwicklung nicht zufrieden geben, welcher ihm als eine bloße Verhöhnung seiner eigentlichen Sehnsucht erscheint und außerdem dem gesunden Menschenverstand als eine höchst problematische Spekulation der Phantasie gilt. Wer aber dem eudämonologischen Optimismus huldigt, der kann logischer Weise und tatsächlich über den Eudämonismus [Glückseligkeitslehre - wp] noch eine transzendente Lücke offen gelassen und wäre nicht eine weitere Verflachung seines moralischen Rigorismus in der Zunftphilosophie zur konventionellen Entstellung geworden, so würde die Moral KANTs heute ebenso eifrig bekämpft werden wie bei ihrem Erscheinen; selbst jetzt liegt die Sache so, daß die Mehrzahl derer, die auf den Namen "Kant" schwören, damit nur den Verfasser der "Kritik der reinen Vernunft" im Sinne haben und unter Ignorierung des Verfassers der "Kritik der praktischen Vernunft" neben ihrem erkenntnistheoretischen Neukantianismus ruhig einer egoistischen Pseudomoral fröhnen, vor welcher der alte KANT sich im Grab umdrehen würde.

Nach den Erfahrungen der jüngsten Zeit läßt sich mit Bestimmtheit behaupten, daß es die Angst des Glückseligkeitstriebes, durch eine pessimistische autonome Moral zur wenn auch nur theoretischen Abdankung verurteilt zu werden, also der unbewußte Hass gegen den Pessimismus war, welcher den gesunden Menschenverstand gegen KANTs Reform der Moral in Harnisch setzte und nach seinem Tod die konventionelle Verflachung dieser Reform oder ihre gänzliche Ignorierung durchsetzte. Weil KANT diesen Zusammenhang noch nicht zu durchschauen vermochte, konnte er auch noch nicht die rechte Waffe dagegen anwenden, nämlich die gesonderte Darstellung, Begründung und Verteidigung des Pessimisms, der in seiner Lehre nur erst implizit enthalten ist. Was KANT erstrebte, die Reinigung des sittlichen und religiösen Bewußtseins von jeder Verquickung mit Eudämonismus, das ganz zu vollbringen ist heute unsere Aufgabe, und wir wissen jetzt, daß der Pessimismus die einzige Fahne ist, unter welcher dieser große und schwere Sieg errungen werden kann. Dieser Sieg, der zu einer völligen Erneuerung des sittlichen und religiösen Lebens führen muß, wird gelingen und zwar deshalb, weil der Pessimisms inzwischen von der geschichtlichen Entwicklung selbständig herausgestellt ist, weil derselbe seine unreifen Vorstufen durchlaufen hat und zu einer Macht geworden ist, der gegenüber die Gegner ihre Ohnmacht bereits zu fühlen beginnen. -

Es bedarf kaum der Hindeutung, in welchem Grad der Nachweis, daß mein Pessimismus seine geschichtliche Wurzel und das Vorbild seiner systematischen Einordnung in KANT hat, die Vorurteile, daß derselben unwissenschaftlich und schädlich sei, erschüttern muß. Wenn die Schriften von HUBER und GASS als vorläufiger Ersatz einer noch fehlenden Geschichte des Pessimismus ein Bild von der weltgeschichtlichen Bedeutung des Pessimismus im Allgemeinen entrollen und dami die Meinung seiner zufälligen Subjektivität umstoßen, so zeigt meine Klarstellung des KANTschen Pessimismus, wie sehr dieses Problem mit demjenigen des Evolutionismus vereint im Mittelpunkt der neueren deutschen Spekulation steht, (1) wie wenig also der Vorwurf begründet ist, daß dieses Problem nur von draußen stehenden Dilettanten für ein wissenschaftliches Problem gehalten werden könne. Aber hierdurch wird dem Pessimismus die Wissenschaftlichkeit erst im historischen Sinn des Wortes verbürgt und es bliebe die Möglichkeit offen, daß methodologisch betrachtet die Lösung dieses Problems die menschliche Wissenschaft übersteige, also auch die Aufstellung desselben und die Beschäftigung mit ihm nicht wissenschaftlich zu nennen wäre. Die Berechtigung dieses Bedenkens zu prüfen, ist die Aufgabe der zweiten Abhandlung; dieselbe soll also nicht etwa selbst die wissenschaftliche Begründung des Pessimismus erschöpfend vorführen, sondern nur die Zweifel an der Möglichkeit einer solchen beseitigen und den inneren Zusammenhang aller für denselben anderweitig vorgebrachten Gründe und Beweise klar stellen. Durch die geordnete Zusammenfügung der letzteren gewinnt jeder einzelne erst im Zusammenhang mit den übrigen die sichere Rückenlehne und die rechte Beleuchtung und alle zusammen die schlechthin überzeugende Beweiskraft. -

Durch die Beziehung, welche der Pessimismus in der KANTschen Philosophie zur Moral gewinnt, ist auch zugleich der Weg für die Widerlegung des dritten Vorurteils von der Schädlichkeit des Pessimismus angedeutet. Es ist dies von den drei erwähnten Vorurteilen jedenfalls das am festesten sitzende, weil es am unmittelbarsten inspiriert ist von dem in seiner Berechtigung sich bedroht fühlenden Glückseligkeitstrieb. Die Gegner, welche von diesem Vorurteil beherrscht werden, behandeln es als eine Frage von sekundärer Bedeutung, ob der Pessimismus  wahr  sei oder nicht; denn die Überzeugung von seiner Schädlichkeit genügt ihnen, um zu dekretieren, daß er  nicht gelehrt  werden düre,  gleichviel  ob er wahr sei oder nicht. So sind z. B. die durchschnittlichen Vertreter des liberalen Protestantismus ganz tolerant gegen Leute, welche die Persönlichkeit Gottes und die Unsterblichkeit der Seele leugnen, aber der Zweifel an der Behaglichkeit dieser Welt gilt ihnen als eine verruchte Blasphemie gegen den allgütigen Schöpfer, als eine Sünde gegen den heiligen Geist. So hat ferner ein Teil des Nationalliberalismus, wie er beispielsweise in den "Preußischen Jahrbüchern" seine Vertretung findet, zwar ein nachsichtiges Verständnis für diejenigen, welchen das Tempo unserer politischen, sozialen und kirchlichen Entwicklung zu schnell, ja sogar für solche, denen es zu langsam geht; aber wie man die Herrlichkeit des neuen deutschen Reiches mit erlebt haben und dann noch diese Welt für schlechter als keine erklären kann, das ist ihm schlechterdings unverständlich. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn auf die Vertreter dieses liberalen Protestantismus und selbstzufriedenen Nationalliberalismus das Stichwort "Pessimismus" eine ähnliche Wirkung übt, wie die rote Farbe auf den Puter, d. h. sie in besinnungslosen Zorn versetzt und gegen jede nach Pessimismus riechende Lehr sich ereifern läßt, ohne Unterscheidung, welcher Art dieser Pessimismus sei und welche Stellung er in dieser Lehre einnehme.

Dabei zeigt sich nun dieser Grimm gegen den Pessimismus in wachsendem Maße durchdrungen von der Überzeugung, daß die pessimistische Weltanschauung gegenwärtig durch ihre epidemische Verbreitung bereits zu einer (wenn auch nur negativen) kulturgeschichtlichen  Macht  geworden sei, gegen welche der Kampf von außen als  aussichtslos  und die Argumente der Optimisten als praktisch  ohmächtig  erscheinen, welche deshalb nur noch  durch  sich selbst überwunden werden könne. Diese Überzeugung, welche natürlich geeignet ist, den Hass der Gegner zu steigern, enthält in zwiefacher Hinsicht etwas Richtiges: erstens die Anerkennung der Ohnmacht des Optimismus gegenüber der einmal zum Durchbruch gelangten pessimistischen Weltanschauung, und zweitens, daß der Pessimismus nur durch sich selbst gereinigt, von Auswüchsen befreit und zur vollen Wahrheit entwickelt werden kann, mit anderen Worten: daß der falsche oder doch schiefe und einseitige Pessimismus nur durch den wahren überwunden werden kann.

Gegenüber den tatsächlich vorhandenen schädlichen Formen eines einseitig entstellten Pessimismus handelt es sich vor allem darum, diese Formen präzise zu charakterisieren und den wahren Pessimismus von ihnen scharf abzugrenzen, dann aber darum, zu zeigen, daß der letztere nicht nur unschädlich sondern geradezu die unentbehrliche solide Grundlage für echte Moral und Religion ist. Diese Aufgabe sucht der dritte Aufsatz zu lösen; wenn er damit sich am engsten an die Ethik anlehnt, so weist der vierte und letzte bereits über die Moral hinaus auf das Gebiet der Religionsphilosophie.

Hier in dieser letzten Abhandlung nimmt die Untersuchung einen ganz selbständigen Gang von einem neuen Ausgangspunkt. Wenn der Pessimismus an der Erfahrung des Leides seine empirische Basis hat, so kann er doch erst durch Reflexion aus der Auffassung entspringen, welche der Mensch vom Leid gewinnt. Es kommt also darauf an, zu prüfen, welche Bedeutung dem Leid beigemessen wird und welche Stellung der Mensch infolgedessen zum Leid nimmt. Dies erfordert eine phänomenologische Skizzierung der möglichen Stellungnahmen des Menschen zum Leid, welche ebenso viele Epochen in der kulturgeschichtlichen Entwicklung der Menschheit bezeichnen. Diejeige Stellungnahme, welche das Leid in seiner tiefsten und umfassendsten Bedeutung erfaßt und zugleich die relative Wahrheit aller untergeordneten Positionen in sich aufhebt, wird auch die theoretisch wahrste und praktische höchste sein. Es wird sich zeigen, daß auch auf diesem Weg sich die Einheit von teleologischem Evolutionismus und eudämonologischem Pessimismus als die tiefste und wahrste Auffassung des Lebens ergibt. Wenn von theologischer Seite in Rezensionen meiner früheren Schriften bemerkt worden ist, daß manche meiner Erörterungen von jeder Kanzel verlesen werden könnten, so möchte dies mit relativ größerem Recht als von meinen bisherigen Publikationen vom größeren Teil dieser letzten Abhandlung gesagt werden können.
LITERATUR - Eduard von Hartmann, Ist der Pessimismus wissenschaftlich zu begründen?, Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus, Berlin 1880
    Anmerkungen
    1) Vgl. auch VOLKELTs Auseinandersetzungen über den eudämonologischen Pessimismus in der HEGELschen Philosophie, in seinem Buch "Das Unbewußte und der Pessimismus", Berlin 1873