cr-4 LotzeLotzeO. CaspariL. StählinF. CheliusF. GoldnerS. Levi    
 
HANS PÖHLMANN
Die Erkenntnistheorie
Rudolf Hermann Lotzes


"Die Sucht, immer wieder einen realen Kern zu suchen, ist zwar natürlich, weil sie eine unserem Denken unvermeidliche optische Täuschung ist, aber immer wieder versuchen wir alle lebendige Wirklichkeit gleichsam aufzuhängen an einen Träger und ein hinter ihr liegendes Subjekt; doch ist vom philosophischen Denken diese Neigung entschieden zurückzuweisen, denn  gegeben ist weiter nichts, als die der Art ihrer Entstehung nach absolut unbegreifliche tatsächliche Wirklichkeit."

"Es ist ein Vorurteil, anzunehmen, daß die äußere Welt für sich eigentlich schon die ganze Welt bildet, daß die Erkenntnis bloß nebenher dazu kommt, um diese abgeschlossene Welt noch einmal abzubilden, daß aber durch diese Abbildung nichts Neues zum vorherigen Bestand der Welt hinzugefügt wird, daß dieser Bestand vielmehr ganz fertig und vollständig ist, auch wenn diese Abbildung gar nicht erfolgt."

"Der Allgemeinbegriff bezeichnet eine unvollendbare Forderung. Denn ein allgemeines Pferd, Farbe im Allgemeinen etc. können wir uns nie vorstellen. Hat er überhaupt eine sachliche Bedeutung oder ist er nur ein gemeinsamer Name, nur ein Wort? In der Tatsache, daß wir Allgemeines überhaupt nur denken können, liegt doch ein Beweis des ersteren, einer realen Geltung des Begriffs; denn wenn wir uns auch die allgemeine Farbe nicht vorstellen können, so empfinden wir doch in Rot und Gelb ein Gemeinsames, das uns nötigt, den Allgemeinbegriff zu bilden."

"Der Begriff hat keine  Seins-, sondern eine  Geltungsrealität hat und auch dies nicht in uneingeschränkter Weise. Denn alle unsere Begriffsbildungen, Klassifikationen und Konstruktionen sind subjektive Bewegungen unseres Denkens und nicht Vorgänge in den Sachen."

So verschieden auch die Urteile über LOTZE und die Bedeutung seiner Philosophie sein mögen, darüber herrscht gewiß kein Streit, daß in ihm ein Mann aufgetreten ist, der in einer Zeit, wo die Königin der Wissenschaft hoffnungslos und verachtet darniederlag, ihr Banner wieder zu Ehren brachte und es bewies, daß die Kraft und Tiefe des deutschen philosophischen Denkens weder von der Hochflut des Materialismus hinweggeschwemmt, noch von der üppig wuchernden wissenschaftlichen Detailarbeit erstickt werden konnte. Man könnte 2 Arten von epochemachender Geistesgröße unterscheiden, durch welche die Wissenschaft immer um einen großen Schritt nach vorwärts kommt: einerseits die schroffen, einseitigen Denker; in glücklicher Stunde blitzt ihnen mit unwiderstehlicher Deutlichkeit ein neuer Gedanke auf, der auf dunkle Gebiete, die sich bisher der denkenden Bearbeitung entzogen, plötzlich ein helles Licht wirft; mit zäher Energie halten sie nun diesen Gedanken fest, kämpfen und leiden, wenn es not tut, dafür, überlassen es aber im Großen und Ganzen anderen, ihn nach allen Seiten abzurunden, auszugleichen und zu vermitteln, und im Bewußtsein der Schranken der neuen Wahrheit sie dem Ganzen der bisherigen Erfahrung und Erkenntnis an der rechten Stelle einzugliedern; solche sind z. B. ATHANASIUS, KANT. Die andern sind wie eine Zisterne, in der sich alle Bäche und Bächlein sammeln, und zu einem Reservoir einer neuen und stärkeren Kraft werden; die verschiedenen Richtungen der bisherigen Entwicklungsind wie in einem Brennpunkt gesammelt und der fruchtbare Mutterboden aller folgenden Bestrebungen; solche umfassenden Geister waren ARISTOTELES, AUGUSTINUS, LEIBNIZ, SCHLEIERMACHER, und auch LOTZE ist dieser letzteren Art zuzuzählen. LEIBNIZens Pluralismus und HEGELscher Monismus, kantischer Idealismus und HERBARTscher Realismus, trockener Mechanismus und seelenvollster Spiritualismus haben sich in ihm zusammengefunden und zwar nicht etwa bloß zu einem zusammengewürfelten Haufen unbhauener Steine, sondern zu einem bewundernswerten Gebäude edelsten Stils.

Rücksichtslos und konsequent dehnt er die Prinzipien der Naturerklärung aus auf das gesamte Gebiet der Wirklichkeit, da Natur und Geist ihm nicht durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt sind, und doch steigt er mit wahrhaft poetischem Schwung und religiöser Begeisterung, wenn auch mit ehrerbietiger Scheu empor, um das Universum als Ausdruck der Idee des Wahren, Guten und Schönen zu begreifen. Fern liegt ihm alles gelehrte Formen- und Phrasenwesen, das die deutsche Philosophie von der englischen so nachteilig unterscheidet; er stellt sich nicht mit absichtlicher Wichtigtuerei von Anfang an auf hohen Kothurn [hochtrabendes Gerede - wp], sondern nimmt die Probleme einfach und natürlich, wie sie gegeben sind, und doch gelangt er zu aussichtsvollen Höhen, auf die ihm der Atemschwache von selbst nicht mehr folgen kann. Einfacher Ausdruck bei großer Fülle der Gedanken werden ihn auch für nicht philosophisch interessierte oder beanlagte Leser zu einem angenehmen und zugleich lehrreichen Schriftsteller machen.

I. Wenn wir es nun im Folgenden versuchen, die Erkenntnislehre LOTZEs darzustellen, so müssen wir dem von ihm selbst gewiesenen Weg folgen, der aus der Metaphysik zur Erkenntnislehre führt, aber nicht umgekehrt verläuft. Denn nach LOTZE ist die Erkenntnistheorie nicht das Tor zu der Metaphysik, wofür sie gewöhnlich gilt, sondern vielmehr ein spezieller, angewandter Teil derselben.
    "Wir werden zuerst uns überlegen müssen, was wir über die Dinge und den Zusammenhang zwischen ihnen denken müssen. Und das gefundene Resultat werden wir dann auf das Verhältnis der Dinge zu uns anwenden und bestimmten müssen, wie weit unsere Erkenntnis reichen kann, weil die Wechselwirkung zwischen uns und den vorzustellenden Objekten nur ein Einzelfall der Beziehung ist, welche wir allgemein zwischen irgend zwei Elementen oder Dingen in der Wirklichkeit bestehend kennen gelernt haben." (Grundzüge der Metaphysik, § 4)
GERCKEN (1), der sich in seinem Programm in allen Wesentlichen Stücken zur Erkenntnistheorie LOTZEs bekennt, tadelt es am Schluß sehr, daß LOTZE noch gewisse metaphysische Behauptungen über die "Welt ansich" festhält und steht allen Behauptungen, die über unsere Gedankenwelt hinaus feste Wahrheitselemente finden wollen, mit einem unerschütterlichen Skeptizismus gegenüber; denn dieses Gebiet liegt eben
    "außerhalb unserer Intellektual-Grenzen; was sich also nicht mehr logisch garantieren läßt, das fällt nicht mehr in die Aufgabe der Philosophie, das gehört dem Gebiet des Glaubens oder des Gemütslebens an" (Gercken, a. a. O., Seite 23)
Er bleibt also auf dem Standpunkt von KANTs "Kritik der reinen Vernunft" stehen, ohne den Fortgang zur "Kritik der praktischen Vernunft", den auch LOTZE in ihm eigentümlicher Weise macht, als rechtmäßigen anzuerkennen. Lassen wir die materielle Berechtigung dieses Einwurfes dahingestellt, so viel ist uns nach dem Vorigen gewiß, daß es nicht angeht, LOTZEs Erkenntnislehre als Richterin über seine Metaphysik aufzustellen; denn für LOTZE sind denknotwendige, im letzten Grund ethisch-ästhetisch fundierte Behauptungen über die Wirklichkeit ansich das Erste und Wichtigste seiner Weltanschauung.

Wie kommt er aber zu solchen Behauptungen? Wie schon gesagt, nicht durch eine Untersuchung über die Grenzen unseres Erkennens, denn es sei langweilig immer das Messer zu wetzen, ohne zu schneiden, sondern die geschichtlich gegebenen Probleme, die von unserer Vernunft mit dem unausrottbaren Vertrauen zu sich selbst, daß ihre Erkenntnis die Welt und ihre Zusammenhänge auch wirklich erfassen könne, aufgenommen und bearbeitet werden, sind der Ausgangspunkt seines Philosophierens. Der Glaube an die Voraussetzungslosigkeit erkenntnistheoretischer Untersuchungen sei ja doch auch nur eine Fabel.
    "Es ist ganz unmöglich, die Grenzen zu bestimmen, innerhalb deren die Vernunft von den Dingen wissen kann, wenn man nicht zur Entscheidung dieser Frage irgendeine Vorstellung über die Natur der erkennenden Seele, irgendeine Vorstellung über die Natur des vorzustellenden Dings, schließlich irgendeine Vorstellung über das Verhältnis, in welchem das Ding zur Seele steht, als bereits gültig voraussetzt, d. h. wenn man nicht wenigstens einen Teil der wirklichen Metaphysik als bereits ausgeführt ansieht, um auf ihn jene Kritik der Vernunft zu stützen." (Grundzüge Metaphysik § 4)
Durch diese Antipathie gegen die Voranstellung der Erkenntnistheorie zieht sich LOTZE freilich vielfachen Tadel zu, als wolle er damit in die vorkantische Zeit des naiven Dogmatismus zurückrufen, aber gegenüber der so sehr bevorzugten und trotzdem ziemlich unfruchtbaren Pflege der Erkenntnistheorie in unserer Zeit, kann sein Mißtrauensvotum nur heilsam wirken, zumal er in der Entwicklung seiner Philosophie die erkenntnistheoretischen Probleme wohl zu würdigen weiß. Es bleibt eben doch wahr, daß man, ohne ins Wasser zu gehen nicht schwimmen kann, und daß unsere Erkenntnistätigkeit nicht oder zumindest nicht mit Gewinn isoliert vom Stoff, den sie bearbeitet, betrachtet werden kann. Es ist ein Zeichen von Achtung der Geschichte gegenüber, die man der Philosophie in höherem Maße, als es bisher der Fall war, wünschen möchte, daß LOTZE aus ihr die Probleme entnimmt; und in der Tat, was die Menschheit seit alten Zeiten bewegt hat, und immer aufs Neue ihre Wißbegier anregt, muß für sie auch von ausschlaggebendem Interesse sein, und eine Lehre, die zu deren Aufhellung etwas beiträgt, verdient den Namen  Philosophie,  auch wenn sie ohne viele erkenntnistheoretische Bedenken einfach von der Geschichte und dem Bedürfnis der jeweiligen Zeit sich ihre Aufgaben stellen läßt.

Suchen wir uns also über die Grundbegriffe der LOTZEschen Metaphysik Klarheit zu verschaffen.

Sein  heißt in Beziehungen stehen, Wechselwirkungen sind der letzte Bestand der Wirklichkeit. Es ist irrig, vor dieses wirksame Sein noch ein reines, beziehungsloses Sein setzen zu wollen, denn dieses würde sich ja vom Nichtsein gar nicht mehr bestimmbar unterscheiden, also zu leer sein, um eine geeignete Grundlage der Wirklichkeit abgeben zu können. Auch als Affirmation oder Position in HERBARTscher Weise das Sein definieren zu wollen, ist unmöglich, denn dies sind nur einseitige Abstraktionen, die erst wieder mit der konkreten Fülle, aus der sie losgelöst wurden, verbunden werden müssen, um überhaupt etwas zu bedeuten. Worin besteht nun eigentlich das  Was  des Seienden. LOTZE weist es zunächst ab, dieses als einfache Qualität zu bestimmen; denn Qualitäten seien unveränderlich, adjektivisch, also ungeeignet, das lebendige Werden der Wirklichkeit zu erklären. Einfachheit könne überhaupt vom Seienden nicht erwartet werden, denn "jede Änderung der Qualität würde dann sogleich eine totale Aufhebung dieses ganzen  Was  werden und alle Kontinuität zwischen dem Vorigen  a  und dem Späteren  α  aufhören." Das Seiende muß vielmehr notwendig zusammengesetzt sein. Damit aber das nun veränderte Ganze derselben Formel unterworfen bleibt, müssen wir von diesem Zusammengesetzten eine Einheit verlangen, die eine Veränderung zwar zuläßt, sie aber dadurch kompensiert, daß der Veränderung  eines  Elementes der Zusammensetzung eine korrespondierende aller übrigen nachfolgt. (Grundzüge Metaphysik § 20)

Diese Einheit kann zunächst am deutlichsten dargestellt werden, wenn wir sie nicht nach Analogie einer Anschauung, sondern eines Begriffes denken, also als einheitliches Gesetz, als sinnvolle Formel. Es fehlt dabei nur noch das Konkrete der lebendigen Wirklichkeit, aber in unserer sprachlichen Beschränktheit können wir dem nicht anders abhelfen, als daß wir uns diese Formel eben als eine lebendige, individuelle, wirkungskräftige denken.

Die Sucht, dahinter immer wieder einen realen Kern zu suchen, ist zwar natürlich, weil eine unserem Denken unvermeidliche optische Täuschung ist, aber immer wieder versuchen wir alle lebendige Wirklichkeit gleichsam aufzuhängen an einen Träger und ein hinter ihr liegendes Subjekt; doch ist vom philosophischen Denken diese Neigung entschieden zurückzuweisen, denn  gegeben  ist weiter nichts, als die der Art ihrer Entstehung nach absolut unbegreifliche tatsächliche Wirklichkeit.

Damit ist auch der Substanzbegriff aus der Welt der Dinge verbannt. In welcher Weise er beim Begriff des Absoluten wieder rehabilitiert wird, berührt nicht unser Thema.
    "Nun ist in der Tat  Substanz nichts als ein Titel, der all dem zukommt, was auf anderes zu wirken, von anderem zu leiden, verschiedene Zustände zu erfahren und im Wechsel derselben sich als bleibende Einheit zu betätigen vermag." (Grundzüge Psychologie, § 78)
Die Dinge sind nicht Dinge dadurch, daß in ihnen eine Substanz verborgen ist, sondern weil sie so sind, wie sie sind, und sich so verhalten, wie sie sich verhalten, bringen sie für unsere Phantasie den falschen Schein hervor, als läge in ihnen eine solche Substanz als Grund ihres Verhaltens. (ebd.)

In der Metaphysik werden dann die Dinge weiter als Aktionen, Modifikationen des All-Einen bestimmt, an dem sie erst ihr Recht und eigentliche Wirklichkeit haben.
    "Allerdings sind sie das, was sie sind, und leisten das, was sie leisten, nicht vermöge eines Rechtes ihrer Natur, das ihnen vor aller Welt zukäme, so daß sich später die Welt danach richten müßte und nur das verwirklichen könnte, was diese Privilegien erlauben. Sie sind und leisten vielmehr alles nur im Auftrag dieses Einen wahrhaften Wesens; und Alles, was wir gewöhnlich als letzte unveränderliche Elemente und Gesetze des Weltlaufes ansehen, hat diese Unveränderlichkeit und diesen Wert auch nur im Auftrag des Plans, zu dessen Verwirklichung es dienen soll." (Grundzüge Psychologie, § 79).
Später kommt LOTZE von einem konsequenten Monismus, den er hier lehrt, scheinbar wieder etwas zurück, indem er die Dinge in ihrem Fürsichsein doch eine gewisse Selbständigkeit besitzen läßt, was sich aber doch mit seinem Monismus wohl vereinigen läßt, und nicht, wie EDUARD von HARTMANN tadelnd meint, einer herbartisch-pluralistischer Einschlag zu sein braucht.

Die eigentliche Brücke zum Monismus gewinnt LOTZE aus seinen Ansichten über Veränderung und Wechselwirkung. Für unsere Zwecke kommt hier zunächst seine starke Betonung der Gegenseitigkeit der Wirkung in Betracht, so daß zum Resultat des Geschehens der leidende Teil mindestens ebensoviel beiträgt, wie der wirkende.
    "Wir haben gesehen, daß alles, was wir mit Recht Rezeptivität nennen dürfen, nicht in Abwesenheit jeder eigenen Natur, sondern in wirksamer Anwesenheit bestimmter Beschaffenheiten besteht, die allein dem empfänglichen Element erst möglich machen, ihm zugemutete Eindrücke aufzunehmen und aus ihnen seine eigenen Zustände zu machen." (Metaphysik, Seite 104).

    "Einseitige Wirkung eines Dinges auf das andere gibt es daher nie, sondern nur Wechselwirkung, deren vollständiger Begriff so lautet: Wenn zwei Dinge  a und  b in eine bestimmte Beziehung treten, so geht  a in  α, b in  β, c in  γ über." (Grundzüge Metaphysik, § 33).

    "Den ganzen Grund für die Gestalt einer Folge  W enthält also nich  ein Wesen  a (denn dann würde  W nicht erst eintreten, sondern von jeher vorhanden sein), sondern er liegt verteilt in mindestens zwei Wesen  a und  b, die in irgendeiner veränderlichen Beziehung  c zueinander stehen." (Grundzüge Metaphysik, § 34)
LOTZE weist (Metaphysik, Seite 55f) falsche Auffassungen der Kausalität ab: sie kann nicht durch den Übergang eines feinsten Stoffes gedacht werden, damit wäre das Problem nur zurückgeschoben, da es ja ebenso unbegreiflich bleibt, wie dieser Stoff auf einen anderen wirken könne; ebensowenig als Übergang eines Zustandes, denn dieser müßte dann einen Augenblick in der Luft hängen und Niemandes Zustand sein.

Beim Okkasionalismus [Lehre von den Gelegenheitsursachen - wp], wo gelegentlich der Veränderung in der einen Reihe auch eine solch in der andern eintritt, müßte doch letztere die Veränderung in der ersteren bemerken, aber wie sollte dies geschehen, ohne daß auch hier die Kausalität, die man erklären will, schon voraussetzt; durch eine prästabilierte [vorgefertigte - wp] Harmonie mit LEIBNIZ, die ganze Entwicklungslinie von Anfang an bestimmt zu denken ist eine Verlegenheitsauskunft, und der darin liegende absolute Determinismus entspricht der Wirklichkeit nicht. Wie können die Dinge überhaupt aufeinander wirken? LOTZE beantwortet dies dahin: Sie können dies nur, wenn sie einander nicht absolut fremd sind, sondern in einer übergreifenden Einheit befaßt sind; wenn sie überhaupt nicht voneinander unabhängig, sondern Teile, besser Aktionen des Alleinen  M  sind. Damit geht die transeunte [in einen anderen Bereich übergehend - wp] Kausalität in eine leicht verständliche immanente im All über.

Wenn wir diese Ansicht von der Kausalität im Allgemeinen nun im Besonderen auf die Erkenntnistheorie, d. h. auf die Wechselwirkung von Objekt und Subjekt anwenden, so ergibt sich für LOTZE freilich eine von der gewöhnlichen abweichende Beantwortung der Frage: Worin besteht die Wahrheit? Jene sagt: Wahrheit ist die getreue Abbildung eines wirklichen Tatbestandes, der gleichsam zum zweitenmal in geistiger Form im menschlichen Denken Leben bekommt.

Setzen wir einstweilen die Realität einer Außenwelt, deren Berechtigung wir später noch prüfen werden, voraus, so ergibt sich für LOTZE nach seinen metaphysischen Grundanschauungen die Ansicht, daß, wenn sich das Ding  a  in  α  ändert, in unserem Geist vermöge des Zusammenhangs im All-Einen anstelle der Vorstellung  b  die Vorstellung  β  tritt; die Vorstellung  β  hat mit dem Zustand  α  eigentlich also nicht viel zu tun; sie stehen nur in einem gesetzmäßigen Zusammenhang.
    "Wahrheit besteht dann nur in der Übereinstimmung einer Vorstellung mit derjenigen Vorstellung, welche in Bezug auf dasselbe Objekt in allen anderen Geistern von derselben Organisation entstehen muß." (Grundzüge Metaphysik, § 76)

    "Es ist ein Vorurteil, anzunehmen, daß die äußere Welt für sich eigentlich schon die ganze Welt bildet, daß die Erkenntnis bloß nebenher dazu kommt, um diese abgeschlossene Welt noch einmal abzubilden, daß aber durch diese Abbildung nichts Neues zum vorherigen Bestand der Welt hinzugefügt wird, daß dieser Bestand vielmehr ganz fertig und vollständig ist, auch wenn diese Abbildung gar nicht erfolgt. Man muß im Gegenteil diese Tatsache, daß durch den Einfluß jener äußeren Wirklichkeit in den Geistern eine Welt der mannigfaltigsten Erscheinungen entsteht, ebenfalls mit zum Inhalt des Weltlaufs und zwar zu seinen wichtigsten Bestandteilen rechnen, sodaß die Welt ohne diesen Vorgang gar nicht fertig wäre, und daß sie nicht in einem Sein, welches nebenher erkannt werden könnte, sondern eben nur in einem beständigen Übergang selbst dieses Seins in seiner Erscheinung für den Geist besteht." (Grundzüge Metaphysik, § 77 und 78)
Zum erstenmal sehen wir hier, daß für LOTZE nicht Seinsurteile, sondern Werturteile das Maßgebende sind, daß ihm nicht der Begriff der Wahrheit, sondern der des Wertes und des Zweckes der oberste ist. Farben und Töne, Vorstellungen und Ideen haben Wirklichkeit freilich nur in unserem Geistesleben, aber sind sie deshalb weniger wert? Ein Schmerz, den niemand fühlt, ist auch unwirklich, aber ist der gefühlte deshalb weniger Schmerz? Was die Phantasie des Dichters in die Natur hineinschaut, ist auch nur ein Erzeugnis seines Geistes, aber sind uns diese seine Gedanken nicht manchmal wertvoller und wichtiger als ihre Veranlassung in der Natur? So sehr LOTZE von FECHNER sonst abweicht, hierin begegnen sie sich, die geistige duftige Gestalt, in der die Welt vom Menschen erfaßt wird, ist nicht etwas, mit dem wir uns leider begnügen müssen, sondern es ist die edelste Blüte der Wirklichkeit; was hülfe es uns, wenn wir die ganze dahinter liegende Maschinerie noch einsehen könnten?

Dieser eigenartigen Ansicht halber ist LOTZEs Erkenntnistheorie als zum absoluten Jllusionismus führend beurteilt worden (siehe STÄHLIN), aber dies kann man doch nur, wenn man seine eigene Rechtfertigung ignoriert und sich ihm gegenüber immer auf den Standpunkt stellt, den er sich Mühe gibt zurückzuweisen. Haben wir den in der Tat ein unvermeidliches Interesse daran, ein Spiegel der Wirklichkeit zu sein. LOTZE folgt hier dem gewiß berechtigten Zug unseres Jahrhunderts, den ganzen Menschen zu seinem Recht kommen zu lassen in der Totalität seines geistigen Lebens, und nicht das intellektualistische Interesse einseitig herauszugreifen und allein zu pflegen.

LOTZE erinnert an die ähnliche Auffassung, wonach unsere Vorstellungswelt, die eine Folge und kein Abbild einer Außenwelt ist, für uns in Betracht kommt als Material der Pflichterfüllung, indem sich der Mensch als sittliches Wesen, erkennen und betätigen soll. Für LOTZEs monistisch-spekulativen Geist ist dies zu atomistisch und anthropozentrisch gedacht. Drum verlegt er den Zweck der Welt nicht in die einzelnen Geistwesen, sondern in das Universum als höchstes sich realisierendes Gut, gesteht freilich zu, daß dieser höchste Gedanke nur ein regulatives Prinzip sein kann, ohne die einzelnen Untersuchungen störend beeinflussen zu dürfen. Wir werden noch auf diesen ästhetisch-ethischen Oberbau der Philosophie LOTZEs zurückkommen.

Wenden wir uns nun zu den erkenntnistheoretischen Fragen im Einzelnen. Drei Auffassungen sind dem Objekt unseres Denkens gegenüber möglich. Entweder man sagt: das Denken kann nicht über sich hinaus, und seine Gedanken sind nichts als zufällige Ansichten, so der Skeptizismus; oder man sagt das Denken könne zu festen Punkten gelangen, deren Realität dann an unser Vorstellungsleben gebunden ist, oder in einer transzendenten, von uns unabhängigen Wirklichkeit begründet sein kann (Idealismus - Realismus). Der Unterschied der beiden letzteren Standpunkte verliert bei LOTZE fast ganz seine Bedeutung; mit dem ersteren (Skeptizismus) findet er sich auf folgende Weise ab. (siehe Logik III, 1.) Da ja zugestandenermaßen nichts anderes als der Zusammenhang unserer Vorstellungen untereinander der Gegenstand unserer Untersuchung sein kann, so beruth der Zweifel, ob nicht vielleicht doch alles anders ist, als es uns erscheint, von vornherein auf der bereits zurückgewiesenen falschen Definition von Wahrheit.
    "Auf das mithin, was uns denknotwendig ist, sind wir tatsächlich in jedem Fall beschränkt; das Selbstvertrauen der Vernunft, daß Wahrheit überhaupt durch Denken gefunden werden kann, ist die unvermeidliche Voraussetzung alles Untersuchens." (Logik, Seite 492)
Über den Skeptizismus in der griechischen Philosophie sagt LOTZE:
    "Als die antike Sophistik lehrte, es gebe keine Wahrheit, und wenn es eine gäbe, so wäre sie nicht erkennbar, wenn sie endlich selbst erkennbar wäre, so wäre sie nicht mitteilbar, so widersprach sie durch die Tat jedem einzelnen dieser Sätze. Denn das Ganze derselben gab sie doch für Wahrheit und konnte mithin nicht jede Wahrheit leugnen; sie suchte die Richtigkeit ihrer Behauptungen ferner zu beweisen, und mußte deshalb eben die mittelbare Erkenntnis der Wahrheit, deren Unmöglichkeit sie am liebsten dargetan hätte, zu ihren eigenen Gunsten voraussetzen; die Mitteilbarkeit endlich leugnete sie in dem Augenblick, wo sie aufgrund derselben andere überzeugen wollte." (Logik, Seite 486)

    "... daß endlich, auch wenn man diese unzulässige Beziehung der Vorstellungswelt auf eine ihr fremde Welt der Objekte fallen läßt, dennoch eine Untersuchung übrig bleibt, welche  innerhalb der Vorstellungswelt die festen Punkte, die ersten Gewißheiten aufzufinden strebt, von denen aus die veränderliche Menge der übrigen Vorstellungen annähernd in einen gesetzlichen Zusammenhang zu bringen gelingen kann." (Logik, Seite 499)
Daß auf diesem Standpunkt der Unterschied zwischen Idealismus und Realismus fast verschwindet, geht aus folgendem hervor:
    "Alles, was wir von der Außenwelt wissen, beruth auf Vorstellungen von ihr, die in uns sind; es ist völlig gleichgültig zunächst, ob wir idealistisch das Vorhandensein jener Welt leugnen und nur unsere Vorstellungen von ihr als das Wirkliche betrachten, oder ob wir realistisch am Sein der Dinge außerhalb von uns festhalten und sie auf uns wirken lassen; auch im letzteren Fall gehen die Dinge doch nicht selbst in unsere Erkenntnis über, sondern nur Vorstellungen, die nicht Dinge sind, erwecken sie in uns." (Logik, Seite 493)
LOTZE gibt ohne Rückhalt zu, daß das uns Gegebene nur unsere Vorstellungswelt ist; aber dies könne der Leugnung der Außenwelt nicht präjudizieren [vorgreifen - wp], da es ja auch bei der Annahme derselben nicht anders sein könnte. Der zum Solipsismus fortgeführte konsequente Idealismus verdient nach LOTZE keine große Beachtung. Für die Beteiligung, die LOTZE ästhetisch-ethischen Motiven beim Aufbau seiner Weltanschauung zukommen läßt, ist charakteristisch, daß er jene Konsequenz einfach "geschmacklos" nennt.
    "Man weiß, daß  Fichte die erste  geschmacklose Folgerung nicht zog, die allerdings in der Konsequenz dieses Irrtums gelegen hätte, die Folgerung nämlich, daß das einzelne so philosophierende Subjekt sich selbst als die einzige Realität ansehen müßte, die in ihrem Innern allein den Schein einer Mitwelt erzeugt." (Metaphysik, Seite 184) und

    "... nehmen wir an, einen Augenblick allerdings sei der einsame Denker versucht gewesen, alle natürliche und geistige Wirklichkeit als gesetzlichen Traum seines persönlichen individuellen Ich, des einzigen Realen, welches er unmittelbar kennt, anzusehen; sein wissenschaftlicher  Geschmack jedoch habe ihn durch einige leicht zu ergänzende Mittelglieder zumindest so weit der gewöhnlichen Meinung wieder genähert, daß die Wirklichkeit der anderen persönlichen Geister, mit denen das Leben ihn in Berührung bringt, ihm nicht zweifelhafter als seine eigene ist." (Mikrokosmus III, Seite 528)
Die Annahme einer Geisterwelt ist für LOTZE demnach nicht ernsthaft Gegenstand des Streites und wir sind damit nun wenigstens bei einem objektiven Idealismus angelangt. Vergleiche noch:
    "Zwei Punkte würden wir für uanaufheblich halten: das Dasein geistiger Wesen, die uns gleichen und die, indem sie ihre Zustände fühlen und sich ihnen als die empfindende Einheit entgegensetzen, eben dadurch dem Begriff eines Wesens genügen; dann die Einheit des wahrhaft Seienden, das auch für diese Wesen Grund ihres Daseins, Quelle ihrer eigentümlichen Natur und die eigentliche in ihnen tätige Wirksamkeit ist." (Metaphysik, Seite 186)
Wie steht es aber mit der Frage nach einer dinglichen Außenwelt? Dem Idealismus erscheint eine Welt, die nur den Zweck hat Mittel für etwas anderes zu sein, weder als existenzberechtigt, noch als existenzfähig. Die Leistungen, zu denen man eine Dingwelt nötig zu haben glaubt, sind ebenso gut denkbar als unmittelbare Aktionen des Allgeistes in den endlichen Geistern, die durch die Einheit des Ursprungs und des Schauplatzes ihrer Wirksamkeit befähigt sind, ein einheitliches Weltbild in allen Geistern hervorzubringen.

LOTZE gesteht ein, daß, wenn es sich bloß umd die Begreiflichkeit der Welt handeln würde, der Begriff eines wirksamen realen Atoms überall durch den einer elementaren Aktion des einen Seienden ersetzt werden könnte. Schon vorher hat er die Alternative aufgestellt: wenn es Dinge geben soll mit der Eigenschaft, die wir von ihr verlangen müssen, Einheit in der Veränderung zu bewahren, so müssen sie mehr als Dinge sein, nämlich geistige Wesen mit dem Charakter des Fürsichsein, wie wir ihn aus unserem eigenen Seelenleben kennen, oder sie sind gar nicht; der Idealismus wählt das letztere. LOTZE legt die Möglichkeit der ersteren dar und berührt sich also hier wieder mit FECHNER in der Ansicht von der Allbeseeltheit. Nur verwahrt er sich dabei sehr gegen eine falsche Ausdeutung derselben, wenn man nämlich den ganz unmöglichen Begriff eines außerhalb Gottseins einmengt,
    "man wird finden, daß man für selbstlose bewußtlose Dinge nicht das Mindeste gewinnt, wenn man ihnen jenes Sein außerhalb von Gott zuschreibt; alle die Festigkeit und all die Wirksamkeit, welche sie als wirkende und bedingende Kräfte in den Veränderungen des uns sichtbaren Weltlaufes bewähren, besitzen sie, als bloße Zustände des Unendlichen gedacht, ganz in derselben Fülle, als wenn sie als Dinge außerhalb von ihm beständen; ja vielmehr eben nur durch ihre gemeinsame Immanenz im Unendlichen haben sie überhaupt, wie wir früher gesehen haben, diese Fähigkeit der Wechselwirkung aufeinander, die ihnen als isolierten, von jenem substanziellen Grund abgelösten Wesen nicht zukommen könnte." (Mikrokosmus III, Seite 634)
Es liegt dem eine berechtigte, aber in dieser Weise falsch befriedigte Sehnsucht, den Dingen eine gewisse Selbständigkeit zu erhalten, zugrunde. Diese wird recht mäßig allein dadurch gestillt, daß man den Dingen das Fürsichsein zuschreibt:
    "Fürsichsein oder Ichheit ist die einzige Definition, welche den sachlichen Inhalt und Wert desjenigen ausdrückt, was wir von zufälligen übelgewählten Standpunkten aus formell als Realität oder selbständiges Sein außerhalb von Gott im Gegensatz zur Immanenz bezeichnen." (Mikrokosmus III, Seite 535)
Der Unterschied dieser seiner Ansicht von der idealistischen wird von LOTZE selbst folgendermaßen bestimmt:
    "Der Unterschied des zuletzt von uns eingenommenen Standpunktes von dem des Idealismus besteht daher nicht darin, daß wir den Dingen ein transzendentes und deshalb reales, der Idealismus dagegen ihnen nur ein immanentes und deswegen nur scheinbares Dasein zuschreibt; vielmehr ist zwischen beiden die andere Differenz, daß die idealistische Meinung, von der Selbstlosigkeit der Dinge überzeugt, ihnen deswegen nur als Zuständen des Unendlichen zu sein gestattet; wir dagegen, im Prinzip damit übereinstimmend, lassen als eine Sache, die wir nicht wissen können, dahingestellt, ob die Voraussetzung jener Selbstlosigkeit zutrifft, haltes es aber für wahrscheinlicher, daß sie  nicht zutrifft, und daß alle Dinge wirklich in verschiedenen Abstufungen der Vollkommenheit die Selbstheit besitzen, durch welche eine immanente Produktion des Unendlichen zu dem wird, was wir ein Reales nennen." (Mikrokosmus III, Seite 536)
Es wird uns bei dieser Sachlage schwer werden, zu entscheiden, ob wir LOTZE den Idealisten oder den Realisten zuteilen wollen. Zu ersterem sind wir geneigt, wenn wir uns erinnern, daß die Dinge ja nur feste Punkte unserer Vorstellungswelt sind; zu letzterem, wenn wir bedenken, daß unsere Vorstellungswelt ein hochstehender Teil der Wirklichkeit ist, und die festen Punkte in ihr ein von uns unabhängiges Dasein im All-Einen haben. Dieselbe Doppelseitigkeit bemerken wir nun auch, wenn wir in Folgendem LOTZEs Lehren über Raum, Zeit und Verstandeskategorien durchnehmen.

II. LOTZE weist (Metaphysik § 99f) es entsprechend seiner Grundanschauung über den Ausgangspunkt der Philosophie auch hier ab, auf erkenntnistheoretischem Weg zu einem Verständnis des Raumes kommen zu wollen; es handle sich vielmehr darum, welche Auffassung desselben in einen denknotwendigen Zusammenhang der Welt paßt. Der Raum ist etwas eigenartiges und die Frage nach der Art seiner Wirklichkeit kann nur nach den Ansprüchen dieses seines eigentümlichen Verhaltens entschieden werden; er ist kein Ding, denn wir unterscheiden ja von ihm die Dinge, die in ihm beweglich sind; er ist keine Eigenschaft, denn es können zwar manche nur durch ihn mögliche Bestimmungen, aber nie er selbst als Eigenschaft der Dinge betrachtet werden; er ist keine Grenze, denn Grenzen sind nur unter der Voraussetzung von Dingen möglich; er ist keine Form, keine Ordnung, kein Verhältnis der Dinge, sondern das eigentümliche Prinzip, das unzählige Formen, Ordnungen und Verhältnisse der Dinge erst möglich macht und als völlig unveränderlicher Hintergrund Nichts vom Wechsel und Übergang dieser Bestimmungen ineinander leitet.

Auch ein Gattungsbegriff ist er nicht, denn das Gesetz der Räumlichkeit erzeugt zwischen den verschiedenen Fällen seiner Anwendung andere Verhältnisse als der Gattungsbegriff zwischen seinen Arten; dem Begriff sind die Arten einfach ohne tatsächliche Zusammengehörigkeit subordiniert, beim Raum kommt noch das eigentümliche Verhältnis des Ganzen zu den Teilen hinzu.

LOTZE schließt sich zunächst der kantischen Ansicht von der Idealität des Raumes an; der Raum ist eine apriorische Anschauungsweise unseres Geistes, dem freilich ein äußerer Raum entsprechen könnte, wenn er sich als denkmöglich erweist. KANT hat Recht, wenn er behauptet: Man kann sich niemals eine Vorstellung machen, daß kein Raum ist, obwohl man sich denken kann, daß keine Gegenstände in ihm angetroffen werden. Die indirekte Begründung, die KANT seiner Lehre durch die Darlegung der Antinomie gibt: DIe Welt ist dem Raum nach in Grenzen eingeschlossen, andererseits: Die Welt hat keine Grenzen, sondern ist unendlich, hält LOTZE nicht für beweiskräftig, denn dieselbe Schwierigkeit bleibt bei der Idealität des Raumes bestehen für die Welt des Realen; mit der Annahme der Endlichkeit der Welt seien beide Ansichten vom Raum gleich verträglich. Die gewöhnliche Auffassung, unter der KANTs Lehre populär geworden ist, er sei wie ein Netz, in das die ihm ganz fremde Wirklichkeit eingefangen wird, übertreibt eine schon bei KANT merkliche falsche Neigung bis zur Undenkbarkeit; denn die Dinge müssen doch zumindest fähig sein, in dieses Netz zu passen, im Reich der Dinge muß irgendwie etwas Entsprechendes sein, das den Anlaß und die Möglichkeit zu einer geordneten Ausfüllung des Raumes gibt; er nennt es vorläufig ein System intelligibler Beziehungen.

Andere von KANT weniger beachtete Momente führen uns zur Annahme seiner Lehre: die Erwägung der zwei Fragen: wie kann überhaupt dem Raum eine eigene Wirklichkeit vor der Erfüllung mit Dingen zugeschrieben werden? Die andere: Wie soll das Verhältnis von Dingen zu diesem seienden Raum vorgestellt werden?

Zur ersten Frage sagt LOTZE, daß sie schon dadurch erledigt ist, daß wir den Raum ja als ein Gewebe von Beziehungen bestimmten, da wir aber in der Ontologie fanden, daß Beziehungen nur Vorstellungen in einem beziehenden Bewußtsein oder innere Zustände in den realen Elementen sein können, so ist die Idealität des Raumes damit eigentlich schon bewiesen. Doch kann es auch ohne diesen Rekurs auf die Metaphysik dargelegt werden: Den Raum als gegeben betrachten, heißt eine Wechselwirkung seiner einzelnen leeren Punkte annehmen.
    "Die Punkte des leeren Raumes selbst kann man nicht wieder in einem früheren Raum so lokalisiert denken, daß aus ihrer Lage in diesem ihre gegenseitigen Beziehungen fließen, sondern um deswillen, was sie selber sind oder tun, müssen sie diese Beziehungen haben und durch dieselben den Raum als Ganzes zusammensetzen.  Sind daher die beiden Punkte  p und  q, so ist ihre Entfernung  p q etwas, was es ohne sie nicht gäbe, und was sie durch sich selbst zu schaffen haben." (Metaphysik, Seite 210)
Gerade diese Wechselwirkung ist aber unmöglich, und damit die Realität des Raumes überhaupt.
    "Denn die Relation oder Entfernung  p q, welche ihrer Natur nach die beiden seienden Punkte  p und  q zwischen sich setzen sollten, müßte zugleich verschieden sein von jeder anderen ähnlichen Beziehung, welche  p und  r oder  q und  r aus dem gleichen Grund zwischen sich herstellen. Die völlige Gleichheit aller leeren Punkte bringt es aber im Gegenteil mit sich, daß  p und  q keine andere Relation zwischen sich bedingen können, als jede beliebigen zwei anderen Punkte auch; selbst eine Anzahl  N vereinigter Punkte, zwischen denen wir feste Relationen bereits als bestehend denken, würde einem hinzugedachten weiteren Punkt  s gar keine bestimmt Stelle anweisen können, weil jeder andere  t oder  u auf dieselbe Stelle das gleiche Recht hätte." (Metaphysik, Seite 212)
Wenn man dieser Auffassung des Raumes den Vorwurf der Künstlichkeit gegenüber der Annahme eines seienden leeren Raums macht, so vergißt man, daß dieser Vorwurf nicht weniger die letztere Ansicht trifft. Denn auch in diesm Fall kann doch der Raum nicht selbst in das menschliche Vorstellungsleben eingehen, sondern nur Bilder von ihm, die durch Einwirkungen seinerseits entstehen. So muß auf alle Fälle unser Vorstellen vom Raum entstehen; wir kommen nicht wohlfeiler zu ihm, wenn wir dem von uns angeschauten Bild ein ähnliches Sein außerhalb von uns oder ein völlig unvergleichbares unterlegen. Was gewönne man also durch die Festhaltung der Ansicht, die wir bestreiten? (Metaphysik, Seite 217). Der Raum soll ja auch für uns nicht reine Jllusion sein; er hat eine Realität, nur ist die des Raumes eine andere als die der Dinge.
    "Es ist nur ein Unterschied vorhanden, den die beiden Ansichten über ihn allerdings behalten, für uns sind alle räumlichen Bestimmungen sekundäre Eigenschaften, welche die wirklichen Verhältnisse der Dinge nur für uns annehmen. Für die entgegengesetzte Ansicht ist der Raum als seiender und die Dinge umfassender Hintergrund zugleich primär ein Ganzes bestimmender Schranken und Gesetze, nach denen das Sein und Wirken der Dinge sich zu richten hat; die Dinge und wir sind in ihm, während unsere Ansicht meint, daß er in uns ist. (Metaphysik, Seite 218)
Zu demselben Resultat führt die Erwägung der zweiten Frage: Wie ist das Sein der Dinge im seienden Raum begreiflich? Wir kämen hier zu einer Wechselwirkung der Realen mit den Raumpunkten, die sich dann als unmöglich zeigt. Die intelligiblen Verhältnisse, die wir vorläufig als Ursache unserer angeschauten räumlichen Verhältnisse betrachten, können nur in Beziehungen wie Ding zu Ding, nicht in Beziehungen von Ding zum Raum bestehen, und nicht sie an und für sich, sondern erst das Zusammentreffen ihrer Einwirkungen in unserem Bewußtsein ist die nächste Ursache der räumlichen Vorstellung (Metaphysik, Seite 220). Aber wir müssen noch einen Schritt weiter gehen. Nach den in der Ontologie gefundenden Grundsätzen dürfen wir bei Beziehungen zwischen den Dingen nicht stehen bleiben, sondern überhaupt nicht Beziehungen weder räumliche, noch intelligible zwischen den Dingen, vielmehr nur unmittelbare Wechselwirkungen, welche die Dinge voneinander als innere Zustände selbst erleiden, bilden die wirkliche Tatsache, deren Wahrnehmung von uns zu einer räumlichen Erscheinung ausgesponnen wird.

Die inneren Zustände der Dinge wechseln; sie alle wirken auf unser Bewußtsein und dessen Einheit begründet die Möglichkeit sie aufeinander zu beziehen und zu vergleichen; die besondere Art unseres Bewußtseins bewirkt, daß diese Vergleiche und Beziehungen in der Form räumlicher Entfernung zur Anschauung kommt: die Größe der zwischen beiden Eindrücken empfundenen Differenz bestimmt die räumliche Lage. Die Dinge  a, b, c  erleiden voneinander Wechselwirkungen, innere Zustände; wenn unter ihnen eines von der Natur eines vorstellenden Geistes ist, so faßt es diese Zustände in räumlichen Formen auf; wenn es von einem besonderen Fall absieht, so gewinnt es die Raumanschauung im allgemeinen, die sich zum Gedanken des unendlichen Raums auswächst, wenn es von jeglichem Inhalt der Vorstellungen abstrahiert. Demnach ist der unendliche Raum nicht die erste, sondern die letzte Stufe.

LOTZE verhehlt sich nicht, daß seine Lehre, wenn man aus ihr die räumlichen Grundformen der Geometrie und weiterhin der Mechanik deduzieren will, mehr Schwierigkeiten bietet als die gewöhnliche; aber dies könne nicht gegen sie entscheiden, da sie sich als denknotwendig erwies; und übrigens könne man zu praktischen und angewandt wissenschaftlichen Zwecken ohne Schaden bei der hergebrachten Meinung bleiben, wie man ja auch trotz besserer Erkenntns fortfährt, vom Auf- und Untergang der Sonne zu reden.

Wir bemerken also auch hier in der Lehre vom Raum dasselbe Ineinanderfließen von Idealismus und Realismus; dem Raum entspricht tatsächlich etwas in den als denknotwendig gefundenen  festen  Punkten der Vorstellungswelt, nämlich die inneren Zustände, dies weist in die Richtung des Realismus, und doch ist dieses Entsprechende dem Raum ganz unähnlich, und auch jene festen Punkte gehören doch selbst unserer  Vorstellungs welt an, dies weist zum Idealismus, dem sich LOTZE durch seinen Anschluß an KANT auch bewußt hingibt.

Auch zur psychologischen Begründung seiner Ansicht hat LOTZE, was wir nicht unerwähnt lassen wollen, einen wertvollen Beitrag geliefert in seiner Lehre von den Lokalzeichen, die sich auch in rein naturwissenschaftlichen Kreisen des verdienten Beifalls erfreut und auch von Gegnerns seiner Philosophie, wie EDUARD von HARTMANN anerkannt wird.

Wir wenden uns nun zu der zweiten apriorischen Anschauungsform KANTs, der Zeit. LOTZE weicht von KANT darin ab, daß er ihre durchgängige Analogie mit dem Raum bestreitet, was uns bei ihm, der ja das Werden und Geschehen als eine Grundtatsache der Wirklichkeit betrachtet, nicht verwundern kann.

Wir folgen zuerst seiner Darstellung in der "Metaphysik" (Seite 268f). Wir haben von der Zeit gar keine Anschauung, sondern nur vom Raum entlehnte Bilder, die sich aber bei näherem Zusehen als ungenügend erweisen. Wir sprechen von einer Zeitlinie: die Linie besteht aber aus lauter gleichartigen, gleichwirklichen Teilen, während die Zeit sich aus einem veränderlichen, wirklichen Punkt, der Gegenwart, und zwei halb unwirklichen, halb aber wieder in verschiedener Weise wirklichen Strecken, Vergangenheit und Zukunft zusammensetzt. Dann redet man vom Fluß der Zeit, und ist sich nicht einmal darüber klar, ob man sie sich von Vergangenheit in Zukunft oder umgekehrt fließend denken soll; ferner ist ja doch auch dieser Fluß in seinem ganzen Lauf von gleicher Wirklichkeit, enthält also auch das Charakteristische der Zeit nicht. Auch der Vergleich mit einer Reihe hilft uns nichts; denn die Zeit ist nur nach vorwärts bewegt, während die Reihe nach beiden Richtungen durchlaufen werden kann. Mit einer leeren Zeit, in der das Geschehen verfließt, ist überhaupt nichts anzufangen, denn diese Zeit wäre entweder selbst zeitlos, da alle Punkte in ihr ja völlig gleich sind, oder man müßte eine zweite Zeit annehmen, um den Verlauf der ersten zu erklären. Auch können wir uns nichts darunter denken, wenn wir nach dem Verhältnis der Zeit zu den Dingen und Ereignissen fragen, die in ihr sein und geschehen sollen.

Trotzdem will LOTZE nicht mit KANT die bloße Phänomenalität der Zeit behaupten, da diese nicht das Hilfsmittel ist,
    "um kurzerhand Schwierigkeiten zu lösen, die nur scheinbar aus der Anwendung der Zeit auf das Wirkliche entstehen, in Wahrheit aber an der eigenen Natur des Wirklichen haften."
Dieselbe Antinomie [Widerspruch - wp] nämlich, wie beim Raum, daß man sich auch die Zeit mit derselben Folgerichtigkeit als endlich wie auch als unendlich denken kann, veranlaßt KANT, ihr die transzendentale Realität abzusprechen. Demgegenüber zeigt LOTZE, daß dieselbe Antinomie dem Realen selbst anhaftet; eine unendliche Zeit aber könne wohl gedacht werden, wenn auch keiner zeitlichen Sukzession, weder der unseres Vorstellens noch der der Zeit selbst, es gelingen kann, in endlicher Zeit eine unendliche tatsächlich zu durchlaufen.

Der wesentliche Unterschied der Zeit vom Raum ist der, daß erstere nicht nur ein Erzeugnis psychischer Tätigkeit, sondern zugleich die Bedingung für die Ausübung der Tätigkeit ist, durch welche sie als Erzeugnis gewonnen werden soll, und die Vorstellung jedes Wechsels scheint unmöglich ohne den wirklichen Wechsel im Vorstellen.

Für das Werden selbst kann die ansich verlaufende Zeit kein Hilfsmittel sein, durch dessen irgendwie mögliche Benutzung es erst zustande käme; denn es müßte sich dann die Zeit mit in die Bedingungssumme eines Resultates eingliedern, was aber unmöglich ist, denn sie ist am Ende einer Strecke noch ganz die gleiche wie am Anfang; wie sollte sie also einem Ereignis ein Signal zum Geschehen sein können?

Wie steht es aber dann, wenn wir es mit der reinen Idealität der Zeit versuchen, also an ein ansich zeitloses Geschehen glauben, das nur dem vorstellenden Subjekt unter der Form eines zeitlichen Verlaufs erscheint? Wir können uns dies in der Tat bis zu einem gewissen Grad ausmalen: Die Zeit habe für uns überhaupt kein festes Maß; was ist ein Jahrhundert; was eine Stunde; wie verschiedenlang können uns gleiche Zeiträume erscheinen; können wir uns da nicht weit ausgebreitete Ereignisse in denselben Proportionen stehend in einem Augenblick zeitlos denken, in einem Bedingungszusammenhang stehend; den wir aber auch nicht als gleichzeitig bezeichnen dürfen, sondern eben als zeitlos? Und wenn uns da der Einwurf gemacht wird, daß doch zumindest unsere Vorstellungen zeitlich einander folgen, wenn auch das Werden in der Dingwelt ein zeitloses sein möge, so hat doch auch diese Behauptung ihre Kehrseite. Denn damit zwei Vorstellungen  a  und  b  aufeinander bezogen werden können, müssen sie doch in einem unteilbaren Akt im Bewußtsein beisammen sein; der zeitliche Verlauf der Vorstellungen allein könnte nie die Anschauung der Zeit hervorbringen, sondern erst das Ganze zusammenfassende einheitliche Bewußtsein.

Und so wäre vielleicht dies der wahre Sachverhalt: jedes Subjekt  S  steht an einem bestimmten Punkt eines zeitlosen Bedingungszusammenhangs: Alles, wodurch es bedingt ist, betrachtet er als seine Vergangenheit, alles, was von ihm bedingt wird, als seine Zukunft. Die Vorstellungen  a  und  b  wären im beziehenden Bewußtsein zusammen; ihnen verschiedene Plätze anzuweisen, könnte die Seele nur durch Temporalzeichen veranlaßt werden; diese Zeichen könnte ihnen aber nicht eine leere Zeit mitgeben, die ja in jedem Augenblick gleich ist, sondern sie könnten nur von der eigentümlichen Verflechtung jedes Elementes in den Bedingungszusammenhang des Weltinhaltes herrühren.
    "So könnte mithin allerdings ein Vorstellen, ohne Zeit zu bedürfen, durch Temporalzeichen, zu deren Dasein es auch keiner zeitlichen Entstehung bedurfte, dazu geleitet werden, seine einzelnen Inhalte in eine scheinbare zeitliche Sukzession zu ordnen." (Metaphysik, Seite 295/96)
Durch eine solche Auffassung wäre nicht nur aller zeitliche Verlauf, sondern überhaupt alle Sukzession aus der Wirklichkeit verbannt und die Erwägung, daß dann doch ein gewisser Teil der Wirklichkeit für  S  ewig Vergangenheit, ein anderer ewig Zukunft bleiben müßte, veranlaßt LOTZE schließlich, den letzteren Gedankengang abzubrechen und bei folgendem Resultat stehen zu bleiben:
    "Die Zeit als Ganzes ist ohne Zweifel nur ein Erzeugnis unseres Vorstellens, und sie besteht weder noch verläuft sie; sie ist nur das wunderliche Bild, das wir für unsere Anschauung zu entwerfen mehr suchen als wirklich vermögen, wenn wir uns den zeitlichen Verlauf auf alle die Beziehungspunkte abstrahieren. Den zeitlichen Verlauf selbst aber bringen wir nicht aus der Wirklichkeit hinweg und halten es für ein völlig hoffnungsloses Unternehmen, auch seine Vorstellung als eine apriorische bloß subjektive Auffassungform anzusehen, die sich im Innern einer zeitlosen Realität, im Bewußtsein geistiger Wesen entwickelt." (Metaphysik, Seite 297/98)
Einen zeitlichen Verlauf, eine tatsächliche Sukzession gesteht LOTZE also hier der Wirklichkeit zu. Nur fürchtet er, es möchte hier von Neuem ein Irrtum sein Haupt erheben, den er schon in der Ontologie bekämpfte, die Neigung der Zerpflückung des Wirklichen in seinen Inhalt und seine Wirklichkeit. Wir haben geflissentlich diese unmögliche Trennung beim vorliegenden Gegenstand noch einmal verfolgt: Die Sonderung des geschehenen Inhalts von seinem Geschehen, und mußten zuletzt diesen Versuch als vergeblich aufgeben; haben erkannt, daß
    "es ein Irrtum sei, Maß und Art jener zeitlosen Bedingtheit, die zwischen zwei Elementen des Weltinhalts bestände, als den vorangehenden Grund zu denken, der jenem wirksamen Grund befiehlt oder verbietet, das eine aus dem andern hervorzubringen. Es ist nur ein früher besprochener Gedanke, dem ich hier eine weitere Anwendung gebe: jede Beziehung existiert nur im Geist des Beziehenden und für ihn; glauben wir, sie im Sein selbst anzutreffen, so ist sie hier allemal mehr als eine bloße Beziehung; sie ist selbst bereits ein Wirken anstatt Wirkungen nur vorzubereiten ... erst und allein ist das volle lebendige Wirken selbst." (Metaphysik, Seite 299/300)
Wir abstrahieren daraus Gesetze, und so auch eine leere Zeit, vergessen dann ihren Ursprung und stellen sie als ein gebietendes Prius voraus.
    "In diesem Sinne können wir die oft gehörten Aussprüche richtiger finden, nach denen nicht die Zeit die Bedingung des Wirkens ist, sondern das Wirken die Zeit erzeugt; nur bringt es, indem es verläuft, nicht als ein bleibendes Produkt, das irgendwie wäre oder flösse oder die Dinge beeinflussen würde, eine wirkliche reale Zeit, sondern nur in einem vergleichenden Bewußtsein die sogenannte Anschauung dieser Zeit hervor; von dieser, dem leeren Totalbild der Ordnung, in welche wir die Ereignisse reihen, gilt es also, daß sie nur eine subjektive Auffassungsform, von der Sukzession des Wirkens selbst, welches diese Einreihung möglich macht, gilt umgekehrt, daß sie die eigenste Natur des Wirklichen ist." (Metaphysik, Seite 300).
LOTZE sieht voraus, daß man nicht aufhören wird zu fragen, was denn eigentlich geschieht, wenn das Wirken weiter wirkt oder wenn die Sukzession stattfindet, die seine Eigentümlichkeit sein soll. Wie geht es zu und wie wird es gemacht, daß die Wirklichkeit des einen Tatbestandes aufhört und die des anderen beginnt? Diese Fragen müssen wir zwar zurückweisen, denn wir stehen hier vor einem unausdenkbaren Rätsel, doch soll ihnen eine gewisse Gemütsberechtigung nicht abgesprochen werden. Soll denn die ganze reiche Vergangenheit ein Nichts sein, das Dunkel der Zukunft ebenfalls ein leeres Nichts, und immer nur der Punkt wirklich, auf den das Licht der Gegenwart fällt?
    "Man wird empfinden, wie wenig es uns möglich ist, mit dem nackten Gegensatz von Sein und Nichtsein auszukommen, und wie unaustreiblich das Verlangen, auch das Nichtseiende irgendwie als einen wunderbaren Bestandteil der Wirklichkeit fassen zu dürfen." (Metaphysik, Seite 302).
Doch kann diese Sehnsucht nicht hier, sondern nur in der Religionsphilosophie befriedigt werden, wo es uns vielleicht gelingen wird, eine über den zeitlichen Verlauf übergreifende Realität zu finden.

Dem in der "Metaphysik" Gesagten ziemlich parallel verläuft die Darstellung im "Mikrokosmus III" (Seite 602f) seit der dritten Auflage dieses Werkes. Auch hier wird zuerst die Unmöglichkeit einer leeren Zeit dargelegt, dann der Gedanke einer unzeitlichen Wirklichkeit und der reinen Idealität der Zeit soweit als möglich entwickelt, und zuletzt doch auch fallen gelassen. Denn
    "in einem zeitlosen Zusammenhang an einen bestimmten Ort gestellt, würde jedes endliche Wesen stets denselben klaren oder dunklen Inhalt als seine Zukunft, denselben anderen als seine Vergangenheit vor sich sehen müssen; das Leben, das uns jene sich nach und nach lichten, diese allmählich verblassen läßt, ist nicht ohne einen wirklichen Verlauf denkbar, der das Bewußtsein am Inhalt der Welt oder diesen an ihm vorüberführt oder beide zusammen sich verwandeln läßt. Auch hier wird die teilweise Berechtigung der Sehnsucht nach einer übergreifenden Realität, die auch der Vergangenheit und Zukunft einen dauernden Plaz einräumt anerkannt und deutlicher die Möglichkeit und Art ihrer Befriedigung durch die Religionsphilosophie aufgezeigt. ... So wenig wir nun anzugeben wissen, wie der Verlauf der Zeit gemacht wird und wie der Zustand des einen Augenblicks aus Sein in Nichtsein übergeht, um dem des nächsten Augenblicks Platz zu machen, ebensowenig würden wir sagen können, wie nun umgekehrt diese Zusammenfassung des Verfließenden in eine gleichzeitie oder überzeitliche Wirklichkeit zustande kommt. Aber gewohnt, die Welt größer und reicher zu finden, als das Denken, das ihren wunderbaren Bau nachzubilden sucht, hege ich keinen Zweifel an der Erfüllung dieses Postulats, von der wir freilich nur in menschlich beschränkter Weise reden können. Für Gott besteht die Bedingung nicht, die uns im Ganzen der Welt an einen bestimmten Punkt fesselt, ... er ist die umfassende Wesenheit des Ganzen ..., den spezifischen Wert der Gegenwart besitzt Gott nur für das unendliche Ganze." (Metaphysik, Seite 605f)
In der "Metaphysik" spricht LOTZE von der Tatsächlichkeit und Wirklichkeit eines  zeitlichen  Verlaufs und hat damit seine frühere Ansicht, die er bis 1879 vertrat, verlassen, bzw. modifiziert. (Vgl. FALKENBERG, Die Entwicklung der Lotze'schen Zeitlehre, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 105, Heft II)

Die ältere Ansicht finden wir auch noch in der zweiten Auflage der "Grundzüge der Metaphysik", § 50, da diese Diktate aus dem Jahr 1871 stammen.
    "Die Gesamtsumme der Wirklichkeit ist einem System von Sätzen oder Wahrheiten zu vergleichen, welche untereinander in sehr vielfachen Verhältnissen der Koordination und Subordination stehen, so daß z. B. einige, ein  a und  b, Prinzipien aller übrigen, andere (c d e,  diesen ersten untergeordnet, unter sich aber koordiniert oder gleichwertig) Bedingungen der dann noch übrigen  l m n sind. Der Unterschied ist, daß in einem System von Wahrheiten eine die andere zwar bedingt, aber nicht bewirkt; die hier hervorzuhebende Ähnlichkeit aber besteht darin, daß die im System der Wirklichkeit vorkommende Bewirung eines Gliedes durch andere ansich ein ebenso  zeitloses Geschehen ist, wie das Bedingtwerden einer Wahrheit durch eine andere."
LOTZE möchte also gerne eine zeitlose Sukzession als die Wirklichkeit der Zeit auffassen und die Antriebe, alle Zeitlichkeit womöglich aus jener Sukzession auszuschließen, kommen ihm aus religionsphilosophischen Erwägungen. Zeitlichkeit in Gott selbst hineinzutragen scheut sich LOTZE im Interesse der Vollkommenheit Gottes und doch wäre dies die notwendige Konsequenz, wenn ein zeitlicher Verlauf in der Wirklichkeit bestände, und man das Verhältnis Gottes in einem entschieden monistisch-pantheistischen Sinne versteht, wie LOTZE. Jener Konsequenz sucht er nun zu entfliehen, indem er ein zeitloses Geschehen annimmt, die aber doch immer ein hölzernes Eisen bleiben wird. Es gibt auf einem pantheistischen Standpunkt nur das Dilemma: entweder zeitlicher Verlauf in der Wirklichkeit, dann auch in Gott selber (diese Konsequenz hat EDUARD von HARTMANN mutiger als LOTZE in seiner Kritik der Philosophie LOTZEs gezogen), oder Zeitlosigkeit in der Wirklichkeit, reine Phänomenalität der Zeit, dann aber auch fort mit aller Theologie, aller Ethik und Religion; denn letztere sind ohne Werden und Entwicklung undenkbar.

Am meisten kehrt LOTZE zur zeitlosen Wirklichkeit und zur reinen Idealität der Zeit zurück in der Religionsphilosophie (Grundzüge der Religionsphilosophie, § 45), man müsse Gott ein außerzeitliches oder überzeitliches Sein zuschreiben. Man müsse deshalb versuchen, die Zeit als eine bloße Form der Anschauung zu betrachten, in welcher die Ereignisse uns zu verlaufen scheinen. Zwar sei dies schwieriger als beim Raum und man "kann nur folgende Punkte sich vorhalten, um zu erkennen, daß dennoch die  "Idealität  der Zeit ein notwendiges Postulat unsere Denkens ist."
    "Wenn es nun Geister gibt, die diesen Zusammenhang sich nur unter der Form eines zeitlichen Nacheinander vorstellen können, so ist auch ein anderer Geist denkbar, welcher den ganzen Weltzusammenhang direkt in der Form eines solchen Bedingungsverhältnisses auffaßt, ohne die Ordnung desselben sich erst in ein anschauliches Nacheinander auseinanderlegen zu müssen."

    "Hiermit sollte also gesagt sein, daß auch die Welt, die das unzeitliche Vorstellen jenes Geistes übersieht, keineswegs ein bloßes System von Wahrheiten zu sein braucht, sondern eine Welt, in der wirklich etwas geschieht und gewirkt wird, ohne daß eine ansich verlaufende  Zeit  eine Bedingung für dieses Geschehen und Wirken wäre."
Wenn unter dieser "ansich verlaufenden Zeit" nur eine objektive leere Zeit gemeint ist, so widerspricht diese Aussage den in der "Metaphysik" gemachten nicht; wenn aber damit jeder zeitliche Verlauf auch im Sinne eines transzendentalen Realismus, wie er bei SCHELLING, HARTMANN und eigentlich auch bei LOTZE selbst in der "Metaphysik" zu finden ist, ausgeschlossen ist, so wäre damit deutlich ein  zeitloses  Werden als die Wahrheit hingestellt. LOTZE geht also auch hier von KANT aus, und über ihn hinaus sucht er zu einem transzendenten Realismus zu gelangen, bleibt aber auf halbem Weg stehen, ja kommt schließlich fast wieder zu KANT zurück. Jedenfalls hat EDUARD von HARTMANN Recht, seine schwankende Stellung hier zu tadeln, nur scheint LOTZEs Lehre dem Idealismus doch näher zu stehen, und ein Bedingungszusammenhang das zeitlose Korrelat des zeitlichen Verlaufes sein zu sollen, wie die inneren Zustände das Korrelat des Raumes, während HARTMANN unseren Philosophen bald entschlossen auf der einen, bald ebenso auf der anderen Seite findet. Die Achtung vor der lebendigen Wirklichkeit mit ihrem Werden und Geschehen hätte LOTZE gewiß zu einem energischeren Festhalten eines zeitlichen Verlaufes veranlassen sollen.

FALKENBERG hat in der oben zitierten, bei Abfassung meiner Arbeit mir unbekannten Arbeit durch eine neue Darstellung des genetischen Zusammenhangs von LOTZEs Zeitlehre nachgewiesen, daß ihm mit Unrecht eine schwankende Auffassung vorgeworfen wird:
    "Eine Wandlung hat nicht  Lotzes Überzeugung von der Subjektivität des Totalbildes der Zeit erfahren, ebensowenig die von der Erhabenheit des göttlichen Wesens über die Zeit; die einzige Änderung besteht darin, daß die Sukzession aus der Sphäre der Idealität in die der Realität übertritt."
Wir haben nun gesehen, wie LOTZE die Lehre KANTs von der transzendentalen Ästhetik modifiziert; wie stellt er sich nun zu seiner transzendentalen Analytik, zu den apriorischen Kategorien; wie weit ist ihm die menschliche Erkenntnis apriorisch, wie weit empirisch bedingt? wie weit gibt es für ihn synthetische Urteile a priori?

Gegeben ist uns eine für alle menschliche Erkenntnis objektive, d. h. individueller Willkür nicht ausgesetzte Vorstellungswelt. Davon zu unterscheiden sind die Denkprozesse, durch die wir jene Vorstellungswelt zu erfassen und zu systematisieren versuchen. Diese Denktätigkeit kommt vielfach in Bezug auf jene Vorstellungswelt zu festen Resultaten, bleibt aber teilweise auch rein subjektiv. Schließlich deutet jene uns gegebene Welt der Vorstellungen über sich hinaus auf eine Realwelt; ihr beiderseitiges Verhältnis ist wohl auch von LOTZE nicht ganz ohne Schwanken gedacht worden, bald ist die Realwelt das Ganze, von dem uns nur ein (wenn auch sehr wichtiger) Teil, die Vorstellungswelt, gegeben ist, während wir das Ganze nur ahnend erfassen können, bald ist sie doch wieder die dahinter liegende Dingwelt, deren Wirklichkeit zwar eine ganz andere ist, aber doch auch mit den Beziehungen und Verhältnissen in der Vorstellungswelt irgendwie korrespondiert.

Man kann die bisher in der Geschichte der Philosophie geltenden Kategorien und Einteilungsprinzipien auf LOTZEs Philosophie zum großen Teil nicht anwenden, da sie sich bei seiner eigentümlichen Auffassung als unzulänglich erweisen. Wir sahen schon, wie sich der Gegensatz zwischen Idealismus und Realismus in eine unbedeutende Verschiedenheit verwandelte, ähnlich geht es mit den Kategorien apriorisch und aposteriorisch, rational und empirisch, synthetisch und analytisch. LOTZEs Lehre über die erkenntnistheoretische Bedeutung des logischen Denkens finden wir im "Mikrokosmus I", Seite 200f und im dritten Teil der Logik.
    "Seit  Sokrates besitzt das philosophische Denken das ihm eigentümliche Objekt der Untersuchung durch die Aufstellung einer in aller Dingwelt geltenden Wahrheit; man entdeckte die Begriffe. Damit war der rihtige Weg gefunden, aber trotzdem blieb die ganze griechische Philosophie zur Unfruchtbarkeit verurteilt, da sie Denken und Sein nicht richtig auseinanderhielt und die Verwechslung logischer Gedankenzergliederung mit der Untersuchung der Sache selbst weder in Bezug auf die Lehre von den Begriffen, noch auf die von den Urteilen und Schlüssen vermied."

    "Daß an der Sache die Eigenschaften ganz anders haften und zusammenhängen als die Merkmale oder Teilvorstellungen am  Begriff  der Sache: davon hin und wieder theoretisch wohl keine Ahnung ausgesprochen sein, aber ohne alle durchgreifende Wirkung auf die Praxis der philosophischen Untersuchung." (Mikrokosmus I, Seite 213)

    "Die berühmten Begriffe von Dynamis und Energie, als Potenz und Aktus noch jetzt Schoßkinder des philosophischen Dilletantismus führen die Unfruchtbarkeit solcher Betrachtungenn systematisch in die Untersuchung aller Gegenstände ein."
Die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit unserer Erkenntnis ist schon im Altertum zum Gegenstand sehr umfänglicher Überlegungen gemacht worden. Sie führten aber alle ohne positiven Nutzen nur zum Skeptizismus. Das Christentum gab diesen Fragen mehr Tiefe und sittlichen Ernst; in der neueren Zeit wurde die früher so verachtete Welt des Scheins das eigentlich interessierende und befriedigende.
    "In dem Eingeständnis, nur Erscheinungen aus Erscheinungen zu entwickeln, und dem Wesen der Dinge völlig fremd zu bleiben, liegt zwar eine Einschränkung, aber auch ein Fortschritt. Worauf beruth die Gewißheit unserer Gedanken? Gewißheit erlangen unsere Gedanken durch die Zurückführung auf die früber beweisene Gewißheit anderer oder auf die des Beweises weder bedürftige noch fähige Evidenz unmittelbarer Wahrheiten. Das Vertrauen, das wir teils den Gesetzen unseres Denkens, welche jene Zurückführung vermitteln, teils den einfachen und unmittelbaren Erkenntnissen schenken, zu denen wir durch sie geleitet werden, läßt sich durch die Wiederholung aufmerksamer Prüfung vor der Hingabe an Vorurteile von zufälliger und vergänglicher Überredungskunst behüten;"
dem Skeptizismus überhaupt aber läßt sich nur die Überzeugung eines sittlichen Glaubens entgegenhalten, daß die Welt nicht eine Ungereimtheit ohne Sinn sein kann.

Eingehender sind LOTZEs Ausführungen über diesen Gegenstand in der "Logik", Seite 525f. Eine einzelne Ansicht kann zwar durch eine Zergliederung der Veranlassungen, aus denen sie uns entsprungen ist, innerhalb des Ganzen unserer Erkenntnis geprüft werden, diese genetische Betrachtungsweise bewährt sich aber nicht mehr bei einer Prüfung der Wahrheitsfähigkeit im Ganzen. Man bringt, wie schon früher gezeigt, notwendig immer Voraussetzungen mit und wenn dies einmal nicht anders sein kann, so muß man es reinlich und aufrichtig tun; wir nehmen sie aus der Ontologie. Die Außenwelt könnte auf keinen Fall in uns eingehen, sondern sie kann nur unsere Spontaneität zur Tätigkeit anreizen, so daß also unsere ganze Vorstellungswelt, auch die einfachen sinnlichen Empfindungen, nach dieser Richtung apriorisch ist. KANTs Lehre, daß der gesamte Inhalt unserer Erkenntnis der Erfahrung, und nur ihre Form der angeborenen Tätigkeit des Geistes zuzuschreiben sei, ist mißverständlich.

Damit soll aber dem Empirismus sein Recht nicht genommen werden.
    "Die ausgedehnte Apriorität, die wir so für unsere Erkenntnis in Anspruch nehmen, ist indessen nur die eine Seite der Sache. Eben dann, wenn wir alle sinnlichen Empfindungsweisen, unsere Raumanschauung, unsere Begriffe von Ding und Eigenschaft, von Ursache und Wirkung, schließlich die ethischen Vorstellungen von Gut und Böse, als angeborene Äußerungsweisen des Geistes betrachten, eben dann kann der Grund zu den besonderen einander ausschließenden Anwendungen ihrer aller nicht ebenso im Wesen dieses Geistes liegen." (Mikrokosmus I, Seite 535)
Wir unterliegen hier einem fremden Zwang, und können es hier dahingestellt sein lassen, ob die gewöhnliche Meinung Recht hat, ihn einer Außenwelt zuzuschreiben oder der Idealismus, ihn als unmittelbare Wirkung einer alle Geister durchdringenden Macht anzusehen.
    "Woher diese Anregung auch stammen mag, sie bleibt ein empirisches oder aposteriorisches Element unserer Erkenntnis." (Mikrokosmus I, Seite 536)
Es bleibe eine würdige Aufgabe, der Gesetztmäßigkeit dieser apriorisch-empirischen Erscheinungswelt nachzugehen, und
    "die Auflösung dieser Aufgabe wird die Erkenntnis einer Wahrheit sein, auch wenn es kein Mittel geben sollte, zu entscheiden, von welcher anderen Gesetzmäßigkeit einer uns unbekannt bleibenden Außenwelt diese Gesetzlichkeit des Verlaufs unserer Innenwelt hervorgebracht wird."
Der Einwand, auch die angeborenen Ideen könnten wir doch nur aus Erfahrung, wenn auch aus innerer, kennenlernen, und es sei also doch Erfahrung die einzige Quelle unserer Erkenntnis, ist ebenso selbstverständlich als unfruchtbar; in dieser weitläufigen Bedeutung genommen ist der Begriff der Erfahrung nicht mehr der Anlaß zu einer Verschiedenheit der Meinungen; wir wollen dagegen nicht einmal sagen, daß auns sie apriorischen Teile unserer Erkenntnis durch unsere eigene Natur, die empirischen durch einen fremden Zwang aufgenötigt werden, denn das können wir nicht beweisen; es muß vielmehr der Unterschied zwischen apriorisch und empirisch darin gefunden werden, daß ersterer sich durch unmittelbare Evidenz auszeichnet, die dem letzteren abgeht; man könnte den Einwand erheben: was uns in diesem Augenblick als selbstverständlich erschiene, woher hätten wir das Recht zu behaupten, daß es in jedem anderen Augenblick uns ebenso erscheinen wird? Wenn dieser Einwurf im Interesse der Leugnung jeder allgemeingültigen Wahrheit gemacht wird, so können wir nach LOTZE dem einfach entgegenhalten, daß man überhaupt auf jede Erkenntnis verzichten müßte ohne die Annahme, daß im Ganzen des Weltlaufs eine Beständigkeit des Verhaltens besteht, wonach unter gleichen Bedingungen immer dieselbe Wirkung entsteht.
    "Man sieht daher, daß die Neigung  alle allgemeine Erkenntnis aus Erfahrung, d. h. aus einer Summierung von Einzelwahrnehmungen zu gewinnen, nicht zum Ziel kommt; irgendwo ist stets als notwendigs Hilfsmittel einer jener Gedanken vorauszusetzen, dessen einmal gedachtem Inhalt man mit einem unmittelbaren Zutrauen den von ihm erhobenen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit zugibt." (Mikrokosmus I, Seite 540)
Allgemeinheit und Notwendigkeit und unmittelbare Evidenz sind also die alle apriorische Erkenntnis auszeichnenden Eigenschaften. Man sieht, daß im Vergleich mit der kantischen Lehre der Gegensatz zwischen apriorisch und emprisch bedeutend fließender geworden ist, umso mehr als diese allgemeingültigen Wahrheiten nicht rein gegeben sind, sondern erst herausgearbeitet werden müssen, und zwar mit Hilfe der Erfahrung, welche dieselben von ihrer Verquickung mit Vorurteilen reinigen muß. Hier bei dieser Kritik der Vorurteile hat auch die psychologische Untersuchung ihren Nutzen,, während wir sie bei der Fundierung der Erkenntnis im Ganzen unzureichend fanden.
    "So bleibt denn nichts übrig als daß diese psychologischen Zergliederungen auf die Aufgabe beschränkt werden, zu zeigen, wie ansich gültige Wahrheiten im Denken und für dasselbe, sofern es ein psychischer Vorgang ist, als unbewußt befolgte Regeln seines Verfahrens verwirklicht werden." (Mikrokosmus I, Seite 544).

    "Zwischen dem psychischen Mechanismus und dem Denken besteht eine Kluft; letzteres darf nicht mit dem ersteren identifiziert werden, sondern hat seine Einheit in sich selber, die freilich eine anders geartete ist, nämlich eine teleologische und von einem Sinn oder der Idee abhängt, zu deren Verwirklichung die Seele bestimmt ist. Alle logischen Rückwirkungen des Geistes sind als eine einheitliche Tendenz aufzufassen, deren einzelne Äußerungen ihrem Sinn nach sich verständlich in eine Reihe gliedern lassen, nach ihrer Entstehung als psychische Vorgänge aber völlig unbegreiflich sind." (Mikrokosmus I, Seite 547)
In dem folgenden Abschnitt auf Seite 548f handelt LOTZE von der realen und formalen Bedeutung des Logischen; wir würden aber sehr enttäuscht werden, wenn wir hofften, hier eine große Aufklärung über den Zusammenhang zwischen Denken und Sein zu erhalten, denn die Untersuchung bezieht sich hier nur auf das Verhältnis der Denkformen und des unserer Natur entsprechenden Denkens zu jener Vorstellungswelt, die zwar unabhängig ist vom einzelnen subjektiven Denken und den einzelnen Momenten des Denkens, aber doch auch nur Wirklichkeit hat, sofern sie gedacht wird. Die Realwelt, die Welt der Dinge-ansich kommt dabei nicht in Betracht, und die ganze Darstellung ist mehr logisch als erkenntnistheoretisch interessiert. Die Frage, um die es sich handelt, ist die, ob die Regeln, nach denen das Denken, Gesetzen seiner eigenen Natur folgend, seine Vorstellungen verknüpfen muß, zu demselben Abschluß führen, den der Zusammenhang der Sachen - nämlich in der vom Einzelnen unabhängigen Vorstellungswelt - hervorbringt. Da tritt uns zunächst entgegen die Behauptung von der bloß formalen Bedeutung des Denkens. Aber
    "in welchem Verhältnis sollen denn diese Formen und Gesetze zum Inhalt stehen, den sie nicht erzeugen, sondern vorfinden, und durch dessen Bearbeitung allein doch die gedachte Wahrheit den ihrigen erhält. Kann ein Inhalt in Formen gebracht werden, für die er nicht paßt?" (Logik, Seite 548);
andererseits die Behauptung von der realen Bedeutung des Denkens, der sachliche Inhalt des Vorstellens sei an keine anderen Gesetze gebunden als an die, welche das Denken ihm auferlegt. Da jener aber unserer Kenntnis nur durch das Denken vermittelt wird, so kann diese Behauptung nicht bewiesen werden;
    "aber wir können fragen, wie denn das Denken selbst über die Bedeutung seiner eigenen Handlungen urteilt, und inwieweit es diejenigen Formen, die es als psychische Bewegung des denkenden Subjekts annehmen muß, für Eigenbestimmtheiten des von ihm bearbeiteten Inhalts ansieht." (Logik, Seite 549)
Wenn unser Denken die Vorstellungen  a  und  b  vergleicht, geht es zwischen beiden hin und her, es hat ferner fast alles in räumlicher Gestalt, Ordnung und Beziehung symbolisiert und ist schließlich an eine Sprache als Ausdrucksform gebunden; das Alles ist für die Denkhandlung wichtig, kann aber, gleich einem Gerüst, nach vollendeter Arbeit ruhig wieder abgebrochen werden, d. h. es hat auf die sachliche Bedeutung unserer Denkhandlung keinen Einfluß.
    "So zeigt sich hier der Gegensatz der bloß  formalen Bedeutung unserer  Denkhandlung  zu der  realen ihres Produkts." (Logik, Seite 553)

    "Wir müssen daher erwarten, in dem, was wir logische Handlungen, Formen und Gesetze nennen, viel eines bloß formalen Apparates zu finden, der, obwohl zur Ausübung des Denkens unentbehrlich, doch der realen Bedeutung entbehrt, die das Denken dem Endergebnis seines Tuns allerdings zuschreibt." (Logik, Seite 553)
Wenn wir  a  und  b  vergleichen, z. B. Rot und Gelb, so können wir den von uns gefundenen Unterschied als einen sachlichen ansehen, ohne befürchten zu müssen, daß es in Wirklichkeit anders ist.
    "Solche Bedenken hätten Grund, wo wir unsere Gedankenwelt zu einer außerhalb von ihr vorausgesetzten Sachenwelt in Beziehung brächten; so lange jedoch statt dieser unsere eigenen Vorstellungen unseren Gegenstand bilden, zweifeln wir nicht, daß die bei ihrer Vergleichung erfahrenen Gleichheiten oder Unterschiede unseres Vorstellens zugleich ein sachliches Verhalten unserer Vorstellungs inhalte bedeuten." (Logik, Seite 554)
Die griechische Philosophie, welche so gefundene Verhältnisse ohne weiteres für von unserem Denken unabhängige Beziehungen der Realwelt hielt, kam dadurch in viele Verlegenheiten;
    "so war es ihr z. B. ein ärgerliches Rätsel, wie die von ihren Beziehungspunkten abgelösten und nun einander wiederstrebenden Prädikate des Kleinerseins und des Größerseins sich an demselben  b vertragen möchten."

    "Sind aber (wie bei uns)  a  und  b  nicht dinge von unabhängiger, unserem Denken jenseitiger Wirklichkeit, sondern vorstellbare Inhalte, wie Rot und Gelb, Gerade und Krumm, so besteht eine Beziehung zwischen ihnen nur, sofern wir sie denken und dadurch, daß wir sie denken. Aber so ist unsere Seele beschaffen und so setzen wir jede andere voraus, deren Inneres der unseren gleicht, daß dieselben  a  und  b,  so oft sie und von wem sie auch vorgestellt werden mögen, stets im Denken dieselbe nur durch das Denken und nur eine in ihm bestehbare Beziehung hervorbringen werden. Unabhängig ist diese daher vom einzelnen denkenden Subjekt und unabhängig von einzelnen Momenten seines Denkens; hierin allein liegt das, was wir meinen, wenn wir sie als ansich bestehend zwischen  a  und  b  betrachten, und sie von unserem Denken wie ein für sich dauerndes Objekt auffindbar glauben; sie steht wirklich so fest, aber nur als ein Ereignis, das im Denken stets unter gleichen Bedingung sich gleich erneuern wird." (Logik, Seite 555/56)
Auf die Dingwelt ansich lassen sich diese Verhältnisse nicht übertragen, sondern müssen erst in der Metaphysik auf ihren dort allein zulässigen Sinn gebracht werden.

LOTZE geht nun die logischen Formen einzeln durch und prüft sie auf ihren Erkenntniswert. Der Allgemeinbegriff bezeichnet eine unvollendbare Forderung. Denn ein allgemeines Pferd, Farbe im Allgemeinen etc. können wir uns nie vorstellen. Hat er überhaupt eine sachliche Bedeutung oder ist er nur ein gemeinsamer Name, nur ein Wort? In der Tatsache, daß wir Allgemeines überhaupt nur denken können, liegt doch ein Beweis des ersteren, einer realen Geltung des Begriffs; denn wenn wir uns auch die allgemeine Farbe nicht vorstellen können, so empfinden wir doch in Rot und Gelb ein Gemeinsames, das uns nötigt, den Allgemeinbegriff zu bilden. Diese Betrachtung ist sowohl vom Nominalismus wie auch dem Realismus auf ein falsches Gebiet, das der Dinge-ansich übertragen worden und dadurch unlösbar gemacht. Die Objektivierung der Begriffe, wie sie nach PLATOs Voranschreiten der Realismus vollzieht, würde man leicht fallen lassen, wenn man sich entwöhnte, nur naturgeschichtliche Gattungsbegriffe als Beispiele des Allgemeinen zu denken. Man würde dann finden, daß der Begriff nicht eine Seins-, sondern eine Geltungsrealität hat und auch dies nicht in uneingeschränkter Weise. Denn alle unsere Begriffsbildungen, Klassifikationen und Konstruktionen sind subjektive Bewegungen unseres Denkens und nicht Vorgänge in den Sachen; so aber ist zugleich die Natur der Sachen, der gegebenen vorstellbaren Inhalte gerartet, daß das Denken, wenn es sich den logischen Gesetzen dieser Bewegungen überläßt, am Ende seines richtig durchlaufenen Weges wieder mit dem Verhalten der Sachen zusammentrifft. Urteile sind ohne realen Wert, z. B. die hypothetischen bringen nur das allgemein logische Verhältnis der Bedingtheit, nicht das spezielle der Kausalität zum Ausdruck. Auch bei den Schlüssen liegt der Wahrheitsgehalt nicht in der logischen Form, sondern nur in dem darin gefaßten Inhalt. Die Hypostasierung [Vergegenständlichung - wp] der Naturgesetze ist ebenso falsch und verwirrend wie die der Begriffe.

Am Schluß sucht LOTZE die Bedeutung des Denkens verständlich zu machen, indem er die drei Gegensätze subjektiv und objektiv, formal und sachlich, formal und real auf dasselbe anwendet. Die Denkhandlung, der Weg, den unser Denken zurücklegt, um zu eineund verwirrend wie die der Begriffe.

Am Schluß sucht LOTZE die Bedeutung des Denkens verständlich zu machen, indem er die drei Gegensätze subjektiv und objektiv, formal und sachlich, formal und real auf dasselbe anwendet. Die Denkhandlung, der Weg, den unser Denken zurücklegt, um zu einer Erkenntnis zu gelangen, ist subjektiv, d. h. eine lediglich durch unsere Natur und unsere Stellung in der Welt uns notwendig gewordene innere Bewegung; der erzeugte Gedanke dagegen ist objektiv, d. h.
    "von allen, nach Zurücklegung jener Wege auf gleiche Art empfunden, bildet das jetzt Gesehene ein von der Subjektivität des einzelnen Denkenden unabhängiges Objekt."

    "Formal nennen wir die logischen Tätigkeiten, weil ihre Eigentümlichkeiten zwar nicht die eigenen Bestimmungen der Sachen sind, aber doch Formen des Verfahrens, eben die Natur der Sachen zu erfassen und deshalb nicht außerhalb jeden Zusammenhangs mit dem sachlichen Verhalten selbst."
In Bezug auf den dritten Gegensatz ist zu sagen, daß weder die logischen Formen des Begriffs, Urteils und Schlusses, noch auch die logischen Gedanken, denen wir objektive und sachliche Geltung zugeschrieben haben, in Bezug auf das Reale eine unmittelbare Geltung haben. Wie weit sie eine solche überhaupt und in welcher modifizierter Form haben, dies aufzuklären, muß der Metaphysik überlassen bleiben. Wir bleiben also mit den logischen Formen in jenem transzendentalen Gebiet, das ihnen KANT anwies, gelangen aber damit nicht in das transzendente.

Den letzten Abschnitt der "Logik" betitelt LOTZE: Die apriorischen Wahrheiten.

In Bezug auf den Vorstellungsinhalt haben unsere Gedanken sachliche Bedeutung. In dieser Vorstellungswelt gilt das platonische Ideenreich, d. h. es besteht in ihm eine systematische ewige Ordnung. Dies ist zwar eine unentbehrliche Voraussetzung und Grundlage des Denkens, aber doch nicht selbst denknotwendig, sondern eine wunderbare Tatsache.

Nun führen unsere Wahrnehmungen aber die einzelnen Vorstellungen uns durchaus nicht unserer in ihr gefundenen Ordnung entsprechend vor, sondern in einer uns ganz fremden, Heterogenes [Ungleiches - wp] verbindenden Weise. Diesen fremden, empirischen Bestandteil nennt LOTZE reale Wirklichkeit. Wie steht nun dieser gegenüber unser Denken? Dreierlei Bedingung muß es erfüllen, wenn es mit den Tatsachen in Einklang bleiben will oder unsere Hoffnung, durch das Denken den Verlauf der Wirklichkeit beherrschen zu können, beruth auf drei Punkten:
    1. Es ist niemals möglich, aus bloßen Begriffen des Denkens die reale Wirklichkeit des in ihnen Gedachten zu beweisen, wie dies z. B. der ontologische Gottesbeweis versucht; vielmehr muß immer bei einem gegebenen wirklichen Grund eingesetzt werden, um aus diesem dann die Folgen als wirkliche abzuleiten, die aus dem gedachten als denknotwendige hervorgingen.

    2. Woher nehmen wir die Gewißheit, daß in dieser realen Welt überhaupt noch eine Gesetzmäßigkeit vorhanden ist? Diese ist weder selbst denknotwendig, noch als eine denknotwendige Folge aus den gegebenen Tatsachen abzuleiten. "Mit Grund wird man daher sagen, daß alle unsere Beurteilung der Wirklichkeit auf dem unmittelbaren Zutrauen oder auf dem Glauben beruth, mit dem wir einer Forderung des Denkens, die das eigene Gebiet desselben überschreitet, allgemeine Gültigkeit zuerkennen." (Logik, Seite 580)

    3. Wir werden die Wirklichkeit nicht erfassen können, ohne irgendwelche synthetischen Urteile a priori. Schon in den synthetischen Urteilen a posteriori [im Nachhinein - wp] steckt nach  Lotze ein Teil eines apriorischen Bestandes. Alles Bilden von Urteilen hat schon solches an sich; jede Wiederzählung von Tatsachen, die sonst nur eine Wiedererinnerung von Wahrnehmungen, eine Reproduktion des Rohmaterials sein dürfte. Auch der Nerv aller fruchtbaren mathematischen Denkarbeit liegt in der Möglichkeit, Verschiedenes gleichzusetzen, alson in einer Synthesis apriori, aber nicht in der nackten Anwendung des logischen Identitätsgesetzes.
So ist der Fundamentalsatz der Arithmetik: Größen seien überhaupt summierbar zu einer neuen Größe eine solche apriorische Voraussetzung, über deren Wichtigkeit man geneigt sein wird, hinwegzusehen, weil er ganz selbstverständlich und nichts als eine identische Definition der Zahlgröße zu sein scheint. Warum kann man nicht Rot und Grün addieren? Es ist aben die Größe als Anschauung die Bürgschaft der Wahrheit und zugleich der Grund der Fruchtbarkeit arithmetischer Gedankenverbindungen. Noch deutlicher ist dies in der Geometrie: hier macht es nur die eigentümliche Natur des Raumes möglich, daß eine sachliche Identität verschiedener Ausdrucksformen bestehen kann. LOTZE kommt dann noch einmal darauf zurück, den Gegensatz zwischen Apriorismus und Empirismus zu bestimmen. Da muß man zunächst zugestehen, daß all unsere Erkenntnis durch Erfahrung im weiteren Sinne erworben wird und darf dann keinen Unterschied zwischen innerer und äußerer Erfahrung machen; denn diesen gibt es nicht, da ja alle Erfahrung nur unsere Vorstellungen zum Objekt haben kann. Es könnte noch der Unterschied festgehalten werden, daß wir eine allgemeine Gültigkeit aus einmaliger Tatsächlichkeit annehmen, die Empiristen dies abzulehnen behaupten, während sie es doch in Wirklichkeit auch nicht umgehen können.
    "Auf der Möglichkeit unmittelbarer Erkenntnis des Allgemeingültigen beruth jede Überzeugung, die unsere nicht mehr als die der Gegner; Zwiespalt kann nur darüber sein, welche Wahrheiten wir dieser Erkenntnis zugänglich glauben." (Logik, Seite 591)
Es kann gewiß auch falsche Evidenzen geben. Diese können erwiesen werden, wenn die Folgerungen zu falschen Ergebnissen führen, oder wenn sich positiv ein anderer Satz beweisen läßt, der die falsche Evidenz unseres Satzes aufdeckt.
    "Apriorisch sind die Erkenntnisse, welche nicht durch Induktion oder Summation aus ihren einzelnen Beispielen entstehen, sondern zuerst allgemeingültig gedacht werden, und so als bestimmende Regeln diesen Beispielen vorangehen." (Logik, Seite 594)

    "Hiermit hängt der letzte hier zu erwähnende Punkt zusammen. Von reinen Anschauungen, als einem angeborenen Besitz des Geistes, ist auch in Ausdrucksweisen gesprochen worden, aus denen als natürliche Konsequenz die Annahme hätte fließen müssen, alle Wahrheit, die auf einer dieser Anschauungen beruth, sei gleichfalls ein Schatz immerwährender Erkenntnis, mit dem wir der Erfahrung, um sie zu beurteilen entgegenkommen."
Dies ist falsch; wer überhaupt von apriorischen Wahrheiten redet, rechnet sicher die mathematischen dazu; gleichwohl haben diese erst nach und nach entdeckt werden müssen. Die Welt des Selbstverständlichen liegt doch nicht selbstverständlich vor uns; auch das Allgemeingültige muß vom Geist erst aus der Unermeßlichkeit der Vorstellungen, die sein Bewußtsein wirklich füllen, aufgefunden werden.
    "So kann daher eine sehr schwere Aufgabe der Erkenntnis darin bestehen, uns durch die Hinwegräumung all der Hindernisse, welche die uns aufgedrungene empirische Verknüpfung unserer Vorstellungen entgegenstellt, zu der Einsicht in das Selbstverständliche erst durchzuringen." (Logik, Seite 595)
Wie in der Mathematik, so wird man auch in der Mechanik erste synthetische Sätze finden, welche als höchste Prinzipien zwei Beziehungsglieder allgemeingültig und selbstverständlich verknüpfen, die durch kein Mittel logischer Beweisführung als analytisch oder identisch zusammengehörig nachweisbar sind. Man sagt, all unser Denken geht darauf aus, Zusammenseiendes auf Zusammengehöriges, synthetische Urteile auf analytische zurückzuführen. LOTZE behauptet, daß der letzte Satz, den unsere Erkenntnis am Ende ihres Weges erreichte, doch ein synthetischer von der Form  A + B = C  sein würde, der im Grunde nicht wunderbarer ist als der identische  A = A Es kann dies ja eine notwendige Folge der Beschaffenheit des Seienden sein. Es kann ja im Sein
    "sachlich ursprüngliche Zusammengehörigkeiten des Verschiedenen geben, ursprüngliche Synthesen, deren Beziehungsglieder durch keine Zwischenvermittlung zusammenhängen, welche ihre Vereinigung also noch so entfernte Folgen des Identitätsgesetzes erscheinen läßt, und die dennoch unmittelbar zusammengehören. Dem müßte dann das Erkennen entsprechen. ... Gewiß kann es daher letzte und einfachste synthetische Wahrheiten geben, die rein aufgefaßt, nicht bloß tatsächlich gelten, sondern auch selbstverständlich, deren Evidenz aber, wenn man alles Logische auf den Satz der Identität gründen will, nicht mehr eine logische, sondern eher eine ästhetische zu nennen ist, und demgemäß nicht an der Denkmöglichkeit, sondern an der evidenten Absurdität ihres kontradiktorischen Gegenteils ihren Prüfstein hat." (Logik, Seite 607)
III. Wenn wir nun diesen Abschnitt aus der Logik überblicken, so scheint uns sein Ergebnis für die Fragen der Erkenntnistheorie nur gering; dies ist aber nur dann der Fall, wenn wir mit der Erwartung, über eine hinter der Vorstellungswelt liegende Dingwelt aufgeklärt zu werden, herantreten. Dann werden wir freilich sagen, wir bleiben bei ihm immer in der Erscheinungswelt, ohne zu einem Seienden zu gelangen; wenn wir uns aber erinnern, daß bei LOTZE die Vorstellungswelt nicht ein verblaßtes Bild der Wirklichkeit, sondern selbst ein Teil derselben, und zwar gleichsam ihre Blüte ist, so gewinnen auch alle Urteile über sie eine metaphysische Bedeutung.

Wenn wir LOTZEs Erkenntnistheorie zusammenfassend zu charakterisieren versuchen, so bemerken wir unbeschadet ihrer Originalität doch zwei Strömungen, eine neukantische und eine hegelsche. Wie KANT bleibt auch er in der Vorstellungswelt, in der Sphäre des Transzendentalen stehen; Raum mit Kategorien haben in ihr allein ihre Wahrheit; es gibt für Menschen nur eine menschliche, durch ihre Natur wesentlich mitbedingte Erkenntnis; und auch darin trifft LOTZE mit KANT zusammen, daß er die praktische Vernunft, d. h. den Menschengeist nach der Seite des Fühlens und Wollens als letztes Erkenntnisprinzip aufstellt; die Wirklichkeit ist überall reicher als unser Denken und kann durch dasselbe nicht adäquat erfaßt werden; aber der Geist im Ganzen kann doch ahnungsvolle Blicke hineintun in die Wirklichkeit, kann das Ganze empfindend erleben. Ästhetische und ethische Idee, die ihre Wahrheit in ihrem Wert haben, sind die letzten Resultate unserer Welterklärung, eine Lehre, in welcher Lotze ganz der durch KANTs Kritik angeregten Strömung unserer Zeit folgt.

Der einseitige Intellektualismus ist gewichen; die Überschätzung des Logischen zurückgewiesen, der Willens- und Gefühlsseite ihr berechtigter Teil an der Ausbildung der Weltanschauung zugestanden. Von Werturteilen wird heutzutage auch in theologischen Kontroversen viel geredet; es sind Urteile, die vom Wert eines Gegenstandes, eines Gedankens auf seine Wirklichkeit schließen, gegenüber den Seinsurteilen, die nur die Überführung durch ein tatsächliches Objekt für einen vollgültigen Beweis der Wahrheit und Wirklichkeit gelten lassen.

Eine Neigung zu solchen Werturteilen finden wir bei LOTZE schon im einzelnen; das Stehenbleiben bei einem Solipsismus z. B., das man logisch gewiß nicht anfechten kann, nennt er geschmacklos: ein Werturteil. Am deutlichsten spricht sich LOTZE darüber aus gegenüber der Vorherrschaft des Logischen in der Rezension "Der Streit des Naturgesetzes mit dem Zweckbegriff".
    "Er hat nur gezeigt, was sich wohl von selbst verstand, daß keine Macht auf Erden zwingen kann, ästhetischen Anforderungen des Gemüts eine theoretisch beweisende Kraft zuzugestehen, aber mit Unrecht bestrebt er sich, durch die Künste, mit denen sich dieser abstrakt verständige Standpunkt jenen Bedürfnissen zu entziehen sucht, uns ihre Erfüllung überhaupt zu verleiden. ... Der Philosoph muß sich erinnern, daß die Gedanken, die jedem energisch zuströmen, der mit offenem Herzen und Sinn die Natur betrachtet, ein unveräußerliches und unantastbares Gut sind, das nicht von einem Gewebe spitzfindiger Spekulationen zerstört werden darf, sondern immer als das sicherste unserer Erkenntnis ein richtiges korrigierendes Gegengewicht gegen die Verwirrungen des grübelnden Verstandes bildet."
Sind schon im einzelnen seine Sätze so beeinflußt, so ist ebenso unstreitig das Abschließend in seiner Weltansicht nur in einer ethischen Idee zu finden; er spricht dies auch öfters deutlich genug aus (z. B. Mikrokosmus III, Seite 234):
    "Dadurch wird er - der Realismus - stets den Widerspruch jener idealistischen Neigung des menschlichen Gemütes erwecken, welche das wahre Sein nicht in Tatsachen anerkennt, die nur sind, weil sie sind, oder angenommen werden müssen, weil Anderes ist, sondern allein in einer solchen, die durch den Wert des Gedankens welchen sie darstellt, ihren Beruf, ihr Recht und ihre Kraft bezeugt, als das letzte Gegebene, als das höchste gestaltende Prinzip an die Spitze der Wirklichkeit zu treten."
Andererseits ist LOTZE doch zu spekulativ interessiert, um dies konsequent durchzuführen und auf eine Metaphysik in einem dogmatischen Sinn, auf jede Erkenntnis der Dinge ansich zu verzichten, etwa in der Weise FRIEDRICH ALBERT LANGEs und diese spekulativen Neigungen möchten wir das Hegelsche an ihm nennen. Das Selbstvertrauen der Vernunft, das er selbst manchmal seiner kantischen Neigung entsprechend einen sittlichen Glauben nennt, bildet für ihn die Brücke, um doch einigen erkenntnismäßigen Aussagen über die Wirklichkeit ansich zu gelangen. Und wir dürfen ihm daraus keinen Vorworf der Inkonsequenz machen; denn seine Vorstellungswelt ist eben kein Abbild einer unfaßbaren Wirklichkeit, sondern selbst Wirklichkeit, und deshalb der metaphysischen Untersuchung zugänglich. Da hören wir nun, was der Raum in Wirklichkeit ist und was ihm entspricht, die Intensität des Leidens und Wirkens, nämlich in den Dingen, daß eine eigenartige Bedingungsordnung, wenn auch nicht als zeitlicher, so doch als ein wirklicher Verlauf unserer Auffassung der Zeit entspricht; ferner daß die logischen Beziehungen als immanente Zustände in dieser Dingwelt realiter sein können, daß die Urerkenntnis synthetischer Art ist, weil auch im Realen ursprüngliche Synthesen bestehen.

Hier sehen wir also die Neigung zu einem volleren dogmatisch-spekulativen Ausbau transzendentalen Realismus. An diese Seite von LOTZEs Denken knüpft nun EDUARD von HARTMANN seine Kritik an (2), um ihr Halbheit und Inkonsequenz vorzuwerfen. Der transzendentale Realismus ist ihm nicht energisch genug durchgeführt, wie er an den einzelnen Punkten zeigt. Seine Kritik geht von einem festen spekulativen Standpunkt aus und da wir ja in LOTZE eine kantische und hegelsche Seite anerkennen, so mag HARTMANN von seinem Standpunkt aus Recht haben. Doch wollen wir der interessanten und lehrreichen Kritik in den einzelnen Punkten nachgehen.

Am Substanzbegriff LOTZEs tadelt HARTMANN am meisten dies, daß er ihn an eine bewußte Geistigkeit nach Analogie unseres Seelenlebens gebunden denkt, während schon bei unserem geistigen Leben das Bewußte nur ein geringer Teil sei und der Glaube an die Geistigkeit der Dinge eine ebenso überflüssige wie ungeheuerliche Zumutung ist. Den Einzeldingen gegenüber vergißt LOTZE oft, daß es doch nur eine Substanz, die des All-Einen gibt, und daß Alles nur Aktion dieser Substanz ist; er fällt manchmal in den HERBARTschen Pluralismus zurück (a. a. O., Seite 68) LOTZE wisse, daß weder die Fassung als Ideen, noch als Gesetz genügt, um das Dasein der Dinge zu erklären; es fehlt dabei gerade das, was ihnen den Charakter der Wirklichkeit gibt. Welches ist nun dieses Realprinzip? Weder kann es ein Wirklichkeitsstoff, noch eine einmalige absolute Position sein, aber doch eine stetige Setzung der realen Beziehungen durch das Absolute.
    "Anstelle des unbegreiflichen Begriffes der stetigen absoluten Setzung muß der klare und deutliche Begriff des stetigen absoluten Wollens gesetzt werden, und haben wir damit das gesuchte Realprinzip, oder diejenige Aktion im absoluten Subjekt, welche zur intellektuellen Anschauung noch hinzutreten muß, um den Ideen eine dingliche Realität zu geben, gefunden." (a. a. O., Seite 72)
LOTZE verderbe sich auch den Begriff der Realität durch die Einmischung des Fürsichseins, der Geistigkeit oder Ichheit, was ihn zu dem weiteren Irrtum treibt, Realität sei eine Selbständigkeit nicht nur gegen seines Gleichen, sondern auch gegen Gott, und daß er die Möglichkeit einer objektiv-realen Erscheinung leugnet, vielmehr nur eine subjektive kennt, womit aber eigentlich jede Realität unmöglich gemacht ist, da sie eben nur in einer objektiv-realen Erscheinungswelt, nicht aber in einem überseienden Wesen der absoluten Substanz, aber ebensowenig in der reinen Idealität und realitätslosen Bildlichkeit der subjektiven Erscheinung ihren Ort haben können.

In Bezug auf die Kausalität habe LOTZE Recht, sie nur bei Annahme des Monismus erklärbar zu finden, aber es sei schon wieder eine Hinneigung zum Pluralismus, sie als immanente Beziehungen in den Dingen anzusehen, sie seien vielmehr über und hinter den Dingen im absoluten Sein.

Auch die Methode LOTZEs,  A  und  B  zu isolieren, um an ihnen die Kausalität zu beobachten, sei ein überflüssiger und unphilosophischer Umweg durch den HERBARTschen Pluralismus; der Blick muß immer aufs Ganze gerichtet sein.

Auch hier menge LOTZE wieder sein verwirrendes Fürsichsein ein; das Merken und Spüren in den Dingen sei absolut überflüssig; Kausalität sei ohne eine solche Innerlichkeit völlig begreiflich; höchstens könnte letztere eine Nebenwirkung oder Begleiterscheinung sein. Dieses überall störende Fürsichsein hat die Tendenz sich zum allein Wahren zu machen; aber damit wäre aller reale Prozeß zu einem bloß subjektiven Schein verflüchtigt, und Kausalität wäre eine magisch-mystische Übertretung dieses Scheins.
    "Mag man sonst über die Bedeutung des Fürsichseins in der Welt und in einem philosophischen System noch so hoch denken ..., in der Betrachtung der Begriffe  Substanzialität, Realität und  Kausalität gehört das Fürsichsein nicht hin; das Fürsichsein ist weder Substanzialität noch Realität, und das Spüren im Fürsichsein ist keine Bedingung für die Möglichkeit der Kausalität. Aber gerade zu diesen drei Behauptungen spitzt sich  Lotzes Ontologie zu und in ihnen hat sie ihre charakteristische Physiognomie und eigentümliche Originalität." (a. a. O., Seite 98)
So ist HARTMANNs Urteil über LOTZEs Analogie kurz dies: Das Gute nicht neu, das Neue nicht gut.
    "Das Endurteil über  Lotzes Ontologie kann also nur dahin lauten, daß die aus anderen monistischen Systemen entlehnten Wahrheiten durch die verkehrte Einfügung des einzigen originellen Prinzips entwertet und entstellt sind, und um brauchbar zu werden, erst wieder von demjenigen gereinigt werden müssen, was  Lotze eigentümlich ist: vom Prinzip des Fürsichseins." (a. a. O., Seite 98)
Gehen wir nun zur Kritik der Kosmologie. LOTZE sucht die Undenkbarkeit einer realen Räumlichkeit zu beweisen, vergißt aber, daß es zwei Arten dieser Ansicht geben kann, die von einer substantiellen und die von einer nur akzidentiellen [zufälligen - wp] oder inhärenten [innewohnenden - wp] Realität des Raumes. (Ansicht SCHELLINGs). LOTZE beweist mit viel überflüssiger Mühe die Unmöglichkeit der ersteren, und glaubt dadurch zur Annahme der Idealität des Raumes ohne weiteres berechtigt zu sein. Diese Alternative ist aber falsch. -
    "Im Grunde ist für  Lotze die Frage schon entschieden durch seine Ansicht, daß kausale oder Wechselwirkung nicht zwischen den Dingen, sondern nur in der bewußten Innerlichkeit der Dinge soll stattfinden können. ... Wie die Ansicht von der bloßen Innerlichkeit der kausalen Beziehungen und Vorgänge auf pluralistischem Boden erwachsen ist und  Lotzes Monismus widerspricht, so auch die aus ihr gezogene Folgerung von der bloßen Innerlichkeit der räumlichen Beziehungen." (a. a. O., Seite 108)
In einer längeren Auseinandersetzung wird dann gezeigt, daß LOTZEs Hypothese, wenn es sich darum handelt die Wirklichkeit zu erklären, höchst kompliziert, unbestimmt, unklar, unbrauchbar und in manchen Punkten geradezu undenkbar ist. HARTMANNs Schlußurteil:
    "Es ist zwar anzuerkennen, daß  Lotze die kantischen Beweise für die ausschließliche Subjektivität der Räumlichkeit als nichts beweisend verwirft und durch sein intelligibles Beziehungsnetz von stetiger dreifacher Mannigfaltigkeit mit einem Fuß auf den Boden des transzendentalen Realismus hinübertritt, aber es ist zu bedauern, daß er sein durch sein pluralistisch-ontologisches Vorurteil von der rein subjektiven Innerlichkeit der Wechselwirkung zwischen den Dingen sich davon hat abhalten lassen, auch den anderen Fuß nachzuziehen und ganzer und voller transzendentaler Realist zu werden." (a. a. O., Seite 126)
In Bezug auf die Zeit kann HARTMANN unserem Philosophen mehr Lob spenden; hier ist er realistischer gesinnt; in der "Metaphysik" sogar rein transzendentaler Realist, die leere Zeit wird wieder unnötig breit von LOTZE bekämpft. Doch kommt er hier zu der richtigen Erkenntnis, daß reale Zeitlichkeit eine dem Verlauf des Wirklichen inhärierende Daseinsform, eigenste Natur des Wirklichen ist. Wie er das dem Raum Korrelate in Intensitätsverhältnissen der realen Kraftwirkungen fand, so hätte er das der Zeitanschauung entsprechende eindimensionale Netz intelligibler Beziehungen in dem logischen Verhältnis von Grund und Folge, Bedingung und Bedingtem suchen können. LOTZE sieht hier die Unmöglichkeit dieses Beginnens ein; Grund und Folge wären ja koexistierend; Kausalität ist aber nicht umkehrbar. Sukzession [Aufeinanderfolge - wp] ist nun einmal nicht schlechterdings aus zeitlosen Momenten zu deduzieren.

Von dieser richtigen Lehre fällt LOTZE in der Religionsphilosophie wieder ab, da er sich nicht entschließen kann, Gott in den zeitlichen Verlauf miteinzubeziehen; er verkennt dabei, daß die unzeitliche Ewigkeit Gottes sich sehr wohl mit einer zeitlichen Tätigkeit dieses Wesens verträgt, weil er noch in einem abstrakten Monismus ((Identifikation von Potenz und Aktus) steckt, anstatt sich zu einem konkreten Monismus durchzuringen.

LOTZE wünsche eine Fortdauer der Vergangenheit, eine Erhaltung der Güter und Individuen aus einem berechtigten und einem unberechtigten Grund. Soweit diese Sehnsucht berechtigt ist, brauche man nicht ihr zuliebe den zeitlichen Verlauf für illusorisch zu erklären, sie werde völlig befriedigt durch die Teilnahme der Individuen am absoluten Subjekt. - Der Weltgrund ist nach HARTMANN verbesserungsbedürftig.
    "Es entsteht also die Aufgabe, einen Gottesbegriff zu konstruieren, welcher dem Rechnung trägt, nicht einen solchen, der ihm widerspricht; letzteres tut aber der mangellos unbewegliche, sich ewig gleichbleibende Gott, dessen Schöpfungszweck als in jedem Augenblick gleichmäßig erfüllt gilt." (a. a. O., Seite 142)

    "Für Freiheit in den Geschöpfen bleibt kein Raum, weil sie ja nur Aktionen des absoluten Subjekts sind, also scheinbare neue Anfänge in ihnen ja doch nur neue Anfänge in Gott wären; für Freiheit in Gott ist kein Raum, weil sie der logischen Notwendigkeit des teleologischen Fortgangs widersprechen würde." (a. a. O., Seite 143)
LOTZEs Abneigung gegen den Determinismus beruth ja doch nur auf Stimmung und praktischen Resultaten, ist also ohne Belang.
    "Die ganze religionsphilosophische Umkehrung des realistischen Ergebnisses der Metaphysik in Bezug auf die Zeit ist damit als unberechtigt aufgezeigt, und der transzendentale Realismus von  Lotzes Zeitlehre bleibt in voller Kraft."
Es folgt nun noch eine Beurteilung von LOTZEs Lehre von Denkformen. (a. a. O., Seite 143 und 148f) Da LOTZE eine Einheit der Substanz, Vielheit ihrer Aktionen, eine, wenn auch immanente Kausalität in den Dingen kennt, so erkennt er damit tatsächlich die erkenntnistheoretisch-transzendente Bedeutung und Gültikeit der Kategorien  Einheit  und  Vielheit, Substanz  und  Akzidens, Realität, Kausalität  und  Wechselwirkung  an und ebenso diejenige der logischen Gesetze. Aber er bleibt sich auch hier nicht treu;
    "Das eine Mal will er mit Hilfe des Denkens das Seiende a priori bestimmen und die Metaphysik aus der Logik deduzieren, das andere Mal will er uns zu einem absoluten Agnostizismus verurteilen, indem er alles Erkennen, nicht bloß das unsrige ... für unfähig erklärt, etwas anderes als subjektiven, formell wahren, aber materiell unwahren Schein zu produzieren."

    "Der Begriff der formalen Wahrheit, d. h. die widerspruchslose Übereinstimmung des Bewußtseinsinhaltes mit sich selbst und seiner inneren Mannigfaltigkeit untereinander) kann niemals den der materiellen Wahrheit (d. h. die Übereinstimmung des Bewußtseinsinhaltes mit der korrelativen Wirklichkeit) ersetzen, wie  Lotze glaubt." (a. a. O., Seite 150)
Vielleicht ist aber diese formale Wahrheit doch zugleich eine materiale, wenn wir uns erinnern, daß die Vorstellungswelt der uns gegebene Teil der Wirklichkeit ist; es braucht dann nicht erst eine Brücke hinüber zur Dingwelt gesucht werden, die HARTMANN in einer unmittelbaren praktischen Gewißheit des Affiziertwerdens durch einen fremden Zwang, eine Außenwelt findet.

Und auch angenommen, LOTZEs Erkenntnislehre führe theoretisch zum Jllusionismus und Skeptizismus, so hat er doch in seinen Werturteilen, in der praktischen Vernunft ein Mittel, die wahre Wirklichkeit zu erfassen. HARTMANNs Schlußurteil ist:
    "Da  Lotze sich in Betreff der Denkformen ebensowenig wie in Betreff der Zeitlichkeit aus seinem Schwanken herausarbeiten und zu einer festen Stellungnahme auf Seiten des transzendentalen Realismus entschließen konnte, so zeigt seine Erkenntnistheorie hier eine klaffende Lücke. Damit ist seinem ganzen System der Eckstein weggezogen, so daß es haltlos in der Luft schwebt."
Man muß dieser Kritik HARTMANNs zugestehen, daß sie einheitlich und konsequent ist und manche Doppelheit in LOTZEs Philosophie aufdeckt. HARTMANN ist ein Ausläufer der ihrerzeit so imponierenden spekulativen Philosophie Deutschlands, SCHELLING nahestehend, und teilt in seiner Philosophie alle Vorzüge und Schattenseiten jener älteren. Gerne wird man den Mut und die Kraft, bis zum Letzten erkennend vorzudringen, anerkennen und bewundern, und wünschen, daß es nie an Männern fehlen möge, die dies immer wieder wagen. Aber KANTs Kritizismus hat uns doch zu sehr die Augen geöffnet über die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit dieses Unternehmens. KANTs Philosophie bleibt eine Stufe in der Entwicklung unserer deutschen Philosophie, die niemand ohne Schaden übersehen wird. Ist ja doch selbst HARTMANN nicht unbeeinflußt davon: denn seine und SCHOPENHAUERs starke Betonung des Willens gegenüber der früheren Bevorzugung des Intellekts beruth gewiß neben einer vervollkommneteren Psychologie auch auf dem Einfluß von KANTs praktischer Vernunft.

So wenig HARTMANN auch Gutes an LOTZE lassen will, so stehen sie sich doch nicht so fern, auch HARTMANN nimmt einen Glauben, eine unmittelbare Erkenntnis als seiner Philosophie an. Andererseits nähert sich wieder LOTZE an HARTMANN durch sein spekulatives Interesse, das wiederholt betont z. B. am Schluß der "Logik":
    "Aber im Angesicht der allgemeinen Vergötterung, die man jetzt der Erfahrung umso wohlfeiler und sicherer erweist, je weniger es noch jemanden gibt, der ihre Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit nicht begreift, im Angesicht dieser Tatsache will ich wenigstens mit dem Bekenntnis, daß ich eben jene vielgeschmähte Form der spekulativen Anschauung für das höchste und nicht schlechthin unerreichbare Ziel der Wissenschaft halte, und mit der Hoffnung schließen, daß mit mehr Maß und Zurückhaltung, aber mit gleicher Begeisterung sich doch die deutsche Philosophie immer wieder zu dem Versuch erheben wird, den Weltlauf zu verstehen und ihn nicht bloß zu berechnen."
Nur ist HARTMANNs Monismus mehr ontologisch wie der FICHTEs. HARTMANNs System mag konsequenter und systematischer sein, aber es hat eben auch den Nachteil der spekulativen Philosophie, über Dinge Erkenntnisse haben zu wollen, die unserem Denken entzogen sind, und deshalb manchmal an Mythologie grenzen.

HARTMANNs Kritik zeigt uns die schon früher konstatierte kantisch-hegelsche Doppelheit in LOTZE noch deutlicher. Alle die halben Ansätze zum transzendentalen Realismus, ferner der Monismus und seine obenerwähnte spekulative Neigung sind ein Erbe unserer spekulativen Philosophen; die von HARTMANN gerügte Idealität des Raumes, der Zeit (in der Religionsphilosophie), der Denkformen, der manchmal hervortretende logische und metaphysische Skeptizismus und Agnostizismus sind kantisch. HARTMANN betont sehr die Abhängigkeit LOTZE von WEISSE und auch LOTZE gesteht den tiefen und maßgebenden Einfluß desselben auf seine Philosophie zu (a. a. O., Seite 25): Mit seinem Freund und Lehrer WEISSE fühlt sich LOTZE auf das Engste verbunden und bekennt freudig mit der dankbarsten Erinnerung, daß er ihm
    "nicht nur der Anregungen auf weiten Gebieten gar viele, sondern auch den positiveren Gewinn verdankt, über einen engeren Kreis von Gedanken so belehrt und ihm befestigt worden zu sein, daß er diesen wieder aufzugeben weder eine Veranlassung außer ihm, noch einen Trieb in ihm gefühlt habe."
Von ihm hat LOTZE seinen Glauben an die Persönlichkeit Gottes und an ein Reich freier persönlicher Geister, die Gott gegenüber eine gewisse Selbständigkeit behaupten.

Von diesem Glauben, den LOTZE nicht lassen will, kommen die von HARTMANN getadelten Halbheiten her. Er ist der Grund, warum er ein bewußtes Fürsichsein und eine relative Selbständigkeit der Aktionen Gott gegenüber festhalten will, warum er überhaupt eine bewußte Geistigkeit und Ichheit so hoch stellt, warum er Gott nicht in den Zeitverlauf hereinziehen lassen will, warum er so hartnäckig die Persönlichkeit Gottes verteidigt, warum er eine Freiheit der Geschöpfe beibehalten und die Sehnsucht der Individuen, an dem von ihnen geschaffenen Gütern einen individuellen Genuß zu haben, nicht unbillig findet.

HARTMANN ist als Philosoph und Pantheist konsequent, in LOTZE streiten Pantheismus und Theismus; vielleicht gibt er uns deshalb eine schlechtere Philosophie, aber gewiß bietet er uns eine befriedigendere Weltanschauung. Denn wir sind im Unterschied von HARTMANN der Ansicht, daß gerade in der kantischen Seite und den theistischen Neigungen als deren Ergänzung das Wertvolle von LOTZEs Philosophie liegt, un wenn uns der Einwand gemacht würde, das sei dann keine Philosophie mehr, sondern Religion, so entgegnen wir, daß es eine vollständig anerkannte und gerechtfertigte Brücke von der Philosophie zur Religion gibt, die KANT gezeigt hat, wenn er sagt, daß er die Anmaßungen der Philosophie zurückweisen mußte, um dem Glauben Platz zu machen.

Es wird eben doch dabei bleiben, daß eine auf rein logisch-philosophischer Grundlage entwickelte und aufgebaute Weltanschauung nie die Bedeutung, die Kraft und den Einfluß erlangen und nie die Befriedigung gewähren kann, die man von der richtigen Weltanschauung erwarten darf und muß, daß die Philosophie, wenn sie auf sich selbst angewiesen bleibt, überhaupt unfähig ist, eine abschließende Weltanschauung zu finden und wenn sie es doch versucht, nur Worte statt Wahrheiten bieten kann, daß die Philosophie vielmehr die Aufgabe hat, über sich selbst hinauszuweisen und hinauszuführen zu einem Glauben an die Offenbarung. Die Philosophie in diesem Sinne bearbeitet zu haben, wenn auch nicht ganz rückhaltlos, halten wir für LOTZEs größtes Verdienst.

Die Erkenntnis der Unzulänglichkeit des menschlichen Denkens gegenüber den transzendenten Wahrheiten sollte die Philosophie nicht mehr aufgeben, vielmehr nach dem Seinsollenden als letztem Grund des Seienden suchen, wie LOTZE es wünscht. Da die Ideale des Seinsollenden nur in der Geschichte zu finden sind, so würde die Philosophie auch dazu geführt werden, von den unfruchtbaren ontisch-kosmologischen Spekulationen abzulassen und nach den Idealen in der Geschichte zu fragen, diese nach ihrem Wert zu beurteilen, so Geschichtsphilosophie anstatt Seinsphilosophie zu werden; auf diesem Weg würde auch die so sehnlich erwünschte Versöhnung zwischen Philosophie und Offenbarung gewiß zu erreichen sein.

Daß wir mit einer solchen Beurteilung LOTZEs Philosophie kein Unrecht tun, bestätigt auch die Darstellung ERDMANNs in seiner "Geschichte der Philosophie", Bd. II, Seite 841f:
    "Schwerlich wird man fehlgreifen, wenn man zu den früh unerschütterlich gewordenen Überzeugungen, ja zu ihrem Kulminationspunkt die rechnet, daß der genügende Grund für den Inhalt allen Seins und Geschehens in der Idee des Guten liegt, oder daß die Welt der Werte zugleich der Schlüssel für die Welt der Formen ist. Dieser Grundanschauung gemäß kann er in seiner  Metaphysik seinen Standpunkt als teleologischen Idealismus bezeichnen und sagen, daß die Metaphysik ihren Anfang nicht in sich selbst hat, sondern in der Ethik."

LITERATUR - Hans Pöhlmann, Die Erkenntnistheorie Rudolf Hermann Lotzes, Erlangen 1897
    Anmerkungen
    1) WILHELM GERCKEN, Beitrag zur Würdigung der Erkenntnistheorie Lotzes, in: Programm des städtischen Realgymnasiums zu Perleberg, Nr. 100, 1895
    2) EDUARD von HARTMANN, Lotzes Philosophie (neue Ausgabe)