cr-4ra-1B. RusselF. MauthnerS. I. HayakawaR. LoeningAristoteles    
 
GEORGE HENRY LEWES
A r i s t o t e l e s

"Sein Verstand war durchdringend und umfassend; seine Leistungen übertrafen die aller bekannten Philosophen; nur der Einfluß der großen Religionsstifter war noch größer als der seine."

"Aristoteles  wurde der Blasphemie angeklagt und des Frevels, Sterblichen göttliche Ehren erwiesen zu haben. Und wer waren die Sterblichen, die er geehrt hatte? Sein Freund und sein Weib. Die Klage könnte wohl lächerlich erscheinen; er kannte aber die Denkungsart des großen Haufens zu gut, um zu hoffen, daß die Absurdität der Klage eine Garantie für seine Sicherheit bietet. Volksmengen nehmen selten Gründe an und selten eine Prüfung vor."


Erstes Kapitel
Das Leben des Aristoteles

§ 1. Es ist schwer, von ARISTOTELES ohne Übertreibung zu sprechen: man fühlt, wie gewaltig er ist, und weiß doch, wie unrecht er hat. Die Geschichte, den ganzen Bereich seiner Bestrebungen überblickend, staunt ihn mit Verwunderung an. Die Wissenschaft, welche diese Bestrebungen einzeln heraushebt, betrachtet sie mit Gleichgültigkeit, da sie nur ihre Resultate der Prüfung unterwirft; und diese Gleichgültigkeit geht infolge des lauten Drängens unbegründeten Preisens leicht in eine Opposition über. Schwer ist es, die entgegengesetzten Strömungen der Kritik in das breite gleichmäßige Bett einer ruhigen Würdigung zu leiten; der Glanz seines Ruhmes verewigt auch das Gedächtnis seiner Irrungen, und um gerecht zu sein, müssen wir beides würdigen. Sein Verstand war durchdringend und umfassend; seine Leistungen übertrafen die aller bekannten Philosophen; nur der Einfluß der großen Religionsstifter war noch größer als der seine; wenn wir aber jetzt den Erfolg seiner Arbeiten nach der Entdeckung positiver Wahrheiten beurteilen, so erscheint er unbedeutend, wenn nicht gar irrig. Keine der großen Entdeckungen der Wissenschaft haben wir ihm oder seinen Schülern zu verdanken. Sein außerordentlicher, tätiger Verstand gab der Philosophie einen mächtigen Anstoß und erfüllte die Welt durch zwanzig Jahrhunderte mit Ehrfurcht. Dann trat ein Wechsel ein; der lange schon murrende Geist der Umwälzung wurde stark genug, ihn zu entthronen. Zeiten servilen Autoritätsglaubens hatten ihn auf eine nie dagewesene Höhe erhoben; im Tumult der Revolutionen wurde sein Thron zum Pranger. Wenn die Araber einen Löwen getötet haben, machen sie ihrem nun von Schrecken befreiten Herzen Luft in Angriffen auf den unschuldigen Leichnam; sie stoßen ihn, speien ihn an und machen sarkastische Ausfälle auf das hilflose Abbild ihrer früheren Furcht. So war es auch mti dem großen Löwen von Stagira. Leute, die wenige Jahre früher jeden anmaßenden Kritiker, der zu denken gewagt hätte, der große Lehrer könne unrecht haben, verbrannt haben würden, verlachten nun spöttisch die Methode und die Schlußfolgerungen des verworfenen Sophisten. (1)

Unsere Aufgabe ist eine doppelte; wir müssen beständig die relative (oder historische) und absolute (oder wissenschaftliche) Seite vor Augen haben, die seine Leistungen darbieten; wir dürfen weder zulassen, daß unsere natürliche und gerechtfertigte Bewunderung der Bestrebungen uns in der Würdigung des Resultats beeinträchtigt, noch umgekehrt uns von einem völlig zu vernachlässigenden Resultat zu einer ungerechten Unterschätzung der Bestrebung verleiten lassen.
    "Es ist das Geschick und der Ruhm des Anatomen von Stagira", sagt  Isidore Geoffroy St. Hilaire (2), "nur Vorläufer vor sich und nur Schüler nach sich gehabt zu haben."
Wenn wir auch unseren reichlichsten Tribut zollen, müssen wir doch Sorge tragen, diesen Tribut mit Freimut zu einem gerechten zu machen: wir müssen die Waage gerecht halten und die Fehler gegen die Erfolge abwägen. Bei einem so schwierigen Geschäft kann ich mir nicht anmaßen, die Waage immer recht gehalten zu haben; ich kann aber versichern, daß es mein beständiges Ziel gewesen ist; und ich wünschte nur, ich könnte darüber gewiß sein, daß ich durch meine Ausdrucksweise den Leser davon abhalte, das hier auszusprechende Lob oder den Tadel falsch zu deuten. Ich muß es eben wagen; beides, Lob und Tadel muß ohne Rückhalt ausgesprochen werden. Pietät gegen die Vergangenheit fordert von uns, für jede gute Leistung mit unserem Dank bereit zu sein; eine gleiche Pietät gegen die Jetztzeit heißt uns aber, uns vor einer Übertreibung zu hüten, welche Lobeserhebungen der Vorausgegangenen zu Schmähungen gegen die Lebenden machen würde. Es ist der Ruhm der Wissenschaft, beständig fortzuschreiten. Nach dem Verlauf eines Jahrhunderts wird der größte Lehrer, kehrte er wieder unter die Menschen zurück, den Platz eines Lernenden einzunehmen haben. Sein Standpunkt würde nicht länger den ganzen Gesichtskreis der Erkenntnis beherrschen. Der Same, den er säte, würde zu einem den Blick verdüsternden Wald emporgewachsen sein. Die wir uns aber an der Majestät des Waldes erfreuen, dürfen die nicht vergessen, welche den Samen legten. Wir sind als ihre Erben reicher, aber nicht größer.
    "Der Vergleich den sich viele vorstellen, zwischen der Superiorität [Überlegenheit - wp] der Neueren vor den Älteren und der Erhöhung eines Zwerges auf dem Rücken eines Riesen ist durchaus falsch und kindisch. Weder waren die Alten Riesen, noch sind wir Zwerge; wir sind alle Menschen desselben Schlags, nur sind wir höher, da wir ihre Höhe zur unsrigen zuzurechnen haben: aber immer vorausgesetzt, daß wir ihnen an Fleiß, Aufmerksamkeit, Wachsamkeit und Wahrheitsliebe nicht nachstehen; denn würden diese Eigenschaften fehlen, weit entfernt dann auf des Riesen Schultern zu steigen, so werfen wir auch den Vorteil unserer eigenen Gestalt von uns und bleiben auf dem Boden hingestreckt liegen." (3)
§ 2. Die alten Biographien des ARISTOTELES sind von BUHLE in den ersten Band seiner schätzbaren, aber unvollendeten Ausgabe der "Opera omnia" aufgenommen worden. So mager sie in Details sind und von so bedenklicher Zuverlässigkeit, so ist dies doch alles, an was sich Neuere in Bezug auf die Tatsachen der Laufbahn des ARISTOTELES halten können. Da mir nun aus früherer Erfahrung her bekannt war, daß die ganze Sippschaft der Kompilatoren nichts weniger als glaubwürdig ist, und daß man einem alten Kompilator wenig Vertrauen schenken darf (trotzdem daß alles griechisch Geschriebene für die Kenner eine besondere Glaubwürdigkeit zu haben scheint, da ja selbst Unsinn in dieser Sprache ein würdevolles Ansehen erhält), so kam mir der Gedanke, daß vielleicht schon das einfache Nebeneinanderstellen der Daten, zu welchen diese verschiedenen Biographien zusammengetragen wurden, den Zweifel an ihrer Genauigkeit hinreichend rechtfertigen dürfte. Alle alten Schriftsteller, vielleicht THUKYDIDES ausgenommen, sind in der Aufnahme von Tatsachen unkritisch. Selbst in unserem eigenen, voreiligerweise kritisch genannten Zeitalter haben wir die äußerste Schwierigkeit, das Wahre mit Bezug auf berühmte Personen auszumitteln; so viel Macht hat die Tendenz zum Mythischen und so pilzartig schnell pflanzen sich Lügen fort. Die Alten hatten sich aber noch nicht zur Idee dessen, was einen Beweis darstellt, erhoben; sie waren so leichtgläubig wie Kinder und nahmen beinahe jedes Wunder hin, das ihnen mit Feierlichkeit erzählt wurde.

Welches sind denn nun die sicheren oder ungefähren Zeiten dieser Biographen? ARISTOTELES wurde 384 v. Chr. geboren. DIOGENES LAERTIUS, dessen Erzählung die ausführlichste, beste und diejenige ist, der am meisten gefolgt wird, wurde frühestens fast sechs Jahrhunderte später geboren, d. h. 200 n. Chr.; es wird sogar hier und da angenommen, er habe so spät wie KONSTANTIN gelebt. Der nächste auf unserer Liste ist (wenn die Arbeit wirklich von ihm herrührt) AMMONIUS, welcher acht Jahrhunderte nach seinem Helden lebte, im Jahre 460 n. Chr. Daß man sich in diesen acht Jahrhunderten nicht mit Vorteil damit beschäftigt hat, die überlieferten Angaben zu sichten und sie der Genauigkeit zu nähern, läßt sich schon aus einer einzigen von BUHLE (4) angeführten Notiz entnehmen, wonach hier ARISTOTELES zu einem Schüler von SOKRATES gemacht wird, der 15 Jahre vor der Geburt des Stagiriten starb. Der der Zeit nach nächste Biograph ist DIONYS von HALIKARNASS (50 n. Chr.), und dies gibt immer noch einen Sprung von drei Jahrhunderten; zudem steht alles, was er zu sagen hat, auf einer einzigen mageren Seite. HESYCHIUS wurde 500 n. Chr. geboren, fast neun Jahrhunderte zu spät. Wann SUIDAS lebte, ist unsicher, aber wahrscheinlich nicht früher als im 11. Jahrhundert unserer Zeitrechnung.

Diese Schriftsteller widersprechen einander in einzelnen Punkten. Was haben wir für Mittel, zwischen ihnen zu entscheiden? Sie können möglicherweise gleichzeitige Dokumente als Quellen benutzt haben; welche Garantie haben wir aber für die Zuverlässigkeit dieser Dokumente? Es ist jetzt gerade nur 300 Jahre, daß SHAKESPEARE geboren wurde; während dieser Zeit ist er gepriesen, ist viel über ihn geschrieben worden; Kompilatoren haben ihr Möglichstes Getan, Schlechtes zu liefern; und doch was wissen wir Authentisches über sein Leben? und vor allem, welchen Wert legen wir der frühesten Biographie, der von ROWE bei?

Wenn daher neuere Gelehrte die verschiedenen, überlieferungsweise aufbewahrten Details über ARISTOTELES zusammengestellt haben, so können wir wohl ihre Darstellung als das Beste hinnehmen, was jetzt zu beschaffen ist; wir können aber keiner Seite ein größeres Vertrauen schenken, wenn einzelne Punkte noch streitig sind. Ich will daher die Zeit des Lesers nicht für Diskussionen in Anspruch nehmen, wo entscheidende Beweise doch notwendigerweise fehlen, sondern werde die Geschichte mitteilen, nach meiner Diskretion die Erzählungen der neuesten und der die meiste Gewähr bietenden Schriften (5) benutzen und das nutzlose Geschäft, nicht zu erweisende Angaben gegeneinander abzuwägen, denen überlassen, welche an solchen Spitzfindigkeiten Gefallen finden.

§ 3. Stagira,  nach BOECKHs Ausspruch richtiger  Stageiros  zu schreiben, war eine Stdt im nördlichen Griechenland an der Westküste des Strymonischen Meerbusens (des jetzigen Busens von Contessa), gerade da, wo die Küste eine südliche Biegung zu machen beginnt. Seine Lage wird mit dem südlichen Teil des Meerbusens von Neapel verglichen. Unmittelbar südlich läuft in östlicher Richtung ein Vorgebirge aus, wie die Punta della Campanella und beinahe in derselben Breite, welches die kleine Stadt und ihren Hafen, Kapros, wirksam gegen die stürmischen Wellen des Ägäischen Meeres schützt.  Stagira  soll Sorrent gleichen, nicht nur in der allgemeinen Anlage der Küstenlinien, sondern auch in den terassenartigen Windungen seiner zahlreichen Orangen- und Zitronengärten (6).

§ 4. In diesem malerischen Hafenplatz wurde ARISTOTELES 384 v. Chr. geboren, also gerade ein Jahrhundert nach HERODOTs Geburt, ein Jahrhundert vor der Gründung der Alexandrinischen Bibliothek und der Ausführung der Septuaginta-Übersetzung der Bibel und zwei Jahrhunderte vor dem Tod PHILOPÖMON, "des letzten Griechen", wo sich das Achäische Bund vor der römischen Macht auflöste und Griechenlands einst glänzendes Dasein in der Abhängigkeit einer römischen Provinz unterging.

Sein Vater NIKOMACHUS war Arzt und Asklepiade; ob er aber bessere Ansprüche auf die Ehre hatte, AESKULAPs Abkömmling zu sein, als so viele andere, diesich diesen Titel anmaßten (7), oder ob er einfach zu der berühmten Zunft gehörte, kann jetzt nicht mehr entschieden werden. So viel ist sicher, daß er als Arzt Ansehen genoß und AMYNTAS II., dem Vater PHILIPPs von Mazedonien, nahe stand. Diese Tatsache seines Berufs in Verbindung mit der weiteren Tatsache, daß Stagira an der Küste lag, mag von Einfluß darauf gewesen sein, daß sich sein Sohn in seinen Arbeiten der Physiologie und der Zoologie des Meeres zuwandte. Im GALEN findet sich allerdings eine oft zitierte Stelle, welche behauptet, daß unter den Asklepiaden den Kindern Anatomie gelehrt worden ist, gerade so wie Schreiben und Lesen, und daß sie daher in der Anatomie so zu Hause gewesen sind wie im Alphabet. Das muß aber mit bedeutender Vorsicht aufgenommen werden; wir werden gleich sehen, daß die Asklepiaden, und selbst ARISTOTELES, nur sehr unvollkommen mit der Anatomie bekannt waren. Jedoch weist diese Angabe selbst in ihrer Übertreibung auf die wichtige Tatsache hin, daß die Anatomie nicht vernachlässigt wurde, sondern einen Teil der Erziehung der Knaben ausmachte. Dieses isolierte Faktum ist aber auch alles, was wir von dieser Erziehung wissen.

§ 5. Es ist unbekannt, wielange er in Stagira blieb, ehe er seinen Vater nach Pella, an den Hof des AMYNTAS begleitete; hier lernte er PHILIPP kennen und dessen Gunst gewinnen, der später sein Freund werden sollte. In diesem Zeitraum ist alles Mutmaßung, und Mutmaßung kann wohl unterhalten, aber nicht belehren.

§ 6. Im Alter von 17 Jahren verlor er seinen Vater. Dies ist die nächste isolierte Tatsache, welche aufbewahrt worden ist, und sie ist wichtig. Er wurde dadurch sein eigener Herr und gleichzeitig Herr eines großen Vermögens, eine gefährliche Lage für die meisten Jünglinge; die Versuchung, sein Vermögen in frivoler Verschwendung zu verwüsten, muß groß gewesen sein; er konnte ihr nur durch den ungewöhnlichen Ernst seines Sinnes oder ungewöhnliches Glück in seinen sozialen Berührungen widerstehen. Die Vermutung, daß sich ein so gestellter junger Mann ruiniert, ist so plausibel, daß das eitle, sich stets an berühmte Namen hängende Gewäsch eine Geschichte erfand, er habe sein Vermögen verwüstet und sei gezwungen worden, für seinen Unterhalt Arzneimittel zu verkaufen. Die Geschichte fand jedoch schon bei den Alten eine Widerlegung und ist mit den bekannten Tatsachen seines späteren Lebens völlig unvereinbar.

Er war jung, feurig, ehrgeizig, reich. Athen, der Stolz der Welt und, wenn auch die politische Sonne am Untergang war, doch noch der leuchtende Mittelpunkt der Philosophie und Kunst, lockte ihn, wie Rom und Florenz die Geister heutzutage locken. Hier lehrte PLATO und konnte ihn in die Haine der Akademie zulassen. Diesem "alten beredten Mann" zuzuhören, war ein seltener Reiz, und natürlich zog es ihn nach Athen. Hier angekommen, hörte er, daß PLATO abwesend sei. Des großen Lehrers Rückkehr abwartend, bereitete er sich durch ein dreijähriges eifriges Studium darauf vor, sein Schüler zu werden. Hätte er seinen Wohlstand verschwenderisch vergeudet, wie die Schwätzer berichteten, so hätte er nicht die Bücherschätze zusammenbringen können, von denen man weiß, daß er sie kaufte; denn zu jener Zeit war es beinahe so kostspielig, sich eine Bibliothek anzulegen, als es in unseren Tagen ist, eine Gemäldesammlung zu gründen. (8) Bücher zu sammeln und sie zu lesen ist nicht immer ein und dasselbe. Bei ihm war es eins; und PLATO nennt ihn mit Anspielung auf seine außerordentliche Leidenschaft hierin "den Leser". Seine Schriften bezeugen, wie fleißig er die ganze zugängliche Literatur studiert hatte; dem gewissenhaften Zitieren seiner Vorgänger verdanken wir in hohem Grad die Aufbewahrung vieler Fragmente der alten Gedankenwelt. BACONs Sarkasmus, daß er wie ein orientalischer Despot seine Nebenbuhler erdrosselt, um in Frieden zu herrschen, ist äußerst ungerecht (9).

§ 7. Als ARISTOTELES nach Athen kam, war der Glanz dieser Stadt im schnellen Sinken; dicht vor der Tür war die sich aufschwingende Größe Mazedonien, welches es sobald in den Ebenen von Chäronea verdunkeln sollte. Über das Zeitalter des PERIKLES ging die Sonne unter und erhob sich auf die Zeit ALEXANDERs. Seit 60 Jahren hatte PERIKLES aufgehört, von der Rednerbühne herabzudonnern und seinen anregenden Eifer der Kunst und Politik mitzuteilen, hatte aufgefhört, die schöne Stadt mit seiner Pracht, seinem Geschmack zu schmücken. SOPHOKLES und EURIPIDES waren nicht mehr; das grandiose pathetische Drama, das sie vor Tausenden von Zujauchzenden entfaltet hatten, war in die Hände eines CHÄREMON, KLEOPHON und THEODEKTES (letzterer ein Freund des ARISTOTELES) gefallen, deren Anstrengung, die Poesie durch ein rhetorisches Gepränge zu ersetzen, deutlich auf den Verfall hinweist. In aufregenden und freien Possen, die nur zu oft absichtlich wirklich weise und edle Personen und Ideen entstellten, verlachte ARISTOPHANES nicht mehr die Absurditäten, geiselte nicht mehr die Verderbnis seiner Zeit. Kein großer Prosaist, mit Ausnahme XENOPHONs, war übrig; kein Dichter von Bedeutung.

War es aber auch ein Sonnenuntergang, so war es doch ein prachtvoller mit einem strahlenden Nachglühen. Das große Gedächtnis erhob ehrgeizige Gemüter. Man fühlte noch die machtvollen Schwingungen von Salamis, Marathon und Platäa. ISOKRATES hielt den Ruf athener Beredtsamkeit aufrecht und DEMOSTHENES bereitete sich zu seinen unvergleichlichen Taten vor. PRAXITELES arbeitete an Statuen, deren Kopien selbst für Jahrhunderte die Künstler zur Verzweiflung brachten. SKOPAS, der Bildhauer der unsterblichen  Niobe  und der  Venus von Milo,  hatte die Athener mit seinen Furien bezaubert. DIOGENES verachtete in seiner drastischen Energie die Bürger von seinem Faß aus. Die Schulen waren von Hörern vor vielen Lehrern gedrängt voll. Nach allen Richtungen gab es geistige Tätigkeit und soziale Gährung. Ein jugendlicher, scharfer Verstand konnte hier Anregung in Menge finden.

§ 8. Wir nun die Jahre seinen Verstand reiften und der häufige Umgang mit ausgezeichneten Männern ihm Gelegenheit gab, sich auszusprechen, errang sich ARISTOTELES allmählich eine hervorragende Stellung. Er kam dahin als ein frischer ehrgeiziger junger Mann; nicht nur hatte er den Nachteil der Unerfahrenheit, sondern auch die Nachteile seines Akzents und seiner Manieren, welche ihn in den Augen der hochmütigen Athener (der Franzosen des Altertums) fast für einen Barbaren gelten ließen. Diese akkomodierte [anpassen - wp] er jedoch bald. Die eine von ihm erzählte Tatsache, daß er in seiner Kleidung sehr geziert war, deutet die scharfe Empfindlichkeit für Anerkennung an, die seine Aufmerksamkeit wohl auf alles in seinem Wesen Provinzielle gelenkt haben würde. Scharf, witzig, logisch und gelehrt wie er war, war er ein brillanter Redner und stand in jener Stadt der Reden seinen Mann gegen den Besten; er schreckte selbst nicht vor einem Streit mit seinem großen Meister zurück. Ohne etwa hier die viel ventilierte Frage von seiner Undankbarkeit gegen PLATO entscheiden zu wollen, muß ich doch bemerken, daß ich dieser Anklage keinen Glauben schenke. Trotzdem ist es immerhin glaublich und ihn durchaus nicht beeinträchtigend, daß er bei seiner Verschiedenheit von seinem Lehrer sowohl seiner Denkungsart nach als in gewissen Fundamentalpunkten der Philosophie während der 17 Jahre, während deren sie beisammen waren, oft zu einer warmen, zuweilen selbst irritierender Diskussion mit einem Mann hingerissen wurde, den er im Ganzen als den Edelsten aller Denker betrachtete. Jeder Widerspruch kann als Beleidigung mißdeutet werden; und wenn auch des ARISTOTELES Kritiken und Beziehungen auf PLATO nicht immer merkwürdig für ihre gerechte Mäßigung sind, so nähern sie sich doch nie der Unehrerbietigkeit. Oft im Widerspruch gegen PLATO - wie konnte dies aufrichtig vermieden werden? - ist doch nie feindselig gegen PLATO. In der Ethik beklagt er sich geradezu darüber, daß es nötig wird, Theorien anzugreifen, die "teure Freunde" vertreten, und fügt hinzu:
    "Es ist unsere Pflicht, unser eigen Fleisch und Blut nicht zu verschonen, wo es die Sache der Wahrheit gilt, besonders da wir Philosophen sind; da wir beide lieben, so ist es unsere Pflicht, der Wahrheit den Vorzug zu geben."
Es ist eine eines edlen Geistes unwürdige Feigheit, vor einer geistigen Disposition als vor einer Beleidigung der Freundschaft zurückzuschrecken und Überzeugungen aus Furcht vor Mißdeutungen zu unterdrücken.

§ 9. ARISTOTELES blieb zwanzig Jahre in Athen. Siebzehn Jahre lang war PLATO erst sein Lehrer, dann sein Freund. Seine Gesundheit war, wie die der meisten mit dem Gehirn Arbeitenden, zart. Er war klein und schlank von Gestalt; er hatte kleine Augen und ein geziertes Lispeln. In der Unterhaltung etwas zum Sarkasmus geneigt, macht er sich natürlich viele Feinde. Als er hörte, daß ihn jemand während seiner Abwesenheit geschmäht hatte, sagte er mit Humor, "wenn er Lust hat, kann er mich auch schlagen - während meiner Abwesenheit." Sein Herz war gut, wie aus manchen Handlungen hervorgeht und sich auch in dem Ausspruch kundgibt: "wer viele Freunde hat, hat keine", was vollständig den Kern der Sache trifft und sehr gut zu seiner anderen Äußerung paßt: "Ein Freund ist eine Seele in zwei Körpern". Als er gefragt wurde, wie wir uns gegen Freunde benehmen sollten, sagte er: "wie wir wünschen, daß sie sich gegen uns benehmen".

Seine vorrückende Reife und Entwicklung veranlaßte ihn notwendig, nicht weniger als die entschieden wissenschaftliche Richtung, die seine Studien einschlugen, PLATO gegenüber eine unabhängige Stellung einzunehmen, welcher wenig Geschmack an Naturwissenschaften hatte und dessen Verstand sich von selbst von den Gegenständen zurückzog, denen sich sein junger Rivale seiner Natur und seinen früheren Einflüssen zufolge eifrig widmete. Ohne geradezu eine rivalisierende Schule zu eröffnen, sammelte sich doch ein Kreis von Bewunderern um ihn, und während der letzten Jahre seines Aufenthalts in Athen fing er an Vorlesungen zu halten. (10)

§ 10. Unter seinen Zuhörern befand sich HERMIAS, der Tyrann (oder Herrscher) von Atarneus; und als ARISTOTELES nach PLATOs Tod Athen verließ, ging er auf dessen Einladung zu ihm. Sein Gefährte auf dieser Reise war XENOKRATES, der geliebteste von PLATOs Schülern. Was war der Zweck ihres Besuchs? Man hat vermutet, HERMIAS habe sie eingeladen, um eine politische Verfassung auszuarbeiten. Wenn dies der Plan war, so wurde er dadurch vereitelt, daß HERMIAS ermordet wurde und Atarneus in die Hände der Perser fiel. Die beiden Philosophen entkamen nach Mytilene und nahmen PYTHIAS, die Adoptivtochter ihres Freundes und Gönners, mit sich; später heiratete ARISTOTELES sie aus Mitleid mit ihrer hilflosen Lage und aus Achtung vor dem Gedächtnis seines ermordeten Freundes. Das eigentümliche Ungeschick, mit welchem die Verleumdung sich oft ihre Angriffspunkte aussucht, bezeugt auch die, eine besondere Rüge verdienende Tatsache, daß seine Freundschaft zu HERMIAS und sein Edelmut gegen PYTHIAS der grausamen Gedankenlosigkeit eines skandalsuchenden Klatsches die bittersten Anklagepunkte darboten. HIer ist wieder einmal zu sehen, wie Menschen in diesem Leben für ihre Tugenden bestraft werden, vielleicht als Gegengewicht für die Belohnungen, die oft ihre Laster erringen. Wie wenig diesen alten Skandalgeschichten zu trauen ist, beweist der Umstand, daß einige PYTHIAS die Tochter, andere die Konkubine des HERMIAS nennen. Einen kleinen Einwand gegen beide Behauptungen gibt vielleicht die Tatsache ab, daß HERMIAS ein Eunuch war.

§ 11. Dem Andenken des HERMIAS errichtete er in Delphi eine Statue mit einer Inschrift; auf diese Tatsache wurde eine Anklage auf Lästerung gegründet. Das Gedächtnis der PYTHIAS, welche nach der Geburt einer Tochter starb, wurde von dem dankbaren Gatten nicht weniger geehrt. In seinem Testament bestimmte er, daß ihre Gebeine neben den seinen ruhen sollten.

§ 12. Er war nicht lange in Mytilene, als er von PHILIPP von Mazedonien das glänzende Anerbieten erhielt, die Erziehung des jungen ALEXANDER zu übernehmen. Hieraus ist ersichtlich, daß, während er in Athen war, sein Ruf sehr groß gewesen sein muß. Er ging nach Mazedonien. Sein fürstlicher Schüler war damals vierzehn Jahre alt, jung genug, einen bestimmenden Einfluß anzunehmen, alt genug um die geistige Kraft zu ehren, die diesen Einfluß ausübte. Die achtungsvolle Liebe, welche Leute von seinem Verstand und noblen Sympathien so gern ihren ersten Erziehern widmen, drückt sich sehr gut im Ausspruch ALEXANDERs aus, daß er ARISTOTELES nicht weniger als einen Vater ehre; denn wenn er dem einen sein Leben verdanke, so verdanke er dem andern das, was ihm das Leben wertvoll macht.

Damit während der Unterrichtsstunden Lehrer und Schüler im kühlen Schatten promenieren konnten, ließ PHILIPP in einem Hain ein Gymnasium bauen; und selbst noch zu PLUTARCHs Zeit konnte der Reisende die schattigen Gänge (peripatoi) mit ihren Steinsitzen als Ruheplätzen sehen. ARISTOTELES blieb sieben Jahre in Mazedonien; hiervon widmete er jedoch nur vier der Erziehung des Prinzen, der mit achtzehn Jahren Regent wurde. Während daher DEMOSTHENES gegen PHILIPPs Ehrgeiz losdonnerte, der für Mazedonien die Hegemonie in Griechenland beanspruchte, regte ARISTOTELES den Geist ALEXANDERs an, der bald die silbernen Schilde Mazedoniens von Syrien bis nach Ägypten, von Kandahar bis zum Indus und vom Indus bis zum persischen Meerbusen tragen sollte. Eine populäre Fabel läßt den berühmten Lehrer den großen Eroberer auf diesem glänzenden Zug begleiten, und man bedauert fast, daß es eine Fabel ist. Andere Arbeiten hatte aber ARISTOTELES vor, die das Lagerleben schwerlich gefördert haben würde. Und doch wäre diese Expedition eine unendlich wertvolle Erfahrung für ihn gewesen; sein beobachtender Geist würde dieses verschiedenartig wechselnde Panorama nicht ohne großen Nutzen betrachtet haben. Mit dem erobernden Heer nach Tyrus gezogen, Zeuge der Gründung Alexandriens gewesen zu sein, den aufregenden Tag von Arbela erlebt zu haben, wo die zahllosen Horden des DARIUS auf der Ebene unterhalb der kurdischen Berge versammelt und dort wie Schafe geschlachtet wurden, die Unterwerfung von Babylon und Susa, von Persepolis und Ekbatana nacheinander mit angesehen zu haben, und schließlich zu erleben, wie sein junger  Dionysos,  im Übermut des Erfolgs trunken, plötzlich mitten in der Jugend dahingerafft wurde: das alles waren großartige Erfahrungen, welche ARISTOTELES verloren gegangen zu sein man nur bedauern kann.

§ 13. Obgleich, wie ich sagte, die Beziehungen des Lehrers zum Schüler nur vier Jahre dauerten, blieb doch das Verhältnis einerseits eines freundlichen Rates, andererseits einer glänzenden Dankbarkeit bestehen. Ohne ALEXANDERs fürstliche Hilfe hätten nicht die ungeheuren Sammlungen des ARISTOTELES angelegt werden könnne. Diese Hilfe ist beispiellos. Man erzählt, aber freilich auf keine glaubwürdige Autorität, daß ihm ALEXANDER die Summe von 800 Talenten schenkte, nach unserem Geld 1. 300. 000 Taler. Wenig kritische Leser glauben dies; SCHNEIDER führt in seiner Ausgabe der  Historia Animalium  zustimmend die Schätzung eines seiner Vorgänger an, welcher berechnet, daß die ganzen Einkünfte Mazedoniens keine solche Summe ergeben haben würden. Wenn wir aber auch reichlich abziehen und zwei Drittel der Summe streichen, so bleibt doch ein glänzender Rest. Die ungeheure Übertreibung weist auf eine ungeheure Summe. Hierzu kommt noch die Angabe des PLINIUS, daß ALEXANDER seinen Jüngern, Wildhütern, Fischern und Voglern den Befehl gab, dem Philosophen alles Material zu beschaffen, was er wünschen konnte, - ein Befehl, der sofort mehrere Tausend Leute in seine Dienste brachte (11). Gleichzeitig ist aber zu bemerken, daß PLINIUS diese Angabe macht, der in Bezug auf Unglaubwürdigkeit kaum übertroffen werden kann; es ist also auch hier eine kolossale Übertreibung zu vermuten. Zum Schluß ist daran zu erinnern, daß, wenn auch ARISTOTELES ein großes Material besessen haben muß, ehe er sein Werk über die Tiere schreiben konnte, HUMBOLDT doch erklärt, daß sich in diesem Werk keine Spur einer Bekanntschaft mit Tieren findet, die zuerst durch ALEXANDERs Expedition bekannt wurden.

§ 14. ARISTOTELES erschien nach einer Abwesenheit von zwölf Jahren, 355 v. Chr. wieder in Athen. Er fand die Akademie schon von seinem Freund XENOKRATES eingenommen, sodaß er sich einen anderen Ort suchen mußte, wo er eine Schule eröffnen konnte. Diesen fand er im Lyzeum, einem Gymnasium in der Nähe des von PISISTRATUS gegründeten, von PERIKLES verschönten Tempels des APOLLO LYKEIOS. Es war das glänzendste der Gymnasien in Athen und bestand aus einer Masse von Gebäuden, umgeben von Gärten, Alleen und einem heiligen Hain. Es hatte geräumige Höfe mit Portikos [Säulengängen - wp], Räume für Lehrer, bedeckte Gänge, Bäder, eine Arena für Ringkämpfe und ein Stadion für Wettläufe. Die Wände waren mit Malereien geschmückt; die Gärten und Gänge boten Sitze dar. Wir dürfen aber nicht glauben, wie es viele tun, daß die Anstalt unter die Leitung des ARISTOTELES gestellt wurde oder daß er irgendeine Stimme in ihren Angelegenheiten hatte. Er erhielt einfach die Erlaubnis, morgens und abends im  peripatos (12) zu lehren, eine umso annehmbarere Erlaubnis, als die schattigen Gänge seiner Gewohnheit, während des Haltens von Vorlesungen auf- und abzugehen, sehr zustatten kamen. Es wird gewöhnlich angenommen, daß der Name  Peripatetiker  seinen Schülern wegen dieser Angewohnheit beigelegt worden ist; da aber nach dem Zeugnis des THEOPHRASTUS und LYKON der Ort der Vorlesungen selbst  peripatos  genannt wurde, so gab wahrscheinlich die Örtlichkeit der Schule den Namen. Diese Vermutung wird durch das Verfahren in anderen Fällen unterstützt; denn wir finden Schulen nach den Orten, wo sie gegründet wurden, bezeichnet, wenn nicht eine Eigentümlichkeit der Lehre den Namen hergab: so die Akademie, die Halle, der Garten, Megara und Kyrene, alle gaben Schulen den Namen; nie wurde aber ein Name von einer zufälligen Eigentümlichkeit in der Art des Vortrags hergenommen. Übrigens war ARISTOTELES nicht der einzige, welcher beim Lehren auf- und abging.

§ 15. Dreizehn Jahre hindurch lehrte er und faßte seine unsterblichen Werke ab; einen mächtigen Eindruck machte er auch die Menge eifriger Schüler, wurde aber wahrscheinlich wegen seiner Beziehung zu ALEXANDER von den Patrioten mit scheelen Augen angesehen. Da kam dann der elektrische Schlag, der Athen bis in seinen Grund erschütterte und es mit tumultartigen Hoffnungen aufregte: der große Eroberer war nicht mehr. Sofort nahm die anti-mazedonische Partei mit frohlockender Energie die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten in die Hand. Natürlich war ARISTOTELES in Gefahr; denn wenn auch in Wahrheit sein Leben keinen Tadel wegen politischer Intrigen verdiente und keine nur einigermaßen haltbare Anklage in dieser Hinsicht gegen ihn erhoben werden konnte (wäre es auch nur, weil er vom politischen Einfluß ausgeschlossen war) (13), so war er doch als Fremder, Philosoph und Freund Mazedoniens den politischen Führern dreifach verhaßt; und ein Vorwand zu seiner Anklage wurde von einem Feld hergeholt, wo dergleichen immer hergenommen werden und wo sie stets gefährlich sind: Irreligiosität. Er wurde der Blasphemie angeklagt und des Frevels, Sterblichen göttliche Ehren erwiesen zu haben. Und wer waren die Sterblichen, die er geehrt hatte? Sein Freund und sein Weib. Die Klage könnte wohl lächerlich erscheinen; er kannte aber die Denkungsart des großen Haufens zu gut, um zu hoffen, daß die Absurdität der Klage eine Garantie für seine Sicherheit bietet. Volksmengen nehmen selten Gründe an und selten eine Prüfung vor. Das tadellose Leben und der edle Geist des SOKRATES war keine Entschuldigung gegen die Anklage des MELITUS; ARISTOTELES verließ daher Athen, "um nicht den Athenern zum zweiten Mal Gelegenheit zu geben, an der Philosophie zu freveln."

§ 16. Er zog sich nach CHALKIS in Euböa zurück. Dort schrieb er eine ausführliche Verteidigung seines Wandels nieder und legte die Verleumdungen, die über ihn verbreitet wurden, dar. Aber seine stets zarte und durch ein unablässiges Studium auf harte Proben gestellte Gesundheit schwand schnell. Da er es verweigerte, auf die Aufforderung des Aeropags [Gerichtshügel in Athen - wp] wieder zu erscheinen, beraubten ihn die Athener des Bürgerrechts und aller ihm verliehenen Ehren. Ein leeres Todesurteil wurde gefällt; die Natur hatte aber bereits dieses Urteil in keinen leeren Worten niedergeschrieben. ARISTOTELES starb im 63. Jahr seines Lebens, 322 v. Chr., nur wenige Monate vor dem anderen Flüchtling, dem großen Redner DEMOSTHENES.

§ 17. Sein Testament, das man in DIOGENES LAERTIUS nachsehen kann, spricht für seine alles bedenkende Liebe. Seine Tochter PYTHIAS, sein Sohn NIKOMACHUS, sein Adoptivsohn NIKANOR und seine Konkubine HERPYLLIS werden alle gehörig versorgt; einige seiner Sklaven werden freigelassen, andere belohnt.

§ 18. Der Plan dieser Geschichte macht es unnötig, auf die viel ventilierte Frage von der Authentizität der verschiedenen seinen Namen tragenden Schriften einzugehen, selbst wenn ich die betreffenden Kenntnisse besäße, welche eine solche Abschweifung rechtfertigen. Der wißbegierige Leser wird leicht Materialien über diesen, wie über alle verwandten Punkte finden. Wir haben hier vielmehr die Natur seiner Leistungen zu betrachten. Das erste, was jedem auffallen muß, ist die in der Geschichte der Literatur ganz einzig dastehende enzyklopädische Ausdehnung. Er schrieb über Politik und gab die Umrisse von 255 Verfassungen; selbst die kleine über diesen Gegenstand noch vorhandene Abhandlung wird für eins der besten Werke hierüber gehalten; Dr. ARNOLD, der sie auswendig wußte, erklärte, er fände sie in Anwendung auf unsere Zeit von täglichem Nutzen. Seine Ethik, Rhetorik und Logik werden noch von vielen für autoritativ und unübertroffen gehalten. Seine Metaphysik allein würde schon genügen, ihm einen großen Ruf zu verschaffen. Seine Fragmente über Poetik sind vielleicht die wertvollsten unter allen alten kritischen Schriften. Und wenn dies noch nicht Titel genug sein sollten, so müssen wir nun auch die verschiedenartigen naturwissenschaftlichen Werke hinzufügen, welche den speziellen Vorwurf dieser Schrift ausmachen; diese umfassenden Physik, Astronomie, Zoologie, vergleichende Anatomie und Psychologie. Wir können mit Sir WILLIAM HAMILTON sagen: "Alle Wissenschaften tragen sein Siegel, und seine Spekulationen bestimmten mittelbar oder unmittelbar die aller späteren Denker." Der weniger heißblütige HEGEL drückt sich mit noch größerer Emphase aus:
    "Er ist in die ganze Masse und alle Seiten des realen Universums eingedrungen und hat ihren Reichtum und Zerstreuung dem Begriff untergeordnet; und die meisten philosophischen Wissenschaften haben ihm ihre Unterscheidung, ihren Anfang zu verdanken." (14)
§ 19. Ein solches intellektuelles Phänomen muß immer Verwunderung erregen. Wir mögen uns von seiner Philosophie eine Meinung bilden, welche wir wollen, wir können der Kraft und der Vielseitigkeit seines Geistes unsere Bewunderung nicht versagen. Und dies ist nicht sein einziges Verdienst. Er ist bewunderungswürdig wegen des intensiven Drängens seines Geistes im Aufsuchen wissenschaftlicher Erklärungen der Erscheinungen zu einer Zeit, wo solche Erklärungen etwas völlig Neues waren, und wegen der vorherrschenden induktiven Tendenz, welche ihn bei allen Gegenständen zur Einsammlung von Tatsachen führte, ehe er über sie philosophierte. Der Kontrast, den er in dieser Beziehung PLATO gegenüber zeigt, fällt für ihn ebenso günstig aus, als der Vergleich seiner literarischen Kraft für ihn ungünstig wird. (15) PLATO war der kunstvollste unter den Philosophen, unter den Männern einer bedeutenden Größe aber einer der schlechtesten Forscher, sicherlich nicht aus Mangel an Kraft dazu, sondern aus seinem unglücklichen Mißverständnis der Methode. Trotz einer gewissen zögernden Weitschweifigkeit des Stils und einer drückenden Umständlichkeit bei der Zurückweisung trivialer Einwände hat doch niemand vor oder nach PLATO die außerordentlich schwierige Aufgabe der dramatischen Form philosophischer Debatten mit so meisterhaftem Erfolg gelöst; und infolge dieser bezaubernden Kunst, die von der Verbindung dialektischer Schärfe mit mystischen Anklängen noch unterstützt wurde (eine Schärfe, welche dem Mystizismus Hoffnung zu machen und dem Transzendentalismus ein Unterpfand zu sein scheint), hat niemand einen nachteiligeren Einfluß auf die Kultur ausgeübt. Der Zauber des Künstlers hat die Fehler des Denkers unsterblich gemacht. (16)

Bei ARISTOTELES verhält sich die Sache anders. Ist auch seine Methode, wie wir gleich sehen werden, nicht gänzlich falsch, so ist sie es doch in einem wichtigen Punkt; der Richtung nach war sie völlig richtig. Sie war eine Methode, die der Entwicklung bedurfte, und nicht wie die des PLATO eine solche, auf welcher eine vernünftige Philosophie unmöglich war. Als Künstler ist ARISTOTELES einfach nicht zu zählen; und als Schriftsteller ist er doch, was bei aller Anerkennung gesagt werden kann, viele Grade von einer ausgezeichneten Stellung entfernt. Diese Ansicht wird vermutlich Verwunderung erregen; wir wollen sie daher umständlicher erklären. In Schriften wie der Politik, Poetik, Ethik und Rhetorik, Werken, welches des Verfassers Talent der Komposition, der kunstvollen Verteilung des Materials auf keine harte Probe stellen, ist er verständlich, zuweilen epigrammatisch, aber ohne Reiz. Wo er aber schärfer in Anspruch genommen und veranlaßt wird, zahlreiche Tatsachen und Ideen so zu arrangieren, daß sich die Gründe zu Schlüssen gipfeln, ist seine Komposition herumschweifend, zerstreut und konfus. Es fehlt an Jllustrationen und an Seitenlichtern, die darauf hinwirken. Der Mangel künstlerischer Komposition macht dieses Fehlen an Deutlichkeit zu einem bedenklichen Fehler. Ist eines Schrifstellers Komposition gut, dann bedarf es weniger der Jllustration oder (um ein bei den Florentiner Platonisten beliebtes Wort zu brauchen) der Kollustration. Es gibt aber wenige Schriftsteller, die diese Kunst verstehen, und ARISTOTELES verstand sie ganz und gar nicht. Beim Studium seiner Werke und besonders beim Versuch, seine Argumente mir zu reproduzieren, machte sich mir dieser Mangel schmerzlich fühlbar; wenn wir von der großen Autorität CICEROs unterstützte Lobpreisungen seines Stils lesen, müssen wir annehmen, daß er sich auf Werke bezog, die nicht mehr existieren, und zugeben, daß den Neueren die Majestät der griechischen Schreibart Ehrfurcht einflößt. Was auch immer die Vorzüge der aristotelischen Diktion sein mögen (und diese können nur wenig Neuere zu verstehen vorgeben), die Mängel seiner Komposition sind keine Sache der Meinung, sondern der Demonstration.

§ 20. Es gehört nicht in meinen Plan, den aristotelischen Einfluß durch die Kommentare des ALEXANDER APHRODISIACUS, PORPHYRIUS, JAMBLICHUS, PROKLUS, THEMISTUS, SIMPLICIUS oder PHILOPONAS zu verfolgen, die ich nur aus den von Gelehrten so reichlich gegebenen Auszügen kenne; und es hat die Kenntnisnahme dieser letzteren den lebhaftesten Wunsch in mir rege gemacht, nicht mehr zu lesen. Auch können wir nicht den glänzenden Zug der Renaissance verfolgen, im dem ARGYROPULOS, GAZA, PHILELPHUS, GEORGIOS von TRAPEZUNT, POLITIAN, HERMOLAUS BARBARUS, LAURENTIUS VALLA und REUCHLIN eine Rolle spielen, von denen einige im Fortgang dieses Buches angeführt werden. Die Geschichte des ARISTOTELES ist für viele Jahrhunderte die Geschichte der Gelehrsamkeit. Im 17. Jahrhundert kehrte die Strömung völlig um. Es ist wohl wahr, daß am Ende des 16. (1590) CASAUBONUS und Anfang des 17. Jahrhunderts (1619) Du VAL vollständige Ausgaben seiner Werke herausgaben, welche, nach den wiederholten Drucken zu schließen (17), rapid verkauft worden sein mußten. Dies waren aber die letzten Anstrengungen der verlöschenden Wirksamkeit. Die Auflehnung gegen seine Autorität, welche jenes Jahrhundert charakterisiert, war natürlich und notwendig gegen den Denker gerichtet, dessen Autorität am servilsten gefolgt worden war. (18) Ich finde auch keine einzige Notiz einer Ausgabe nach der von Du VAL. Während des ganzen 18. Jahrhunderts erschien keine Ausgabe sämtlicher Werke, nicht einmal ein Nachdruck, und nur gelegentlich eine Ausgabe der Poetik und Ethik. BUHLEs Unternehmen wurde durch den Brand von Moskau vereitelt, wobei alles von ihm gesammelte Material zerstört wurde.

§ 21. Am Ende des 18. Jahrhunderts begann eine Reaktion, welche im 19. Jahrhundert an Kraft zunahm. LESSING lenkte durch seine eigenen klaren Bemerkungen die Aufmerksamkeit auf die Poetik. Durch seine Ausgabe der  Historia Animalum (1822), welche leider noch immer für den Gebrauch der Naturforscher die einzige erträgliche Ausgabe trotz ihrer Fehler ist, gab SCHNEIDER dem Studium der biologischen Werke einen neuen Anstoß. FÜLLEBORN, BUHLE und TENNEMANN fingen in ihren Geschichten der Philosophie an, ihm den ihm gebührenden Platz anzuweisen; aber erst HEGEL sprach zuerst von ihm mit Enthusiasmus und gebietender Autorität (19). Von dieser Zeit an begann er noch einmal als der tiefste Denke betrachtet zu werden, dessen Werke emphatisch die Aufmerksamkeit der Philosophen herausforderten. Auch Sir WILLIAM HAMILTON lieh von England dieser Wiederbelebung seine kräftige Hilfe, und ROSMINI lenkte in Italien, doch mit mehr Rückhalt, die Aufmerksamkeit auf seine Bedeutung. (20)

Unterdessen sind die Gelehrten nicht untätig gewesen. BRANDIS und BEKKER wurden von der Berliner Akademie beauftragt, eine vollständige Ausgabe zu besorgen. Durch drei Jahre arbeiteten sich diese fleißigen Gelehrten durch die Manuskripte in Italien, Frankreich und England; das Resultat erschien in BEKKERs Ausgabe (Berlin 1830-40), seitdem in Oxford wieder gedruckt) und in dem bereits angeführten Werk von BRANDIS (Anmerkung 5). 1832 druckte TAUCHNITZ eine komplete Ausgabe in 16 Bänden, 1843 erschien die von WEISSE in einem Band, keine von beiden sehr geschätzt; schließlich fing 1847 DIDOT eine ausgezeichnete, von BUSSEMAKER besorgte Ausgabe in vier Bänden an, die noch unvollendet ist. (21) Von einzelnen Abhandlungen sind die Ausgaben zu zahlreich, um hier einzeln aufgeführt zu werden.

§ 22. Nach einer so langen Periode der Vernachlässigung wurde eine so energische Tätigkeit natürlich von der Neigung, die Werke zu überschätzen, veranlaßt und begleitet; und die Gefahr ist jetzt die, daß die Reaktion zu weit geht. HEGEL und Sir WILLIAM HAMILTON haben das Ihrige getan, der schwankenden öffentlichen Meinung die Überzeugung aufzudrängen, daß ARISTOTELES nicht nur ein Denker von umfassender Gewalt, sondern auch von noch gegenwärtigem Wert ist, nicht bloß groß für seine Zeit, sondern die Wahrheiten aller Zeiten antizipiert hat. CUVIER, ISIDORE GEOFFROY SAINT-HILAIRE, de BLAINVILLE und JOHANNES MÜLLER mit Scharen gehorsamer Schüler hinter ihnen haben von seinen naturwissenschaftlichen Werken gesprochen, als wenn sie  au niveau [hinsichtlich - wp] der heutigen Wissenschaft ständen, und beanspruchten für ihne einige der merkwürdigen Entdeckungen der neueren Untersuchung.
    Certes il ne méritait,
    Ni cet excés d'honneur, ni cette indignité;
    [Sicherlich verdient er weder diese Ehre,
    noch diese Entwürdigung. - wp]
und es ist die Aufgabe der folgenden Kapitel, zu zeigen, daß sowohl die frühere Vernachlässigung als auch die jetzige Vergötterung einer Korrektur bedürfen. Für jetzt bedarf nur ein Punkt der Erwähnung. Unter seinen neueren Lobrednern finden sich Biologen, Politiker und Metaphysiker, aber kein Astronom, kein Physiker, kein Chemiker. Mit anderen Worten: in den Wissenschaften, welche in das positive Stadium eingerückt sind und in denen die Strenge des Beweises die Autorität in ihre richtige Stellung weist, werden seine Ansichten völlig vernachlässigt; dagegen werden in den Wissenschaften, bei denen wegen ihrer Komplexität und Unreifheit der Einfluß der Autorität und die täuschenden Vorspiegelungen der subjektiven Methode immer noch einen Boden finden, seine Aussprüche als die eines mächtigen Forschers zitiert.
LITERATUR - George Henry Lewes, Aristoteles, Leipzig 1865
    Anmerkungen
    1) Die Bitterkeit, mit der ihn manche dieser Reformer angreifen, ist zuweilen amüsant. Ein gutes Beispiel ist RAMUS, Scholarum physicarum libri octo, 1651 (was ich erst aus dritter Hand kenne). Weniger bitter aber nicht weniger entschieden ist die Opposition des RIZOLIUS: De veris Principiis et vera Ratione philosophandi contra pseudo Philosophos (Parma 1553). Er vergleicht den ARISTOTELES einem in einer Wolke von Tinte entschlüpfenden Tintenfisch, das früheste Beispiel dieser jetzt so häufigen Vergleichung. LEIBNIZ hielt diese Abhandlung einer wiederholten Veröffentlichung wert und schrieb eine Vorrede dazu, wo er mit Recht sagt, daß RIZOLIUS, wenn er auch recht habe, die Peripatetiker zu bekämpfen, doch weniger glücklich in dem Versuch ist, sie zu ersetzen. Ein gewichtigerer Gegner ist TELESIO, dessen Werk "de Natura Rerum juxta propria Principia libri novem" (Neapel 1586), ich später anzuführen haben werde. Noch giftiger ist PATRIZIO (siehe Anmerkung 9). GIORDANO BRUNO ist zwar unnachsichtig gegen die Peripatetiker seiner Zeit, aber doch respektvoller gegen ARISTOTELES. Dasselbe gilt von GALILEI und DESCARTES, besonders auch von TAURELLUS in seinem Angriff auf CÄSALPINUS. Jetzt nicht mehr als eines flüchtigen Blickes wert, wenn schon früher sehr gepriesen, ist BASSO: "Philosophiae Naturalis adversus Aristotelem libri XII (Amsterdam 1649). CAMPANELLA habe ich nicht gelesen. GASSENDI ist ein Gegner ohne Bedeutung (siehe Anmerkung 18). Wenn wir die beiden großen Verstandesleuchten GALILEI und DESCARTES ausnehmen, so tritt die Inferiorität [Unterlegenheit - wp] dieser Gegner gegen den Mann, den sie angreifen, so sehr in die Augen, daß nur das Mitgefühl mit ihrer reformatorischen Wärme sie erträglich machen kann.
    2) Histoire générale des Régnes organiques I, Paris 1854, Seite 19
    3) Diese hübsche Stelle wird von DUGALD STEWART aus LUDOVICUS VIVES zitiert.
    4) BUHLE, Arist. Opera I, Seite 51. Man hat gemeint, statt SOKRATES müsse man die Schule des SOKRATES lesen; eine solche gab es aber nicht. BLAKESLEY macht die plausible Konjektur [Vermutung - wp], SOKRATES sei durch Korruption aus XENOKRATES entstanden. Das stimmt aber nicht zur Angabe des AMMONIUS; wir haben auch keinen Beweis, daß XENOKRATES so früh, um viele Jahre, gelehrt hat.
    5) BUHLE I, Seite 80-104. RITTER, Geschichte der Philosophie, Bd. III, 1831, Seite 1-413. BLAKESLEY, Life of Aristotle, 1839. STAHR, Artikel  Aristoteles  im "Dictionary of Greek and Roman Biography", 1844. BRAUDIS, Aristoteles, seine akademischen Zeitgenossen und nächsten Nachfolger, 1853. ZELLER, Die Philosophie der Griechen, Bd. 2, 1860.
    6) BLAKESLEY, a. a. O., Seite 12
    7) siehe HARLESS, "de Medicis veteribus  Asclepiades  dictis", was ich nur aus dritter Hand kenne.
    8) Nach GELLIUS zahlte er allein für die Werke des SPEUSIPPUS drei attische Talente, gegen 4700 Taler, eine Summe, die ein Arzneiverkäufer nicht von seinem Verdienst erbringen konnte, wenn es nicht ein fürstlicher Kaufmann war. In unseren Tagen sind allerdings 1000 Pfund Sterling für eine seltene Ausgabe eines italienischen Dichters bezahlt worden; dem lag aber die vom Reichtum eines englischen Edelmanns unterstützte gierige Sammelwut zugrunde. Merkwürdige Details über die Bücherpreise im Mittelalter findet man in MURATORI, Dissertazione sopra l'antichita Itatiane; vgl. auch HEEREN, Geschichte der klassischen Literatur im Mittelalter, Werk IV, 1822. In unserer Zeit billiger Literatur (billig, weil wir billiges Papier haben, und dies deshalb, weil wir leinene statt wollener Wäsche tragen) scheinen diese Details die Finsternis der dunklen Zeiten noch verständlicher zu machen.
    9) Die Vorschriften des ARISTOTELES widerlegen diesen Vorwurf nicht weniger als seine Gewohlheit. BACO spricht nur dem PATRIZIO nach, dessen Feindseligkeit giftig und von ihm eingestanden war. Er erklärt, daß ein Grund dieses Hasses der Tadel sei, mit dem ARISTOTELES die Schriftsteller überhäuft, von denen er seine besten Ideen gestohlen hat. "Patritii Dissertationes peripateticae" (4 Bde., Basel 1581), aus welchem gelehrten, aber unglaublichen Werk einige Neuere vielfach geschöpft haben. Der erste Band enthält eine Lebensbeschreibung und eine Liste der vorhandenen Werke, mit einer Aufzählung aller Peripatetiker. Im dritten Buch findet sich eine wertvolle Sammlung der Stellen, in denen sich ARISTOTELES auf seine eigenen Schriften bezieht, eine Sammlung, die später RITTER benutzte und erweiterte, aber ohne die in solchen Fällen übliche Anerkennung. Der zweite Band gibt eine Darstellung der Punkte, in denen ARISTOTELES mit PLATO und den älteren Schriftstellern übereinstimmte. Im dritten Band sind die Differenzpunkte aufgeführt. Im Eingang beklagt er sich über die Schmähungen der Philosophen (Seite 291-92) und fügt spöttisch hinzu, daß HIPPOKRATES nicht erwähnt wird (dieses angenommene Stillschweigen, mit dem des THUKYDIDES zusammengehalten, veranlaßte manche Neuere, daraus zu schließen, daß HIPPOKRATES nach ARISTOTELES gelebt hat; tatsächlich aber wird HIPPOKRATES erwähnt und in der Politik findet sich eine Skizze seiner Ansichten über das Klima). Im vierten Band läßt PATRIZIO seiner Opposition freien Lauf. GIORDANO BRUNO spricht trotz seiner eigenen Opposition gegen das peripatetische System mit maßloser Verachtung von PATRIZIO und versichert, er habe den Stagiriten gar nicht verstanden, sondern ihn nur wiederholt gelesen. PATRIZIO hatte viele Bewunderer und Nachahmer; ein erwähnenswerter ist BASSO (siehe Anmerkung 1). Ich hatte nicht den Mut, meine Wanderungen weiter durch diesen Auswurf von Kritiken und Denunziationen, welche diese Bilderstürmer aufhäuften, fortzusetzen.
    10) Die Erzählung, daß er zu dieser Zeit Medizin ausgeübt habe, die sich wohl auf sein Interesse an dieser Kunst gründet, wird durch die ausdrückliche Angabe in dem Buch "De divinatione", Bd. 1, Seite 463 widerlegt, daß er in der Arzneikunde nur ein Laie, jedoch gewohnt sei, darüber zu philosophieren.
    11) PLINIUS, Hist. natur. VIII, Seite 16.
    12) JACQUES MATTER, Histoire de l'ecole d'Alexandrie, Bd. I, Paris 1840, Seite 30.
    13) Diese politische Stellung hat CONGREVE in der Einleitung zu seiner Ausgabe der Politik (London 1855) hervorgehoben.
    14) HEGEL, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. II, 1833, Seite 298.
    15) MAURICE drückt diesen Kontrast sehr glücklich in folgender Stelle aus: "Wenn der Lernende von den Werken  Platos  zu denen des  Aristoteles  übergeht, so überrascht ihn zuerst die völlige Abwesenheit jener dramatischen Form und jenes dramatischen Gefühls, mit denen er vertraut geworden war. Die lebendigen Gestalten, mit denen er umgegangen war, sind verschwunden.  Prodikus, Protagoras  und  Hippias  strecken sich nicht mehr auf ihrem Lager aus unter Gruppen bewundernder Schüler; es gibt keine Gänge den Stadtmauern entlang, keine Vorlesungen am Ilissus, keine lebendigen Gastmähler, die zu erhabenen Diskussionen über Liebe Veranlassung geben, keinen  Kritias,  der die Geschichten alter und berühmter Staaten wiedererzählt, die er in seiner Jugend, ehe er Tyrann wurde, gehört hatte, und vor allem keinen  Sokrates,  der einen Mittelpunkt der verschiedenen Gruppen bildete. Ein jeder wird vielleicht den Verlust so vieler klarer und schöner Zeichnungen bedauern, bei weitem der größere Teil der Leser aber wird der Ansicht sein, daß die Präzision und philosophische Würde der Abhandlung eine reichliche Entschädigung für den Reichtum und die Abwechslung des Dialogs darbietet." (Moral and metaphysical Philosophy, Bd. 1, 1850, Seite 162.
    16) vgl. Kapitel 6: "Platos Methode".
    17) BUHLE, a. a. O., Bd. 1, Seite 229-230.
    18) HEGEL, Geschichte der Philosophie, Bd. II, Seite 416. Es ist bemerkenswert, daß 1624 GASSENDIs Werk "Exercitationum paradoxicarum adversus Aristotelos" erschien in dem er in Buch VII unter anderen folgende Sätze aufstellt: quod apud A. innumera deficiant - immensa superfluant, - immensa fallant - innumer contradicant [Aristoteles - über alle Maßen gescheitert - allzusehr über das Ziel hinausgeschossen - ziemlich irregeleitet - mit unzähligen Widersprüchen | wp]. Das Pariser Parlament, welches im 13. Jahrhundert einige von ARISTOTELES' Werken für ketzerisch erklärt hatte (siehe ROGER BACONs Protest, Opus majus, Venedig 1750, Seite 10; vgl, auch JOURDAIN, Recherches sur les anciennes traductions latines d'Aristote, Paris 1843), erließ im September desselben Jahres ein Edikt, daß bei Todesstrafe kein Widerspruch gegen die approbierten Lehren der Alten öffentlich gelehrt werden sollte. Der Kampf war ein Todeskampf geworden.
    19) Lord MONBODDO in seiner "Ancient Metaphysics, HARRIS in seinem "Philosophical Arrangements" und THOMAS TAYLOR in verschiedenen Schriften waren wohl enthusiastisch genug, sprachen aber ohne Autorität.
    20) ROSMINI, "Aristotele esposto es esaminato", Seite 14 der Mailänder Ausgabe von 1855.
    21) Diese und BUHLEs Ausgaben habe ich benutzt; zur größeren Gleichmäßigkeit im Zitieren habe ich aber immer BEKKERs Paginierung so nahe wie möglich gegeben.