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WALTER STRICH
Das Wertproblem
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"Die Behauptung, der Bewußtseinsinhalt sei der einzige Gegenstand der Psychologie, ist wohl durch eine falsche Auffassung der inneren Wahrnehmung hervorgerufen. Die Begründung bei Natorp beruth darauf, daß wir kein Sehen bemerken, sondern nur einen Inhalt. Ein Bemerken des Wahrnehmens gibt es nicht. Diese Behauptung können wir ohne weiteres zugeben, zugleich auch die, daß es keine Tätigkeit des Bewußtseins im eigentlichen Sinne gibt. Im Grund aber läuft das auf eine Definition des Bemerkens hinaus."

"Münsterberg meint, der Versuch zu beschreiben setzt Objektivierung und damit die Aufhebung des Subjektcharakters voraus. Beides schließt sich aber nicht aus. Man kann einen subjektiven Akt als wissenschaftliches Objekt behandeln. Natürlich haben wir die Erlebnisse einfach als vorgefunden zu behandeln. Aber wir finden sie eben als Akt vor und nicht nur als Empfindung. Daß wir die Akte nicht bewerten dürfen, ist selbstverständlich, aber die Bewertung ist nicht logisch mit der Beschreibung als Akt gefordert. Schon die Verallgemeinerung jedes Aktes zu einer Zwecksetzung ist ungerechtfertigt. Ein Urteil ist ansich kein teleologischer Akt; ob man mit ihm einen Zweck verfolgt, ist eine andere Frage."

"Die absolut bildhaften Ausdrucksweisen der Psychologen wie wachrufen, nach sich ziehen verschleiern die Unmöglichkeit der Erklärung. Wir haben eben in der Psychologie kein Recht, die Erlebnisse zu verdinglichen und zu anthropomorphisieren. Abstrahiere ich bei einer Vorstellung von der Existenz des Gegenstandes, so erhalte ich das Erleben des Gegenstandes und nicht ein als Elementen zusammengesetztes Ding: Vorstellung."


I. TEIL
Die psychologischen Werttheorien

Kapitel I
Psychologische Grundlegung

Bevor wir in eine spezielle Kritik der Werttheorien eintreten, müssen wir einige Grundfragen der Psychologie erörtern. Wollen wir nicht einfach aufgrund der Selbstbeobachtung die bisherigen Theorien leugnen und eine andere an die Stelle setzen, so müssen wir anderswoher unsere Kriterien nehmen. Behaupten wir, es gibt kein Wertgefühl, sondern nur einen Wertakt, so haben wir ein Merkmal aufzustellen, wodurch die beiden Klassifikationsbegriffe getrennt sind. Die Einführung des Aktbegriffes aber verlangt eine Rechtfertigung, die uns auf den Gegensatz der beschreibenden und erklärenden Psychologie führt. Das Wertproblem kann nur von der beschreibenden Psychologie behandelt werden.

Wir haben uns zunächst von der in der heutigen Psychologie weit verbreiteten Ansicht freizumachen, daß das Psychische als ein in Elemente analysierbarer Gegenstand dem erkennenden Subjekt gegenübergestellt ist. Diese wie eine logisch geforderte Selbstverständlichkeit auftretende Anschauung hängt mit einer falschen Auffassung der inneren Wahrnehmung zusammen. Jener wohl zuerst von LOCKE als "reflection" scharf ausgebildete Begriff führt konsequenz zu jener Annahme eines starren Bewußtseins, wie wir sie bei MÜNSTERBERG finden.
    "Es gilt, das psychische Leben als einen der inneren Wahrnehmung gegebenen Bewußtseinsinhalt aufzufassen, diesen in seine Elemente zu zerlegen und aus den durch Analyse gewonnenen Elementarprozessen die komplexen Erscheinungen zu erklären." (1)
Die Behauptung steht und fällt natürlich mit der Existenz des starren Bewußtseins, das die Inhalte wahrnimmt (2). Sie ist durch nichts gerechtfertigt, vielmehr eine absolut metaphysische Konstruktion, denn auch als wissenschaftliche Hypothese können wir jene Behauptung nicht zugeben, wie es MÜNSTERBERG an einigen Stellen darzustellen scheint (3). Abgesehen davon, daß keine Erklärung dadurch vereinfacht wird, ist eine Behauptung, die der Wahrheit widerstreitet, unmöglich als Hypothese zu verwenden. Es handelt sich hier um keine Wahrnehmung, wenn man darunter das Erfassen eines von mir getrennten Gegenstandes versteht. Das Psychische steht mir nich gegenüber wie die Natur, und diese Selbstverständlichkeit sollte Grund genug für uns sein, hier nicht von Wahrnehmung zu sprechen, auch nicht von innerer. Daher ist es auch ungerechtfertigt, wenn HUSSERL (4), STUMPF (5) LIPPS (6) und andere davon sprechen, daß ein Inhalt, ein Akt oder ein Gefühl Gegenstand für uns wird. Ebensowenig kann natürlich Psychisches Gegenstand deiner Vorstellung sein. Man verwechselt vorgestellt und reproduziert sein. Vorstellen kann sich nur auf einen Gegenstand beziehen, dessen momentane Nichtwirklichkeit mir bewußt ist, Psychisches aber ist da oder nicht da. Ich kann ein Gefühl, einen Akt oder Empfindungsinhalt künstlich hervorrufen, aber damit ist er nicht vorgestellt. Die Erkenntnisbedingungen für die Psychologie sind absolut andere als für die Naturwissenschaft, und dies sollten wir auch in den Namen ausdrücken. Der Unterschied besteht im Wissen von einem Nicht-Ich und dem Wissen vom Ich. Zwei letzte Tatsachen, die wir nicht unter den Begriff der Wahrnehmung zusammenfassen dürfen. Nur das Nicht-Ich kann Gegenstand einer Wahrnehmung sein. Die Psychologie beruth auf Aussagen der selbstbewußten Persönlichkeit über ihre Erlebnisse. Nennen wir diese Persönlichkeit der Kürze halber Ich, dann erfaß das Ich in seinem Urteil eine Gegenständlichkeit, beispielsweise das Dasein einer Wahrnehmung oder eines Gefühls. Aber Gegenstand eines Urteils sein, heißt noch nicht Gegenstand eines Wahrnehmungsaktes sein. Wenn HUSSERL zum Beweis, daß auch das Ich und das Bewußtsein Gegenstände werden können, die Tatsache anführt, daß wir Aussagen darüber machen (7), so liegt eine Verwechslung vor von Gegenstand des Urteils oder Meinens und der Wahrnehmung. Daß dem Urteil, welches das Ich zum gemeinten Gegenstand hat, ein Wahrnehmungsakt zugrunde liegt, ist nicht richtig. Führen wir das Urteil auf einen solchen zurück, so liegt kein Grund vor, dabei stehen zu bleiben, da ja das Urteil wieder auf einem Wahrnehmune des Wahrnehmens beruhen müßte usw. Ein  regressus ad infinitum.  HUSSERL macht BRENTANO diesen Einwand (8), ohne zu bemerken, daß er selbst in ganz den gleichen Fehler verfällt, der notwendig mit der Auffassung der inneren Wahrnehmung als Akt verbunden ist. Die Tatsache, die dem Urteil zugrunde liegt, ist das Dasein des Inhaltes im Bewußtsein. Die Eigentümlichkeit des *Selbstbewußtseins ist es, daß es von diesem Dasein, von den Erlebnissen weiß, dieses Dasein als Gegenständlichkeit in einem Urteil erfassen kann. Damit wird das bloß bewußte Phänomen zu einem gewußten (9). Wir beschreiben aber diese Tatsache falsch oder verschleiern ihre absolute Eigentümlichkeit, wenn wir den Inhalt selbst zum Gegenstand einer inneren Wahrnehmung werden lassen. Wie das Urteil des Chemikers, daß er eine Farbenreaktion sieht, oder des Kindes, daß es Schmerzen hat, nicht auf einer inneren Wahrnehmung ruht, so ist auch der Psychologe nicht mit einer besonderen Fähigkeit begabt, auch er teilt nur seine Erlebnisse mit.

Nicht besser wird es, wenn man die Psychologie lediglich auf die Beobachtung der reproduzierten Phänomene gründet, wie es JAMES und LIPPS tun. Ist ein Phänomen tatsächlich reproduziert, so ist es als solches eben da, mag es schwächer oder stärker sein als das ursprüngliche. Die Verschiedenheit der Intensität ändert nichts am Prinzip. Der Unterschied liegt nur darin, daß jetzt die äußeren Reize nicht mehr da sind. LIPPS scheint mir hier nicht ganz genau zu sein. Das vergangene Ich oder Bewußtseinserlebnis ist nicht nur der Tendenz nach in der Gegenwart erlebt, wie es an einer Stelle heißt (10), sondern es handelt sich bei der tatsächlichen phänomenalen Erinnerung um ein Wiedererlben, ein erneutes Sein des Vergangenen, wie LIPPS gleich darauf bemerkt (11). Beides schließt sich aber aus. Die Schwierigkeiten der inneren Wahrnehmung werden somit nicht beseitigt, auch hier handelt es sich um Aussagen aufgrund des formalen Selbstbewußtseins.

Dies ist von entscheidender Bedeutung. Das Selbstbewußtsein ist eine Form des seelischen Lebens, d. h. in sich verschiedene Arten psychischer Phänomene können bewußt werden. Erst dadurch, daß das Psychische mir nicht als Gegenstand gegenübertritt, ist es möglich,  Empfindung, Gefühl  und  Akt  auseinanderzuhalten, und zwar durch ihre Verschiedenheit zum selbstbewußten Subjekt.

STUMPFs Einwand, die Subjektivität der Gefühle könnte man der Objektivität der Empfindungen gegenüber nicht als Definitionsmerkmal benutzen, weil diese Erkenntnis erst auf einer entwickelten Erfahrung beruth (12), scheint mir nicht stichhaltig zu sein. Wir haben in der Psychologie von dieser entwickelten Erfahrung auszugehen, vom erwachsenen Menschen (13). Wir bilden den Begriff der Wahrnehmung nach dem, was wir erwachsene Menschen darunter verstehen, und der Begriff des Gefühls verlangt hier keine Ausnahme. Könnten die beiden Begriffe nicht durch ihre Verschiedenheit zum Ich bestimmt werden, müßten wir die ganze Frage verwerfen, wie LIPPS mit gutem Grund gegen STUMPF eingewandt hat (14). Wären sie nur inhaltlich verschieden, dann könnten wir mit demselben Recht Töne als Gefühl und Farben als Empfindung bezeichnen, die auch inhaltlich verschieden sind. Aber die unmittelbare Erfahrung ist insich sofort unterschieden. Dadurch, daß es sein Wissen von meinen Zuständen und meinen Inhalten in einem weiten und einen engen Sinn gibt. Das letzte wird sofort deutlich werden. Würden wir im Wissen von meinen Zuständen und meinen Inhalten keinen letzten Unterschied sehen, sondern beides als ein Bemerken von Gegenständen ansehen, so wäre die Trennung nachträglich nicht mehr möglich. Wir sind, um mich der Terminologie REHMKEs zu bedienen, der darauf wohl hinauswill, ein zuständliches und gegenständliches Bewußtsein (15). Wir haben diese Verschiedenheit anzuerkennen, und daher ist es irreführend, wenn man schlechthin die Gefühle als Elemente neben den Empfindungen behandelt. Wir können sagen, die Gefühle und Empfindungen unterscheiden sich durch die Verschiedenheit der Stellung, die sie im Strukturzusammenhang des Bewußtsein einnehmen. Sie ist eine unmittelbare gegebene letzte Tatsache und wird nicht gefunden durch die Analyse eines Ganzen, wie ich einen Inhalt als Komplex in Ton- und Farb-Empfindungen auflösen kann. Wir sagen unsere Zustände und unsere Inhalte aufgrund des Selbstbewußtseins aus.

Bevor wir aber hier weiter gehen, müssen wir uns kritisch mit einer anderen Meinung auseinandersetzen. Wir finden hauptsächlich bei MÜNSTERBERG (16), CORNELIUS und NATORP (17) die Ansicht vertreten, daß jede Veränderung des Gegenstandes der Psychologie eine Veränderung des Bewußtseinsinhaltes ist. Die Namen haben hier eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Nichts kann uns hindern, für das Wort "psychisches Phänomen" auch "Bewußtseinsinhalt" zu gebrauchen, und es ist nur das Zeichen einer einheitlichen Terminologie, wenn man dann der Psychologie die Untersuchung der Veränderung der Bewußtseinsinhalte zuerteilt. Aber man macht sich eines logischen Fehlers schuldig, wenn man neben dieser Terminologie auch die erlebten Objekte oder Gegenstände Bewußtseinsinhalte nennt (18). Denn nur das Erleben der Objekte wäre ein Bewußtseinsinhalt im ersten Sinne, nicht aber das Objekt selbst. Natürlich liegen drei verschiedene Phänomene oder, wenn man will, Bewußtseinsinhalte vor, wenn ich etwas wahrnehmen, vorstelle oder wünsche. Fragen wir aber, wodurch sie sich unterscheiden, so haben wir wissenschaftlich das Recht, die Konstante, also den Gegenstand, von der Variablen zu trennen und von verschiedenen Akten zu sprechen, die sich auf denselben Gegenstand beziehen können. Widersinnig aber wird die Theorie dann, wenn man nun das Wort Bewußtseinsinhalt gleichbedeutend mit Empfindungsinhalt oder Erscheinung im Sinne STUMPFs verwendet und behauptet, daß sich nur dieser Bewußtseinsinhalt ändert. Selbst wenn der Inhalt sich ständig mit den Akten änderte, so würde damit nichts gegen die Akte gesagt sein (19). Erst mit der Behauptung, der Bewußtseinsinhalt sei der einzige Gegenstand der Psychologie, haben wir uns kritisch auseinanderzusetzen. Diese Ansicht ist wohl durch jene falsche Auffassung der inneren Wahrnehmung hervorgerufen. Die Begründung bei NATORP beruth darauf, daß wir kein "Sehen" bemerken, sondern nur einen Inhalt. Ein Bemerken des Wahrnehmens gibt es nicht. Diese Behauptung können wir ohne weiteres zugeben, zugleich auch die, daß es keine Tätigkeit des Bewußtseins im eigentlichen Sinne gibt (20). Im Grund aber läuft das auf eine Definition des Bemerkens hinaus. Auch wir werden nach dem oben Gesagten nicht von einem Bemerken des Wahrnehmens sprechen, weil wir das Wort als Synonym von Wahrnehmen, als das Erfassen eines Gegenstandes verwenden, und ein Wahrnehmen nie Gegenstand werden kann. Ebenso unrichtig ist es aber auch, vom Bemerken eines Inhaltes zu sprechen. Unter einem bemerkten Inhalt im Gegensatz zu einem unbemerkten könnte man höchstens den apperzipierten im Gegensatz zu perzipierten verstehen. Aber Apperzipieren deckt sich nicht mit innerer Wahrnehmung. Natürlich gibt es auch keinen Akt der Apperzeption von Inhalten (21). Apperzieren sollten man nur von Gegenständen gebrauchen. Zur Beschreibung des Tatbestandes, den man als apperzipierten Inhalt bezeichnet, halte ich die, soviel ich sehe, nur einmal von MEINONG gebrauchte Terminologie der Urteilssphäre für zweckmäßiger (22). Ein solcher Inhalt unterscheidet sich nämlich von anderen dadurch, daß er als daseiend ausgesagt werden kann (23). Selbstverständlich beruth unser Wissen vom Dasein perzipierter Inhalte letzten Endes nur auf ihrem späteren Dasein als apperzipierten, was nur scheinbar ein Paradox ist. Worauf der Schluß von ihrem früheren Dasein außerhalb der Urteilssphäre beruth, ist eine andere Frage, die uns nicht weiter beschäftigt. (24) Daß aber mit dem Wissen vom Dasein eines Inhaltes das Wissen vom Psychischen erschöpft ist, hat NATORP nicht bewiesen. Ebenso, wie wir von unseren Inhalten wissen, ohne sie zu bemerken, wissen wir vom Akt des Wahrnehmens, und zwar wieder durch das Selbstbewußtsein. Dem gegenständlichen und zuständlichen Bewußtsein tritt das Akt- oder Verhaltensbewußtsein als drittes zur Seite, das uns nicht die Ich-Zuständlichkeiten, sondern die Ich-Bestimmtheiten in LIPPS' Terminologie vermittelt (25). Es gibt ein Wissen davon, daß ich wahrnehme, vorstelle, denke, daß ich will oder werte. Nicht ganz richtig ist die Bemerkung STUMPFs: wenn auch die Funktionen nicht wahrnehmbar sind, so sind sie erschlossen wie die physischen Prozesse. Um einen Schluß handelt es sich nicht, sondern um ein unmittelbares Gegebensein, nach dem ich den Begriff der Funktion erst bilde (26).

Nun sehen wir in MÜNSTERBERGs Theorie einen interessanten Versuch, die Psychologie als die Lehre von den Inhalten durchzuführen, und zwar ist für ihn Bewußtseinsinhalt von vornherein ein Synonym für Empfindungsinhalt. Aber es läßt sich nachweisen, daß er seiner eigenen Definition nicht treu geblieben ist, daß er Tatsachen berücksichtigt, die nicht zum Bewußtseinsinhalt gehören.

Man sucht zu beweisen, daß es die Psychologie nur mit der Veränderung der Inhalte zu tun hat, und spricht dann plötzlich von einem Bewußtseinszustand, den wir  fühlen  nennen (27), und kurz darauf nennt man Lust und Unlust die Art, wie der Inhalt einer Empfindung uns bewußt ist (28). Das scheint mir aber ein unlösbarer Widerspruch zu sein, oder man entschließe sich, Lust und Unlust aus der Psychologie auszusondern, da sie selbst nicht Inhalte sind. MÜNSTERBERG scheinte diese Konsequenz nicht verborgen geblieben zu sein. Die Art, wie er sie aber umgehen will, ist im höchsten Grad anfechtbar. Er behauptet ausdrücklich, daß die Lust kein Inhalt ist, der ein mechanisches Korrelat hat, da sie nur das Verhältnis zum ganzen psychischen Zustand bezeichnet (29). Das Gefühl wird eine Beziehung zum Bewußtsein (30), eine Eigenschaft der Empfindung (31), ein Akt der Stellungnahme (32) genannt. Gefühle begleiten die Empfindungen (33). Danach würden also die Gefühle nicht in die wissenschaftliche Psychologie gehören, da sie selbst eben nicht Empfindungen sind. Daneben findet sich dann wieder folgende Stelle:
    "Wir werden uns eines Gefühls und eines Begehrens bewußt, beide sind Inhalte, und nur begleitende Körperempfindungen verleiten uns zu glauben, daß wir hier nicht nur einen eigenartigen Bewußtseinsinhalt erleben, sondern im Fühlen und Begehren bei konstantem Inhalt wechselnde Verhältnisse zwischen Inhalt und Bewußtsein annehmen müßten." (34)
Der Gefühlston der Lust ist die Empfindung der Erhaltungstätigkeit, der Unlust die des Abwehrens (35). Daß es Empfindungen der Reaktion des Körpers auf Reize gibt, kann gar nicht in Abrede gestellt werden. Was aber Empfindungen der Reaktion der ganzen Persönlichkeit auf einen Gedanken sein sollen, die nach MÜNSTERBERG eben die Lust am Gedanken sind, vermag ich nicht einzusehen (36). Aus einer Analogie macht man hier ein Reales. Daß jene Empfindungen nun die Lust sind, ist eine erfundene Konstruktion zur Rettung der Theorie. Mit den Urteilen Lust und Körperbewegungsempfindungen werden vollständig verschiedene Dinge bezeichnet.

Nach MÜNSTERBERG hat es die Psychologie als Wissenschaft damit zu tun, den Bewußtseinsinhalt in Elemente aufzulösen und ihr Auftreten kausal zu erklären, dadurch, daß es ihr in letzter Linie gelingen soll, jedes Element im Gehirn zu lokalisieren und nachzuweisen, wie nun ein Reiz sich über das Gehirn so verbreitet, daß die Inhalte entstehen. Daß eine so begründete Psychologie eine Unmöglichkeit ist, hat WUNDT erschöpfend nachgewiesen (37). Jeder psychologische Gesichtspunkt bedeutet notwendig eine Inkonsequenz dieser Gehirnphysiologie. MÜNSTERBERG gibt zu, daß eine Bewegung häufig davon abhängig ist, ob ein Urteil bejahend oder verneinend ausfällt. Das Anerkennen wird als Bewußtseinsinhalt behandelt, dem ein Gehirnprozeß parallel geht (38). Nun kann darüber kein Zweifel bestehen, daß das Anerkennen ein Urteil ist, und gerade dieses soll nach MÜNSTERBERG als "teleological attitude" nicht in die Psychologie gehören (39). Daß das Urteil kein aus Empfindungen bestehender Bewußtseinsinhalt ist, werden wir MÜNSTERBERG ohne weiteres zugeben. Dann geht es aber auch nicht an, das Anerkennen, Bejahen einen Inhalt zu nennen, ihne als solchen zu verwenden und zu lokalisieren. Mit dem Kopfnicken lokalisiert man nicht die Anerkennung. Man beweist nachdrücklich, daß jede Zwecksetzung der Persönlichkeit nicht in die Psychologie gehört, und erklärt dann eine Bewegung aus der Verbindung des Reizes mit der Vorstellungsreihe, die man "Ich" nennt.
    "Unser Komplex der hauptsächlichsten, eingeübtesten, häufigsten Assoziationen, der zunächst nur die Vorstellung des eigenen Körpers und der nächsten Umgebung, im späteren Alter den ganzen Kreis der Interessen und Ideale umfaßt, das ist unser Ich, unsere Persönlichkeit." (40)
Gegen die merkwürdige Auffassung des Ich wollen wir hier nichts einwenden, absolut verneinen aber müssen wir es, wenn MÜNSTERBERG behauptet, es ist "selbstverständlich", daß derjenige Reiz siegt, der sich mit jener Assoziationsreihe "Ich" verbindet, und daß nur ungewöhnlich starke Reize mächtiger wirken als die von der gesamten Persönlichkeit unterstützten Motive. Damit wird er seinem Prinzip untreu, denn mechanisch wirkt ja natürlich die Kraft eines Reizes nicht im mindesten dadurch stärker, daß sie einen größeren Raum im Gehirn durchlaufen muß. Allerdings ist uns "verständlich", daß die von der ganzen Persönlichkeit unterstützten Motive siegen. Aber aus dem Leben der zwecksetzenden Persönlichkeit heraus. Behauptet man aber, daß kein Bewußtseinsinhalt etwas bedeutet, daß also statt des Zwecks, des Ideals, des Gebotes nur ein Lautkomplex da ist, so ist es nicht im mindesten verständlich, warum der Reiz siegt, der mit jenem Lautkomplex durch Assoziationsfasern verbunden ist.

MÜNSTERBERG konstruiert einen Gegensatz zwischen der Psychologie als Naturwissenschaft und der Theorie der Persönlichkeit, zwischen dem psychischen Leben als Objekt und Tätigkeit oder Funktion. Bei der ersten handelt es sich um Beschreibung und Erklärung, bei der zweiten umd Deutung, Interpretatioin aus Zwecken um eine teleologische Wissenschaft (41). Nur die erste verdient den Namen Psychologie. Doch diese Trennung ist gänzlich ungerechtfertigt. Nach STUMPF, DILTHEY, HUSSERL, LIPPS handelt es sich gerade bei der zweiten Art um eine Beschreibung. Die Psychologie soll es nur mit der Analyse des Bewußtseinsinhaltes zu tun haben, wobei MÜNSTERBERG von vornherein das Wort terminologisch im engeren Sinn nimmt, also als den Komplex der Empfindungen. Denn daß er nachgewiesen hat, daß der Bewußtseinsinhalt aus Empfindungen besteht, ist ein Irrtum (42). Er untersucht von vornherein nur den Empfindungskomplex, wobei es nur selbstverständlich ist, daß er nichts weiter findet als Empfindungen. Die Fragestellung ist von vornherein falsch. Es kommt darauf an, ob wir mit dem Begriff der Empfindung allein die Tatsachen des psychischen Lebens beschreiben können, und diese Frage ist durchaus zu verneinen.
    "Die Anerkennung der Funktionen als Bewußtseinstatsache bedeutet weiter nichts als die Anerkennung einer Anzahl von Variabeln, die man außer den in den Erscheinungen selbst gegebenen (Qualität, Intensität usw.) zur Beschreibung des unmittelbaren Tatbestandes und seiner Veränderungen für erforderlich hält." (43)
MÜNSTERBERG hat eine besondere Auffassung von Beschreibung, wenn er behauptet, bei der Wissenschaft des wirklichen Lebens, der Theorie der Persönlichkeit oder voluntaristischen Psychologie, wie er sie auch nennt, gibt es nichts zu beschreiben. Damit wäre überhaupt die Wissenschaft unmöglich. Gibt es hier eine Mitteilung von Tatsachen, so muß es auch eine Beschreibung geben. Nun ist es klar, daß auch für MÜNSTERBERG das ursprünglich Gegebene das wirkliche Leben ist. Der Fehler liegt nur darin, daß er das Leben falsch beschreibt, wenn er alles gleichmäßig als Bewußtseinsinhalt oder Empfindung bezeichnet.
    "Daß Funktionen nicht restlos in Erscheinungen aufzulösen sind, können wir wohl voraussetzen, seitdem alle Bemühungen in dieser Hinsicht seit  Hobbes  in beinah grotestker Weise sich als Erschleichungen darstellten." (44)
Trotzdem finden wir MÜNSTERBERG noch auf diesem Standpunkt stehen. Nach ihm ist die Bedeutung der Worte ein aus Empfindungen bestehender Bewußtseinsinhalt, der zum Laut hinzukommt, der Begriff durch eine einzelne Vorstellung vertreten (45). Schon der wahrgenommene Gegenstand ist nicht gleichbedeutend mit einer Summe von Empfindungen. Bei allen Akten tritt eben etwas absolut Neues hinzu und nicht nur Empfindungen neben andere (46). MÜNSTERBERG meint, der Versuch zu beschreiben setzt Objektivierung und damit die Aufhebung des Subjektcharakters voraus (47). Beides schließt sich aber nicht aus. Man kann einen subjektiven Akt als wissenschaftliches Objekt behandeln. Natürlich haben wir die Erlebnisse einfach als vorgefunden zu behandeln. (48) Aber wir finden sie eben als Akt vor und nicht nur als Empfindung. Daß wir die Akte nicht bewerten dürfen, ist selbstverständlich, aber die Bewertung ist nicht logisch mit der Beschreibung als Akt gefordert. Schon die Verallgemeinerung jedes Aktes zu einer Zwecksetzung ist ungerechtfertigt. Ein Urteil ist ansich kein teleologischer Akt; ob man mit ihm einen Zweck verfolgt, ist eine andere Frage. Wo es sich aber um eine Zwecksetzung handelt, werden wir sie natürlich auch als solche behandeln, ohne den Zweck selbst als gut oder schlecht zu beurteilen. Das Wollen ist genauso ein Objekt wie alles andere. MÜNSTERBERG stellt das Wesentliche des Aktes falsch dar, wenn er sagt, jeder Akt muß eine Gegensätzlichkeit einschließen, wie etwa Wollen und Nicht wollen (49). Nur darauf kommt es an, ob etwas Bewußtseinsinhalt im weitesten Sinne ist, d. h. ob ein Gegenstand oder ein Gebilde, eine Gegenständlichkeit erfaßt wird, und liegt der Fall vor, so beschreiben wir den Tatbestand nicht richtig, wenn wir uns mit der Konstatierung der momentan gleichzeitigen Empfindungen begnügen. Er will der "Theorie der Persönlichkeit" den Namen  Psychologie  deswegen streitig machen, weil alles wirklich Psychologische nur eine Entlehnung aus jener Psychologie des Bewußtseinsinhaltes ist, und sie sonst von logischen, ethischen und ästhetischen Gesichtpunkten durchsetzt ist (50). Beides trifft aber nicht zu. Der ganze zweite Band der "Logischen Untersuchungen" von HUSSERL ist beispielsweise im wahrsten Sinne psychologisch, ohne daß auch nur im geringsten etwas aus der kausalen Psychologie entnommen ist. Die beschreibende Psychologie ist nur überall da, wo sie sich mit Bewußtseinsinhalten beschäftigt, selbst Psychologie des Bewußtseinsinhaltes, eben ein Teil der gesamten Psychologie. Es ist ein Irrtum, daß MÜNSTERBERGs kausale Psychologie dasselbe zum Gegenstand hat wie die Theorie des wirklichen Lebens, und daß nur die Gesichtspunkte verschieden sind. (51) Was nicht zum Empfindungskomplex gehört, wird auch durch einen anderen Gesichtspunkt nicht dazu. Untersuche ich die Empfindungen, so untersuche ich eben niemals das Urteil. Selbstverständlich gehören logische, ethische und ästhetische Erlebnisse unmittelbar in die deskriptive Psychologie. Sind sie überhaupt Tatsachen, so müssen sie zu einer Wissenschaft gehören. Zu welcher, darüber kann kein Zweifel bestehen. Damit darf man aber nicht die Behauptung verwechseln, daß logische usw. Gesichtspunkte bei der Beschreibung maßgebend sind. Eine Beurteilung der Urteile, Handlungen und Gegenstände gehört selbstverständlich nicht in die Psychologie. Der Irrtum verdient seine Beschreibung als Denkakt, genauso wie das richtige Urteil.

Was nun den Gegensatz der beschreibenden und erklärenden Psychologie betrifft, so ist es sehr schwer, hier einen Wortstreit zu vermeiden, Unter erklärender Psychologie verstehe ich jene Theorie, die von der Elementar-Hypothese ausgeht und die einzelnen Elemente nach Ursache und Wirkung auseinander erklären will. In der Naturwissenschaft beruth diese Erklärung auf der Annahme einer Substanz, die sich nach bestimmten Gesetzen verändert. Mit einer solchen haben wir es in der Psychologie nicht zu tun, stattdessen mit Erlebnissen, die in einem unmittelbar gegebenen Zusammenhang stehen (52). Es kommt zunächst darauf an, daß es nicht identische psychische Größen gibt. Man übersieht, daß bei zwei Vorstellungen das Identische in den Gegenständen liegt und nicht im Psychischen (53). Wenn nun auch WUNDT sich allerorten gegen die Verdinglichung und Wiederkehr derselben Vorstellung wendet, so steht er im Prinzip doch auf dem bekämpften Standpunkt HERBARTs, denn es ist gleichgültig, ob ein und dieselbe Vorstellung wiederkehrt oder nur Elemente der früheren mit anderen neuen verbunden. Ganz deutlich wird uns der Unterschied bei der Ähnlichkeitsassoziation. Für die beschreibende Psychologie ist die Ähnlichkeit der erlebten Gegenstände ein Grund der Aufeinanderfolge. WUNDT will erklären, ihm ist die Ähnlichkeitsassoziation nicht verständlich. Infolgedessen werden die Anschauungen der Chemie auf die Psychologie übertragen (54).
    "Es ist ganz unmöglich, daß das Bild einer Katze die Vorstellung meiner großen davon verschiedenen Hauskatze anders erweckt, als indem zuerst gewisse identische Elemente sich verbinden und dann von diesen aus die verschiedenen, die den hinzutretenden Vorstellungen eigen sind, durch Berührung wachgerufen werden." (55)
Zunächst ist nicht recht verständlich, was es heißt:  identische Elemente verbinden sich.  Handelt es sich wirklich um identische Elemente, so tritt eben ein und dasselbe Element wieder auf. Das besagt doch wohl der Ausdruck  identisch.  Dann hat es aber keinen Sinn, daß die identischen Elemente sich verbinden, wo es doch gar nicht zwei getrennte Elemente gibt. WUNDT sagt auch ausdrücklich, die Vorstellungen müssen irgendwelche Elemente miteinander gemein haben (56). Gerade das ist das Wesentliche. Denn eben mit der Wiederkehr desselben Elements wird WUNDT seiner eigenen Aktualitätstheorie untreu. Solche identischen Elemente gibt es nicht, denn sie würden eine weitergehende Existenz außerhalb des Bewußtseins voraussetzen. Keineswegs aber gibt man damit überhaupt den Zusammenhang der Erscheinungen preis (57). Nun wäre auch dann noch die Assoziation nur verständlich, wenn man den Kraftbegriff zuhilfe nähme. Seine Anwendung hat aber nur dort Sinn, wo es sich um die Wirkung dauernd existierender Identitäten aufeinander handelt. In der Psychologie fehlt nun jener gemeinschaftliche Boden der Substanz. Ich kann nicht ein Element Lust aus andern entstehen oder es aus dem Nichts herausziehen lassen. Die absolut bildhaften Ausdrucksweisen der Psychologen wie "wachrufen", "nach sich ziehen" verschleiern die Unmöglichkeit der Erklärung. Wir haben eben in der Psychologie kein Recht, die Erlebnisses zu verdinglichen und zu anthropomorphisieren. Abstrahiere ich bei einer Vorstellung von der Existenz des Gegenstandes, so erhalte ich das Erleben des Gegenstandes und nicht ein als Elementen zusammengesetztes Ding: Vorstellung, ein Abkömmling jenes Begriffs des  eidolon  bei EMPEDOKLES. Der Gegenstand der Psychologie ist gerade das Anthropomorphe, nach dem wir durch Übertragung die Natur anthropomorphisieren. Das unmittelbar verständlich Ausführen-Können von etwas Gewolltem ist die Grundlage aller "Erklärung" in der Naturwissenschaft. Die Psychologie hat es nur mit solchen unmittelbaren Verständlichkeiten, d. h. unmittelbar gegebenen Zusammenhängen, mit dem Hervorgehen der Phänomene auseinander zu tun (58). Sie hat von einer hypothetischen Umdenkung völlig abzusehen. Wo es sich überhaupt um den Zusammenhang psychischer Phänomene handelt, hat es die Psychologie mit der Beschreibung des einzelnen Moments und der verschiedenartigen Strukturzusammenhänge zu tun, die zwischen den einzelnen Phänomenen simultan und suzkzessiv bestehen. Es ist unberechtigt, den anschaulichen Zusammenhang der Psychologie und den begrifflichen der Naturwissenschaft, nachdem man ihre totale Verschiedenheit deutlich erkannt und dargestellt hat, nachträglich wieder unter einem Namen, dem der Kausalität, zusammenzufassen, wie WUNDT dies tut. Nur der Name deckt den Motivzusammenhang mit der Wirkung einer Ursache. Ansich haben sie nichts gemein. Was ist denn das Prinzip der schöpferischen Resultante oder Synthese anders als das Prinzip, die Bedingungen für das Auftreten der Unerklärten zu beschreiben? Die Praxis der Assoziationspsychologie steht im Widerspruch mit den theoretischen Ansichten WUNDTs, die ihn zu einer rein beschreibenden Psychologie hinführen müßten. LIPPS befürwortet neben der beschreibenden Psychologie eine kausal erklärende. Die zweite geht auf die Erklärung des individuellen Phänomens. (59) Aber auch dies können wir nicht kausal erklären, sondern nur die Gesetze bestimmen, nach denen es auftritt. Das sind aber eben die erlebten Beziehungen der beschreibenden Psychologie. Man macht aus dem Motivzusammenhang im Unbewußten auf einmal einen Kausalzusammenhang, den man kurz vorher bei den Bewußtseinserlebnissen als unmöglich hinstellte. Durch diese Verlegung wird aber die Schwierigkeit, den Motivzusammenhang als Wirkung zu behandeln, nicht beseitigt.

Man nennt eine beschreibende Psychologie, die von Akten spricht, Ich-Psychologie, berechtigterweise, solange man nicht behauptet, daß sie von einem metaphysischen Seelenbegriff ausgeht. Der Ich-Begriff dient ja zu nichts anderem als zur Beschreibung des erlebten Zusammenhangs in einem zeitlich verlaufenden Leben, der Einheit des Bewußtseins; er spielt in der Psychologie dieselbe Rolle wie das Ding oder Subjekt in der Naturwissenschaft. Die Ich-Aussage ist eine rein grammatische Form, wie die Aussage über ein Subjekt. Der Ausdruck, das Ich ist als Konstante erschlossen (60), ist nicht ganz zutreffend, wenn er auch wohl dieselbe Tatsache wiedergeben soll. Der Zusammenhang ist nicht erschlossen, sondern unmittelbar erlebt. Das Ich ist nur die nominelle Herauslösung der im Zusammenhang durchgängigen Konstante. Das Ich einen Bewußtseinsinhalt zu nennen, ist die absurdeste Konsequenz der erklärenden Elementartheorie, auf die ich nach dem Gesagten nicht näher eingehe.

Wir werden nach dieser Kritik der gegenteiligen Ansichten bei unserer Untersuchung von der beschreibenden Psychologie ausgehen. Wir haben das Werten zu klassifizieren und seinen Zusammenhang mit anderen Erlebnissen zu beschreiben, nicht aber das Phänomen kausal erklären. Zur Klassifikation aber ist zunächst eine genaue Unterscheidung der Gefühle und Akte notwendig.

Untersuchen wir das Wesen der Gefühle, so gilt es hier ganz besonders, sich von der Elementartheorie frei zu machen. Die erklärende Psychologie geht hier von selbst in die beschreibende über, denn wenn ich von einem Unlustgefühl über ein Geräusch spreche, so beschreibe ich damit nur den erlebten Zusammenhang, während für die Erklärung die Ursache des Elements  Unlustgefühl  erst zu finden wäre, da so und so viele andere Elemente gleichzeitig damit vorhergegangen sind. Stände die Annehmlichkeit als Empfindung in keinem anderen psychologischen Verhältnis zur spezifischen Qualität als dem der Gleichzeitigkeit (61), so wäre es unverständlich, woher ich wissen sollte, was mir im Moment unangenehm ist, da doch eine große Anzahl Empfindungen gleichzeitig mit der Annehmlichkeitsempfindung gegeben wären. Es geschieht ja häufig, daß von gleichzeitigen Empfindungen die eine als angenehm, die andere als unangenehm beurteilt wird. Gehen wir von der kausalen Elementartheorie aus, so wüßte ich nicht, wie diese Urteile zustande kämen. Sind in meinem Bewußtsein vier Elemente und zwei - noch dazu entgegengesetzte - Gefühle, so könnte ich unmöglich wissen, welche Empfindung das Lustgefühl, und welche Empfindung das Unlustgefühl hervorgerufen hat. Man streitet darüber, ob es mehr Gefühle als Lust und Unlust gibt, ob Lust und Unlust zwei besondere Elemente sind oder Klassen von Elementen bezeichnen. In unserer Zeit will man sogar die Frage durch das Experiment lösen und sieht nicht, daß beim Beginn des Experiments die Frage schon anderweitig entschieden ist. Ich bin darauf angewiesen, mit welchen Termini meine Versuchspersonen ihre Erlebnisse beschreiben. Das Experiment ist hier geradezu sinnlos. Wir haben uns klar zu machen, welche verschiedenen Tatbestände im wirklichen Leben vorliegen, und welche wir unter einen Begriff beschreibend zusammenfassen können. Es handelt sich beispielsweise um die wissenschaftliche Beschreibung der zwei Tatbestände, die ich einmal ausdrücke:  dieser Geschmack ist unangenehm,  das andere Mal:  ich ärgere mich über eine Handlung.  Spricht man in beiden Fällen von einem Element  Unlustgefühl,  so beschreibt man falsch. Halten wir daran fest, daß ein Gefühl ein Gesamtzustand des Bewußtseins ist, so liegt nur im zweiten Fall ein Unlustgefühl vor. Ob etwas schlecht schmeckt, ist von dem Zustand, Gefühl, Stimmung, Affekt, in dem ich mich befinde, relativ unabhängig. Beim Asketen liegt gerade ein Lustgefühl aufgrund der unangenehmen Empfindungen vor. Man gibt auch zu, daß der Asket Lust erlebt, obwohl die "Materie" Unlust ist (62). Was heißt das aber in einer Elementarpsychologie, die nur die beiden widersprechenden Elemente gleichzeitig im Bewußtsein konstatieren könnte? Ich kann in lustiger freudig erregter Stimmung etwas essen, was mir schlecht schmeckt. Kommt mir dies zu Bewußtsein, sage ich das aus, so konstatiere ich kein Gefühl, sondern nur eine Eigenschaft dieser Empfindung. Ebensowenig tritt eine Empfindung der Unanehmlichkeit hinzu (63). Es ist ganz richtig, wenn wir gewisse Empfindungsinhalte als  Schmerzen  zusammenfassen, wie wir die Qualität der sexuellen Empfindung  Lust  nennen können. Damit bezeichnen wir eben Inhalte, über die Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit urteilen wir noch nicht. Es ist ein Irrtum, wenn STUMPF meint, die Rede:  Schmerz tut weh,  sei ebenso sinnvoll wie die, daß  Gerüche  riechen (64). Ein Geruch als psychischer Inhalt riecht nie, ebensowenig wie ein psychischer Inhalt  rot  oder  blau  ist; wohl aber kann ich den Schmerz noch besonders als unangenehm bezeichnen. Daß die Annehmlichkeit eine Eigenschaft der Empfindung ist, ist weder durch KÜLPE noch STUMPF widerlegt (65), wenn man sich darauf stützt, daß eine Eigenschaft selber keiner Eigenschaft haben kann. Wie die Farbe eine Eigenschaft des Gegenstandes ist und ihrerseits wieder Eigenschaften haben kann, so kann auch die Empfindung als Erlebnis die Eigenschaft der Annehmlichkeit und diese wieder die Eigenschaft der Intensität haben. Es kommt hier rein auf die Zweckmäßigkeit der Beschreibung an, und die bezeichneten Schwierigkeiten machen es meines Erachtens unmöglich, die Annehmlichkeit als ein Element neben der Empfindung aufzufassen. Natürlich kann eine unangenehme Empfindung mit einem Unlustgefühl verbunden sein, und sie ist es anfänglich immer. Die Entwicklung des Menschen geht aber zum großen Teil dahin, die Gefühle von der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit der Empfindungen unabhängig zu machen. Was man intellektuelle oder psychische Lust und Unlust genannt hat, können wir vielleicht besser als Zufriedenheits- und Unzufriedenheitsgefühle bezeichnen. Ein solches kann in der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit begründet sein, wenn diese auch nicht etwa urteilsmäßig erfaßt sein muß. Andererseits können Lust- und Unlustgefühle von gleichzeitigen angenehmen oder unangenehmen Körperempfindungen begleitet sein, ohne daß diese das Gefühl fundieren. So kann z. B. das Gefühl der Scham von sehr unangenehmen, die Freude von angenehmen Gemeinempfindungen begleitet sein. Es ist klar, daß es sich hier niemals um eine kausale Erklärung handeln kann, sondern nur um eine Begründung, d. h. psychologisch um die Beschreibung des erlebten Zusammenhangs. Darum kann von einem Irrtum über den Gegenstand eines Gefühls keine Rede sein. Ärgert sich die Hausfrau über das zerschlagene Geschirr, so kann sie nicht meinen, sie ärgere sich über das Ungeschick der Köchin (66). Natürlich kann sie sich über das Ungeschick als Grund des zerschlagenen Geschirrs ärgern. Sich oder andern etwas einreden, sich selbst betrügen, heißt nicht, sie irren. Es gibt hier kein Element, über dessen Verursachung ich im unklaren sein kann.

Uns interessiert aber besonders das Verhältnis der Gefühle zum Gegenstand. Die Ansicht von der Gegenständlichkeit der Gefühle geht wohl nun hauptsächlich auf BRENTANOs Definition des Psychischen zurück. Dieses soll durch seinen intentionalen Charakter ausgezeichnet sein (67). Indessen ist eine Begriffsvermengung, wenn man das Wahrnehmen von etwas mit der Freude über etwas als intentionalen Charakter zusammenfaßt. Das Wahrnehmen ist nichts anderes als das Wahrnehmen von etwas. Der Gegenstand ist hier absolut nicht vom Akt zu trennen. Die Freude ist aber vom Gegenstand relativ unabhängig, d. h. das Intentionale liegt hier nur im Erfassen des Gegenstandes, nicht in der Freude selbst. Nennt man Rot, Blau, Warm etc. Inhalt einer Empfindung, so dürfte man unter dem Inhalt eines Gefühls nur seine spezifische Qualität verstehen, das, was die Freude zur Freude, den Ärger zum Ärger, die Melancholie zur Melancholie macht. Niemals aber ist der Gegenstand, der mir den Anlaß zum Gefühl gibt, ein Gegenstand des Gefühls, wie etwas Gegenstand der Wahrnehmung ist. Daher ist die Rede von den gegenstandslosen Gefühlen durchaus nicht widersinnig (68). Die Gefühle sind gerade durch ihre Gegenstandslosigkeit charakterisiert. Wir bezeichnen mit ihnen nur subjektive Zustände, die in Akten begründet sein können. Meine Freude erlebe ich im Zusammenhang mit dem Hören einer Tatsache, also dem Erfassen einer Gegenständlichkeit; das Gefühl wird aber dadurch nicht zum Akt. Gibt man mit HUSSERL zu, daß ein Fundierungsverhältnis vorliegt, daß die Lust andauern kann, während der Aktcharakter fortfällt (69), so sehe ich keinen Grund ein, noch die Gefühle als Akt zu bezeichnen. Allerdings werden sie damit noch nicht Empfindungen (70). Gerade bei HUSSERL ist das sonderbar, da doch seine ganze logische Theorie hauptsächlich darauf beruth, daß das Evidenzerlebnis kein Gefühl, sondern ein Akt ist; bezeichnet man aber die Gefühle selbst als Akte, so gibt man doch den ganzen Unterschied wieder preis. Gerade das Merkmal, das HUSSERL bei der Evidenz zu einer Trennung von Akt und Gefühl veranlaßt hat, gibt das Unterscheidungsmerkmal im allgemeinen. Handelt es sich um das Erfassen oder Bewußtwerden eines objektiven Tatbestandes, so liegt ein Akt vor im Gegensatz zum Gefühl, das nur ein subjektiver Zustand ist. Ein nicht objektivierender Akt ist eine  contradictio in adjecto  [Widerspruch in sich - wp] (71). Aus diesem Grund müssen wir gegen STUMPF und HUSSERL die Gefühle als Sonderklasse psychischer Phänomene von den Akten oder Funktionen und Erscheinungen oder Empfindungsinhalten trennen. Bei STUMPF liegt die Sache insofern etwas anders, als er die Unterscheidung von Erscheinung und Funktion lediglich im Interesse einer Absonderung der Natur- und Geisteswissenschaft aufgestellt hat. Psychologisch halte ich es jedoch für unbedingt erforderlich, die Funktionen von den Gefühlen zu trennen. Die Gefühle haben mit den Erscheinungen das gemeinsam, daß sie als solche einfach da sind, während in den Funktionen das Bewußtsein tatsächlich über sich hinausgreift und etwas Objektives erlebt. Es gibt keine Erkennungs- und Wiedererkennungs-, Begriffs-, Wirklichkeitsgefühle usw. Denn bei all dem handelt es sich um objektive Tatsachen, die erfaßt werden (72). Das Gefühl ist nur der Lückenbüßer. Selbstverständlich ist das Wiedererkennen keine bloße Assoziation. Das Dasein des Erlebnisses desselben Gegenstandes oder auch das gleichzeitige Dasein des früheren Erlebnisses besagt noch nicht, daß das Bewußtsein der Identität der Gegenstände da ist, ebensowenig wie das Dasein zweier verschiedener Vorstellungen besagt, daß die Verschiedenheit bemerkt oder bewußt ist; aber Akte treten hinzu und keine Gefühle, die man nun kausal aus Resten von Vorstellungen im dunklen Hintergrund des Bewußtseins erklärt (73). Es ist merkwürdig, daß gerade WUNDT, der die Gefühle durch ihre Gegensätzlichkeit charakterisiert, trotzdem von Begriffsgefühlen spricht. Wir werden auch nicht von "feeling of  if, and  relations" usw. sprechen, wenn auch JAMES von vornherein bemerkt, daß er  feeling  und  thought  ohne Unterschied gebrauchen will (74). Hierin spricht sich die von MARTY mit Recht gerügte Unterschätzung JAMES' gegenüber der klassifizierenden Aufgabe der Psychologie aus (75).

Auf dieser Grundlage der beschreibenden Psychologie werden wir das Wertproblem diskutieren. Es wäre sinnlos, durch Selbstbeobachtung in dem Moment, wo ich GOETHE hochschätze, oder in der Reproduktion dieses Moments finden zu wollen, was Werten ist. Dies wäre die Konsequenz der erklärenden Elementartheorie. Man versuche sich einmal vorzustellen, was das Werten als kausal erregter Empfindungskomplex im Gegensatz zum Werten eines Gegenstandes ist (76), und man wird merken, daß man dabei von Dingen spricht, die man nicht durch Abstraktion gewonnen, sondern schlechthin erdichtet hat. Für uns handelt es sich nur um die Klassifikation des Wertens aus dem Sinn des unmittelbaren Erlebnisses heraus und um Zusammenhänge mit anderen Phänomenen.


Kapitel II
Der kritische Ausgangspunkt
für das Wertproblem

Die Lösung des Wertproblems muß vom Sinn der Wertaussage ausgehen. Damit ist ein fundamentaler Gegensatz der Methode zu EHRENFELS und MEINONG gegeben. In seinem System der Werttheorie geht EHRENFELS davon aus, sich über die sprachübliche Auffassung des Begriffs  Wert  Klarheit zu verschaffen,
    "denn häufig liegt in der sprachlichen Verwendung eines Begriffs das Ergebnis einer nicht unbedeutenden Gedankenarbeit vieler Generationen vor, an welche die wissenschaftliche Forschung anknüpfen kann. Wo dies nicht der Fall its, und die Gedankenarbeit der Generationen eine falsche Richtung eingeschlagen hat, ist es, um unbemerkte Rückfälle im Sprachgebrauch zu vermeiden, nötig, sich jener falschen Richtung deutlich bewußt zu werden und ihr im offenen Widerspruch zu begegnen." (77)
An anderer Stelle heißt es:
    "Wenn es kein Irrtum und keine Marotte des Sprachgebrauchs ist, welche etwa jemandem auszusagen erlaubt, es besitze die Charakterfestigkeit seines Freundes, die aufbewahrt Haarlocke seiner verstorbenen Mutter und das gemünzte Gol in seinem Schrank Wert, so sind wir nach jener umfassenden Wortbedeutung zu forschen wissenschaftlich verpflichtet." (78)
Damit ist es klar, daß es sich bei EHRENFELS nicht um den gleichen Gesichtspunkt wie bei uns handelt. Wir fragen nicht, welche richtigen Tatsachen im sprachlichen Ausdruck zur Geltung kommen, sondern was diese Ausdrücke überhaupt bedeuten. (79) Diese Bedeutung aber kann die Wissenschaft nicht finden, sondern das ist Sache des Sprachgefühls. Was heißt es überhaupt:  die Sprache schlägt eine falsche Richtung ein?  Hier gibt es nicht wahr und falsch, sondern nur verständlich und unverständlich. Wenn die Sprache von traurigen Ereignissen spricht, so kann man darin allerdings etwas Unlogisches sehen, insofern zwei verschiedene Tatbestände mit demselben Namen bezeichnet werden, einmal: "ich bin traurig"; und zweitens: "dieses Ereignis ist Anlaß meiner Trauer". Von einer "fälschlichen" Objektivation des Gefühls würde ich aber auch in diesem Fall nicht sprechen, da es nur auf den Sinn des Ausdrucks ankommt, und dieser ja klar ist. Etwas ganze anderes ist es, wenn wir den Inhalt sprachüblicher Wendungen prüfen, die allerdings durch Gedankenarbeit oder Aberglaube usw. zustande gekommen sind. Aber wir prüfen damit nicht die Sprache, sondern den Inhalt allgemein üblicher Sätze. Dieser kann falsch sein. Im Formalen aber, dem Ausdruck der Sprache kann niemals etwas Falsches sein. EHRENFELS behauptet nun gerade, die Falschheit liegt in der Tatsache, daß die Sprache den Wert als Eigenschaft aussagt. Entweder beschränkt er dann das Wort  Eigenschaft  auf "süß", "rot", "hart" usw., oder die Behauptung ist falsch. Das erste würde natülich nur ein Wortstreit sein. Für das Verhältnis der Prädikate, die nicht einer Sinnesqualität entsprechen, zum Subjekt müßte man einen anderen Namen nehmen als Eigenschaft. Die Sprache tut nichts anderes, als daß sie von einem Ding etwas aussagt, und nach der Wahrheit oder Falschheit dieser Form zu fragen, hat keinen Sinn. Im weiteren gerät dann auch EHRENFELS natürlich auf eine Kritik des Inhalts des Satzes; nur legt er dem Ausdruck einen falschen Inhalt unter. Er sehr richtig, daß der Wert kein feines Gas ist, das in den Dingen steckt (80). Aber dies bedeutet der fragliche Satz gar nicht. Oder glaubt EHRENFELS, daß die Gedankenarbeit der Generation die Auffassung zustande gebracht hat, daß die Existenz ein Gas ist? Auch diese kann ich ja sprachlich als Eigenschaft von Dingen aussagen. EHRENFELS meint, die Sprache verwende das Wort, als ob der Wert ein Fluidum wäre, das uns die Dinge begehrbar macht. Hier könnten Redensarten vorliegen, deren Inhalt falsch ist. Allein die Wendung,  ich begehre die Dinge, weil sie wertvoll sind,  dürfen wir von vornherein nicht als falsch bezeichnen. Aus dem Satz als sprachlichem Ausdruck folgt über die Auffassung des Wertes gar nichts. Um hier kritisieren zu können, muß ich wissen, was der Wert ist. Welches ist nun das Material, das EHRENFELS untersucht, um zu seiner Theorie zu gelangen? Vielleicht wird er erwidern:  menschliche Werthaltungen.  Dies kann er natürlich aber erst dann, wenn er weiß, was Werthaltungen sind. Und woher nimmt er dieses Wissen? Hier liegt der springende Punkt. Ersichtlich kann keine psychologische Forschung ihm hier nützen. Wir fragen ja nach dem, was er untersuchen will. Ich kann ein "etwas" vorher bestimmen durch seine Eigenschaften und es benennen. Ich führe dann die Untersuchung aufgrund der terminologischen Definition. Ich kann "dies hier" untersuchen, und ich zeige auf etwas. Eine demonstrative Definition, die allerdings keine echt wissenschaftliche ist. Beides trifft bei uns nicht zu. Hier stehen uns nur die Aussagen zur Verfügung, in denen das Wort  Wert  vorkommt. Nur um eine tautologische Nominaldefinition, um den gemeinten Sinn kann es sich zunächst handeln. Die sprachlichen Ausdrücke sind das Material, und daher ist es erkenntnistheoretisch unzulässig, mit der Beurteilung dieses Materials zu beginnen. Über den Wertbegriff selbst kann in einem sinnvollen Satz kein Irrtum niedergelegt sein. Was der Ausdruck  Wert  besagt, muß das Sprachgefühl uns sagen und keine Werttheorie, denn diese berücksichtigt ja erst das Gemeinte. Wir könnten allerdings auch die fertige Werttheorie als Nominaldefinition fassen, wir könnten EHRENFELS kritisieren unter dem Gesichtspunkt, daß "Werten gleich Begehren" eine Tautologie ist. Er selbst aber wird wohl behaupten, daß diese Definition das Resultat der Untersuchung, nicht ihre Voraussetzung ist. So ist es widersinnig, die Frage, ob mit dem Werturteil eine objektive Tatsache oder nur eine Relation zu einem Subjekt ausgesagt wird, an das Ende der Theorie zu stellen. Sie bildet den Ausgangspunkt und ist nicht wissenschaftlich, sondern allein durch das Sprachgefühl zu entscheiden.

Soviel ich sehe, gibt es nur eine Verwendung des Wortes Wert, in dem der ursprüngliche Sinn verloren gegangen ist, wenn auch ihre Entstehung verständlich ist. Sie liegt da vor, wo wir von Wert als Äquivalent sprechen. Am abgeblaßtesten in der Mathematik. Der Wert einer Quadratwurzel √a2 bezeichnet die Größe, die dem √a2 äquivalent ist. Nur handelt es sich hier um den abstrakten Begriff der mathematischen Größe, während das Wort ursprünglich auf eine wirkliche Größe geht, auf das, was Bedeutung hat. Das Werturteil bezeichnet somit einen objektiven Sachverhalt.
    "Unter objektiv versteht man dabei nicht ein außerbewußtes Dasein, sondern nur den Umstand, daß in den Gefühls- und Willensinhalten niemals das Merkmal des individuell augenblicklichen Fühlens und Wollens eingeht, wenn jene emotionalen Inhalte gegeben sind." (81)
Die Unklarheit, die diesen Worten anhaftet, schwindet, wenn wir statt der emotionalen Gefühlsinhalte beim Werten eben von Aktinhalten sprechen, wie STUMPF dies selbst tut (82), nur daß er eben Akt und Gefühl nicht trennt. Mit dem Wort  Wert  meinen wir eine ganz bestimmte Eigenschaft des Dinges, ähnlich wie mit dem Wort  Existenz. 
    "Wertvoll ist ein Prädikat des Gegenstandes selbst, so wie Wirklichkeit ... Wert sei etwas Subjektives, hat genau so viel oder so wenig Sinn wie die Behauptung, Wirklichkeit sei etwas Subjektives." (83)
Wert und Wirklichkeit sind keine Qualitäten, aber Bestimmtheiten des Eigenstandes (84). Die Behauptung, daß der Wert deshalb keine Eigenschaft ist, weil Eigenschaften mit der Existenz des Gegenstandes schwinden, der Wert aber davon unabhängig ist, ist nicht beweisend dafür, daß er nur eine Relation zum Subjekt ist (85). Ich kann heute die Existenz des sagenhaften  Romulus  verneinen und die von  Ramses  bejahen, trotzdem die Zeiten längst vergangen sind. Daß dasjenige, was Wert hart nicht mehr in Raum und Zeit existiert, ist ganz belanglos. Wir nannten deshalb den Wert eine formale Eigenschaft wie die Existenz. Mit welchem Wort man das Verhältnis bezeichnet, ist ja schließlich nicht die Hauptsache. Jedenfalls ist der Wert keine Relation zum Subjekt.

Wir können nicht näher angeben, was wir mit  Wert  meinen, ohne uns in Synonyme zu verstricken; aber die Analogie mit der Existenz kann erläuternd wirken. Wie die Wirklichkeit eine Denkkategorie ist, deren Sinn aus dem Erlebnis der Zustimmung oder Anerkennung stammt, so ist auch der Wert eine Denkkategorie. Wir erkennen im Akt der Bejahung die Tatsache der Existenz an, in dem der Wertung ihre Bedeutung. Die Tatsache der Existenz oder des Wertes kommt uns in einem Akt zu Bewußtsein, erst damit existiert sie für uns, sie ist der Gegenstand, oder das Gebilde einer Funktion (86). Weil eben das Werthaben einen objektiven Sachverhalt ausdrückt, dürfen wir das Werten kein Gefühl, sondern nur einen Akt oder eine Funktion nennen. Von der Verschiedenheit diese beiden Klassifikationsbegriffe war oben die Rede. Es gibt ebensowenig ein Gefühl davon, daß der Gegenstand wirklich existiert, wie davon, daß sein Dasein Bedeutung hat. Ob wir mit dem Werturteil die Erkenntnis des Gegenstandes bereichern, ist gleichgültig. Man kann die Urteile über Existenz und Wert formale Tatsachen nennen, im Gegensatz zum Inhalt, die Eigenschaften und Fähigkeiten eines Gegenstandes betreffend. Das Gefühl der Wertschätzung ist nicht mit den theoretischen Akten der Zustimmung verwandt (87), sondern es ist selbst ein Akt, der gleichsam in der Mitte zwischen theoretischer Zustimmung und praktischem Wollen steht (88). Der Wert ist eng verwandt mit dem Begriff des Sollens, dieses ist das Extrem des Wertes. Vom bloßen Bedeutung- oder Berechtigung-haben bis zum Schlechthin-sein-sollen führt ein Weg. Die Anerkennung des Sollens ist ein Werterlebnis. "Anerkennung eines Wertes ist Anerkennung einer Forderung, daß das Wertvolle sein soll, d. h. verwirklicht ist oder wird (89).

Wir werden umso eher bei unserer Behauptung, daß ein objektiver Sachverhalt im Werturteil vorliegt, bleiben, als uns die gegenteilige Ansicht psychologisch leicht verständlich ist. Sie beruth auf einer Verwechslung des Wertes mit seinem Grund.
LITERATUR - Walter Strich, Das Wertproblem in der Philosophie der Gegenwart [Inaugural-Dissertation], Berlin 1909
    Anmerkungen
    1) HUGO MÜNSTERBERG, Grundzüge der Psychologie, Seite 9
    2) MÜNSTERBERG, Die Willenshandlung, Freiburg i. Br. 1898, Seite 12
    3) MÜNSTERBERG, Willenshandlung, Seite 5
    4) z. B. HUSSERL, Logische Untersuchungen II, Seite 75
    5) z. B. STUMPF, Einteilung der Wissenschaft, 1906, Seite 8
    6) z. B. LIPPS, Psychologische Untersuchungen, Seite 40.
    7) HUSSERL, a. a. O., II, Seite 341
    8) HUSSERL, a. a. O., II, Seite 334
    9) Vgl. z. B. LIPPS, Psychologische Untersuchungen, Seite 34 und 43.
    10) LIPPS, a. a. O., Seite 47
    11) LIPPS, a. a. O., Seite 48
    12) Vgl. CARL STUMPF, Gefühlsempfindung, Zft. f. Psychologie, 1907, Seite 11
    13) Vgl. WILHELM DILTHEY, Ideen zu einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie, Berlin 1894
    14) LIPPS, Psychologische Untersuchungen, Seite 678
    15) Vgl. Das Gemüt, Seite 19
    16) MÜNSTERBERG, Aufgabe und Methode der Psychologie, Seite 134
    17) PAUL NATORP, Einleitung in die Psychologie, Seite 38 und 19.
    18) Vgl. HANS CORNELIUS, Psychologie, Seite 15f
    19) Vgl. STUMPF, Erscheinung und Funktionen, Abhandlung der Berliner Akademie der Wissenschaften, 1906.
    20) NATORP, a. a. O., Seite 33
    21) Gegen HUSSERL II, Seite 385
    22) MEINONG, Beiträge zur psychischen Analyse, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 6, Leipzig 1894, Seite 369f
    23) Damit ist nicht gesagt, daß jedes Bemerken ein Urteil ist; vgl. STUMPF, Erscheinung und Funktionen, Seite 16.
    24) Für das Zeitbewußtsein scheint mir dieses Verhältnis sehr wichtig und nicht genügend beachtet zu sein.
    25) LIPPS, Psychologische Untersuchungen, Seite 693. Das Wollen zählt LIPPS nicht zu den Bestimmtheiten.
    26) Vgl. Einteilung der Wissenschaft, Seite 23
    27) NATORP, a. a. O., Seite 122; vgl. auch CORNELIUS, a. a. O., Seite 76
    28) NATORP, a. a. O., Seite 127.
    29) MÜNSTERBERG, Willenshandlung, Seite 137 und 62.
    30) MÜNSTERBERG, Willenshandlung, Seite 62.
    31) MÜNSTERBERG, Philosophie der Werte, Seite 64
    32) MÜNSTERBERG, P. d. W., a. a. O., Seite 62
    33) a. a. O., Seite 63
    34) MÜNSTERBERG, Aufgabe und Methode der Psychologie, Seite 9
    35) MÜNSTERBERG, P. d. W., Seite 67 und 64
    36) MÜNSTERBERG, P. d. W., Seite 65
    37) Vgl. WUNDT, Psychische Kausalität und das Prinzip des psychophysischen Parallelismus, Philosophische Studien, Bd. X.
    38) MÜNSTERBERG, Aufgabe und Methode, a. a. O., Seite 34
    39) Vgl. The Position of Psych. Harvard Psychological Studies II, Seite 643.
    40) MÜNSTERBERG, Willenshandlung, Seite 147
    41) MÜNSTERBERG, Grundzüge der Psychologie, Seite 15
    42) MÜNSTERBERG, Willenshandlung, Seite 140.
    43) STUMPF, Erscheinung und Funktionen, a. a. O., Seite 9
    44) STUMPF, Erscheinung und Funktionen, Seite 10
    45) Vgl. MÜNSTERBERG, Grundzüge der Psychologie, Seite 49 und Willenshandlung Seite 123.
    46) Vgl. HUSSERL, Log. Unters. II, Seite 339, 133, 361, 40f.
    47) MÜNSTERBERG, Grundzüge der Psychologie, Seite 20
    48) MÜNSTERBERG, Grundzüge der Psychologie, Seite 19f
    49) Vgl. MÜNSTERBERG, Grundzüge der Psychologie, Seite 20
    50) Position of Psych. a. a. O., Seite 642
    51) Position of Psych. a. a. O., Seite 643
    52) Damit ist nichts gegen die psychische Substanz gesagt. Denn das Erlebende kann sehr wohl als Substanz gedacht werden.
    53) Vgl. WILLIAM JAMES, Principles of Psychology, Kap. 12, 1. Bd., Seite 230-237
    54) Gegen die psychische Chemie, vgl. STUMP, Erscheinung und Funktion, a. a. O., Seite 31. JAMES, a. a. O.; DILTHEY, Ideen etc., a. a. O., Seite 1330.
    55) WUNDT, Bemerkungen zur Assoziationslehre, Philosophische Studien, Bd. VII, Seite 353f.
    56) Vgl. a. a. O., Seite 342.
    57) WUNDT, Assoziationslehre, a. a. O., Seite 352.
    58) Vgl. DILTHEY, Ideen etc., a. a. O., Seite 1314. LIPPS, Untersuchen, Kap. 15.
    59) LIPPS, Wege der Psychologie, Zeitschrift für die gesamte Psychologie, Bd. 6, Seite 14
    60) STUMPF, Erscheinung und Funktionen, Seite 9
    61) STUMPF, Gefühlsempfindung, Seite 35
    62) CHRISTIAN von EHRENFELS, Werttheorie I, Seite 49
    63) STUMPF, Erscheinungen und Funktionen, Seite 43
    64) STUMPF, a. a. O., Seite 41
    65) STUMPF, a. a. O., Seite 4f; KÜLPE, Psychologie, Seite 233.
    66) MEINONG, Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werttheorie, Seite 34. Noch viel weniger kann natürlich davon die Rede sein, daß ich mich über den Gegenstand meines Begehrens irren kann. Ein Konzertbesucher, der ins Konzert geht, um gesehen zu werden und nicht der Musik wegen, der aber das letztere vorgibt, irrt sich nicht über den Gegenstand seines Begehrens. Gegen EHRENFELS, Werttheorie I, Seite 105.
    67) FRANZ von BRENTANO, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Seite 118.
    68) Gegen MEINONG, a. a. O., Seite 34
    69) HUSSERL, Logische Untersuchungen II, Seite 372. Vgl. auch Seite 380 und 413.
    70) HUSSERL ist an dieser Stelle von einer merkwürdigen Unklarheit, so daß es schwer fällt, seine eigentliche Meinung zu erkennen.
    71) Gegen HUSSERL II, Seite 463.
    72) Vgl. ebenfalls dagegen PFÄNDER, Einführung in die Psychologie, Seite 229f.
    73) WUNDT, z. B. Assoziationslehre, a. a. O., Seite 357f.
    74) Vgl. HUSSERL, Logische Untersuchungen I, Seie 185f und 245f.
    75) Bei der Besprechung der Psychologie von JAMES, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesempfindung.
    76) MÜNSTERBERG, P. d. W., Seite 16
    77) von EHRENFELS, Werttheorie I, Seite 1.
    78) von EHRENFELS, a. a. O., Seite 4
    79) von EHRENFELS, a. a. O., Seite 4
    80) von EHRENFELS, a. a. O., Seite 4
    81) STUMPF, Einteilung der Wissenschaften
    82) STUMPF, Erscheinung und Funktionen, Seite 27
    83) LIPPS, Psychologische Untersuchungen, Seite 84
    84) LIPPS, a. a. O., Seite 86
    85) von EHRENFELS, Werttheorie I, Seite 66f
    86) STUMPF, Erscheinung und Funktionen, Seite 30
    87) HUSSERL, Logische Untersuchungen II, Seite 370.
    88) vgl. Seite 63
    89) LIPPS, Psychologische Untersuchungen, Seite 75f.