cr-2O. CaspariH. RaeckG. TeichmüllerH. RickertFrischeisen-Köhler    
 
OSWALD WEIDENBACH
Mensch und Wirklichkeit

"Der Geist der Sophistik wird stets und allerorts seine Vertreter haben. Denn er empfiehlt sich durch seine Bequemlichkeit. Wenn alles immer nur Meinung bleibt, so ist es zwecklos, lange nach der Wahrheit zu suchen; eine eigene Meinung hingegen kann man sich leicht anschaffen, und mit je weniger Skrupeln das geschieht, desto vorteilhafter ist es. Aus dem praktischen Leben wachsen dieser Denkart fortwährend neue Kräfte zu; denn in jenem ist der Besitz von persönlichem Eigentum gemeinhin die Hauptsache."

"Indem wir auf das Subjekt als die Ursache des Irrtums zurückgreifen, fassen in ein Wespennest hergebrachter Theorien. Was ist nicht alles das Subjekt gewesen? Und so ist es vor allem der Idealismus und Skeptizismus, die diesen Begriff des Subjekts zu einem uferlosen machen und dadurch den Irrtum von allem Gesetz losbinden. In diesen beiden Theorien drängt sich die Psyche vor. Gesetzlos und überall soll Psyche sein."

"Begriffe wie Wahrnehmung, Erkenntnis, Begriff, Idee, sind es, die zwischen Objektivität und Subjektivität vermitteln. Immer aber ist dies das Wesen des Subjekts: Ursache des Irrtums zu sein. Wir wissen wohl, was auf dem Spiel steht: ist die Emanzipation des Subjektis zur Freiheit gerechtfertigt, so versinkt die Realität samt ihrer absoluten Priorität in das Schattenreich des Irrtums."

"Das empirische Tun und Treiben halte ich für die Wurzel allen Übels. Diese verworrene Vorstufe der echten Erkenntnis ist im Empirismus festgeschrieben. Hier maßt sich das Einzelne bewußterweise die führende Rolle an und gilt als fertiges, selbständiges Wirkliches, während das Gesetz nur eine subjektive Weiterdeutung einer sinnfälligen Seite des Einzelnen sein soll."


Erster Teil
Die Möglichkeit der Wahrheit

1. Kapitel
Das Gesetz der Meinungen;
Definitionen und Erklärungen.

Dasjenige, was über eine Meinung entscheidet, kann nicht selbst wieder Meinung sein. Denn eine solche könnte niemals eine Entscheidung herbeiführen, ob eine Meinung wahr oder falsch ist; im Begriff der Meinung liegen diese beiden Prädikate als gleich-möglich; also kann das Problematische sich nicht selbst den Richterspruch über das Problematische anmaßen; sondern dasjenige, was über wahr und falsch entscheidet, muß selbst eine Instanz der absoluten Wahrheit sein.

Dasjenige, was diese absolute Eigenschaft besitzt, ist die Realität (oder das Sein oder die Wirklichkeit). Die Realität ist also das infallible [unfehlbare - wp], an und für sich Seiende, der entscheidende Gerichtshof über alle Meinungen. Die Realität ist selbst keine Meinung mehr, sondern sie ist das Gesetz der Meinungen. Inbesondere sei bemerkt, daß das Wirkliche (oder Tatsächliche) uns nicht identisch ist mit dem sinnlich Wahrgenommenen, daß es überhaupt nicht beschränkt ist auf irgendeine bestimmte Qualität; sondern wirklich ist all das, wogegen kein Widerspruch besteht, noch je bestehen kann - es sei denn aus Irrtum.

Ein Gesetz ist dasjenige, was eine gewisse Erscheinung an sich bindet und ihre Abfolgen, Reaktionen und Relationen derart bestimmt, daß durch sie die Erscheinung ihre notwendige Stellung in den tatsächlichen Zusammenhängen oder der Wirklichkeit erhält. Eine Erscheinung ist (unbeschadet ihrer sonstigen Selbständigkeit) im Hinblick auf ein bestimmtes Gesetz, unter welchem sie steht, ein Element oder abstrakter Bestandteil dieses Gesetzes.

In diesem Sinn sind die Meinungen, Überzeugungen und philosophischen Systeme Erscheinungen, d. h. Bestandteile ihres Gesetzes, welches die Realität ist.

Denn das Gesetz der Realität knüpft an die Erscheinung der Meinungen die Prädikate wahr und falsch als Konsequenzen. Und sofern Wahres und Falsches in  einer  Meinung vermengt sind,  scheidet  die Realität das Wahre vom Falschen.

Dieser Prozeß braucht nicht gedacht zu werden, um zu existieren - so wenig wie die Realität nur dann sie selbst sein könnte, wenn es eine intellektuelle Anschauung oder eine Identität von Wissen und Sein gäbe. Denn dadurch, daß eine Wirklichkeit angeschaut wird, wird sie nicht tatsächlicher, als sie ohnehin ist, noch wird sie durch eine Leugnung weniger tatsächlich. Das Gesetz der Trägheit hat die meschanischen Erscheinungen auch schon vor GALILEI regiert.

Auch daran nimmt die Wirklichkeit unseres Gesetzes keinen Schaden, daß für die empirische Betrachtung, im "Weltlauf", eine Meinung meist durch eine andere und diese wieder durch eine dritte  Meinung  gerichtet zu werden pflegt. Auch das Trägheitsgesetz gilt, obwohl empirisch weder eine gerade Linie noch eine gleichförmige Bewegung wahrgenommen werden kann.

Die Realität ist eine unendliche komplexe Gesetzheit, in welcher nichts fehlt, was ist, und nichts ist, was nicht in Gesetzen zu allem und jedem stände und darin erst eine Existenz empfänge. Jeder Teil dieser Realität ist so beschaffen, daß er nichts in sich enthält, was gegen die anderen Teile einen absoluten Widerspruch involviert, so daß seine Existenz die alles anderen Seins unmöglich machen oder von ihr unmöglich gemacht würde; vielmehr ist jeder Teil so beschaffen, daß er, so, wie er ist, von allen anderen als notwendig gefordert wird, so daß auch sie selbst nicht existieren könnten, wenn jenes Teilchen fehlte oder nicht so wäre, wie es ist.

Dieser Begriff der Realität ist insofern ein Idealbegriff, als er nicht zum Inventar des unmittelbar Gewissen oder zu dem, was wir wahrnehmen, sobald wir nur Augen und Ohren öffnen, gehört. Er ist aber insofern kein Idealbegriff, als er, wie wir glauben, nicht einer müßigen metaphysischen Spekulation angehört, die sich darin gefällt und genugtut, die Dinge der Welt auch einmal so darzustellen,  als ob  sie der Ausdruck dieses oder jenes Prinzips wären (was sie aber in Wirklichkeit nicht sind). Vielmehr ist der Begriff der Realität ein im strengsten Sinne selbst wirklicher und notwendiger, und wir möchten von ihm das Umgekehrte sagen, was ARISTOTELES von der Philosophie sagt: besser mögen alle anderen sein, notwendiger ist keiner. Dieser Anspruch ist in allem Folgenden nachzuweisen.


2. Kapitel
Das Schicksal philosophischer Systeme

Der Weg zur Wahrheit ist mit den Trümmern philosophischer Systeme angefüllt. Was diese zerschlagen hat, ist, wenn es endgültig war, die Realität gewesen; das  Gesetz  der Meinungen war dann das  Schicksal  der Meinungen. Der Stücke aber, in welche die Systeme zerbrochen worden sind, sind immer zwei, deren jedes uns gleich kostbar erscheint, so verschieden sie auch ihrer Natur nach sind: das eine ein Stück ringenden Menschentums, das andere ein Stück objektiver echter Tatsächlichkeit.

Daran ist kein Zweifel, daß sich jedes philosophische System, auch wohl jede Meinung schon, eine Strecke zumindest mit dem wirklichen Sein deckt. Und insofern in jedem System ein Teil reiner Tatsächlichkeit zu einem unantastbaren gesetzlichen Ausdruck gekommen ist, insofern ist es wahr, insofern haben seine Prinzipien die Gerechtsame [die in einem Recht oder Gesetz gegründete Befugnis - wp] über alle diejenigen Erscheinungen, deren Gesetz sein Inhalt ist.

Aber jedes philosophische System hat die Tendenz, schlechthin  alles  zu entscheiden, und so maßt es sich den Richterspruch auch über solche Tatsächlichkeiten an, über die es nicht entscheiden kann, es sei denn, daß es sie vergewaltigt. Unter der Behauptung, mit seinen Prinzipien "alles wirklich Seiende", alles, was es überhaupt gibt und geben kann, in seinem "eigentlichen Wesen" getroffen zu haben, sucht das System seine Herrschaft in das Unendliche auszudehnen. Das ganze Sein wird aus  einer  bestimmten Wesenheit zu erzeugen gesucht, und man glaubt durch die Genese zugleich die Sicherheit und Bestätigung zu erlangen, in Wahrheit alles in seiner innersten Natur erkannt und definitiv als das erwiesen zu haben, was es wirklich ist.

Diesen überschwänglichen Teil eines philosophischen Systems nennen wir seinen "Roman". Da aber beide Teile, sowohl der, der seinen zureichenden Grund in der Tatsächlichkeit, wie der, der ihn im Menschlichen des Autors hat, zunächst in eine Einheit verschmolzen sind, so drückt der Roman den Wert des  ganzen  Systems zur Meinung herab. Die Anmaßung in der extensiven Anwendung eines Prinzips ist immer der Wahrheit des Prinzips selbst zum Schaden gerechnet worden; eine Sünde dort, wird ein Zweifel hier.

Diese Teilnahme des Richtigen am Schicksal des Falschen erschwert den Prozeß der Wahrheit; denn sind erst einmal fundamentale Fehler eines Systems erkannt, so dauert es nicht lange, bis es ganz und gar dem Zweifel, der Verurteilung und schließlich dem billigen Spott überliefert ist. Es entsteht zunächst wohl ein Zustand des allgemeinen Zweifels oder des Zweifels an allem. Jeder Schritt vorwärts, den wir im Gefüge des alten Systems tun, bringt uns tiefer in das Ungewisse. Denn alle Teile sind innigst mit dem Prinzip verbunden, das sich als falsch erwiesen hat. Die Kohäsion dieser Teile aneinander erweist sich im richtenden Bewußtsein - sonderlich der gleich nachfolgenden Zeitepoche - meist als stärker als ihre Adhäsion [Haftkraft - wp] an die Pole des Wahren und des Falschen.

Aber eine starke Zeit verharrt nicht lange in diesem Zustand des Zweifels; die Realität macht sich als das Schicksal ihrer Meinung geltend. Es wachsen der Zeit neue Gebiete und Probleme zu, sie erarbeitet sich neue Ziele. Und je mehr ihre spekulativen Gedanken dadurch gefesselt werden, je schwerer und verzweigter ihre Aufgaben, desto mehr erhärtet sich in ihr ein neues Wahrheitsbewußtsein. Diese zu gewinnenden neuen Erkenntnisse waren ja auch eigentlich die verborgenen Kräfte, die jene Zweifel erst hervorgerufen hatten, und ihre eigene noch tastende Ungeklärtheit war das Korrelat jenes radikalen Zweifels an allem. Deshalb wird auch mit zunehmender Durchdringung der eigenen Probleme das Urteil über das vorgegangene System gerechter; eine Art kritischer Stufe wird annäherungsweise erreicht, von der aus gesehen sich der Tatsächlichkeitsgehalt des alten Systems deutlicher von seinem Roman abscheidet und seinen eigenen Weg als Teil der Wissenschaft geht.

Nicht immer aber endet der Prozeß mit diesem doppelten Gewinn. Zwei Epochen kennt die Geschichte der Philosophie, wo es ein ganzer Verlust war: die der Sophistik und die der Aufklärungszeit. In diesen beiden merkwürdigen Zeiten, in denen auf fast allen Gebieten der menschliche Geist rückläufig zu werden scheint, hört auch die Realität auf, das ersehnte Ziel der Meinungen zu sein; die Meinung wird als herrschendes Gesetz über die Realität proklamiert. Beide Zeiten erzeugen den Skeptizismus; der Zweifel ist letztes Prinzip, wenn es nicht die Willkür ist; alles ist ihm unterworfen. Nicht, wie es in Wahrheit ist, erscheint die Erkenntnis des Irrtums als bedingt von einer neueren und besseren Wahrheit, sondern alles gilt als  von Natur aus  irrtümlich. Daher wird behauptet, daß es keine Wahrheit gibt, nicht weil sie zu finden bisher mißlungen ist, sondern weil es überhaupt keine Wahrheit geben kann. Der Geist einer solchen Zeit hat keine eigene Mission der Wahrheit gegenüber, er trachtet nicht neuer Erkenntnisse teilhaftig zu werden, sondern zerschlägt allmählich all jene Zusammenhänge der Wesenheiten, die sich in langer Geistesarbeit als die echten und notwendigen herausgestellt hatten. So zerfällt die Welt (die gewußte Welt) mehr und mehr in Einzelheiten. Durch keine Objektivität mehr gebändigt, verliert sich das Wissen in die willkürlichen und stets voneinander abweichenden Meinungen selbständiger Individuen. Anstelle der Wissenschaft tritt das dürftige Dogma des gemeinen Menschenverstandes und regiert überall, wo man den Mut zur ganzen Skepsis nicht besitzt.

Der Geist der Aufklärungszeit greift auf alle Lebensgebiete über; deshalb ist er nicht nur theoretisch durch den Skeptizismus, sondern auch praktisch durch die bittersten Erfahrungen ad absurdum geführt worden. Denn auch Recht und Staat begründen sich in echten  Gesetzen , und wenn sie auf  Meinungen  gestellt werden, beginnt ein Kampf aller gegen alle.

Der Geist der Sophistik und Aufklärungszeit wird aber stets und allerorts seine Vertreter haben. Denn er empfiehlt sich durch seine Bequemlichkeit. Wenn alles immer nur Meinung bleibt, so ist es zwecklos, lange nach der Wahrheit zu suchen; eine "eigene Meinung" hingegen kann man sich leicht anschaffen, und mit je weniger Skrupeln das geschieht, desto vorteilhafter ist es. Aus dem praktischen Leben wachsen dieser Denkart fortwährend neue Kräfte zu; denn in jenem ist der Besitz von persönlichem Eigentum gemeinhin die Hauptsache, das individuelle Ich steht voran und ein Winziges in eigener Hand gilt mehr als ein Unermeßliches in eines anderen Besitz. So eilt dann jeder, auf ein möglichst großes Stück Wahrheit seinen Anspruch zu erheben und die Warheit wird in Fetzen zerrissen und verteilt wie ein Stück Tuch.


3. Kapitel
Skeptizismus und Idealismus

Wir haben gesehen, daß die philosophischen Systeme durch die nachfolgende Entwicklung der Philosophie (sofern diese kein Skeptizismus ist) eine Kritik erfahren, durch welche das Wahre vom Nur-Persönlichen in den Systemen zu trennen gesucht wird. Die Entscheidungen dieser Kritik brauchen nicht absolut wahr zu sein und sind es auch meist nicht. So kann also die Kritik einer Meinung selbst wieder eine Meinung sein und durch eine dritte Instanz beurteilt werden, die auch nur "Meinung" ist - und so fort.

Aus diesem Sachverhalt oder der Tatsache des Immer-Wieder-Irren-Könnens zieht der Skeptizismus wie auch der Idealismus Folgerungen, die beide gleich falsch sind und trotz der Verschiedenheit der Resultate auf ein beiden Disziplinen gemeinsames Dogma hinweisen.

Als Vorstufe des Skeptizismus kann die vulgäre Anschauung gelten, die, wie es auch die Philosophie der Aufklärungszeit immer zu halten geneigt war, das Wirkliche einfach identifiziert mit dem Gehörten, Gesehenen oder Empfundenen. Unter Voraussetzung dieser Identifikation geht der Begriff der Kritik im Begriff der historisch-tatsächlich geschriebenen Kritik auf; und da wohl keine von diesen ganz einwandfrei ist (am wenigsten in den Augen jener empiristischen Dogmatiker, für welche ein Einwand fast schon zu Recht bestand, wenn er fixiert war, und jede Antikritik für erlaubt galt), so folgt unmittelbar, daß immer Meinungen über Meinungen zu Gericht sitzen.

Diese Konsequenz ist aber nicht zwingend, weil ihr Resultat nicht von den wirkenden Ursachen notwendig hergeleitet ist, und sie daher in Bezug auf das zukünftige Verhalten philosophischer Systeme nicht über das Vermuten hinauskommen kann. Erst die Theorie des Skeptizismus gestattet diesen Schluß notwendig, und zwar durch die weiter hinzugenommene Prämisse, daß das Subjekt nicht der etwaige Teilhaber, sondern selbst der eigentliche Schöpfer der sogenannten Wahrheit ist. Durch diese Begründung der empirischen Unvollkommenheiten der Meinungen wird die Lage allen Kampfes um die Wahrheit hoffnungslos, die Möglichkeit des Irrtums prinzipiell und unbedingt und die Wahrheit selbst für immer unerfaßbar und unfeststellbar. Jetzt, unter dem Zeichen des Skeptizismus, sind die schlimmen Erfahrungen über Philosophie und philosophische Kritik nur noch Belege einer theoretisch festgestellten Notwendigkeit.

Freilich ist im Bewußtsein der meisten Vertreter des Skeptizismus der Gang ein umgekehrter: aus dem überall wahrgenommenen Widerspruch der Überzeugungen glauben sie notwendigerweise auf den subjektiven Charakter aller "Wahrheit" schließen zu müssen. Dieser Schluß ist aber nicht richtig, denn aus dem empirischen Tatbestand folgt nur, daß nicht alle zugleich recht haben können, folgt, daß es sicher Irrtum und Subjektives gibt, aber nicht, daß es nur Subjektives, also keine eigentliche Wahrheit geben kann. Jene Skeptiker also glauben durch die Praxis zu ihrer Theorie genötigt zu sein, während umgekehrt erst ihre Theorie jener Praxis den Stempel der Notwendigkeit aufdrückt und den Meinungscharakter der sogenannten Wahrheit perenniert [verstetigt - wp]. Leicht ist es, aus der angeblichen Autonomie des Subjektes die Unmöglichkeit objektiver Wahrheit zu folgern; aber eben jene skeptische Annahme der Autonomie ist unrichtig, und mit ihr fallen die Konsequenzen.

Die Unrichtigkeit des Skeptizismus erhellt sich am besten durch die Konsequenz, die ihn selbst trifft. Denn während er selbst die empirische Erscheinungsweise für fähig und bedürftig einer Theorie hält, die jene meistert, weil sie das Gesetz ausdrückt, das jene regiert - kommt andererseits in seiner Theorie zu einem Resultat, das seinem eigenen Tun widerspricht. Denn der Skeptizismus leugnet, daß eine "objektive" Wahrheit möglich ist, will aber doch selbst in seiner Theorie eine solche objektive Wahrheit geben. Denn mit "subjektiver Wahrheit wäre ihm für seine Person nicht gedient, weil subjektive Wahrheit eben überhaupt keine Wahrheit ist, überhaupt nichts ist, was wirklich gilt und deshalb wissenschaftlichen Wert hätte. "Subjektive" Wahrheit ist koordiniert jedem beliebigen, zufälligen Gutdünken; und so wäre also der Skeptizismus zugleich eine Theorie und keine Theorie.

Die Stellung, zu welcher der  Idealismus  angesichts der vorhandenen Unzulänglichkeit philosophischer Systeme gedrängt wird, ist die, daß die Realität oder das Wirkliche nichts anderes sei als ein Postulat oder ein Normgesetz unseres Wesens. Nicht jedes idealistische System formuliert solchergestalt seine These; aber wir glauben, daß jedes, bei Konfrontation mit der empirischen Sachlage, dahin gebracht werden könnte. Ebenso, wie die Position des Skeptizismus, folgt auch die ebengenannte des Idealismus nicht mit Notwendigkeit aus dem Dasein des Irrtums, sondern vielmehr aus der Grundvoraussetzung des Idealismus: daß das Subjekt der Gesetzgeber des Seins ist. Die durchsichtige Konklusion des Idealismus ist also diese: wenn das Subjekt es ist, das die Gesetze in Natur und Welt macht, und doch Zweifel und Irrtum genug vorhanden sind, so können diese Gesetze nicht im Sinne eines Naturgesetzes dem Subjekt eigen sein (denn diese lassen keine Ausnahme zu), sondern nur im Sinne eines Normgesetzes, eines zu erstrebenden Zieles.

Es ist also das Ethos des Subjekts, das den Imperativ aufstellt: es  soll  Gesetze, es  soll  eine Wirklichkeit geben; denn ohne sie wäre Wissenschaft unmöglich; Wissenschaft aber ist uns Menschen so nötig wie das tägliche Brot. Es ist, das wollen wir nicht vergessen, die Energie des Sittlichen, die diese Gebote trägt und verantwortet; und trotzdem: schließt denn die ethische Berechtigung die logische schon mit ein? Ist das, was für unser inneres Wesen unentbehrlich ist, darum schon objektiv gültig und wirklich? Lacht uns die "wirkliche" Wirklichkeit nicht aus, wenn wir uns soweit erdreisten, daß wir sie verdekretieren wollen? Machen wir im Leben nicht unzählige Male die Erfahrung, daß selbst das Beste und Tiefste in uns uns eine Wirklichkeit vorgetäuscht hat, die es nicht gibt?

Es scheint uns einen Ausweg zu geben, den der Idealismus wählen kann, um seinen Anspruch zu retten. Das wäre die Konstruktion einer optimistischen Metaphysik, etwa die Annahme einer  veracitas dei [Unfähigkeit Gottes uns zu täuschen - wp], die eine Übereinstimmung unseres inneren Wesens mit der ansich seienden Realität garantiert. Aber wie ist es mit solchen Hilfsannahmen: stützen sie wirklich diejenigen Anschauungen, denen sie beistehen sollen, oder werden sie nicht vielmehr von diesen gestützt, deren Schwäche doppelt fühlbar machend? Jedenfalls aber brauchen wir nicht dem Idealismus zu folgen, wenn er diese Zuflucht nimmt. Denn nun ist er es ja nicht mehr, der die Entscheidung über die letzten Prinzipien fällt; er hat sein Mandat in die Hände jener Metaphysik gelegt - und das ist so gut, als ob bisher noch nichts geschehen wäre, denn alle Zweifel und alle Fragen müßten nun noch einmal zur Verhandlung kommen - dieselben Zweifel und dieselben Fragen, um deren Lösung willen der Idealismus einst auf den Plan getreten war. Der Idealismus hat jetzt seinen Bankrott erklärt.

Der Unterschied zwischen Skeptizismus und Idealismus ist also untergeordneter Natur; er liegt eigentlich nur in den verschiedenen moralischen Färbungen desselben Dogmas von der Maßgeblichkeit des Subjekts.

Zwischen Skeptizismus und Idealismus besteht seit alters her ein Kampf; während jener die Möglichkeit der Wissenschaft und Wahrheit leugnet, sucht dieser sie aufrechzuerhalten und zu verteidigen. Sie bekämpfen sich gegenseitig ihre Konsequenzen und bemerken doch beide nicht, daß sie eine tiefliegende Voraussetzung gemeinsam haben, so daß sich der endgültige Sieg keiner Partei zuwenden kann. Der Idealismus zeigt das Unzulängliche des Empirismus, dieser historischen und logischen Vorform des Skeptizismus; zeigt, daß es mit dem bloßen sinnlichen Wahrnehmen und dem Addieren des Einzelnen zum Einzelnen nicht getan ist, zeigt wohl auch die absurden Konsequenzen und die Unabwendbarkeit völliger Skepsis, da wo es der Empirismus selbst (wie bei JOHN STUART MILL) einmal vergessen sollte. Nun aber nimmt der Idealismus schwerwiegenderweise alle Momente, durch die er des Empirismus Herr werden will, aus dem Arsenal des Subjekts oder restringiert [beschränkt - wp] sie doch wenigstens in irgendeiner Form auf das Subjekt. Und dadurch wird der Idealismus wieder verarbeitbar für den Empirismus (HERBERT SPENCER); ja er liefert sich selbst dem Skeptizismus in die Arme. Denn schließlich behaupten die Prinzipien des Idealismus auch nichts anderes, als daß die Meinung des Subjekts (der allerdings, wie gesagt, ein gewisser ethischer oder metaphysischer Zwang zugrunde liegen mag) maßgebend ist für die Form, wenn nicht den Inhalt des Seins. Wir wissen, daß der Idealismus tausend Ausflüchte macht, um dieser Konsequenz zu entgehen; wir wissen aber auch (und werden später noch davon reden), daß keine von ihnen das leistet, was sie leisten soll. Denn ein prinzipieller Fehler läßt sich durch nachträgliche Korrekturen wohl verbergen, aber niemals wieder gutmachen. Keines der Taue, mit denen der Idealismus das Schiff der Erkenntnis an die Boje der Wahrheit befestigt, ist der abtreibenden Strömung des Skeptizismus gewachsen. - Wie ist nun Wahrheit möglich? Wie müssen gewisse allgemeine Theoreme beschaffen sein, damit sie nicht alle Wahrheit vereiteln? Es ist ein Trost, daß auch der Skeptizismus nicht den Sieg behalten kann, denn er vernichtet sich selbst. Was aber ist nun das Rechte, wenn weder Skeptizismus noch Idealismus recht haben?


4. Kapitel
Die Realität

Es ist die gemeinsame Voraussetzung von Skeptizismus und Idealismus, welche es unmöglich macht, daß diese Theorien ihr Ziel: die Wahrheit erreichen. Denn eine Theorie, die alle Wahrheit unmöglich macht, kann selbst nicht wahr sein.

Jenen beiden Theorien gilt das Subjekt nicht als eine Besonderheit, die als solche an irgendetwas ihre Grenze hätte und deshalb als gesetzmäßiger Teil eines größeren Ganzen gefaßt werden müßte, sondern das Subjekt wird ihnen, vermittelt durch den Mechanismus des Erkennens, zur Natur allen Seins; die innere Verfassung des Subjekts, die Immer-Irren-Könnende und die Immer-Nach-Wahrheit-Strebende wird übertragen auf die Wirklichkeit, so daß auch die Wirklichkeit ihrer Natur nach entweder etwas Schwankendes und Ungewisses oder etwas Pathetisches ist. Immer aber ist sie das Geschöpf des Subjektes.

Diese Überspannung der Wesenheit des Subjekts ist das, was wir im Allgemeinen und in Bezug auf alle philosophischen Systeme den "Roman derselben genannt haben. Das Dogma des Subjektes trägt überhaupt dieselben charakteristischen Züge wie irgendein anderes.

Alle Dogmen sind Usurpatoren [Eindringlinge - wp], die ein Reich okkupieren [erobern - wp] wollen, das zu beherrschen sie nicht befugt, weil nicht befähigt sind, und haben ihren Ursprung in der Schrankenlosigkeit und Unbestimmtheit des eigenen Ausgangspunktes. Die philosophischen Dogmen, als die umfassendsten, suchen alles Wirkliche schlechthin an sich zu bringen (1). Aber es gibt keine Machenschaften, durch die ein Dogma sich endgültig  den  Platz sichern könnte, welcher der Wirklichkeit selbst gehört. Es sind die unerfüllbaren Pflichten dieses Platzes, durch die die Jllegitimität der verschiedenen Prätendenten [Beansprucher - wp] sich offenbar macht.

In unserem Fall ist es das Subjekt, welches mit der Wirklichkeit um die Priorität (2) ringt. Was von beiden ist das schlechthin Maßgebliche, dasjenige, dem sich das andere ganz und gar fügen muß, wie der Teil seinem Ganzen, wie die Art ihrer echten Gattung? Diktiert das Subjekt der Wirklichkeit die Gesetze, oder umschließt die Wirklichkeit das Subjekt mit eiserner Hand, so daß es Form und Stellung, Charakter und Grenze von ihr erhält?

Der Versuch des Subjekts, in diesem Kampf die absolute Priorität (3) an sich zu reißen, scheitert an den Unhaltbarkeiten und Widersprüchen, die sich dabei ergeben. Ist nicht das Subjekt ein Bestandteil der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit ein Bestandteil des Subjekts, so entscheidet über Wahrheit und Falschheit der Meinung wiederum die Meinung oder das Subjekt als die angebliche Wirklichkeit. Daher fallen unter diesen Umständen Wahrheit und Irrtum in eines zusammen; beide sind nichts als psychische Intensitäten, und es gibt nichts, was noch eine Unterscheidung dieser beiden Begriffe, für welche jedes Kriterium der Unterscheidung fehlt, ihrem alten Sinn entsprechend, ermöglichte. Was dann noch vorhanden ist, ist nur ein blindes Emporwuchern von Gedanken, ohne Ziel, ohne Zweck, ohne Kampf und ohne Möglichkeit der Entscheidung; und somit befänden wir uns, ohne es gewollt zu haben, im Reich der Sophistik und des Skeptizismus.

Wie aber ist es umgekehrt, wenn der Wirklichkeit die absolute Priorität eingeräumt wird?

Wir kommen hiermit zur Realität.

Das Gesetz der Realität kann kein Normgesetz sein, weil ein Normgesetz überhaupt das Beste unerfüllt läßt: es gibt und will keine logische Genugtuung für seine beanspruchte objektive Gültigkeit geben. Aber auch ein Naturgesetz scheint unser Gesetz nicht zu sein, denn erstens beschränken sich die Erscheinungen dessen, was wir Natur zu nennen gewohnt sind, auf ein anderes Gebiet, als uns hier vorliegt, und zweitens duldet der Begriff des Naturgesetzes keine Ausnahme vom Gesetz - diese aber scheinen hier auf der Hand zu liegen. Jenes erste Bedenken ist terminologischer Art und ist berechtigt; wir werden deshalb unser Gesetz nicht ein Naturgesetz nennen. Was jedoch den zweiten Punkt anlangt, so erscheint uns diese Einwendung nicht stichhaltig; die Realität ist ein echtes, ausnahmsloses Gesetz, genau wie das Naturgesetz.

Wo immer man von einer Ausnahme vom Gesetz redet, da ist zu untersuchen, ob das, was man als Ausnahme in die Waagschale wirft, eine echte oder nur eine scheinbare Ausnahme ist. Wir weisen auf ein bekanntes Beispiel aus der Geschichte der Wissenschaften hin: der Astronom BESSEL hatte die Ungültigkeit des NEWTONschen Gravitationsgesetzes aus beobachteten Unregelmäßigkeit der Uranusbahn gefolgert. Es zeigte sich aber, daß ein noch unbekannter Planet (Neptun) schuld an diesen Abweichungen gewesen war; und zwar war seine, des NEPTUNs Existenz durch LEVERRIER gerade unter Zugrundelegung des NEWTONschen Gesetzes noch vor der direkten Beobachtung des neuen Planeten richtig berechnet worden aus jenen Abweichungen der Uranusbahn. Also haben hier die beobachteten "Unregelmäßigkeiten" nicht nur nichts gegen das Gravitationsgesetz bewiesen, sondern haben, umgekehrt, erst mit Hilfe dieses Gesetzes ihre richtige Erklärung finden können. Es ist also immer zu fragen, in welcher Weise die Erscheinungen interpretiert werden, wenn "Ausnahmen" wahrgenommen werden.

Auch in unserem Fall kann die scheinbare Ausnahme vom Gesetz der Realität, nämlich das Auftreten des Irrtums in der Erscheinung der Meinung, so interpretiert werden, daß dadurch das Gesetz der Realität als falsch und ungültig erscheint. So etwas tut der Skeptizismus. Es kann aber auch hier nachgewiesen werden, daß diese Interpretation falsch ist.

Nehmen wir an, daß die Irrtümlichkeit der skeptishen Erklärungsweise ebenso glänzend bewiesen wäre, wie die BESSELs, so scheint es uns der Klarheit zu dienen, sich der Analogien in diesen falschen Interpretationen gesondert bewußt zu werden. In unserem Fall, wie in dem oben erwähnten Beispiel von BESSEL, ist es ein empirischer Tatbestand, der zum Widerspruch gegen ein altbewährtes Gesetz auffordert. Hier wie dort glaubt man der Änderung dieses Gesetzes zu bedürfen, um jenen empirischen Tatbestand erklären zu können; es zeigt sich aber, daß das Hinzukommen einer neuen, einzelnen Wesenheit ausreicht, die fragliche Erklärung zu leisten (diese Wesenheit ist bei BESSEL der Neptun als bewegungsbestimmender, bei uns das Subjekt als meinungsbestimmender Faktor, und diese Faktoren sind die zureichende Ursache dort der Abweichungen der Uranusbahn, hier der Irrtümer). Es zeigt sich ferner, daß die neuen Wesenheiten nur möglich sind unter der Voraussetzung der Gültigkeit jener als unrichtig verketzerten Prinzipien oder Gesetze, daß ihre Existenz also die Richtigkeit dieser bestätigt. Und schließlich zeigt sich, daß die von der anderen Seite versuchte Änderung der obersten Gesetze zu einer allgemeinen Verwirrung und zu Widersprüchen führt, infolgedessen also die von ihnen gegebene Interpretation der empirischen Annahmen nicht mit den richtigen Mitteln geschehen sein kann. Und allgemein psychologisch sehen wir, daß in den beiden Fällen der falschen Auskunft das Unmittelbare, d. h. das Empirische oder das physische Nächstliegende (dort die beobachteten Bahnelemente, hier der beobachtete Irrtum), in das Prinzipielle erhoben wird und als ganzes, ungeteiltes Phänomen nun Anderes erklären will, während es doch das zu Zerlegende und zu erklärende ist. - Und, wie immer, sind es auch in diesen beiden Fällen hier  zwei  Wahrheiten, die durch die Überwindung einer falschen Theorie gewonnen werden: einerseits die neue Bestätigung eines alten autoritativen Gesetzes, andererseits die Kenntnis oder richtige Erkenntnis eines Wirklichkeitselementes (des Neptuns, bzw. des Subjekts).

Sowenig die Abweichungen der Uranusbahn eine Ausnahme vom Gravitationsgesetz sind, so wenig muß der Irrtum eine Ausnahme von der Gültigkeit der Realität darstellen; und wie Gravitation als das Wesen der kosmischen Materie die Bedingung der Möglichkeit der Existenz des Planeten Neptun ist und damit der Bahnabweichungen seines Nachbarn, so kann auch Realität die Bedingung der Existenzmöglichkeit des Subjekts und damit des Irrtums sein.

Daß dem so ist, erhellt sich erstens aus der gegnerischen Ansicht, dem Skeptizismus, dessen Falschheit auf der Hand liegt; zweitens aus der Unentbehrlichkeit der Realität für alles und jedes; drittens aus der unmittelbaren Bewährung der Realität auch im vorliegenden Fall als absolute Voraussetzung.

Den zweiten Punkt, das Entsprechende der NEWTONschen Leistung, glauben wir uns in unserer Sachlage und an diesem Ort sparen zu dürfen. Denn es ist in der Geschichte der Philosophie oft genug auf die großen gesetzmäßigen Zusammenhänge als die Bedingung des Einzelnen hingewiesen worden. Weder könnte dieses Stäubchen sein und so sein, wie es ist, wenn nicht der ganze Kosmos wäre mit seinen Gesetzen; noch könnte irgendein bestimmter Zweck existieren, wenn Gott nicht existiert, und wenn dieser ein anderer wäre, müßte es auch jener sein. Freilich finden wir, daß diese Hinweise fast immer einseitig und mit einem Dogma verknüpft gewesen sind, und daß selbst SPINOZA der Universalität dieses Gedankens nicht gerecht geworden ist, indem er die erkennbaren Attribute auf zwei beschränkte und die notwendigen Abfolgen auf ein zeitliches Geschehen. Aber immerhin, wir glauben auch, trotz dieser Mängel verstanden und gebilligt zu werden, wenn wir sagen, daß die Realität als absolute Gesetztheit die Bedingung der Möglichkeit aller Wesenheit und Erscheinungen ist.

Was wir dagegen im Besonderen hervorheben wollen, das ist, analog zu LEVERRIERs Arbeit, der Umstand, daß es gerade das durch den Skeptizismus geleugnete Gesetz der Realität ist, welches sich auch als die Bedingung der Möglichkeit  der  Erscheinung herausstellt, die dem Skeptizismus die Waffe in die Hand gedrückt hatte. In dieser Leistung zeigt sich das Gesetz der Realität seinem Gegner innerlichst überlegen; denn würde es dabei sein Bewenden haben, daß des Gegners Anschauung (also der Skeptizismus) sich in Widersprüche verwickelt und das angegriffene Gesetz der Realität sich als unentbehrlich für so und so viele Erscheinungen erweist, ohne daß es ihm gelingt, die  Veranlassung  des gegnerischen Angriffs zu eliminieren, so wäre wohl die Falschheit der gegnerischen, aber nicht die Richtigkeit der eigenen Theorie erwiesen.

Nun ist es sehr einfach und einleuchtend, daß der empirisch vorhandene Irrtum nur erklärlich ist als gesetzmäßige Erscheinung, notwendig verursacht durch das Subjekt; erklärlich also nur unter Anerkennung der Realität, als der Gesetzheit schlechthin.

Aber diese einfache Erkenntnis wird fast überall nachträglich widerrufen. Wir sind ja nicht in der günstigen lage wie LEVERRIER, der ein neues Gestirn als die unumstrittene Ursache der fraglichen Abweichungen ausfindig machen durfte; wir, indem wir auf das Subjekt als die Ursache des Irrtums zurückgreifen, fassen in ein Wespennest hergebrachter Theorien. Was ist nicht alles das Subjekt gewesen; wo ist eine Stelle in diesem Begriff, die nicht umkleidet wäre mit der Last weitausschauender Metaphysik?

Und so ist es vor allem der Idealismus und Skeptizismus, die diesen Begriff des Subjekts zu einem uferlosen machen und dadurch den Irrtum von allem Gesetz losbinden. In diesen beiden Theorien drängt sich die Psyche vor; es ist nicht so, daß die Qualität "Psyche" da eintritt, wo der gewöhnliche Lauf der Objekte gebrochen und durch "Assoziationen" unter einer Bildung von Irrtum Fragmente zu anderen Fragmenten des Wirklichen hingeleitet werden, sondern gesetzlos und überall soll "Psyche" sein.

Wenn aber die Realität die absolute Voraussetzung des Subjekts und des Irrtums ist, so heißt das soviel, als daß es kein Subjekt geben kann ohne vorherige Realität, so wenig wie einen Teil ohne ein Ganzes; und es kommt alles darauf an, das Subjekt als  Glied  dieses Ganzen (der Realität) zu begreifen, und zu erkennen, daß es außerdem nichts ist.

Einerseits ist das Subjekt gefordert durch die Widersprüche der ursprünglichen Wirklichkeitsfragmente, denn diese wären unlösbar ohne die Annahme eines Subjektes, d. h. eines Etwas, das der zureichende Grund all  der  Unstimmigkeiten ist, die nicht bloß in der natürlichen Gegensätzlichkeit der Arten einer Gattung bestehen. Erst das Faktum des Irrens und die Wirklichkeit des Subjekts als seiner Ursache machen eine  Objektivität  möglich.

Und andererseits hängt auch die Möglichkeit des Subjekts von der Wirklichkeit der Objekte ab, weil nichts existiert, das nicht notwendig existiert. Notwendig aber wird das Subjektive allein durch die Erfüllung einer gesetzlichen Funktion in den Zusammenhängen des Seins, und diese ist dem Subjekt durch jene sonst absoluten Widersprüche im Objektiven vorgeschrieben. So ergänzen sich Subjektivität und Objektivitäten zu einem Ganzen, in welchem kein Teil ohne den anderen möglich wäre; dieses Ganze ist die Realität.

Alle Versuche, die man macht, um dem Subjekt eine oder noch eine andere Rolle zuzuschreiben, als die Wirklichkeit ihm zudiktiert, führen zu Widersprüchen und sind so durch die empirischen Kriterien der Wahrheit gerichtet.

Wir sind jetzt in der Lage, die Widerlegung der falschen Theorien über das Subjekt auf einen noch besseren Grund zu stellen, als es die Widersprüche sich ergebender Konsequenzen sind. Es ist nämlich zu sagen, daß schon die Entstehung der subjektiven Übertheorien an und für sich unmöglich ist. Denn ihr Argument besteht aus Begriffen, die unter den von ihnen angenommenen Verhältnissen zu einem sinnlosen Schall herabsinken, so daß schon die Thesis selbst ein bloß papiernes Gebäude ist. Denn sobald das Subjekt als Schöpfer der Realität die absolute Priorität beansprucht, und es nirgends mehr eine eigentliche Wirklichkeit, sondern überall nur mehr "Meinung" an ihrer Stelle gibt, dann - oder vielmehr eben schon vorher hat das Subjekt den Boden unter den Füßen verloren, auf dem allein seine eigene Wirklichkeit stehen kann. Das Subjekt  kann  nicht der absolute Anfang und Ursprung des Seins sein, weil es nicht das Ganze ist. Wenn anders der Begriff des Subjekts einen bestimmten Sinn und eine bestimmte Bedeutung hat, ist er determiniert durch ein Anderssein; und da etwas nicht früher sein kann als alle seine Bedingungen, so kann auch das Subjekt nicht früher existieren als sein Determinans [bestimmender Faktor - wp] - und das ist die ganze Objektivität. Ein Subjekt also, das, ohne Voraussetzung, durch  causa sui [Grund aus sich selbst - wp] ein absoluter Anfang wäre, bricht in sich zusammen (4). - Freilich soll nicht geleugnet werden, daß bei manchen Philosophen der Begriff des Subjekts nicht immer den Sinn einer Bestimmtheit hat. In einem solchen Fall (z. B. bei FICHTE) ist es dann nur noch ein anderes Wort für Realität und wird wie diese als  Bedingung  der Möglichkeit aller Bestimmtheit gebraucht. Allerdings gebrauchen diese Philosophen an anderen Stellen das Wort  Subjekt  wieder in seinem guten alten Sinn - ja, man kann sagen, daß es nur eigentlich diese versteckte Doppelheit im Subjekt-Begriff ist, die dem Autor Anlaß zur Evolution seines Systems gibt.


1. Allgemeine Anmerkung

Es ist über das Verhältnis der Realität zu den einzelnen Wesenheiten, mit Bezug auf die Art der empirischen Erscheinung, folgendes zu sagen: Die Realität tritt gemeinhin nicht unmittelbar, sondern als  letzte  Bedingung der Möglichkeit einer Wesenheit auf. Zuerst sind es konkrete Gesetzheiten kleineren, dann größeren Umfangs, welche als Teilwirklichkeiten des Seins die Wesenheiten in sich aufnehmen. Diese aufnehmenden Wirklichkeiten sind die echten Gesetze der aufgenommenen Wirklichkeiten, sie sind nicht nur die Möglichkeit dieser selbst, sondern auch die ihrer Gegensätze, denn die aufgenommene Wirklichkeit samt ihren Gegensätzen bilden die Arten der aufnehmenden Wirklichkeit als ihrer echten Gattung.

Bliebe dieser aufsteigende Weg immer beibehalten, so führte er direkt auf die Realität als die Bedingung der Möglichkeit schlechthin aller Wesenheiten (welchen Umfangs auch immer); er führte an einen Ort, den man auch als den geometrischen Ord der Relativität aller und jeder Gegensätzlichkeit definieren könnte.

Aber auch diesem Weg ist überall eine Ausbiegung und Abirrung möglich, und das Dogma kann jederzeit wieder Einfluß erlangen, auch wenn die Bestimmung der unteren Wesenheiten ansich echt und richtig ist. Sind aber die oberen Prinzipien voll des Irrtums (und also keine echten Gesetze ihres Gehaltes mehr), so bedrohen sich auch alle unter sich gestellten Gesetze und Wesenheiten, am eigenen Schicksal teilnehmen zu lassen: das ist, sie zur Meinung, zum bloßen subjektiven Dafürhalten, zu degradieren - wie auch ein falscher Begriff des Wirklichen überhaupt immer alles verdorben hat, was auch sonst noch der Inhalt eines philosophischen Systems gewesen sein mag. Erst wenn die Teilwirklichkeiten, Gesetze oder Prinzipien oder wie man sie nennen will, in die Realität als die Totalität der Bedingungen der Möglichkeit der Erscheinungen aufgenommen sind, ist eine nachkommende Verkehrung durch Dogmatismus nicht mehr möglich, weil nun schlechthin alles seinen gesetzmäßigen Platz eingenommen hat. Auch dem letzten großen Angriff, der alle Wissenschaft wieder aufzulösen droht, dem Skeptizismus, ist hier Gerechtigkeit widerfahren, er hat seinen definitiven Platz als irrtümliche Theorie in der Wirklichkeit des Subjekts erhalten. Und diese Einordnung ist dadurch möglich, daß in der Realität auch die bis dahin absoluten Gegensätze des Subjekts und Objekts überwunden worden sind. Diese beugten sich erst der  letzten  Einheit: der Gesetzheit überhaupt. So ist die Realität dasjenige, dem sich alles unterordnet, das das selbst nicht wieder untergeordnet werden kann - (wer es versucht, wie z. B. der Idealismus, verfällt mit Notwendigkeit dem Irrtum). Die Realität ist die letzte Bedingung der Existenz eines jeden Etwas. Sie ist das, was bei HEGEL durch das "reine Wissen", mit dessen Geburt HEGELs  Phänomenologie  schließt, bezeichnet ist, was auf religiösem Gebiet und in religiöser Weise durch die "Erlösung" erreichbar werden soll.


2. Allgemeine Anmerkung

Eine Folge, die sich aus der Priorität der Realität ergibt, ist die Limitierung des Zweifels. Eine Wesenheit im Zwielicht subjektiven Wissens, also sofern man sie als Gegenstand eines Subjektes (als gewußten Inhalt eines Bewußtseins) denkt, heißt  empirisch  oder  Erscheinung.  Nun kann, was auch immer es ist, als Erscheinung gedacht werden, also als zweifelhaft, denn im Begriff der Erscheinung sind die Faktoren des Objektiven und des bloß Subjektiven noch ungeschieden. Aber aus dieser Möglichkeit folgt noch nicht, daß alles zweifelhaft ist, daß die Behauptung des Erscheinungscharakters für alle Fälle zu Recht bestehen muß. Wer das behauptet, macht sich selbst des Irrtum schuldig. Denn das Recht des Zweifels ist an die Stichhaltigkeit von Gründen gebunden, aus denen gezweifelt wird. Wer dieses Kriterium nicht anerkennen will, so daß für ihn also die objektive Möglichkeit des Zweifels unter keinem Gesetz mehr steht, der würde durch den Zweifel, der dann auch seine eigene Behauptung träfe und durch nichts mehr zurückgescheucht werden könnte, darüber belehrt werden, daß gerade er in seinem Hyperkritizismus zum Dogmatiker des Skeptizismus geworden ist.

Der Inhalt einer Meinung ist ansich weder falsch noch wahr, weder Subjektivität noch Objektivität. Er ist, wie die Erscheinung, das Unentschiedene, das erst vor dem Richterstuhl der Wirklichkeit, d. h. der weiteren gesetzlichen Zusammenhänge als dieses oder jenes erkannt wird. Es ist auch nicht so, wie man fast in jedem philosophischen System erfährt, daß alles "zunächst subjektiv" sei. Das  proton pseudos das dann zum Dogma des Idealismus führt. Es ist nicht richtig, daß alles "zunächst subjektiv" ist; diese Ansicht entsteht erst durch eine schiefe Reflexion, eine Reflexion auf uns selbst, nicht auf die Sache, und es ist das psychologische, nicht das logische Interesse, was hier - nur allzu erklärlich und ausschließlich - zu Wort gekommen ist. Das Gegebene oder ursprüngliche Tatsächlichkeitsfragment ist das, was es ist, nichts weiteres noch anderes; es ist ein Bestandteil der Realität, sei es nun des subjektiven oder des objektiven Komplexes derselben. Welchen von diesen beiden es im bestimmten Fall zuzuordnen ist, ergibt sich aus seinem Verhältnis zu allen übrigen Tatsächlichkeiten. Erst die entstehenden Widersprüche führen dazu, etwas den subjektiven Bestandteilen des Seins beizuordnen. Im Vorhinein aber zu behaupten, daß etwas, und vollends, daß alles subjektive  ist,  ist eine Hypothese, die - wie jede andere zu bestimmten Erklärungszwecken gebildet - auch den gewöhnlichen Hypothesentod durch eine Verwicklung in absolute Widersprüche stirbt.



Fortsetzung des Textes

Die Existenz und die gesetzmäßige Stellung des Subjektes innerhalb der Realität, als seiner absoluten Priorität, ist, wie wir gesehen haben, durch den Irrtum gegründet und festgelegt, sowie z. B. die Existenz des Sauerstoffs durch gewisse Vorkommnisse in den chemischen und physikalischen Zusammenhängen gefordert und bedingt ist.

Das Subjekt ist, sofern es eine notwendige Stellung hat, ein Bestandteil der Wirklichkeit wie irgendein anderer. Der spezifische Charakter desselben äußert sich in den unendlich vielen Beziehungen zu allem Andersseienden. Begriffe wie  Wahrnehmung, Erkenntnis, Begriff, Idee sind es, die zwischen Objektivität und Subjektivität vermitteln und auf der letzteren Eigentümlichkeit und und Dasein den von anderen Regionen herkommenden Wanderer vorbereiten. Immer aber ist dies das Wesen des Subjekts: Ursache des Irrtums zu sein.

Nachdem wir in der ersten Hälfte des Kapitels gesehen haben, wie der Begriff des Subjekts durch die Realität bestimmt ist, fragt es sich nun, wie das Subjekt, das doch die Substanz so unendlich vieler positiver Leistungen zu sein scheint, mit diesem ihm von der Realität angewiesenen Platz auskommt. Zertrümmert es seine einschließenden Bedingungen oder fügt es sich ihnen? Wir wissen wohl, was auf dem Spiel steht: ist die Emanzipation des Subjektis zur Freiheit gerechtfertigt, so versinkt die Realität samt ihrer absoluten Priorität in das Schattenreich des Irrtums.

Es handelt sich hier für uns um die Erklärung der großen Rolle, die das Subjekt im Empirischen spielt. - Die Empirie ist das Reich der Einzelheiten; ihr sind die einzelnen Subjekte, die lebendigen Individuen, das Fleisch und das Blut, die Träger aller Wirklichkeit. Der Begriff des Subjekts ist dann ein "Abstraktum", von den einzelnen "wirklichen" Ichen abgezogen - und wer so denkt und solches für richtig hält, hat auch ARISTOTELES, den Verfasser der Analytik, auf seiner Seite. Dann ist also das Individuum die höchste vorhandene Potenz des Positiven; denn alle Gesetze und Begriffe werden durch einen Abzug davon gewonnen, sind Stücke aus jener "konkreten" Einheit.

Aber schon um die einzelnen Subjekte voneinander unterscheiden zu können, bedarf man, scheint uns, Mittel der Unterscheidung, die jenseits jener individuellen Einheiten liegen. Woran erkenne ich einen  A,  woran einen  B?  Weder eine geistige noch eine körperliche Physiognomie kann deutlich werden, es sei denn durch ihre Grenzen. Und wo laufen die Grenzen einer geistigen Individualität? Dort, wo ihr Verständnis, ihre Aufnahmefähigkeit, ihr Urteil aufhört, sich mit der Objektivität zu decken. Also schon die Bestimmung des Einzelnen als solchem setzt den Irrtum als Kriterium voraus. Man denke sich den Vorgang der Unterscheidung  in praxi  nur nicht so plump und deutlich, wie er hier geschildert ist. Die geistigen Grenzen eines Individuums teilen sich allen seinen Urteilen mit; sie machen die bestimmte Färbung aus, in der ein jeder alle Dinge der Welt zu sehen pflegt, und die wir schon an den ersten und einfachsten Worten des anderen herausspüren. Es ist nicht nötig, daß einer erst eines Irrtums überführt werden muß, bevor wir ihn entscheidend erkennen, aber immer ist es die Möglichkeit des Irrens, sein geheimer Dogmatismus, die seinen Urteilen und Anschauungen das Spezifische geben. Dieser Begrenzung des anderen kommt dann noch unsere eigene zupaß. Indem auch wir selber in unserer einseitigen Art schauen und urteilen, ergeben sich die Punkte der Gegensätzlichkeit zur Bestimmung der anderen Individualität noch häufiger und rascher, als es ohnehin geschehen würde.

Ebenso wie mit dem Einzelnen verhält es sich mit der Menschheit als Gattung. Entstünde nie eine Differenz zwischen der Objektivität und unserer Meinung, wäre nie eine Schrankenhaftigkeit unseres Bewußtseins gegenüber der unendlichen Kontinuität der objektiven Abfolgen vorhanden, kurz also: hätten "wir" eine Identität von Wissen und Sein, so gäbe es keine "wir" und keine "ich". Es fehlte die Möglichkeit der Unterscheidung und der Spezifikation, es fehlte jeder zureichende Grund dafür. Und wir pflegen ja auch selbst einen, dessen Irrtumsgrenze weiter hinausgeschoben ist als gewöhnlich, der also noch objektiv-wahr urteilt, wo wir schon subjektiv-falsch urteilen, unter die "Göttlichen" zu versetzen, meinend, daß ein Gott, und nur ein Gott, frei von irrtumserzeugender Besonderheit sein kann.

Ist nun aber so die Individualität des Einzelnen durch die Einflüsse seines, seinem Wesen angeborenen Dogmatismus erkennbar und festhaltbar, so ist es ein gewöhnlicher Vorgang, nun seine einzelne Person auch als den Träger seiner positiven Leistungen, seiner Leistungen, sofern sie seine Objektivität enthalten, anzusehen.

Die Übertragung einer Bezeichnung auf einen anderen Inhalt, wie sie hier vorliegt, ist eine Erfahrung, die man überall machen kann. Sie beruth auf einer Art Ökonomie des empirischen Denkens, die ebenso lange wie möglich alte Schläuche für neuen Wein benutzt. Und da ohne Zweifel die Beziehungen von einem Ich zum andern und die Besonderheiten der Einzelnen zeitlich das Erste ist, worauf wir merken und wovon wir Begriffe haben, so bleiben diese Begriffsformen im Gebrauch, auch wenn das Gemeinte nichts weniger als das Spezifisch-Subjektive eines bestimmten Einzelnen bezeichnen soll.

So reden wir also von der Macht einer Persönlichkeit, wo es doch allein das Quantum echter Tatsächlichkeit, reiner Sachlichkeit, dessen jene Persönlichkeit teilhaft war, gewesen ist, was Macht und Erfolg gehabt hat. So reden wir auch von "Erkenntnissen", wenn gerade der Umstand, daß etwas "erkannt" ist, zu ignorieren ist, weil wir ein irrtumsfreies Sich-So-Verhalten meinen; von "Begriffen", wenn reale Wesenheiten, von "Wahrheit", wenn pure Tatsächlichkeit - ohne jede Rücksicht auf ihre Stellung im geistigen Kampf der Menschen - das ist, was wir bezeichnen wollen.

In allen diesen Fällen sind die Begriffe uneigentliche Gattungsbegriffe ihres Inhaltes, d. h. Gattungen, welche nicht die absolute Priorität (oder das echte Gesetz oder die Bedingung der Möglichkeit) des ihnen Untergeordneten sind noch sein wollen, welches sie vielmehr unter eine ganz andere Rubrik und Abhängigkeit stellen, als beabsichtigt ist.

Vergessen wir also nicht, daß jene Begriffe als uneigentliche Gattungen gebraucht werden, und wir werden keinen Schaden haben! Derjenige aber, der auch  sub specie aeternitatis [im Licht der Ewigkeit - wp] nicht gewahr wird, daß es solche inadäquate Ausdrucksformen sind, der schleppt an seinen Gedankenformen den ganzen unklaren Wulst der empirischen Trübsal mit in die  prima philosophia  [erste Philosophie - wp] hinein und gerät in eine Verstrickung, die er  nun  nicht mehr hinter sich bringen kann. (5)

Dann finden wir in der Philosophie allerlei monströse Gestalten und mehr als  eine  Zweideutigkeit der Begriffe. Was ist (wir haben schon darauf hingewiesen) z. B. das Subjekt nicht alles im Idealismus: vom Menschlichsten bis zum Göttlichsten und bis zur Erhebung in den Rang des Seins überhaupt (das Ich setzt das Ich und das Nicht-Ich! Und doch ergibt sich all das mit Notwendigkeit für den, der zur Wahrheit will und nicht innerlichst mit dem Wesen der Empirie bricht.

Das empirische Tun und Treiben halte ich für die Wurzel allen Übels. Diese verworrene Vorstufe der echten Erkenntnis ist kodifiziert [normiert - wp] im Empirismus. Hier maßt sich das Einzelne bewußterweise die führende Rolle an und gilt als fertiges, selbständiges Wirkliches, während das Gesetz nur eine subjektive Weiterdeutung einer sinnfälligen Seite des Einzelnen sein soll. In der Wahrheit freilich ist das sinnlich wahrnehmbare Einzelding ein Abstraktum; es ist herausgebrochen aus einer das Sein ganz erfüllenden Mannigfaltigkeit sich verwebender Gesetze, welche in ihrer Gesamtheit die absolute Voraussetzung jedes Einzelnen als eines ihrer Teile sind. Anders der Empirismus. Was nach ihm das Einzelding als Mittelpunkt umgibt, sind Phantasmata; vielleicht sind es unter Umständen schimmernde, bewundernswerte Gloriolen; aber auch diese bleiben ihrem Erkenntniswert nach - überall ragt hinter dem Empirismus schon der Skeptizismus hervor - Assoziationen. So kann auch das Subjekt, d. h. hier das körperliche Ich, sowie es durch das Auge eingeht, zum Träger einer Menge glänzender Tunisse gemacht werden; aber immer werden diese einer absoluten Notwendigkeit und Rechtfertigung durch objektive Gesetze entbehren müssen: sie sind zufällit, wie die Individualität selbst, als deren ungeteiltes Produkt sie gelten, und keine Handlung würde schlechter sein können, wenn sie anders wäre. Darin erkennen wir die aller Wissenschaft entgegengesetzte Tendenz des Empirismus: während wir unsere Individualität durch unsere Handlungen in das Ganze der realen Gesetzheit eingliedern wollen, ordnet umgekehrt er die Handlungen gänzlich der Individualität ein. So kommt es im Empirismus nirgends zu einem echten Gesetz und einem echten wissenschaftlichen Durchblick der Erscheinungen. Alles steht zuletzt auf der Willkür und Zufälligkeit der Einzelheit. Und so scheint uns der Empirismus dem Mangel eines logischen Gewissens seine Entstehung zu verdanken.

Gehen wir noch einen Schritt zurück, so wird uns das Wesen des Empirismus zugleich mit dem des Skeptizismus dadurch deutlicher, daß es als Spiegelbild der im sogenannten "praktischen Leben" wirkenden Anschauungen erscheint. Auch hier gibt es kein Ansich-Sein, das, als zugrundeliegende Realität, die einzelnen Subjekte von sich abhängig machte und ihre Zwecke als objektiver Gesetzgeber beherrschte. Auch hier sind die Brücken, die von einem zum andern führen, von derselben flüchtigen, subjektiven Natur: sie sind gebildet von den jeweiligen "Verbindlichkeiten", die vom eigenen Interesse geschlossen und geleitet werden, sowie es oben ein subjektives Für-Wahrscheinlich-Halten ist, was ein  B  an ein  A  knüpft. Auch hier treten zur Befreiung aus der trostlosen Lage zunächst falsche Propheten auf: z. B. der Altruismus. Er verhält sich zum moralischen Egoismus ähnlich wie der subjektive Idealismus zum Skeptizismus. Beide Theorien brechen nicht ernstlich mit ihrem Gegner, sondern suchen das Bessere und Richtigere nachträglich in die Welt hineinzuflicken, trotzdem es in beiden Fällen gilt, die ganze Ebene des Bisherigen zu verlassen. Um zur Wahrheit zu kommen, ist es nötig, das eigene Subjekt als den Mittelpunkt der Beziehungen fahren zu lassen und in der Realität ein neues Prinzip zu gewinnen, von welchem aus auch das Subjekt als notwendig wieder begriffen werden kann; und um zum Ethos zu kommen, gilt es, sich aus dem ganzen Reich der Einzelheit herauszuheben und in Gott die absolute Priorität aller Einzelzwecke, den echten Ursprung und das Gesetz aller Einzelwesen, durch das auch das eigene Ich seine Aufgabe zuerteilt erhält, zu erkennen. -

Soweit haben wir gesehen, daß der Protest des Subjekts gegen seine Einordnung als Teil in die Realität unbegründet ist und auf dem Gebrauch des Subjektbegriffs als dem einer uneigentlichen Gattung beruth.

Es könnte nun noch der Einwurf gemacht werden, daß durch die Identifizierung des Subjekts mit der Ursache des Irrtums, daß mit der Einebnung des Subjekts in die übrigen Bestandteile der Realität etwas Positives unwiederbringlich verloren geht: nämlich der Zauber und die Tiefe der Persönlichkeit. Es ist darauf zu sagen, daß es nur an der Enge des hergebrachten Begriffs der Realität liegt, wenn man glaubt, daß irgendetwas Positives in ihr nicht seine Rechnung finden könnte. Wer wollte im Ernst behaupten, daß er die Wirklichkeit erschöpft hat, oder daß sie überhaupt erschöpfbar wäre - sie, mit allen ihren Gesetzen zwischen Himmel und Erde? Darauf aber müssen wir dringen, daß man nicht das, was die Persönlichkeit bewundernswert und groß macht - also gerade das, worin sie von ihrer Punktualität frei ist - dem Persönlichen als solchem zugerechnet. Denn es gehört der Wirklichkeit an. Wenn eine neue Art der Wirklichkeit gefunden und erschlossen wurde, so darf diese nicht als Werk und Schöpfung eines Subjekts gelten. Denn es ist nicht so, als ob die Arbeit eines Menschen wie ein schlechthin autochthones [eingesessenes - wp] und autonomes Werk hinausragt über alles Sein, neues Sein kraft eigener Machtvollkommenheit aus dem Nichts geschaffen habend - so wenig wie die Berge, die aufstehen und sich über die Ebene erheben, einen neuen Weltenraum erzeugen, einen, in dem nicht schon vorher die ewigen Gesetze der Natur gegolten und gewaltet hätten.
LITERATUR Oswald Weidenbach, Mensch und Wirklichkeit, Giessen 1907
    Anmerkungen
    1) Es fehlt nicht an Sophismen, mit denen das Dogma seine Ansprüche unterstützt. Wir nennen als das verbreitetste die Berufung auf das "An-Sich-Selbst-Evidentsein" oder die "unmittelbare Gewißheit" des zugrunde gelegten Prinzips, auf seinen Charakter als "angeborene Idee", oder (in anderer Färbung) als "Offenbarung"; auch der Pinselwurf des SEXTUS EMPIRICUS gehört hierher. Und in der Tat würde durch die Hilfe solcher metaphysischer Kräfte sofort das Spiel zu gewinnen sein, die unvergleichlichste und über alle Angriffe erhabene Seinsstellung wäre dadurch dem fraglichen Prinzip mit einem Mal zueigen gegeben. Aber die Berufung auf solche transzendente Götter ist ein Unfug. Wir haben darüber zu sagen: es ist berechtigt, ja unumgänglich,  ein  bestimmtes Prinzip als Erstes hinzustellen, das selbst nicht abgeleitet wird, aus dem aber alles andere folgt. Dieses Tun ist im Interesse der Darstellung nicht zu vermeiden; es ist aber eben deshalb psychologisch bedingt, und nimmermehr folgt aus seiner Erlaubtheit, daß nun in diesem obersten Prinzip Dinge stehen dürften, die sich in einem logischen Widerspruch mit echten Gesetzen des Wirklichen befinden. Auch diese oberste Stelle hat keinen Freibrief gegen den wissenschaftlichen Charakter all dessen, was als wirklich gelten will; sie ist, wie jede Behauptung, den Wahrheitskriterien unseres diskursiven Denkens untertan, möge sie sich noch so vorzüglich als Ausgangspunkt aller Aufklärung bewährt haben.
    2) Uns scheint, daß in diesem Kampf um die Priorität schon der Begriff der Priorität eine verhängnisvolle Rolle gespielt hat. Ohne Zweifel ist das Subjekt ja das Erste in unserem Interesse, das erste  pros hemas [auf uns - wp]. Wir aber, für welche jenes Ich-Subjekt das Erste ist, sind nicht darum selbst das schlechthin Erste, das Erste im Sein. Und so ist jene Priorität des Subjekts, wegen ihrer Relation auf unsere Psyche, keine absolute Priorität. Der Ursprung des Interesses ist nicht der Ursprung der reinen Wissenschaft.
    3) Denselben Sinn wie der Begriff "absolute Priorität" haben im folgenden die Begriffe: "absolute Voraussetzung", "echtes Gesetz", "echte Gattung" und "Bedingung der Möglichkeit".
    4) Denselben Fall, daß schon die erste Prämisse zugrunde geht, noch ehe sie eine Wirkung haben kann, haben wir auch in dem bekannten Sophisma des Kreters - Prämissen dieser Art sind ja überhaupt das Wesen und die Unmöglichkeit aller Sophismen, ihr Mittel ist das Scheindasein der Begriffe. Wenn alle Kreter lügen, notwendig, allgemein und immer lügen, so gibt es für sie überhaupt keinen Begriff von Wahrheit und Irrtum. Wenn so im Obersatz die Unmöglichkeit der Wahrheit steht, so kann im Schlußsatz des Sophismus dann natürlich in keiner Weise auf "wahr" oder "falsch" erkannt werden. Es bleibt von aller Herrlichkeit nichts übrig als der Wortbegriff: "der Kreter; alles andere zerfällt zu nichts. - Analog des "Kreters" wäre es auch z. B. wenn man im Obersatz den Begriff jenes bekannten "Messers ohne Klinge" gebraucht, dann aber im Schlußsatz von ihm zu wissen begehrt, ob das Messer scharf oder stumpf ist und dgl. mehr.
    5) Wohl der großartigste Versuch, sich noch nachträglich von der Begriffsbildung des praktischen Lebens freizumachen, ist die Konstruktion einer göttlichen Art der Erkenntnis außer der menschlichen. Weil alles immer "Erkenntnis" genannt wurde, so galten die skeptischen Angriffe gegen die Erfahrungswissenschaften unmittelbar auch gegen  alle  Erkenntnis. Deshalb haben diejenigen, die aus irgendeinem Grund an der absoluten Wahrheit einer bestimmten Erkenntnis (z. B. der von Gott) festhalten wollten, auf Mittel sinnen müssen, wie sie ihren geistigen Hort jenen Angriffen ein für allemal entziehen könnten. Und sie fanden dieses Mittel in der Annahme einer neuen Art von  Erkenntnis,  die nicht erst durch das Medium des Verstandes und des Subjekts überhaupt hindurchzugehen brauchen sollte. Man sieht: die Tendenz hiervon war die Befreiung vom Wesen des gewöhnlichen Begriffs der Erkenntnis, der alle Wahrheit der Skepsis auszuliefern bereit stand. Aber man vermochte doch nicht, über den hergebrachten und verdächtigen Gebrauch dieses Begriffs und das ganze Niveau der Empirie hinauszukommen, zugleich mit der eigenen Wahrheit alle Wahrheit aus der Form und den Fesseln des Subjekts befreiend. Man suchte vielmehr durch eine nachträgliche Korrektur zu bessern und sich dadurch die einfache Wirklichkeit soweit wieder unmittelbar zugänglich zu machen, als man es für den eigenen Bedarf notwendig hatte. Und so schmiedete man die unhaltbarsten Hypothesen und erreichte in Wahrheit - doch nichts. Denn nur der Mut zu einer gänzlichen Umarbeitung der überkommenen Anschauungen hätte hier die echte Lösung bringen können.