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RICHARD SCHUBERT-SOLDERN
Grundlagen einer Erkenntnistheorie
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"Daß wir stets das Ich, die Seele, den Geist usw. in einer Art und Weise gebrauchen, wie andere Dinge sinnlicher Art, kommt nur daher, daß wir Abstraktionen unsinnlicher Art sehr schwer ohne eine Art Versinnlichung, ohne Verknüpfung mit einem sinnlichen Datum festzuhalten vermögen. Dadurch wird jene Abstraktion verwechselt mit dem sinnlichen Datum selbst, zumindest so innig mit ihm verschmolzen, daß es selbst zum sinnlichen Ding wird."

"Von einer Einheit und Identität des Bewußtseins zu sprechen, hat nur einen Sinn unter der Voraussetzung seines Erfülltseins mit einem Inhalt, sowohl deswegen, weil das Bewußtsein ohne Inhalt Nichts ist, als auch deswegen, weil man von einer Einheit und Identität nur einer Mannigfaltigkeit und einem Wechsel gegenüber sprechen kann."

"So ist Alles, Zukunft und Vergangenheit, stets in einer Einheit des gegenwärtigen Zeitmoments gegeben, eine höchst eigentümliche und beachtenswerte Tatsache. Diese so einfache und eben deswegen vollständig übersehene, zeitliche Einheit ist es, welche man die Einheit des Bewußtseins zu nennen pflegt."

"Das Ich als solches hat weder Vergangenheit, noch Gegenwart, noch Zukunft, Zeit kommt ihm erst durch seinen es notwendig erfüllenden Inhalt zu. Das Ich hängt also der Zeit nach von seinem zukünftigen Inhalt ab, wo kein Inhalt, kein Ich, und umgekehrt."

"Wer also meinem Standpunkt gegenüber von Solipsismus reden will, der bestimme zuerst, was er unter Solipsismus versteht: das Wort selbst ist freilich weder schwer zu schreiben noch zu sprechen."


III. Kapitel
Das Ich und der Solipsismus

1. Die Transzendenz des Ich. Wir haben gefunden, daß Alles im Bewußtseinszusammenhang beschlossen ist, so daß die alleinige Forderung über denselben hinauszugehen, eine Forderung ins Leere ist. Wir haben dieses weiter auf Seiten des transzendenten Objekts nachgewiesen und darauf aufmerksam gemacht, daß jeder Inhalt, jedes Datum, das Moment des Bewußtseins fordert; wir werden jetzt den umgekehrten Weg zu gehen haben und nachweisen müssen, daß jedes Bewußtseinsmoment seinen Inhalt fordert, daß es ohne einen solchen Inhalt gar nicht konstatierbar ist. Man denke sich sämtliche Sinnesqualitäten (Ton, Farbe, Tastempfindung, Geruch, Geschmack) hinweg, dann entfällt von selbst der Raum und die Zeit, sowohl als Vorstellung wie als Wahrnehmung, es entfällt jede Art von Gefühlen, die an und für sich ohne Anlehnung an ein sinnfälliges Datum nicht vorhanden sein können. Mit anderen Worten, das Bewußtsein wird jedes Inhaltes entleert. Es entsteht nun die Frage, was ist dieses jeden Inhalts entleerte Bewußtsein, welche Seinsart kommt ihm zu? Soll tatsächlich jeder Inhalt, jedes Datum fortgedacht werden, so ist es unmöglich, trotzdem ein Bewußtsein festhalten zu wollen, das ein Bewußtsein von Nichts ist. Schon im Begriff "fortdenken" als solchem liegt es, ein irgendwie bestimmtes Datum zu haben, von dem man irgendetwas Anderes fortdenkt; leugnet man nun jedes irgendwie bestimmte Datum, indem man Alles fortdenken will, so fordert man eine Unmöglichkeit, nämlich etwas vom Nichts fortzudenken, als ob das Nichts, das reine vollständige Nichts überhaupt denkbar wäre. Man kann dagegen zwar einwenden, daß ja doch das Bewußtsein übrig bleibt, von dem man Alles übrige fortdenkt, aber mit einem solchen Bewußtsein verhält es sich wie mit dem farblosen und unantastbaren Baum, es ist in keiner Beziehung irgendwie bestimmbar und man kann doch unmöglich die Existenz von etwas behaupten, das in keiner Beziehung bestimmbar ist.

Das ganz unbestimmte Etwas hat nur Sinn durch die Erwartung seiner einstigen Bestimmung, und das ganz unbestimmte Bewußtsein hat nur seinen Sinn an einer Bestimmung, an einem Inhalt, von dem abstrahiert wird, der zwar vorhanden ist, den man aber zu dem Zweck, den man im Denken verfolgt, nicht in Rechnung zu ziehen braucht. Das Bewußtsein ist nur charakterisierbar durch seinen Inhalt, es ist nichts für sich, weder als Ding noch als Eigenschaft. Das wird trotzdem so sehr übersehen, daß man das Bewußtsein gleichzeitig zum Ding und zur Eigenschaft macht. Als Ding nennt man es Seele, Ich, geistiges Wesen, Geist usw., als Eigenschaft faßt man es auf als die Fähigkeit dieses Dings, sich anderer Dinge bewußt zu sein oder zu werden. Frägt man nun nach der näheren Beschaffenheit dieses Dings, so wird dieselbe entweger negtati (die Seele ist einfach unräumlich, unsterblich usw.) oder durch den die Seele erfüllenden Inhalt angegeben. Das Ding also, welches allen Inhalt in sich fassen soll, läßt sich entweder gar nicht oder nur durch eben diesen Inhalt charakterisieren. Es ist also, soweit es zur Lösung irgendeines Problems benutzt werden soll, vollständig unnütz: denn aus solchen reinen Negationen lassen sich eben wieder nur reine Negationen ableiten, aber niemals ein positives Faktum. Man hat freilich versucht aus der Einfachheit der Seele ihre Unsterblichkeit abzuleiten, die zumindest zum Teil ein positives Datum wäre. Die Einfachheit selbst aber ist immer sehr unklar gefaßt worden: bald als Gegensatz zum Raum als Unräumlichkeit, bald als punktuelle, also doch räumlche Existenz, bald als irgendeine einfache Kraft, die freilich immer wieder nur durch Bewußtseinsdaa, also ihre angeblichen Resultat charakterisiert wurde. Ebenso unklar war der Begriff der Unsterblichkeit: bald sollte er nur die Unzerstörbarkeit eines Wesens bedeuten, ohne nähere Bestimmung dieses Wesens selbst, bald die Unzerstörbarkeit des Denkens oder Bewußtseins dieses Wesens, oder endlich die Unzerstörbarkeit der Erinnerungen dieses Wesens, und diese Bedeutungen wurden oft, wenn auch ohne Absicht miteiander vertauscht und eine der anderen untergeschoben. Wird nun die Einfachheit als Unräumlichkeit aufgefaßt, dann folgt wohl daraus die räumliche Unzerstörbarkeit eines solchen einfachen Wesens, nach dem alten Grundsatz, wo nichts ist, hat auch der Kaiser sein Recht verloren, wenn kein Raum da ist, kann auch keiner zerstört werden, aber es folgt daraus weder die Unsterblichkeit jenes Wesens in Bezug auf sein Bewußtsein, noch in Bezug auf seine Erinnerungen. Dasselbe gilt, sobald die Seele als punktuelle Existenz aufgefaßt wird, mit dem Unterschied, daß hier noch die Ungereimtheit hinzutritt: eine Abstraktion, wie die eines Punktes, als ein Konkretum zu fassen und zu behandeln. Faßt man die Seele aber etwa als die Kraft auf, welche die Bewußtseinsinhalte aus sich selbst erzeugt, dann ist sie zwar nach jenem Grundsatz räumlich unzerstörbar, aber sie braucht deswegen ihrer Intensität nach nicht unvernichtbar zu sein - die Kraft kann abnehmen bis Null, worauf ja schon KANT hingewiesen hat. Aus der Einfachheit haben sich also bisher nur rein negative Bestimmungen ergeben und die Sachlage wird nicht besser, wenn man die Einfachheit, als die reine Negation aller Bestimmtheit überhaupt faßt, dann kann daraus höchstens nur folgen, daß ein solches einfaches Wesen seiner Unbestimmtheit gemäß auch vollständig unbestimmbar ist: das Resultat ist also wieder rein negativ. Man kann also an diesen Beispielen bemerken, daß das Ding, welches Bewußtsein haben soll, so weit es bestimmt wird, in das Bewußtsein fällt, so weit es aber nicht bestimmt werden kann, auch zu gar keinen Resultaten verwendbar ist.

Aber es ist auch ganz sinnlos, von einem Ding oder Wesen sprechen zu wollen, das Bewußtsein hat. Wenn wir imgewöhnlichen Sinn von einem Ding sprechen, so verstehen wir darunter einen Zusammenhang von Daten, dessen Gesetz und Verhältnisse zu anderen derartigen Zusammenhängen uns bekannt ist. Was soll aber dieses Wort bedeuten, sobald wir von jedem Datum und Bewußtseinszusammenhang zu abstrahieren haben? Was soll man sich unter diesem Wort denken? Denken? Ja, man darf sich, streng genommen, unter diesem Wort gar nichts denken, denn jedes Denken fordert eine Bewußtseinsbeziehung und jenes Wort soll die Ursache allen Bewußtseins und Denkens bezeichnen.

Stets müssen wir das Denken als Bewußtseinsbeziehung voraussetzen, mögen wir was auch immer für eine Behauptung positiver oder negativer Art machen. Daher gibt es auch kein Wesen das denkt, denn dieses Wesen kann doch wieder nur gedacht sein und setzt daher das voraus, was es erklären will. Daß wir trotzdem stets das Ich, die Seele, den Geist usw. in einer Art und Weise gebrauchen, wie andere Dinge sinnlicher Art, kommt nur daher, daß wir Abstraktionen unsinnlicher Art sehr schwer ohne eine Art Versinnlichung, ohne Verknüpfung mit einem sinnlichen Datum festzuhalten vermögen. Dadurch wird jene Abstraktion verwechselt mit dem sinnlichen Datum selbst, zumindest so innig mit ihm verschmolzen, daß es selbst zum sinnlichen Ding wird: daher ist in der vorphilosophischen Zeit und auch noch später die Seele ein sinnliches Ding: eine Luftart, ein Hauch oder etwas dergleichen.

Untersucht dann eine spätere Kritik den richtigen Gebrauch, der von jenem Ding gemacht wird, so kommt sie freilich dazu, ihn in lauter Abstraktionen auflösen zu müssen, wobei sie sich vergeblich bemüht, den konkreten Dingcharakter für die Seele noch zu retten; und da sie nach dem Seelending innerhalb der Bewußtseinswelt als solcher nicht forschen kann, weil es die Ursache derselben sein soll, so bleibt ihr nur der Ausweg übrig, es in die Transzendenz zu versetzen, wo es zwar nichts erklärt, aber auch weniger stört und sogar hie und da zur freilich scheinbaren Lösung unbequemer oder heikler Fragen gebraucht werden kann.

Vielleicht wird man noch geneigt sein, den Dingcharakter der Seele durch den Hinweis auf das Gedächtnis retten zu wollen: die Seele als Repositorium [Aufbewahrungsort - wp] der Erinnerungsbilder aufzufassen. Wo sollten denn sonst die Erinnerungen hinkommen, wenn keine Seele da wäre, aus der mans sie zu geeigneter Zeit wieder hervorholen könnte? Aber was sollen jene deponierten Erinnerungsbilder oder Vorstellungen sein. Vorstellungen, tatsächliche Vorstellungen sind sie nicht, sie sind vielmehr Ursachen dafür, daß Vorstellungen wieder ins Bewußtsein treten. Man beliebt daher, ihnen den Namen von unbewußten Vorstellungen zu geben. Frägt man nach der Beschaffenheit dieser unbewußten Vorstellungen, so wird man natürlich auf ihre bewußten Namensgenossen verwiesen und trägt man nach den Bedingungen ihres Bewußtwerdens, so wird man mit Verhältnissen bekannt gemacht, welche jene Vorstellungen zur Zeit ihres Bewußtseins in Bezug auf andere Vorstellungen inne hatten, und welche eben die Bedingungen zu ihrem Wiedererscheinen abgeben. Man kann noch etwas anderes fragen und wird ohne Zweifel aus dem Vorrat der eben bewußten Vorstellungen eine mehr oder weniger befriedigende Antwort erhalten. Jene unbewußten Vorstellungen sind also die bewußten selbst, nur abstrahier von ihrem jetzigen Gegebensein und reflektiert auf die Bedingungen ihres künftigen Wiedererscheinens, welche Bedingungen man natürlich nicht aus den Zeiten, da sie fehlten, sondern aus jenen, in welchen sie da waren, abstrahiert. Die unbewußten Vorstellungen sind also die bewußten, gedacht als in der Zukunft verschwindende und wiedererscheinende. Aber die verschwundenen Vorstellungen sind nur zu denken, wie man etwa Nicht-rot oder Nicht-blau denkt: d. h. man stellt sich eben rot oder blau vor mit dem sie begleitenden Gedanken, diese Inhalte wären nicht in gewissen Beziehungen zu anderen zu denken oder denkbar, so ist auch die unbewußte Vorstellung "rot", die bewußte mit dem begleitenden Gedanken von all ihren jetzigen Beziehungen zu abstrahieren und sie nur zu betrachten, insofern sie künftig einmal wiedererscheinen kann. Es ist folglich die unbewußte Vorstellung, soweit sie von der bewußten verschieden ist, eine Abstraktion, eine Abstraktion sehr eigentümlicher Art, die auf die Zukunft reflektiert. Die Abstraktion vermilzt natürlich, oder ist vielmehr ein Teil der gegenwärtig bewußten und ihrer Beziehungen und kann ohne die bewußte Vorstellung nicht gedacht werden, also auch keine irgendwie geartete Existenz haben. Es ist daher nicht nur unmöglich, unbewußte Vorstellungen, die nicht an bewußten gedacht werden sollen, zu konstatieren, sondern sie sind auch nutzlos, weil sie als tatsächlich unbewußte in keiner Beziehung verwertbar sind. Dann ist aber auch die Seele als Repositorium für solche Erinnerungen weder konstatierbar, noch von irgendeinem Nutzen, denn da dieses Repositorium nur für die tatsächlich unbewußten Vorstellungen notwendig war, diese aber durch die bewußten ersetzt worden sind, ist es unnötig; für die tatsächlich unbewußten wäre es nicht konstatierbar und vollständig sinnlos, da es jede seiner Bestimmungen doch wieder aus dem Bewußtseinsinhalt nehmen müßte. Man pflegt aber noch einen anderen Grund für die Dinghaftigkeit des Ich für seine Selbständigkeit anzuführen: dieser beruth auf der Einheit und Identität des Ich gegenüber dem Wechsel aller übrigen Data. Das Ich ist immer ein und dasselbe, mag es mit welchem Inhalt auch immer erfüllt sein. Der Greis fühlt sich als dasselbe Ich, das er als Knabe war, wenn auch die Gefühle und Vorstellungen desselben andere und veränderte sind. Da ich darauf später noch einmal zurückkommen werde, so will ich hier nur darauf hinweisen, daß dieser Grund die Transzendenz des Ich nicht beweist. Der Greis fühlt nicht sein Ich, insofern es Träge des Bewußtseins sein soll, identisch mit dem seines Knabenalters; denn selbst zugegeben (was geleugnet werden muß), daß es einen solchen Träger gibt, kann sich der Greis dieses früheren Trägers nicht erinnern, weil er sich ja dieses Trägers nie bewußt sein konnte, indem derselbe außerhalb seines Bewußtseins liegt, er kann sich ja desselben aus demselben Grund auch in der Gegenwart nicht bewußt sein. Wessen sich also der Greis nur bewußt werden kann, das ist die Einheit und Identität seines Bewußtseinsinhaltes selbst, diese Einheit und Identität aber führt gar nicht zu einem transzendenten Ding, da sie ja im Bewußtsein selbst ist. Sie gibt aber auch nicht einmal die Berechtigung von einem Ding des Bewußtseins, gegenüber in demselben beschlossener Dinge zu reden. Denn von einer Einheit und Identität des Bewußtseins zu sprechen, hat nur einen Sinn unter der Voraussetzung seines Erfülltseins mit einem Inhalt, sowohl deswegen, weil das Bewußtsein ohne Inhalt Nichts ist, als auch deswegen, weil man von einer Einheit und Identität nur einer Mannigfaltigkeit und einem Wechsel gegenüber sprechen kann. Das Bewußtsein ist ein und dasselbe eben nur dadurch, daß es allein durch die Mannigfaltigkeit und den Wechsel seines Inhaltes bestimmt erscheint, ohne einen solchen mannigfaltigen Wechsel seines Inhaltes aber überhaupt gar nicht denkbar ist. Es hat also den Dingen gegenüber gar keine Selbständigkeit, es geht völlig in dieselben auf und kann nur in abstracto von ihnen geschieden werden.

2. Das Wesen des Ich. Es ist natürlich, daß hier unter Wesen nicht etwa ein transzendentes oder selbst immanentes Ding verstanden wird, sondern die Hauptunterschiede der Phänomene, die zu Ich gezählt, von jenen, die zum Nicht-Ich gerechnet werden. Wie nun aber schon erwähnt, sind die Hauptmerkmale des Ich seine Einheit und Identität, es werden also diese näher zu untersuchen sein. Die Einheit des Ich kann nur darin bestehen, daß die Momente der Vergangenheit mit jenen der Gegenwart und der Zukunft verknüpft werden.

Diese Verknüpfung nun ist eine so einfache und fundamentale, daß vielleicht eben deswegen ihr Wesen sehr oft gänzlich übersehen worden ist.

Wenn ich von einer Vergangenheit spreche, von einer Erinnerung irgendeines Datums, so muß mir dieses Datum in der Vorstellung (Reproduktion) gegenwärtig sein; es ist also dieses Datum im gegenwärtigen Zeitmoment gegeben und dasselbe findet statt bei einem als zukünftig gedachten Datum, auch dieses muß stets in einem gegenwärtigen Zeitmoment vorhanden sein. Es ist demnach die ganze Vergangenheit und Zukunft stets beschlossen in einem gegenwärtigen Moment. Man wird vielleicht deswegen einwenden, daß die Wahrnehmungen, welche die Vergangenheit ausmachen, ebenso wie die Wahrnehmungen, welche die Zukunft ausmachen, sollen mir doch nicht gegenwärtig sein können. Gewiß nicht, aber von den Wahrnehmungen, insofern sie vergangen sind, und von den Wahrnehmungen, die zukünftig sein sollen, weiß ich gar nichts mehr als mir gegenwärtige Vorstellungen, Erinnerungen, Erwartungen an die Hand geben. Und eine eben vorhandene Wahrnehmung kann ich nur als eine schon dagewesene bezeichnen wegen ihres Verhältnisses zu meinen gegenwärtigen Erinnerungen. Die ganze Vergangenheit und Zukunft ist also gar nicht anders denkbar, als in einem gegenwärtigen Zeitmoment und erhält durch denselben seine Einheit. Es gibt also eigentlich weder eine vergangene noch eine zukünftige Wahrnehmung, sondern stets nur Reproduktionen vergangener Wahrnehmungen, und daraus geschöpfte Erwartungen für die Zukunft; nur indem ich davon abstrahiere, daß jene Reproduktionen mir jetzt gegeben sind, erscheinen sie mir als vergangene Wahrnehmungen oder als eine zu erwartende Zukunft. Frägt man aber weiter, worin eben diese Gegenwart besteht, so kann man wieder nur auf ihren Gegensatz zu der in ihr enthaltenen Vergangenheit und Zukunft hinweisen. Diese drei Gegensätze bedingen sich gegenseitig, ein Moment ist ohne die beiden anderen als solche nicht denkbar. Die Vergangenheit kann nur im Vergleich zu ihrem Durchgangspunkt (der Gegenwart) zur Zukunft als Vergangenheit erfaßt werden, wie auch wieder die Gegenwart nur in ihrer Mittelstellung zwischen Vergangenheit und Zukunft Gegenwart ist und gar kein anderes Kriterium als eben die Vermittlung der beiden Gegensätze hat, und ebenso verhält es sich natürlich mit der Zukunft. So besteht eine derartige Relativität zwischen diesen drei Momenten, daß sie ohne einander nicht denkbar sind, das Zeitmoment, das sie zusammenfaßt aber ist stets eines und wird in seinem Gegensatz zu den in ihm enthaltenen Inhalten der Vergangenheit und Zukunft die Gegenwart genannt. Abstrahiert man aber von diesen Inhalten, dann hat auch die Bezeichnung eines Inhaltes als eines gegenwärtigen gar keinen Sinn. Man könnte zwar dagegen bemerken, daß die Gegenwart charakterisiert erscheint durch die Wahrnehmungen, weil Wahrnehmungen nicht vergangen sein können, außer insofern sie Reproduktionen sind. Aber die Wahrnehmung ist gar kein Kriterium der Gegenwart, die bloßen Reproduktionen sind ebenso gegenwärtig wie die Wahrnehmungen, und es ist nur der Unterschied vorhanden, daß ich die gegenwärtigen Reproduktionen als vergangene Wahrnehmungen auffassen kann, was bei der Wahrnehmung nicht der Fall ist, dieselbe muß stets als gegenwärtig, als in einem gegenwärtigen Zeitmoment erscheinen, in diesem Sinne könnte man den Wahrnehmungsinhalt das Gegenwärtige nennen, nur muß man stets bedenken, daß der Wahrnehmungsinhalt ein gegenwärtiger ist, nur in seinem Gegensatz zur Reproduktion, ohne diese hätte er nur den Charakter eines Inhalts überhaupt. So ist jeder Inhalt gegenwärtig, d. h. eben gegeben, nur vermag man bei einem Teil desselben von seinem gegenwärtigen Gegebensein zu abstrahieren und ihn als Vergangenheit und Zukunft auffassen, während bei einem anderen Teil diese zwar auch eine mögliche Abstraktion nicht über die Gegenwart hinausführt. Gegenwärtig sein heißt ja eigentlich nichts anders als Gegebensein, Bewußtsein, daher kann auch ein Inhalt nur im Gegensatz zu ihm in Beziehung stehenden vergangenen und zukünftigen Inhalten als gegenwärtig bezeichnet werden, wie ich schon erwähnt habe.

So ist Alles, Zukunft und Vergangenheit, stets in einer Einheit des gegenwärtigen Zeitmoments gegeben, eine höchst eigentümliche und beachtenswerte Tatsache. Diese so einfache und eben deswegen vollständig übersehene, zeitliche Einheit ist es, welche man die Einheit des Bewußtseins zu nennen pflegt. Man kann diesen Ausdruck beibehalten, wenn man darunter nur die zeitliche Einheit alles Gegebenen versteht und nicht die einende Kraft eines Moments, das vom Gegebenen verschieden und unterschieden sein soll.

Es ist diese fundamentale Untersuchung, obgleich oder eigentlich weil sie mit so einfachen Elementen zu tun hat, eine der schwierigsten, so daß hier oft ein gewisses Ringen nach Worten unvermeidlich erscheint, was ich hier zur Entschuldigung mancher sprachlicher Härten erwähnen zu müssen glaube.

Als die zweite Eigenschaft des Ich wird seine stete Identität angegeben. Ich fühle mich immer als derselbe, ich bin mir meiner als stets desselben bewußt. Aber diese Identität ist nicht so vollständnig, als man ohne Untersuchung in der Regel vorauszusetzen pflegt. Den vorhandenen Gefühlen, Begehrungen, Vorstellungen nach fühle und weiß ich mich im ganzen Leben nicht nur nicht als derselben, sondern ändere mich von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt. Und selbst wenn man nur die vorherrschenden Ideenassoziationen und Gefühle als charakteristische Merkmale des Ich nimmt, so muß behauptet werden, daß auch diese im Knaben-, Mannes- und Greisenalter so bedeutend differieren, daß ich mich in Bezug auf den Inhalt des Ich nicht als derselbe, sondern je nach dem Lebensalter als ein ganz anderer fühle.

Daher kann die Identität des Ich auch gar nicht in seinem bestimmten konkreten Inhalt gesucht werden, sondern nur in der Art und Weise, wie dieser Inhalt gegeben ist. Man hat, wie das auch beim Dingbegriff oft der Fall ist, hier die reine Identität mit der Kontinuität verwechselt. Die Erinnerung, die Reproduktion reicht bis in die fernsten Zeiten, und wo sie nicht hinreicht oder nicht vorhanden ist, wird sie nach Analogie mit den vorhandenen Reproduktionen wenigstens im Allgemeinen ergänzt und soe eine Kontinuität der Erinnerung hergestellt. Diese Kontinuität ist es, welche die Identität des Ich ausmacht, sie ist die in einem jeden Augenblick des Lbens wenigstens im Allgemeinen reproduzierbare Kontinuität der Erinnerung. Diese Besinnung auf eine solche Kontinuität muß zwar nicht immer gegeben sein, sie ist aber, außer bei einem gestörten Geistesleben stets möglich: sie ist das stets mögliche "Ich denke" KANTs.

Ja, faßt man das Ich seinem abstraktesten Charakter nach, ohne alle konkreten Data, dann ist tatsächlich nichts anderes gegeben als jene, in einem einheitlichen Zeitmoment beschlossene Erinnerung an jene Kontinuität des Erinnerungsinhaltes gebunden an einen Leib, der durch sein von allen anderen Leibern verschiedenes und stetiges Gegebensein als mein Leib charakterisiert ist.

Wer noch ein anderes auffindbares abstraktes Moment des Ich kennt, der zeige es auf, nur möge dasselbe nicht in einer unerfaßbaren, und nichtsbedeuteutenden Transzendenz liegen. Ebenso ist, wie schon früher erwähnt wurde, das Bewußtsein nur das Gegebensein eines jeden Datums in jenem kontinuierlichen Zusammenhang. "Ich bin mir eines Inhaltes bewußt" heißt, es ist im Zusammenhang meines Ich gegeben.

So ist das Ich die stetige Verknüpfung der Gegenwart mit der Vergangenheit und LOCKE hat daher mit vollem Recht die Identität der Person an die Erinnerung geknüpft, und ließt sie soweit reichen, wie diese reicht.

Das konkrete Ich ist freilich ganz anders gestaltet: es ist die eben vorhandene Erinnerung, das gegebene Gefühl gegenüber den eingetretenen Vorstellungen und Gefühlen oder gegenüber den vorhandenen Wahrnehmungen. Oft ist es nichts anderes als das Gemeingefühl, das sich an dunkle Vorstellungen und an die Allgemeinempfindung des Leibes knüpft; das Selbstbewußtsein ist so oft nur ein Selbstgefühl, oft nahezu nur eine Allgemeinempfindung des Leibes.

Es entsteht aber weiter die Frage, wie unter solchen Umständen Geisteskrankheiten möglich sind, welche die Identität des Ich durchbrechen. In gewissem Sinn sind sie auch unmöglich und gar nicht konstatierbar. Auch der Geisteskranke, kann er überhaupt über diesen Punkt zum Nachdenken gebracht werden, wird zugestehen müssen, daß Alles, seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in jenem Ichzusammenhang gegeben ist, das durch seinen Leib als sein Ich charakterisiert ist. Aber innerhalb jenes Zusammenhangs ist es möglich, ganze Vorstellungskomplexe mit ihren Gefühlen irrtümlicherweise als aus Bewegungen und Lauten fremder Leiber erschlossen zu betrachten, während dieselben tatsächlich unmittelbar gegeben waren. So wird eine Lücke im konkreten Ich gerissen, nicht aber im abstrakten. Ergeht es einem doch selbst oft ähnlich, wenn man für Augenblicke nicht weiß, ob einem das nur geträumt hat oder ob man tatsächlich mit einer zweiten Person einige Worte gewechselt hat, die man eben jetzt in Erinnerung hat.

Man kann die Identität des Ich in abstracto aber auch noch in anderer Weise auffassen. Abstrahiert man nämlich bei jener Kontinuität von allem Inhalt, der eben in kontinuierlicher Entwicklung gegeben ist, dann bleibt eine Kontinuität 'in abstracto übrig, die, weil sie nur durch ihren Inhalt charakterisierbar ist, ansich ununterschieden, identisch ist, und durch das ganze Leben identisch bleibt. Diese Identität ist nur insofern wichtig, als auf ihr jene behauptete reine Identität eines transzendenten Wesens tatsächlich zu beruhen scheint. Sie ist das einzige Datum, aus dem, wie ich glaube, jenes transzendente Wesen seinen Ursprung genommen haben kann. Man wird natürlich jenes von mir konstatierte Ich als durchaus in der Luft schwebend betrachten, weil man alle transzendenten und transzendentalen Elemente vermissen muß, an die man bisher gewöhnt war, a priori alle Erörterungen über diesen Gegenstand anzuknüpfen. Ich kann demgegenüber nur darauf hinweisen, daß es mir um eine Analyse von Tatsachen zu tun war und daß ich keine anderen Waffen habe als diese Tatsachen selbst.

Wer sie leugnet, hat mich damit widerlegt, aber es ist die Frage, ob sie nach reichlicher Besinnung überhaupt geleugnet werden können.

III. Das fremde Ich. Jener nun abstrakt gegebene Bewußtseins- oder Ichzusammenhang wird durch Reflexion auf seine Erfüllung durch einen Inhalt zum konkreten oder empirischen Ich; natürlich ist dieses empirische Ich die Grundlage des abstrakten und nicht umgekehrt.

Den Mittelpunkt nun jenes empirischen Ich oder Bewußtseins, wenn man so will, bilden eine gewisse Art von Daten, die, wenn auch in einer steten Veränderung begriffen, ihrem Hauptcharakter nach dieselben bleiben und stets vorhanden sind. Diese Daten bilden den Leib. In Beziehung zu diesem Leib stehen alle anderen Daten, denn sie sind in ihrem Verschwinden und Erscheinen, in ihrer Gestalt, Qualität, in der Zeit und dem Ort ihres Erscheinens abhängig von ihren Beziehungen zum Leib. Aber auch der Leib hinwieder erscheint bestimmt in seinem Gegebensein durch sein Verhältnis zu diesen anderen Daten, und unterscheidet sich nur dadurch von ihnen, daß sich die Daten des Leibes stets in ihrer Art gleichbleiben, während die übrigen Daten einem viel mannigfaltigeren Wechsel unterworfen sind. Er erscheint also zwar nicht als ein absolut konstantes, aber als ein konstanteres Glied des Bewußtseinsganzen als die übrigen Daten. Im Übrigen aber ist die Abhängigkeit eine gegenseitige. Die Empfindung des Leibes ist ebenso abhängig von der Umgebung, in der sich der Leib befindet, wie die Umgebung von der Beschaffenheit und dem Ort des Leibes abhängt.

Unter diesen aber dem Leib gegenüberstehenden Daten befinden sich auch Gruppen von Daten, welche eine ähnliche Beschaffenheit wie er selbst besitzen und welche, was wichtiger ist, in einem analogen kausalen Verhältnis zu den übrigen Daten stehen, und sich daher auch selbst analog jenem Leib entwickeln und verändern. Diese Gruppen von Daten sind in Bezug auf jenen Leibt die fremden Leiber, jener erste Leib heißt der eigene Leib. Der fremde Leib ist aber nicht in vollständiger Wechselwirkung mit allen Bewußtseinsdaten gegeben, sondern nur in seiner Beziehung zu jenem Teil von Bewußtseinsdaten, der als wahrgenommen außerhalb des eigenen Leibes erscheint. Die Reproduktions- und Gefühlswelt ist nur unmittelbar in ihren Beziehungen zum eigenen Leib gegeben. Da aber erfahrungsgemäß in Bezug auf diesen eigenen Leib feststeht, daß Bewegungen, Laute, Handlungen von jener Reproduktions- und Gefühlswelt abhängen, so müssen ganz unabweisbar die gleichartigen Handlungen und Laute des fremden Leibes in gleicher Weise gedeutet und daher eine besondere Reproduktions- und Gefühlswelt für denselben erschlossen werden. Die Wahrnehmungswelt hingegen ist in unmittelbarer Beziehung mit dem unmittelbar gegebenen fremden Leib vorhanden, es ist daher zunächst kein Zwang vorhanden, dieselbe als besonders für denselben Leib vorhanden zu erschließen. Doch zweierlei Gründe führen weiterhin auch zu einer Erschließung einer besonderen Wahrnehmungswelt für jeden fremden Leib: einmal der erschlossene fremde Bewußtseinszusammenhang und das anderemal die erschlossene Abweichung in der Wahrnehmung jenes Bewußtseinszusammenhangs. Am fremden Leib ist notwendig der Schluß eines besonderen Bewußtseinszusammenhangs gebunden, in diesem muß aber neben der Reproduktions- und Gefühlswelt natürlich auch die Wahrnehmungswelt eingehen, soll nicht in diesem Zusammenhang eine unüberbrückbare Kluft entstehen. Will man nun trotzdem das Wahrgenommene als ein gemeinsames Eigentum betrachten, so müßte zumindest der Bewußtseinszusammenhang für die Wahrnehmungswelt ein gemeinsamer sein. Dem widerspricht aber die Tatsache, daß ein Wahrnehmungsinhalt für den fremden Bewußtseinszusammenhang oft als gegeben erschlossen werden muß, während er unmittelbar im eigenen nicht gegeben ist. Daher selbst wenn der Zusammenhang und die Beschaffenheit der Wahrnehmungswelt im fremden Bewußtseinszusammenhang vollständig stimmen würde mit jener im eigenen Bewußtseinszusammenhang, müßte doch zu ein und derselben Zeit für die verschiedenen fremden Bewußtseinsganzen ein anderer Teil jener Wahrnehmungswelt als vorhanden erschlossen werden. Demgemäß erscheint es notwendig, für jedes Bewußtsein eine eigene Wahrnehmungswelt zu setzen. Nun gelange ich aber, wenn auch nur mittelbar, zur Kenntnis jener fremden Wahrnehmungswelt durch die Deutung der Bewegungen und Laute jener fremder Leiber. Es entsteht also die Frage, wohin gehört jener fremde Leib? Die unmittelbare Wahrnehmung desselben muß zu meiner unmittelbaren Bewußtseinswelt gehören und ich bin daher genötigt, einen anderen Leib zu erschließen, der in die erschlossene Bewußtseinswelt gehört und dort dem Wahrnehmungs- Gefühls- und Reproduktionsinhalt gegenüber dieselbe Rolle spielt, wie mein eigener in der unmittelbar gegebenen Bewußtseinswelt. Aber noch mehr, ich muß auch noch weiter erschließen, daß wieder ein meinem gleicher Leib auch zum Inhalt des fremden Bewußtseins gehört und dort dieselbe Rolle spielt, wie das Ebenbild des fremden Leibes in meinem. Aber es entsteht nun weiter die Frage, wie kommt der Leib dazu, gleichsam gedoppelt in zwei Bewußtseinswelten vorhanden zu sein und wie komme ich dazu, zur Kenntnis jenes fremden Leibes, der nicht meine unmittelbare Wahrnehmung ist, zu gelangen? Diese Frage ist aber falsch, sie zeigt, daß der Unterschied zwischen dem unmittelbar gegebenen Bewußtseinszusammenhang und dem erschlossenen vergessen wurde; diese Frage ist vielmehr durch das Vorhergehende schon beantwortet: durch einen notwendigen Schlußvorgang komme ich zur Annahme jener der meinigen ganz analogen Bewußtseinswelt. Wird aber darauf vergessen, dann in der Tat erscheint eine Vermittlung notwendig zwischen den einzelnen Bewußtseinswelten, durch eine ihnen allen zugrunde liegende gleiche oder analoge Welt, die nicht im Bewußtsein befindlich, sich in diesen abspielt. Aber dann treten auch alle jene Widersprüche auf, auf die ich in einer anderen Schrift hingewiesen habe (1); und noch dazu erscheint das ganze Problem doch wieder nur hinausgeschoben, denn es erscheint jetzt unerklärbar, wie die einzelnen Bewußtseinswelten in Wechselwirkung mit ja überhaupt nur zur Kenntnis von jener von allem Bewußtseinszusammenhang unabhängigen Welt gelangen. Will man aber diese Welt auch in einem alles andere Bewußtsein umschließenden Bewußtseinszusammenhang sich vorfinden lassen, dann ist man auf dem alten Standpunkt, dann ist dieses allumfassende Bewußtseins das unmittelbar gegeben, die anderen Bewußtseinsganzen erschlossene, denn man kann nicht jenes allumfassende Bewußtsein erschlossen lassen sein können, ohne seine Allumfassung zu leugnen, indem man es zum Inhalt eines unmittelbar gegebenen macht.

Ein zweiter Grund, weswegen die Wahrnehmungswelt für jedes Bewußtseinsganze besonders gesetzt werden muß, ist die Abweichung in der Wahrnehmung derselben. Diese muß aus den Handlungen und Lauten fremder Leiber erschlossen werden, und hängt von Ort und der Beschaffenheit des fremden Leibes ab. Da nun gleichzeit für den fremden Leib ein von meinem abweichender Wahrnehmungsinhalt erschlossen werden muß, während der Lage des Leibes nach derselbe vorhanden sein sollte, so folgt daraus natürlich, daß auch die Wahrnehmungswelt für jedes an den fremden Leib gebundenes fremdes Ich besonders gedacht werden muß. Trotzdem erscheint die Wahrnehmungswelt ohne jede weitere Reflexion als allen Ich gemeinsam, als das gemeinsame Tätigkeitsfeld ihrer Leiber und erst ein weiteres Nachdenken führt dazu, die Wahrnehmungswelt für jedes Ich als ein Besonderes zu erschließen. Es muß nun noch darauf hingewiesen werden, daß der unmittelbare Bewußtseinszusammenhang im Gegensatz zum erschlossenen von diesem nicht unabhängig ist. Denn durch Erinnerungen ist feststellbar und weiterhin erschließbar durch Analogien, daß der unmittelbare Bewußtseinszusammenhang in seinem Umfang sich einmal auf ein Minimum beschränkt hat und daß er durch die Vermittlung fremder Leiber, also unmittelbar fremder Bewußtseinsganzen zur jetzigen Ausbildung seines Umfangs gelangt ist, daß er durch die damals freilich nur zum geringen Teil erschlossenen fremden Bewußtseinsinhalte großgezogen wurde. Er hat Unterricht empfangen durch das Rätsel des fremden Leibes, durch den Zwang, seine Bewegungen und Laute zu deuten und in Einklang mit dem eigenen Leib zu bringen. Und auch jetzt wäre das unmittelbare Bewußtsein schlecht bestellt, wollte es sich auf sich selbst beschränken und nicht die durch fremde Leiber erschlossenen Bewußtseinsinhalte gleichberechtigt mit den unmittelbarenn halten, sie mit ihnen in Einklang bringen und zu weiteren Schlüssenn für die Zukunft verwenden. Den Maßstab aber für alles Erschlossene wird doch in letzter Linie die unmittelbar gegebene Wahrnehmungs- und im Anschluß an sie die Reproduktionswelt abgeben müssen: denn alles Übrige kann ich nur aus den Elementen der unmittelbar gegebenen Bewußtseinswelt zusammensetzen.

Da aber bemerkt wird, daß die fremden Leiber sowohl zu bestehen anfangen, als auch zu bestehen aufhören, so muß bei der logischen Gleichberechtigung des eigenen und fremden Leibes auch der Rückschluß ein notwendiger sein, sowohl daß auch der eigene Leib einmal angefangen hat zu existieren, als auch einmal aufhören wird, fortzubestehen, und daran knüpft sich weiter der Schluß, daß einst fremde Leiber bestanden haben und bestehen werden, ohne den eigenen.

Man könnte glauben, daran noch weiter den Schluß knüpfen zu dürfen, daß also auch der eigene Bewußtseinszusammenhang einmal zu existieren angefangen hat und einmal zu existieren aufhören wird. Aber das ist falsch. Dieser Zusammenhang hängt nicht ab von den Daten eines eigenen oder fremden Leibes. Man kann nicht sagen, ohne eigenen Leib kein Bewußtseinszusammenhang, weil man niemals erfahren kann, daß er aufhört. Auch gilt hier kein Schluß vom fremden Bewußtseinszusammenhang auf den eigenen, weil beim Verschwinden des fremden Leibes wohl die Veranlassung fortfällt, einen fremden Bewußtseinszusammenhang zu erschließen, daraus aber nur geschlossen werden kann, daß ein Leib notwendig ist, um einen Bewußtseinszusammenhang zu erschließen, nicht aber, daß ein Bewußtseinszusammenhang ohne Leib nicht möglich ist, daß der Leib eine Bedingung des Bewußtseinszusammenhangs ist. Wann kein Bewußtseinszusammenhang vorhanden sein kann, nicht wann keiner zu erschließen möglich ist, ist eine unbeantwortbare Frage. Es ist unmöglich, keinen Ichzusammenhang zu denken, es hieße das, sich bewußt zu sein, dessen, das man nicht ist. Man kann daher weder von der fernsten Vergangenheit, noch von der fernsten Zukunft sprechen, ohne sein eigenes Ich in Kraft zu setzen.

Daher ist sowohl eine Präexistenz des Ich vor dem Bestand des eigenen Leibes als eine Postexistenz nach demselben ein praktisches Resultat. Man kann nicht davon reden, daß irgendein Datum fortfährt zu bestehen, nachdem der eigene Leib aufgehört hat, ohne ein Ich (eine Erinnerung an den jetzigen Zustand) als noch zu Recht bestehend zu setzen. Eine Bestätigung dieser allgemein notwendigen Erwartung kann natürlich im jetzigen Ich niemals eintreten, sie könnte nur in einem zweiten Ich eintreten, dessen Mittelpunkt ncht mehr die Daten des Leibes bilden, aber dann müßten auch sämtliche Daten des zweiten Ichzusammenhangs verschieden sein und es ist daher ein Schluß vom jetzigen Ich auf die Beschaffenheit und den Zusammenhang mit einem Zweiten nicht möglich. Zu demselben Resultat kommt man durch eine andere Erwägung. Das Ich als solches hat weder Vergangenheit, noch Gegenwart, noch Zukunft, Zeit kommt ihm erst durch seinen es notwendig erfüllenden Inhalt zu. Das Ich hängt also der Zeit nach von seinem zukünftigen Inhalt ab, wo kein Inhalt, kein Ich, und umgekehrt. Aber Nichts, reines Nichts ohne nur das Nichts eines Etwas oder Gattung von Etwas zu sein, ist undenkbar, daher muß stets ein Ich gesetzt werden, weil ein Inhalt gedacht werden muß - gedacht werden heißt ja im Grunde: in einem Ichzusammenhang sein. Freilich ist dabei etwas wohl zu bedenken, was im folgenden Paragraphen näher behandelt werden wird, daß nämlich das eigene Ich nur so lang ein eigenes bleiben kann, solange es ein erschlossenes, fremdes sich gegenüber hat, daß das Ich nur ein Ich sein kann gegenüber dem Du; über diesen beiden Gegensätzen schwebt dann freilich das Ich, der Ichzusammenhang überhaupt, der weder Ich noch Du ist.

4. Der Solipsismus Im vorigen Paragraphen wurde darauf hingewiesen, daß die Erschließung des fremden Bewußtseins, des fremden Ich eine notwendige ist. Es hat nun den Anschein, als ob sich mit dieser Behauptung der Solipsismus als letzte Konsequenz ergeben würde. Ist jedes andere Ich von mir erschlossen, so ist jedes andere Ich mein eigener Bewußtseinsinhalt. Soweit ist der Solipsismus unleugbar, aber er enthält zwei Einschränkungen, die ihn theoretisch vernichten.

Die erste Einschränkung ist die, daß das eigene Ich ein eigenes ist, nur in Bezug auf den in ihm enthaltenen Gegensatz eines erschlossenen fremden, sobald dieser Gegensatz fortfällt, fällt das Ich und das Du. Dieser Gegensatz fällt aber sehr oft fort. Der Ichgedanke, das hat schon 'KANT gesagt, muß alle Gedanken begleiten können, aber er begleitet sie nicht immer tatsächlich. Jede aufmerksame Betrachtung eines Gegenstandes macht, daß das Ich sich vollständig im Gegenstand auflöst, nur der Gegenstand ist gegeben in mannigfachen inhaltlichen Beziehungen, aber von einem Ich ist keine Spur davon. Erst wenn ein Nebenstehender vielleicht eine Äußerung tut, besonders eine Äußerung die nicht mit der eigenen Ansicht stimmt, tritt sofort der Ichgedanke in den Vordergrund, gegenüber dem aus den Worten erschlossenen fremden Bewußtseinsinhalten, und die Antwort fängt sicher mit dem Wort "Ich" an, sowie einen die Anrede erst "zu sich selbst" gebracht hat. Das Ich geht stets auf in seinem Inhalt, es ist nichts anderes als ein Zusammenhang seiner Inhalte, wo also diese Inhalt nicht selbst jenen Gegensatz des erschlossenen fremden Ich mit sich bringt, ist dieser im Ich selbst niemals gegeben, denn das Ich ist nur charakterisiert durch seinen Inhalt. Freilich hängt jeder Inhalt zusammen mit den Daten des eigenen oder fremden Leibes und führt so zum Gegensatz des Ich und Du. Dieser Gegensatz muß also immer zu konstatieren sein, er geht durch allen Inhalt hindurch, aber er braucht nicht stets vorhanden zu sein. Die aufmerksame Betrachtung eines Bildes, einer Gebirgslandschaft, ist dieses Bild die Gebirgslandschaft selbst, zunächst ist kein Ich, keine Person gegeben. Erst wenn zu Bewußtsein kommt, daß bestimmte Beziehungen zu einem Leib notwendig sind, damit jene Objekte in den Ichzusammenhang gelangen und zugleich der Gegensatz zwischen dem fremden und dem eigenen Leib klar wird und damit der Unterschied zwischen dem eigenen und dem erschlossenen fremden Bewußtseinsinhalt, erst dann tritt das Ich auf, erst dann heißt es: Ich sehe diese Gebirgslandschaft und kein Anderer. Also dem Ich als solchem (ein Abstraktum) kommt der Gegensatz von Ich und Du nicht zu; er liegt allein im Inhalt der gegebenen Leiber und ihrer Beziehungen zu allen anderen Daten. Daher kann man auch nur sagen, Alles ist in meinem Ich enthalten, insofern das ganze Ich (natürlich samt seinem Inhalt) im Gegensatz zu dem in ihm gegebenen fremden Ich gedacht wird, das sich notwendig an den fremden Leib anschließt: daß das aber unrichtig ist, liegt auf der Hand; der ganze Ichinhalt hat keinen Gegensatz, aller Gegensatz liegt in ihm, nicht außerhalb seiner. Aber der ganze Ich- oder Bewußtseinszusammenhang ist ein Abstraktum, die unbegrenzbare Möglichkeit des Gegebenseins von Daten, dieses ist unvorstellbar, es muß immer repräsentiert werden durch irgendeine, wenn auch unzureichende Analogie, etwa einer sich stets erweiternden Sphäre, also durch eine oder einige bestimmte Vorstellungen, diese abe stehen natürlich im Gegensatz von Ich und DU, müssen dem Ich und Du angehören, und so überträgt sich dieser Gegensatz falscherweise vom Teil auf das durch ihn repräsentierte Ganze.

Der zweite Grund ist nur eine Seite des ersteren. Das "Allein" und "Alleinexistieren" hat keinen Sinn ohne einen Gegensatz zu einer Vielheit, der gegenüber eben das Allein betont wird. Aber der allumfassende Bewußtseinszusammenhang hat keinen Gegensatz zu etwas außer ihm, er sollte ja eigentlich auch nicht "allumfassend" genannt werden, weil darin eine Grenze, eine Vollendung liegt, während das Bewußtseinsganze ein unvollendbarer Gedanke ist. Das Bewußtseinsganze könnte daher nur als "alleinexistierend" bezeichnet werden, wenn es durch irgendetwas charakterisiert werden könnte, das nicht in ihm liegt, gegenüber von etwas außerhalb seiner. Aber ein solches Charaktermerkmal gibt es nicht; Alles liegt in ihm, das Bewußtseinsganze ist durch nichts charakterisierbar als durch seinen Inhalt. Wenn man frägt: wer denkt dieses oder jnes, so wird auf den Leib hingewiesen: gut, es ist mein Leib, aber dieser ist doch auch Bewußtseinsinhalt. Wer denkt diesen Leib? Ich? Ja, "Ich" wurde ja eben allein durch diesen Leib charakterisiert und soll nun wieder das sein, was charakteristisch für diesen Leib ist (2). Man dreht sich eben im Kreis herum.

Der Solipsismus ist ein Wort, wie leider viele andere sind, die von Mund zu Mund gehen und bei denen doch Niemand sich die Mühe macht, zu untersuchen, welche konkrete Grundlage, welchen Sinn sie haben. Es existiert weder mein Leib, noch irgendein fremder Leib allein, daher auch nicht mein oder ein anderes Ich allein, welche sich allein an den Gegensatz von meinem und den fremden Leibern anschließen. Und wenn mein Leib aufhört, dann kann mein konkretes Ich aufhören; nie aber der Ichzusammenhang als solcher, soll überhaupt etwas existieren. Mein Ich muß aber nicht aufhören, ,wenn in einem durch keinen Leib charakterisierten zweiten Zusammenhang von Daten die Erinnerung an diesen Leib und den alten Gegensatz von Ich und Du verbleibt.

Doch das sind Hypothesen, die nur den Wert haben können, die Behauptung des Aufhörens der Persönlichkeit nach dem Tod in ihrer ganzen heutzutage völlig übersehenen Unzulänglichkeit darzustellen. Praktisch aber gilt und galt stets der Unsterblichkeitsglaube, denn es ist unmöglich, irgendetwas Bestimmtes nach seinem Tod zu denken, ohne auch sich hinzuzudenken, d. h. eben ohne es in einem Gegensatz des Ich und Du zu denken, man denkt sich immer als nach seinem Tod die Welt immer noch betrachtend und das tut in unbewachten Augenblicken auch der starrste Materialist, wenn er auch im bewachten davon abstrahiert.

Nun bleiben nur noch einige Worte übrig. Ist nämlich der Vorwurf des Solipsismus für unseren Standpunkt theoretisch falsch, wenn auch nicht für den sich an der Oberfläche Haltenden ohne solipsistischen Schein, so ist praktisch auch nicht einmal dieser Schein vorhanden. Das fremde Ich steht in jeder Beziehung gleichberechtigt dem eigenen gegenüber. In der Erinnerung ist sogar das fremde Ich und das eigene erschlossen, nur knüpft sich das eigene Ich auch in der Erinnerung an den eben jetzt empfundenen Leib, das fremde an irgendeinen vorgestellten oder wahrgenommenen fremden Leib. Was von mir in kausaler Beziehung gilt, gilt auch per analogiam vom erschlossenen Ich und was ich für das fremde Ich an Gesetzmäßigkeit erschließen muß, gilt auch für mich. Der ganze Unterschied reduziert sich darauf, daß der eigene Leib stets und in einer vom fremden Leib ganz unterschiedene Weise gegeben ist, während der fremde Leib auch fehlen kann und sehr oft fehlt. Wer also unserem Standpunkt gegenüber von Solipsismus reden will, der bestimme zuerst, was er unter Solipsismus versteht: das Wort selbst ist freilich weder schwer zu schreiben noch zu sprechen.
LITERATUR Richard von Schubert-Soldern, Grundlagen einer Erkenntnistheorie, Leipzig 1884