ra-2L. StephingerW. HasbachG. MyrdalE. HeimannW. A. JöhrF. Lifschitz    
 
HERO MOELLER
Zur Frage der Objektivität
des wirtschaftlichen Prinzips

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"Windelband  fand für die nicht auf Gesetze gerichteten Disziplinen den Begriff der Ereigniswissenschaften und schrieb ihnen die  idiographische  im Gegensatz zur  nomothetischen  Denkweise zu. Das Prinzip der Einteilung, welches damit gefunden war, und für die gesamte Methodologie von großer Bedeutung wurde, zeigt sich als nicht durch das Inhaltliche des Gegenstandes, sondern durch das Formale der Begriffe bestimmt."

"Die Gegenstände sind für das Erkennen niemals unmittelbar als solche  gegeben,  sondern werden vielmehr von jeder Wissenschaft erst durch synthetische Begriffsbildung erzeugt. Die kombinativen Funktionen des wissenschaftlichen Forschens beruhen hiernach auf einer  frei  disponierenden Auswahl aus dem Material und einer schöpferischen Synthesis in der Neufügung seiner Momente."

"Die Qualität eines Vorgangs als sozial-ökonomischer Erscheinung ist nicht etwas, was ihm als solchem  objektiv  anhaftet. Sie ist vielmehr bedingt durch die Richtung unseres Erkenntnis interesses,  wie sie sich aus der spezifischen Kulturbedeutung ergibt, die wir dem betreffenden Vorgang im einzelnen Fall beilegen."

"Für  Max Weber  ist alle Erkenntnis der Kulturwirklichkeit eine Erkenntnis unter spezifisch gesonderten Gesichtspunkten, die ihrerseits nur  subjektiv  sind, d. h. nicht dem Stoff selbst entnommen werden, sondern von vornherein kraft der Wertideen, mit denen der Forscher unbewußt an den Stoff herangeht, dazu dienen, aus einer absoluten Unendlichkeit von Geschehenem einen winzigen Bestandteil als das  herauszuheben,  worauf es - subjektiv - anzukommen scheint."

Die Art des von NEUMANN verwandten psychologischen Gesichtspunktes und seine Verknüpfung mit den Begriffen der Kausalität und der Willensfreiheit erinnert an die Konflikte, welche die wissenschaftliche Psychologie zu durchlaufen hatte, ehe sie sich aus der Verquickung mit ethischem, nach heutigen Begriffen vorwissenschaftlichem Räsonnement befreit sah. Dieses Vergleichen verschiedener menschlicher Triebe, wie NEUMANN es unternimmt, indem er z. B. "wirtschaftlichen Eigennutz" und "Ehrgeiz nebeneinanderstellt, um, wie HELMHOLTZ am letzteren, so am ersteren zu beweisen, daß alle aus ihm sich ergebenden "Folgen" niemals als notwendige Wirkungen angesehen werden könnten, und somit ein naturwissenschaftlich-strenges Gesetz auf dem Gebiet der Nationalökonomie nicht denkbar ist, diese Auseinandersetzungen über die Grade von "Lust" bzw. "Unlust". durch deren Addition und Subtraktion sich die Prinzipien des wirtschaftlichen Handelns aus der Psyche heraus "erklären" sollen (39), waren auf die Dauer nicht imstande, sich den Fortschritten der philosophischen Kritik gegenüber zu behaupten. War doch schon die historische Schule der Nationalökonomie selbst sehr früh auf die Einseitigkeit und die Gefahren einer derartigen psychologistischen Argumentation aufmerksam geworden. Wenn sie aber gegen die "ungenügende Psychologie" der Klassiker die mögliche Vielheit der menschlichen "Triebe" als Argument ins Feld führte, so begegnete sie sofort dem Einwand WAGNERs, daß der Egoismus der einzige beständige und dauernde Beweggrund menschlichen Handelns ist (40). Ihn sachgemäß zu prüfen, war der Historismus aber nicht imstande, solange er selbst nicht das Gebiet ethischer Argumentatioin, welches zuerst KNIES mit viel Leidenschaftlichkeit betreten hatte, verließ. KNIES selbst hatte mit seinem unbewußten Übertritt zur Theorie ohnehin bewiesen, daß es nicht gerade ein bestimmter ethischer Standpunkt sein konnte, der die Grundlage der Lehren der klassischen Schule bildete und ihre Gesetze möglich machte. Die von Allgemeinbegriffen aus argumentierende, wirtschaftstheoretische Psychologistik, sei es, daß sie auftritt als ethischer Voluntarismus, sei es, daß sie - im Sinne von WIESERs - die Physiologie der Bedürfnisse zugrunde legt, steht aller modernen wissenschaftlichen Psychologie fern, und mußte umso mehr von philosophischer Seite aus bekämpft werden, je größere Fortschritte die auf der Tagesordnung stehende Trennung von Logik und Psychologie erreichte.

Das Hindrängen zur psychologischen Erklärung der theoretischen Phänomene war aber nicht nur veranlaßt durch den Wunsch nach Erforschung der Ursächlichkeit, sondern stand zugleich in einer umfassenderen Beziehung zu gesamtgeistigen Strömungen: das Problem der Methode der Geisteswissenschaften, in dessen Mittelpunkt die Frage nach Gegenstand und Bedeutung der Psychologie gerückt war, trat auch an die Nationalökonomie heran und stellte diese vor eine Aufgabe, welche voraussetzte, daß man sich über das Wesen der nationalökonomischen Gesetze im Klaren befand. Diese Voraussetzung traf schon bei MENGER, dessen "Untersuchungen" man als den ersten modernen Versuch zu einer Methodologie der Wirtschaftslehre bezeichnen darf, wie wir sahen, nicht zu. Daraus erklärt es sich, daß seine Stellung zur Frage der Einordnung der Nationalökonomie in das System der Wissenschaften eine nicht ganz einheitliche war. Er hatte zwei Hauptrichtungen der Forschung überhaupt und der auf dem Gebiet volkswirtschaftlicher Erscheinungen insbesondere unterschieden, die individuelle (historische im weitesten Sinn des Wortes) und die generelle (theoretische) (41), und es gelang ihm, eine klare Klassifikation der Nationalökonomie durch diese Scheidung in zwei Hälften zu bewirken. Gleichzeitig im Sinne COMTEs geneigt, eine Einheit der Wissenschaften anzunehmen, und die geistigen Erscheinungen von den physischen nur durch ihre größere Kompliziertheit zu unterscheide, hatte er versucht, die nationalökonomischen Gesetze als den physikalischen analog auf die  "weniger komplizierten  Phänomene der Natur und des Menschenlebens" begründet hinzustellen (42). Auf diesen Vergleich mit der Physik paßten naturgemäß, wie MENGER richtig erkannte, wenn überhaupt, so nur die exakten theoretischen Gesetze, so daß die "empirische Richtung der theoretischen Nationalökonomie" in den Bereich der Gesellschaftswissenschaften, denen ja COMTE die Möglichkeit von Gesetzen zuerkannt hatte, einzuordnen war.

Für die gesamte Entwicklung des Problems der Klassifizierung der Wissenschaften ist es eigentümlich, daß der Unterschied verschiedener Art möglicher Gesetzmäßigkeit sehr wenig beachtet wurde; nur so konnte die Zweiteilung nach dem Prinzip von "Natur" und Geist vorgenommen werden. (43)

Die Kraft, welche das Problem in Bewegung brachte und in den Vordergrund schob, war das Bestreben, dem Geistigen wieder die Autonomie zu verschaffen, welche durch die Vorherrschaft naturwissenschaftlicher Erkenntnisprinzipien bedroht schien. Die reine Selbständigkeit des Geisteslebens, auf den Begriff einer Freiheit des Willens begründet, hatte sich zu behaupten gegen Gefahren, die von seiten naturwissenschaftlich auftretender, alle Wirklichkeit für sich in Anspruch nehmender geistiger Strömungen gegen sie gerichtet waren. Die Selektionstheorie machte Miene, auch das Reich des Geistigen naturwissenschaftlich erklären zu wollen. Eifrige Anhänger DARWINs priesen den durch sie gewiesenen Weg als die allein wissenschaftliche Methode auch für die Gebiete der Psychologie, Soziologie und Geschichte. Der Utilitarismus verquickte sich bei SPENCER mit dem Evolutionsgedanken und erklärte den "Altruismus" als ein praktisches Prinzip, welches dazu dient, die Gesellschaftsgruppen im Kampf ums Dasein zu erhalten! Der Positivismus COMTEs, der Empirismus MILLs wirkten nicht minder in dieser Richtung. Der mathematisch-logische Gesetzesbegriff (wie er MENGER ungeklärt vorschwebt) wurde aus seiner besonderen Stellung, die er noch in der HEGELschen Dreiteilung des Geistes eingenommen hatte, verdrängt, und durch den des Allgemeinen, der "allgemeinen Tatsache", überdeckt. Damit glaubte man ein gemeinsames Prinzip der Methode, ein gleiches Ziel der Erkenntnis für alle Wissenschaften, von der Mathematik bis weit hinüber zur Geschichte, entdeckt zu haben, in ihm verkörperte sich der Gedanke der einheitlichen Herrschaft der naturwissenschaftlichen Denkweise. Wie in England es mit MILL als Ideal erschien, die Geschichte zur Naturwissenschaft zu "erheben", oder ein Schüler COMTEs, wie BUCKLE, es versuchte, die "Naturgesetze des Völkerlebens" zu erforschen, so fand sich in Deutschland die breite Strömung des Materialismus, sei es, daß mit FEUERBACH der Geist nur mehr die "Natur in ihrem Anderssein" bedeuten sollte, sei es, daß dem Sozialismus eines MARX und ENGELS, hegelsche und comtesche Gedanken miteinander verarbeitend, die Geschichte als der durch die bloßen ökonomischen Verhältnisse bedingte Entwicklungsprozeß der Gesellschaft erschien. Die Naturwissenschaften selbst, in der Philosophie vertreten durch die HELMHOLTZ, KIRCHHOFF, MACH und HERTZ fanden sich von jenen Strömungen, für welche der skeptische Positivismus des "Ignorabimus" der populäre Ausdruck war, getragen. Man pochte auf die bloße "Erfahrung" und berief sich, durch F. A. LANGEs "Geschichte des Materialismus" angeregt, auf KANT, ohne doch den transzendentalen Gedanken zu realisieren.

Die Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften hatten einen schweren Stand, wenn sie bestrebt sein wollten, sich diesen Strömungen gegenüber als methodisch selbständige Disziplinen zu erhalten. Doch konnte es nicht fehlen, daß gerade in Deutschland das kühl-indifferente naturwissenschaftliche Denken, welches den Menschen zum bloßen Glied der Gattung zu machen drohte, einem energischen Individualismus begegnete. Dem Naturgesetz stellte sich die Kulturidee, der materialistischen die voluntaristische Auffassung entgegen. Die Psychologie insbesondere behauptete ihre Eigennatur und Eigengesetzlichkeit (WUNDT) und vermochte sich zu stützen auf die Ichlehre FICHTEs oder die Willensmetaphysik SCHOPENHAUERs, und wenn sie naturgemäß gezwungen war, vom Begriff der Seelensubstanz Abstand zu nehmen, so fand sich doch Ersatz in der allmählichen Entwicklung einer von der Philosophie selbst mehr oder weniger als losgelöst betrachteten selbständigen empirischen Disziplin, die sich den  "Geisteswissenschaften"  als Grundlage ihrer Erkenntnisse zur Verfügung stellte. Allerdings machten diese keinen wesentlichen Gebrauch vom Angebot WUNDTs! Wenn er lehrte, daß, "wo immer wir Erscheinungen außerhalb von uns wahrnehmen, die wir mit geistigen Vorgängen, welche den in uns erlebten ähnlich sind, in Verbindung bringen, da ist an und für sich das eigene innere Erlebnis der nächste Maßstab der Beurteilung" (44), so beschrieb er genau das, was DILTHEY ohne Zuhilfenahme der wissenschaftlichen Psychologie praktisch als Methode der Erkenntnis verwandte. Im Gegensatz zu WUNDT aller Metaphysik abhold, gab DILTHEY in seiner "Einleitung in die Geisteswissenschaften" diesen die Selbständigekeit, die ihnen COMTE und MILL zu entreißen versucht hatten, wieder. Die Erkenntnis der Welt des Geistes, seien es gesellschaftliche, seien es geschichtliche Gegenstände, erschien ihm möglich durch ein besonderes, sorgfältiger Ausbildung fähiges psychisches Vermögen: nachempfindend, nachfühlend kann eine Erkenntnis des inneren Wesens der Dinge gewonnen werden; den Geisteswissenschaften allein ist dieser Weg vorbehalten, das Gesetz als Ziel der Erkenntnis bleibt unbeschränkt auf naturwissenschaftliche Gegenstände. Vertreten sowohl WUNDT wie DILTHEY eine Vertiefung der geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse mittels einer beschreibenden Psychologie, so legte WUNDT, der diese Disziplin seinerseits mit naturwissenschaftlichen Hilfsmitteln auszubilden unternahm, mehr als DILTHEY das Schwergewicht auf die Erkenntnis der Bedingungen, die durch die Abhängigkeit des Individuums von der geistigen Umgebung - das Milieu im Sinne TAINEs - gegeben sind. Eigentliche historische  Gesetze  gibt es jedoch auch für WUNDT durchaus nicht. Irgendwelche empirisch festgestellte Gesetzmäßigkeiten d. h. äußere Gleichförmigkeiten im Verlauf der Vorgänge müssen so lange weiter analysiert werden, bis es gelingt, sie auf bekannte Formen  psychischer Kausalität  zurückzuführen (45). So soll die Psychologie sich immer mehr zu einer vorherrschenden Wissenschaft entwickeln, denn, wie WUNDT in seiner "Logik" zu erweisen versuchte, gelangt man in den Geisteswissenschaften überall auf bestimmte psychologische Probleme, zu deren Lösung die Heranziehung der gewonnenen psychologischen Erfahrungen notwendig sein soll.

Für das Problem der Klassifizierung der Wissenschaften ergab sich aus diesen Umständen insofern eine besondere Schwierigkeit, als die Psychologie - im modernen Sinn einer zum Teil experimentell forschenden Disziplin - selbst schwerlich unter die Geisteswissenschaften eingeordnet werden konnte. Die Aufgaben der Psychologie, wie sie sich in der neueren Zeit gestaltet haben, erstrecken sich von den psychophysischen Elementarstudien der Individualpsychologie bis zu den verwickelten Gebilden der Sozialpsychologie, deren Analyse an die Grenzen der historischen Forschung streift. In der Mitte zwischen beiden Extremen steht die Erkenntnis des inneren Sinns, die Selbstwahrnehmung des Bewußtseins, die für alle Hilfsdisziplinen auf der Seite jener Extreme die fundamentale Voraussetzung bildet.
    "Ihrem Hauptstoff und ihrer wesentlichen Bestimmung nach ist die Psychologie Naturforschung im Sinne einer Gesetzeswissenschaft; in die Kulturwissenschaft reicht sie nur insoweit hinein, als sie etwa in der Art der Charakterologie seelische Individualitätn als solche, sei es in ihrer einmaligen Gelegenheit, sei es in ihrer typischen Struktur zu verstehen sucht. In der Einteilung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften dagegen findet die Psychologie nur kümmerlich ihren Platz auf der Seite der letzteren." (46)
Der Stand der psychologischen Wissenschaften bewies, daß, wenn man bestimmte Wissensgebiete von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen abzutrennen und ihnen eine besondere Methodik zuzuschreiben wünschte, die Unterscheidung der Geisteswissenschaften von denen der Natur nicht zum Ziel führen konnte. WINDELBAND ersetzte daher die Trennung, welche auf der metaphysischen Dualität von Natur und Geist beruhte, durch diejenige von Gesetzeswissenschaften und Ereigniswissenschaften und stützte sich demgemäß auf die psychologische Dualität von äußerer und innerer Erfahrung. Von vornherein lag, wie aus den Gründen des ganzen Bestrebens der Klassifizierung hervorgeht, notwendig das Schwergewicht des Problems auf einer klaren Herausarbeitung der Methode der nicht auf Gesetze gerichteten Disziplinen. WINDELBAND fand für sie den Begriff der Ereigniswissenschaften und schrieb ihnen die "idiographische" im Gegensatz zur nomothetischen Denkweise zu (47). Das Prinzip der Einteilung, welches damit gefunden war, und für die gesamte Methodologie von großer Bedeutung wurde, zeigt sich als nicht durch das Inhaltliche des Gegenstandes, sondern durch das Formale der Begriffe bestimmt. Der logische, quantitative Gegensatz des Generellen und des Singularen liegt dem "intellektuellen Interessenunterschied von Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft" (48) zugrunde. Während man früher die Begriffsbildung vielfach in der Geschichte als einen bloßen Fall der Anwendung des Allgemeinen auf das "Besondere" anzusehen pflegte, war nunmehr dem historischen Denken eine eigene Methode eingeräumt: RICKERT schuf ihr den breiten wissenschaftlichen Untergrund und vertiefte gleichzeitig das Problem wesentlich, indem er generalisierende und individualisierende Begriffsbildung für Naturwissenschaften bzw. "Geschichte" voneinander schied (49). Diese Neueinteilung entsprang auf der einen Seite der Erkenntnis der Notwendigkeit, die sogenannten deskriptiven Naturwissenschaften, die nicht minder als die "exakten" Gesetzeswissenschaften als im Gegensatz zu den idiographischen stehend zu betrachten waren, deutlicher einzugliedern (50), und auf der anderen Seite dem Wunsch, mehr als bisher, und insbesondere schärfer, als es SIMMEL in seinen "Problemen der Geschichtsphilosophie" getan hatte, die psychologische Deutungsweise auszuschalten. RICKERT betrachtet es als sein besonderes Verdienst, an ihre Stelle den Gedanken der "Begriffsbildung", d. h. ein formallogisches Kritierum der Einteilung gesetzt zu haben (51). Den Ansichten RICKERTs hat sich demgemäß WINDELBAND im Großen und Ganzen in seinen späteren Veröffentlichungen angeschlossen. Von der "Badischen Schule" aus ging nur MÜNSTERBERG mit seinem Gegensatz von "objektivierenden und subjektivierenden Wissenschaften" eigene, wenn auch verwandte Wege (52).

Diesem Wandel in der Auffassung vom Wesen der Geschichtswissenschaft, welcher nicht nur für die moderne Geschichtsschreibung selber eine förderliche Krisis und - wie im Streit ziwschen LAMPRECHT und von BELOW - eine Auseinandersetzung brachte, sondern wie natürlich für die Gesellschaftswissenschaft überhaupt, und damit zugleich die Sozialökonomik, in methodologischer Hinsicht entscheidend war, lag ein tieferer Wechsel in der geschichtsphilosophischen Problemstellung zugrunde. Wenn RICKERT die zweite Auflage seiner "Grenzen" zu einer Logik der Geschichtswissenschaft gestaltet hat, so ist damit ein Thema gegeben, welches den naturwissenschaftlichen und metaphysischen Deutungen nicht eigentlich gegensätzlich, sondern als etwas Neues sich gegenüberstellte. Wohl gründet sich die "Badische Schule" auf kantische Gedankengänge, aber ihr Kantianismus erweist sich eher in ihrer Lehre allgemeingültiger Wertideen, insofern diese weder psychogenetisch, noch metaphysisch, sondern als einem "Normalbewußtsein"  notwendig  anhaftende Werte ansich (53) erklärt werden sollen, zeigt sich jedoch nicht in der Auffassung vom Wesen des geschichtswissenschaftlichen Problems. Diesem gegenüber war KANTs Fragestellung eine kausaltheoretische:
    "Wie ist es möglich, daß bei der anscheinenden Freiheit der Willensimpulse und Handlungen der einzelnen Menschen doch im Ganzen ein regelmäßiger Gang der Weltgeschichte besteht?
Die Antwort auf diese Frage fand KANT nicht in einem natürlichen, sondern in einem "kultürlichen" Begriff, dem des Staates. Schuf HEGEL diesem Staatsbegriff, indem er ihn als den des Volksgeistes faßte, des Weltgeistes, der sich zum Bewußtsein seiner sittlich-geistigen Freiheit entwickelt, den kausalmetaphysischen Hintergrund, so war sein Blick auf die Lösung eines der Geschichte in ihrem Fortgang selbst anhängenden ethischen Problems gerichtet. Das Problem der Geschichtsphilosophie war bei ihm, mehr als bei KANT, das der Geschichte selbst.

Bei aller Gegensätzlichkeit, durch welche die sozialistisch-naturwissenschaftliche Richtung des Positivismus sich vom deutschen Idealismus unterschied, lag hier ein Gemeinsames. Nicht jedoch die Möglichkeit der Freiheit als theoretisches Entwicklungsproblem suchte COMTE zu ergründen, sondern ihre Wirklichkeit als "Intelligenz" zu erweisen. Natur und Kultur erscheinen nicht als gegensätzliche, sondern als konkurrierende Faktoren: beide zusammen schaffen die Bedingungen des geschichtlichen Werdens, das der Notwendigkeit ihrer Gesetze unterworfen, und nur aus ihnen heraus erklärbar ist. Aus den Gesetzen des Intellekts glaubte BUCKLE diejenigen der Geschichte ablesen zu können! War COMTE entfernt davon, wie dieser, die Statistik als Mittel der Erkenntnis jener Gesetze zu betrachten, so hatte doch auch er durchaus den Blick auf ein äußeres, gegenständliches Geschehen gerichtet. Die Unterscheidung psychischer von mechanischer Kausalität lehnte er ab. COMTE will die geistigen und sinnlichen Funktionen des Menschen nicht durch innere Beobachtung mittels der von ihm als gänzlich unfruchtbar verachteten Methode der Individualpsychologie erkannt wissen, sondern durch äußere Beobachtung (54). Die COMTEsche Konzeption von Kulturzeitaltern, wie sie sich später ähnlich bei LAMPRECHT wiederfand, gründete sich auf eine sozialpsychologische Betrachtungsart, die bestrebt war, allgemeine Bedingungen des historischen Verlaufs als  Voraussetzungen  alles  besonderen  Geschehens zu ermitteln. In dieser Beziehung HEGEL nicht gegensätzlich gegenüberstehend, beschränkt COMTE doch das Ziel des Erkenntnisstrebens auf die Erfassung des Mannigfaltigen der  Erfahrung Den Gedanken des Sammelns einer Fülle tatsächlicher Inhalte äußerer Gegebenheit findet man in der kollektivistischen und materialistischen Geschichtsauffassung überall als bestimmendes Moment wieder. Es ist das Charakteristikum dieser geistigen Bewegungen, daß ihnen - was allerdings erst ihre Fruchtbarkeit möglich machte - dabei der erkenntniskritische Gedanke fern stand. Auch die Fragen, die LOTZE an die Geschichte richtete, gingen - im Sinne HERDERs - auf ihre  Bedeutung und die "Bedingungen ihres  Verlaufs":  Wenn er den Mechanismus der Naturgesetze als die notwendige Form betrachtete, in der die immanenten Wirkungsimpulse der Wesen sich nach außen verwirklichen (55) und er daher der mechanischen Kausalität ebenso wie der psychischen gerecht zu werden suchte, so handelte es sich bei dieser Erklärung des - von KANT (siehe oben) formulierten - Freiheitsproblems um eine Frage des  Seins nicht des Erkennens. Bei WUNDT, welcher gegenüber KANT die objektive Erkennbarkeit des dem "inneren Sinn" Gegebenen durch eine Widerlegung der Apriorität der Zeit zu behaupten versuchte, trat die erkenntniskritische Problemstellung, die er damit fand, in den Dienst einer metaphysischen Erklärung des  Geschehens.  WUNDT ist, neben EUCKEN, derjenige, welcher die Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften mittels einer metaphysischen Begründung zur Anerkennung als selbständige Disziplinen zu bringen versuchte. Aber gerade sein erkenntniskritischer Standpunkt fand vielfach Widerspruch, und historischen Gegenständen gegenüber brachte ihn weder dieser noch sein metaphysischer Voluntarismus zu mehr als der allgemeinen Überzeugung, daß Geschichtsphilosophie und Universalgeschichte sich decken (56). So verwies auch DILTHEY die Geschichtsphilosophie auf die konkrete Detailforschung, und sah ihre Aufgabe in der Zusammenfassung großer Gesichtspunkte zu einem "geistigen Bild".

Die Frage, welche die Philosophie WINDELBANDs und insbesondere RICKERTs an die Geschichte richtete, war eine grundsätzlich andere: nicht für Ursache und Wirkung im Verlauf der Geschichte wurde nach Begriffen gesucht, nicht die Frage nach der Möglichkeit einer allgemeinen Ansicht geschichtlicher Bedingungen und Verhältnisse in den Vordergrund gerückt, sondern das Problem erschien als ein methodologisches, erkenntniskritisches. Der logische Vorgang des Erkennens selbst mußte, wenn überhaupt "Geschichte" als eine den Naturwissenschaften gegenüber selbständige Disziplin dastehen konnte, ein eigenartiger sein. Der kantische Begriff der Erfahrung als eines durch das Denken erst geschaffenen "Gegenstandes" regte an zu einer vergleichenden BEtrachtung der "Begriffsbildung". Die Methodologie ist nach WINDELBAND (57) eine Art vergleichender Morphologie der Wissenschaften und hat zu untersuchen, nach welchen Prinzipien in den verschiedenen Disziplinen die Auswahl und die Synthesis in der Erzeugung der Gegenstände vollzogen werden. Aus dem formalen Unterschied des Generellen und Singularen ergab sich für WINDELBAND die Trennung von nomothetischer und idiographischer Forschung. Natürlich gibt WINDELBAND, und entsprechend auch RICKERT, zu, daß es sich bei dieser Unterscheidung nicht um eine absolute Verschiedenheit aller Begriffe handelt, vielmehr sollen mit dem Gegensatz von "Gesetz" und "Ereignis" nur letzte Zielpunkte der Erkenntnis bzw. die "polaren Gegensätze" bezeichnet werden, zwischen denen sich die wirkliche Arbeit der Wissenschaften sich so bewegt, daß nur von einem Überwiegen des einen oder des anderen Moments die Rede sein kann. Zur Widerlegung recht zahlreicher diesbezüglicher Einwände charakterisiert WINDELBAND die Bedeutung der Unterscheidung folgendermaßen:
    "Das letzte Ziel aller Naturforschung sind die allem zeitlichen Wechsel entrückten Gattungsbegriffe des Seins und des Geschehens: aber das schließt nicht aus, daß sie der Weg dazu über die Etappen einmaliger Zusammenhänge führt, an denen sie ausruhen darf oder vorläufig Halt machen muß. Denn die nomothetische Rationalisierung der Wirklichkeit hat ihre Grenze eben an dieser selbst. Andererseits ist der spezifische Gegenstand aller Geschichtsforschung stets ein in seiner Einmaligkeit bedeutsames Gebilde, das aus seiner Verzweigung mit den benachbarten Gleichgültigkeiten herausgehoben werden soll: aber zum Verständnis eines solchen Gebildes bedarf die Historie allgemeiner Begriffe und Sätze, welche sie freilich mehr  der allgemeinen Erfahrung,  als den Naturwissenschaften (zu denen in dieser Hinsicht auch die Psychologie gehört) erfolgreich zu entnehmen pflegt, und gerade für die Charakteristik des besonderen schafft sie sich selbst die Möglichkeit durch eine eigene Art von Gattungsbegriffen und durch die vergleichende Auffassung von Regelmäßigkeiten. So greifen generalisierendes und individualisierendes Denken stets ineinander; sie bedürfen eines des anderen, und das methodische Wesen einer Wissenschaft entscheidet sich daran, welches von beiden ihr als Zweck und welches als Mittel dient." (58)
Bei der WINDELBAND-RICKERTschen Problemstsellung tritt die frühere Frage nach dem Wesen des Geschehens zurück vor der nach seinem "Sinn". Der logische Vorgang des Erkennens wird so vorgestellt, daß aus einem "Mannigfaltigen" historischer Gegebenheiten, aus dem Vielen der wahrgenommenen Momente (WINDELBAND) eine Zerlegung nach Form und Inhalt erfolgt, d. h. eine unterscheidende Analysis und rekonstruierende Synthesis im Denken stattfindet, wobei die "unvermeidliche" Unvollständigkeit der Analysis eine auswählende Spontaneität der Synthesis erforderlich macht. Die Gegenstände sind für das Erkennen niemals unmittelbar als solche gegeben, sondern werden vielmehr von jeder Wissenschaft erst durch synthetische Begriffsbildung erzeugt. Die kombinativen Funktionen des wissenschaftlichen Forschens beruhen hiernach auf einer "frei" disponierenden Auswahl aus dem Material und einer schöpferischen Synthesis in der Neufügung seiner Momente. Das Verhältnis zum Gegenstand ist durch diese Erklärung in eigentümlicher Weise doppelt bedingt, einmal wird die "Richtung" von Auswahl und Synthesis durch die zielsichere Absicht des Forschens, und weiter das Ergebnis der Neuschöpfung durch die sachliche Notwendigkeit des erzeugten Gegenstandes bestimmt. Es schwebt hier der Gedanke vor, das von KANT für die exakten Wissenschaften, insbesondere für die reine Mathematik festgestellte Prinzip der spontanen Konstruktivität in der Synthesis auch für sie sogenannten empirischen Wissenschaften als Erklärung zu verwenden. Je nachdem, ob nun wesentlich auf das "reflektiert" wird, was sich aus dem Wahrgenommenen zur Bildung von Gattungsbegriffen und zur Auffindung von Gesetzen eignet, oder ob das "Wertbewußtsein" das gegenständliche Prinzip der Auswahl und Synthesis ist, entsteht nach WINDELBAND Naturwissenschaft bzw. Kulturwissenschaft, Geschichte. Jedenfalls, was in den Erkenntnissen der letzteren an "Allgemeingültigkeit" enthalten ist, verdankt seinen Ursprung dieser Beziehung auf das "System der Werte".

Auf diese Weise wird versucht, einmal die Verschiedenheit der logischen Struktur der Wissenschaften zu erklären, und außerdem den Unterschied zwischen der bloßen Wahrnehmung, bzw. dem bloßen Erleben und dem wissenschaftlichen Gegenstand begreiflich zu machen. Die Theorie der Erkenntnis, wie sie hier gegeben wird, ist eine transzendental-idealistische: die Bedingungen werden in das Subjekt als logisches Ich verlegt. Hier liegt naturgemäß auch die Schwierigkeit; während für KANT der Zwang des Objekts aufgelöst war durch die Autonomie des Denkens, wie sie in den "reinen" Wissenschaften stattfindet oder wie sie ihm als vorhanden vorschwebte, soweit überall Mathematisches, Exaktes, Rein-Logisches gestaltend am Werk ist, während also für KANT in gewissem Sinne das Wahrgenommene sich mit dem Konstruierten deckte, weil es ihm nur um die Erklärung exakter Erkenntnis als solcher zu tun war, bleibt  hier  im Grunde die Frage ungelöst, ob und wie weit das Mannigfaltige des empirischen Geschehens die Erkenntnis von sich aus bedingt. Es ist in WINDELBANDs System nur ein Begriff eines Mannigfaltigen der Wahrnehmung überhaupt gegeben, worauf alles Vermögen des Denkens sich richtet, um einerseits frei - also mit einer gewissen Willkür, die als unaufgelöstes Problem übrig bleibt -, entweder nach der einen oder nach der anderen Seite hin zu schalten und zu walten, d. h. zu generalisieren oder zu individualisieren. Diese Schwierigkeit zu beheben wird versucht durch die Annahme, daß doch gewisse Unterschiede in den wahrzunehmenden Objekten von vornherein eine verschiedene Stellungnahme veranlassen (also z. B., wenn WINDELBAND definiert, Kulturwissenschaft handle von dem, was der Mensch aus sich und seiner Umwelt gemacht hat), während gleichzeitig die Vorstellung besteht, daß unter Umständen gegenüber ebendenselben ursprünglichen Gegenständen sowohl nach dem einen wie nach dem anderen Prinzip verfahren werden könnte. Es ist bedeutsam, daß sich demgemäß hier das Problem der Freiheit einschleicht und die moderne, auch von WINDELBAND vertretene Auflösung desselben (indem die Tatsache der Determiniertheit des Willens durch die "Verhältnisse" der Erziehung, des Erlebens überhaupt als selbstverständlich betrachtet und die "absolute" Freiheit geleugnet wird) für die Kritik der Erkenntnis keine vollkommene Klarheit gewährt.

Deutlicher wird dieser Mangel, wenn nicht nur die Mannigfaltigkeit des Seins des Wahrnehmbaren, sondern auch das zeitliche Geschehen, welches in der WINDELBAND-RICKERTschen Theorie zu kurz kommt, ins Auge gefaßt wird. Das alte Kausalitätsproblem, die Frage nach den Ursachen in der Aufeinanderfolge des wirklichen Geschehens, wie sie uns oben überall entgegentrat, ist doch, wie wir nunmehr erkennen, durch diese Theorie nicht gegenstandslos geworden. Allerdings wird die Theorie, welche erkennt, daß ihre Problemstellung eine neuartige ist, zugeben, daß sie nur eine neue Seite der alten Frage beleuchtet, sie aber nicht restlos erklärt, daß also gegenüber dem erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt das kausalmetaphysische Problem für sich bestehen bleibt. Es kann aber leicht geschehen, daß ein Versuch, dieses zu lösen, nur möglich erscheint durch eine Verwerfung der gewonnenen erkenntniskritischen Einsicht.

Ausschlaggebend ist hier das Verhältnis zur Metaphysik. Es bleibt die Frage offen, ob das System der Werte metaphysisch oder nicht metaphysisch gedeutet werden soll. Wenn nicht, so erscheint es nicht anders denkbar als
    "ein inhaltliches System, das aus dem wirklichen Geschichtsverlauf heraus abstrahiert ist und im wesentlichen der abendländischen Kultur entspricht, und doch wieder aber, in die Sphäre der autonomen Allgemeingültigkeit und Apriorität versetzt, diesen am objektiven Ideal zu messen und befähigen soll." (59)
Bei jeder metaphysischen Deutung aber gelangt man naturgemäß dazu, das System der Werte in das Geschehen selbst hineinzuverlegen, und im Sinne HEGELs die Geschichte als die Verwirklichung der allgemein-notwendigen Ideen zu betrachten. Damit würde aber ein Gesetzmäßiges in die Geschichte hineingetragen sein, welches mit dem individuellen Charakter der historischen Erkenntnisse sich nicht wohl vereinbaren läßt. (60)

Entscheidet man sich aber, wie es im Grunde in der WINDELBAND-RICKERTschen Theorie geschieht, über das Verhältnis zur Metaphysik überhaupt nicht definitiv, so bleibt die Frage nach dem Wesen des Geschehens, nach der Kausalität, offen, es sei denn, daß man alles ins Subjekt zu verlegen sich entschließen kann und das alte Problem des "Weltgrundes" negiert. Jedenfalls scheint es, daß RICKERT in seiner Auseinandersetzung mit COMTE und mit WUNDT sowie dem "Psychologismus" überhaupt doch unterschätzt, daß es sich von vornherein um zwei ganz verschiedene Fragestellungen handelt, von denen die Betrachtung ausgeht, zwei unterschiedliche Ziele, auf die sich die Untersuchung richtet, so daß mit der Lösung des erkenntnistheoretischen Problems noch nichts für die des alten kausalen Gedankens getan ist. Mit dem transzendentalen Idealismus des erkenntnistheoretischen Standpunkts verbindet sich ein empirischer Realismus bezüglich des "ursprünglich Wahrgenommenen" (über das, als vorbegrifflich, nichts ausgesagt werden darf, und - wie im Problem der Dinge-ansich - schließlich doch wieder etwas ausgesagt werden muß), der hier in den Erfahrungswissenschaften noch viel schwieriger lösbar ist, als in der exakten Wissenschaft, die KANT im Auge hat, und mit der Suche nach den Ursachen und Gesetzen des Geschehens im Sinne der alten naturwissenschaftlichen Richtung ist leich ein erkenntnistheoretischer "naiver Realismus" verbunden. WUNDT sucht die zugrunde liegende Antinomie zu lösen, indem er die Geisteswissenschaften auf eine eigene, die "psychische" Kausalität begründen will, und findet demgemäß auch den Weg zur Metaphysik. WINDELBAND hält ihm entgegen, daß die Psychologie nur wiederum Naturerkenntnis treibt, d. h. nach dem Prinzip der mechanischen Kausalität die Rekonstruktion der Erfahrung vornimmt. Die Naturwissenschaft zerlegt nach ihm die "Wahrnehmungsgebilde" in ihre Elemente, und begreift die komplexen physischen und psychischen Gebilde so, daß das Ganze als Ergebnis seiner Teile und durchgängig durch sie bestimmt angesehen wird, während auf dem Gebiet der historischen Erkenntnis es sich um "personale oder überpersonale Einheiten" von organischer Struktur handelt, in denen das Ganze ebenso die Teile bestimmt, wie die Teile das Ganze (61). Bei dieser in den Verschiedenheiten des Objekts der Wahrnehmung begründeten Trennung der Wissenschaften bleibt das Problem der Psychologie auch für WINDELBAND schließlich offen, indem er die Frage, "wie weit das seelische Leben von der naturwissenschaftlichen Psychologie mit ihrer mechanischen Kausalität der Assoziationen begriffen werden kann" als ein Problem des Wissens bezeichnet, welches "alle Schwierigkeiten der Methodologie sozusagen  in nuce  [im Kern - wp] vereinigt".


Man sieht leicht, wie tief das einfach scheinende Problem der Klassifizierung der Wissenschaften eingreift in eine Vielheit von erkenntnistheoretischen, metaphysischen und logischen Fragen, die, hervorgerufen durch geistesgeschichtliche Strömungen, den verschiedenen Versuchen der Lösung eine Grenze setzen. Diese augenscheinliche Komplizierung mußte sich naturgemäß in allen Bestrebungen, auch die Sozialökonomik bezüglich ihrer Methode nach Maßgabe des neugewonnenen und insbesondere von RICKERT bis in alle Einzelheiten durchforschten erkenntniskritischen Gesichtspunkts zu untersuchen, widerspiegeln. Überdies bringt der Charakter der nationalökonomischen Erkenntnisse eine besondere Schwierigkeit in das Problem hinein, weil einerseits der Gegenstand der Wissenschaft, die menschliche Wirtschaft, eine einheitliche Methode denkbar zu machen scheint, andererseits aber, wie der Methodenstreit innerhalb der Nationalökonomie zur Genüge bewieß, nach dem tatsächlichen Stand der Wissenschaft mindestens zwei voneinander zu trennende Erkenntnisarten unterschieden werden mußten. Die Besonderheit der logischen Struktur in den generalisierenden Bestimmungen der theoretischen Sozialökonomik, wie sie MENGER erfaßt hatte, blieb, wie erwähnt, wenig beachtet. WINDELBAND unterscheidet allerdings drei Grundarten von Einzelwissenschaften, in denen das gedankliche Verhältnis zwischen dem  Allgemeinen  und dem Besonderen sich verschieden spezifiziert und trennt die Erkenntnisformen der mathematischen Anschauung, des naturwissenschaftlichen Denkens und der kulturwissenschaftlichen Forschung (62). RICKERT beschränkt sich aber aus Gründen einer schärferen logischen Fassung auf die Gegenüberstellung von Natur und Geschichte; wenn er an die Stelle des Begriffs der "Gesetzeswissenschaften" den der auf eine generalisierende Begriffsbildung gegründeten "Naturwissenschaften" setzt, so hauptsächlich deshalb, weil (siehe oben) auf diese Weise die bloßen empirischen Gesetzmöglichkeiten sich eher mit den "exakten" Gesetzen unter eine einzige Klasse einordnen lassen, deren Kriterium die Allgemeinheit in der Form der Erkenntnis sein soll. Alle Naturwissenschaft eilt nach RICKERT zum Qualitätslosen, nicht mehr Mannigfaltigen der "letzten Dinge", und in dieser Richtung der Erkenntnis liegen auch die Begriffe der Mathematik, deren Bedeutung für die Begriffsbildung in der Naturwissenschaft insofern für ihn nur eine relative ist (63).

Im übrigen macht die zweifache Beziehung im Objekt der Sozialökonomik, d. h. ihre Bezogenheit sowohl auf Gegenstände der Natur, als auch auf solche des gesellschaftlich-menschlichen Lebens, die Eingliederung unter das bloße Schema von Natur- und Kulturwissenschaften im Grunde von vornherein unmöglich, und es ist die Konzession einer methodologisch noch nicht selbständig erfaßten Disziplin an die vorgefundene Betrachtungsweise, wenn der Versuch gemacht wird, sie nach den auf andere Wissenschaften berechneten Gesichtspunkten einzuordnen. Es fragt sich, ob nicht wenigstens in der theoretischen Nationalökonomie sich der Gegenstand der Wahrnehmung nach einer durchaus eigenartigen Richtung hin formt. Während sie im Rahmen der WINDELBANDschen Klassifikation noch unter die Kulturwissenschaften gerechnet werden müßte, jedenfalls wenn man vom Begriff der "Kultur" ausgeht, würde in der Einteilung RICKERTs eine Einordnung unter die Naturwissenschaften erfolgen müssen, insofern als nach RICKERT zumindest der Soziologie die Möglichkeit gesetzesbildender Erkenntnisse zugeschrieben wird.

Die Belebung und Vertiefung, die der nationalökonomische Methodenstreit durch die neuen Probleme der Erkenntnistheorie empfing, machte sich zunächst sowohl dadurch bemerkbar, daß die bisher verwandten Begriffe von "Deduktion", "Abstraktion", "Induktion", "Gesetz", "Isolierung" usw. einer gründlichen Revision unterzogen wurden (64), als auch durch eine schärfere Kritik der Frage nach der ursprünglichen, kausalen Grundlage der theoretischen Nationalökonomie. Einerseits durch diese Hineinziehung des Problems der psychischen Kausalität und des Psychologismus überhaupt, andererseits infolge der Notwendigkeit, die Frage der Beziehung auf allgemeine Werte auch für die Nationalökonomie, insbesondere ihre historischen Bestandteile und deren Erkenntnis zu klären, vertiefte sich der Streit um das Verhältnis der Wirtschaftswissenschaft zu den Normen der Ethik sehr wesentlich.

Im Anschluß an die Gedanken RICKERTs und SIMMELs, weniger MÜNSTERBERGs, versuchte MAX WEBER, die Sozialökonomie als historische Wissenschaft von der Vermischung mit ethischen Gesichtspunkten zu befreien (65). Die Problemstellung WEBERs ist  erkenntnistheoretisch;  die Frage nach der Klassifizierung der Wissenschaften entscheidet sich nach den Mitteln, deren sich das erkennende Subjekt bedient, um die Gegenstände der Erkenntnis zu "deuten".
    "Die Qualität eines Vorgangs als sozial-ökonomischer Erscheinung ist nicht etwas, was ihm als solchem  objektiv  anhaftet. Sie ist vielmehr bedingt durch die Richtung unseres Erkenntnis interesses,  wie sie sich aus der spezifischen Kulturbedeutung ergibt, die wir dem betreffenden Vorgang im einzelnen Fall beilegen." (66)
Wie SCHMOLLER das Hauptgewicht auf die Erkenntnis der ethischen Bedingtheit auch des wirtschaftlichen Lebens legte, so WEBER auf die wirtschaftliche Bedingtheit des gesamten Kulturwerdens. Nach ihm bedient sich die ökonomische Interpretation des Geschichtlichen gesetzmäßiger Erkenntnisse nur als Mittel zum Zweck: die Kausalfrage ist, wo es sich um die Individualität einer Erscheinung handelt, keine Frage nach Gesetzen, sondern nach "konkreten kausalen Zusammenhängen". Wo immer die kausale Erklärung einer "Kulturerscheinung", eines historischen Individuums, in Betracht kommt, da kann die Kenntnis von Gesetzen - seien es psychologische oder ökonomische - nicht Zweck, sondern nur Mittel der Untersuchung sein.
    "Für die exakte Naturforschung sind Gesetze umso wichtiger und wertvoller, je allgemeingültiger sie sind, für die Erkenntnis der historischen Erscheinungen in ihrer konkreten Voraussetzung sind die allgemeinsten Gesetze, weil die inhaltleersten, regelmäßig auch die wertlosesten. Die Erkenntnis des Generellen ist uns in den Kulturwissenschaften nie um ihrer selbst willen wertvoll." (67)
Die Erkenntnis von sozialen Gesetzen ist keine Erkenntnis des sozial Wirklichen, sondern nur eins von den verschiedenen "Hilfsmitteln", die  unser Denken  braucht. Kulturvorgänge sind nicht anders erkennbar, als auf der Grundlage der Bedeutung, welche die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens (!) in bestimmten einzelnen Beziehungen für uns hat. Die Gegenstände der konkreten Kultur bezieht der Forscher auf die in ihm lebenden  Wert ideen. Wenn WEBER die Kultur bezeichnet als ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der "sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens", so schließt er sich damit eng an die WINDELBANDsche Theorie der mit Hilfe von allgemeinen Wertideen möglichen selektiven Synthese an. Auch für WEBER ist alle Erkenntnis der Kulturwirklichkeit eine Erkenntnis unter "spezifisch gesonderten Gesichtspunkten", die ihrerseits nur subjektiv sind, d. h. nicht dem Stoff selbst entnommen werden, sondern von vornherein kraft der Wertideen, mit denen der Forscher unbewußt an den Stoff herangeht, dazu dienen, aus einer absoluten Unendlichkeit von Geschehenem einen winzigen Bestandteil als das herauszuheben, worauf es - subjektiv - anzukommen scheint.

Die Interpretation historischer oder allgemeiner ökonomischer Vorgänge mittels des Begriffs eines wirtschaftlichen Triebes, d. h. die Vorstellung einer besonderen Maxime wirtschaftlichen Handelns als Prinzip einer zureichenden Erklärung der Wirklichkeit, wird demgemäß von WEBER abgelehnt. Wenn die abstrakte Theorie glaubte, es handle sich bei ihm um die psychologische Isolierung eines spezifischen Triebes, des "Erwerbstriebs", im Menschen, oder aber um die isolierte Beobachtung einer spezifischen Maxime menschlichen Handelns, so befand sie sich, wie nunmehr WEBER erkennt, im Unrecht. Die psychologische Analyse kann nicht zur Grundlegung, sondern lediglich zur Vertiefung der Erkenntnis der Kulturbedingtheit und Kulturbedeutung gesellschaftlicher Institutionen dienen (68); aber nicht deshalb etwa sind Gesetze des Handelns als Erklärungsgrundlage zu verwerfen, weil, wie KNIES behauptet hatte, die Irrationalität des Psychischen überhaupt gesetzmäßige Formulierungen ausschließt; die Unanwendbarkeit des Satzes "causa aequat effectum" [Die Ursache entspricht der Wirkung. - wp] auf das menschliche Handeln sei nicht abzuleiten aus irgendeiner "objektiven" Erhabenheit des Ablaufs psychophysischer Vorgänge über die Naturgesetzlichkeit im allgemeinen oder über spezielle Axiome, wie etwa das von der Erhaltung der Energie usw., sondern das subjektive Eingreifen von Wertungen, an denen "unser geschichtliches Interesse verankert ist", läßt sich aus der Unendlichkeit der ansich historisch sinnlosen und gleichgültigen ursächlichen Komponenten das für uns Bedeutsame als Gegenstand der Erkenntnis entstehen. (69) Die Frage nach der kausalpsychologischen Bedingtheit ist demgemäß gleichgültig gegenüber dem Problem der subjektiven Begriffsbildung. In der Untersuchung dieser von ihm als einer logischen erkannten Frage findet WEBER ein einheitliches Prinzip für die Gesellschaftswissenschaft überhaupt durch seinen Begriff des Idealtypus, unter den er sowohl bestimmte Begriffsbildungen in der Historie, wie auch die nomothetischen Formulierungen der abstrakten Theorie zu subsumieren sucht. Diese sind Ideen, Idealbilder historischer Erscheinungen, die bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge vereinigen. Durch die "Idealtypen" wird die individuelle Eigenart eines empirischen Zusammenhangs pragmatisch veranschaulicht und verständlich gemacht. Am individuellen Charakter des Historischen hält WEBER streng fest. Die Richtung auf die Erkenntnis der Eigenart des empirischen Geschehnisses ist die Grundlage allen Verständnisses auch der ökonomischen Wirklichkeitserscheinungen. In der Nationalökonomie stehen also die allgemeinen Begriffe, als Ideen, Idealtypen, Idealbilder usw. im Dienste des individuellen Verständnisses. Man kann etwa aus bestimmten Erscheinungen der Industrie die Idee einer kapitalistischen Kultur, oder vielmehr eine ganze Anzahl "Utopien" dieser Art entwerfen, von denen keine der andern gleicht, von denen auch keine in der empirischen Wirklichkeit als tatsächlich geltende Ordnung der gesellschaftlichen Zustände angesprochen werden darf, die aber alle gewisse, in ihrer  Eigenart  bedeutungsvolle Züge der Kulturwirklichkeit entnommen und dadurch die Zusammenfassung in ein einheitliches Ganzes verwertet haben.
    "Diejenigen Phänomene, welche uns als Kulturerscheinungen interessieren, leiten regelmäßig unser Interesse - ihre Kulturbedeutung - aus sehr  verschiedenen Wertideen  ab, zu denen wir sie in Beziehung setzen können. Wie es deshalb die verschiedensten "Gesichtspunkte" gibt, unter denen wir sie als für uns bedeutsam betrachten können, so lassen sich die allerverschiedensten Prinzipien der Auswahl der in einem Idealtypus einer bestimmten Kultur aufzunehmenden Zusammenhänge zur Anwendung bringen." (70)
Man findet bei WEBER eine umfangreiche Demonstration von idealtypischen Begriffsbildungen, wie sie in der Geschichte sowohl wie in der empirischen und theoretischen Wirtschaftslehre auftreten, doch fehlt der Theorie der Begriffsbildung bei ihm diejenige erkenntnistheoretische Fundamentierung, in welcher sie in der Philosophie WINDELBANDs und RICKERTs verankert war. Der Vorgang der Erkenntnis war hier ganz allgemein erklärt durch das Prinzip einer durch die Beziehung auf Werte möglichen Auswahl aus dem Mannigfaltigen der Wahrnehmung überhaupt. Bei WEBER drängt sich trotz allem Versuch, eine gleiche Richtung der Betrachtung des Problems einzuschlagen, die subjektive Beziehung auf Werte in den Hintergrund gegenüber dem Gedanken der Begriffsbildung vermöge einer durch eine "rationale Steigerung" der Wirklichkeit gewonnenen Typisierung. Dieser Wandel erklärt sich naturgemäß durch den WEBER vorschwebenden besonderen Charakter der Begriffe in der theoretischen Volkswirtschaftslehre - mit der sich RICKERT (71) nicht eingehend befassen konnte -, das Generelle in ihnen mußte in ein logisches Verhältnis gebracht werden zum Inhalt der Erkenntnis des Empirisch-Historischen, wenn überhaupt eine methodologisch  einheitliche  Erklärung der wirtschaftswissenschaften Erkenntnisse geschaffen werden konnte. Bei der Bildung von "Idealtypen" fehlt es an jenem festen Maßstab, wie ihn RICKERT im System der Werte gewann. Die WINDELBAND-RICKERTsche Wertlehre ist ein enges System weniger höchster Prinzipien, an denen eben alle individuelle Beurteilung von Vorgängen, welche von Menschen bewirkt sind, sich orientiert, die einen festen allgemein-notwendigen, außerräumlichen und außerzeitlichen, d. h. bloß formalen "Maßstab zur Beurteilung historischer Dinge" abgeben. Das System der Werte ist in erster Linie am kantischen kategorischen Imperativ angeschlossen. Die RICKERTsche Lehre der Begriffsbildung hängt notwendig an der vorgestellten formalen "Objektivität" der höchsten Prinzipien, der erkenntniskritische Gesichtspunkt, welcher von WINDELBAND und RICKERT eingeschlagen wird, verliert seine typische Bedeutung, wenn die Allgemeingültigkeit der Werte und die Notwendigkeit der Beziehung aller Beurteilung auf sie nicht mehr anerkannt bleibt. Für RICKERT ist die "Objektivität" des Wertbegriffs dadurch gewährleistet, daß in ihm eine bloß formale Pflichtbeziehung zum Ausdruck kommt. Der Historiker verfährt nach ihm umso objektiver, je mehr der den  Inhalt  seiner leitenden Wertgesichtspunkte dem historischen Material selbst entimmt (72). Für RICKERT besteht eine  überempirische  Voraussetzung der empirischen Geschichtsforschung, indem auch
    "vom rein theoretisch-wissenschaftlichen Standpunkt aus die Beziehung der wirklichen wertenden und  wollenden  Subjekte auf irgendwelche absolut gültigen Werte notwendig bleibt."
Bloß der Wert eines pflichtbewußten Willens hat unbedingte Geltung, nicht irgendein sonstiger ethischer Maßstab einer Geschichtsphilosophie. Den Pflichtwert bei den Menschen der Geschichte realisiert nach RICKERT der Historiker, indem ihm selbst forschend der Wert der Wahrheit vorschwebt. Die Anerkennung der wirklich betriebenen Wissenschaft als eines  unbedingt  wertvollen Gutes hat die Anerkennung des pflichtbewußten Willens zur Voraussetzung (73). So fußt RICKERT auf einem formalen und ganz allgemeinen Begriff der Pflicht, welcher insofern notwendig ist, als er für den Forscher selbst die Erforschung der Wahrheit allererst möglich macht. Diesen formalen Pflichtbegriff projiziert RICKERT auf die Gesellschaft vermöge seiner Idee der Kulturverwirklichung. Kultur ist nur da gegeben, wo in einer Gemeinschaft deren Glieder normativ allgemeine Werte anerkennen, d. h. die Anerkennung selber, nicht der Inhalt der Wertideen ist es, wodurch Kultur als möglich gedacht werden kann.

Die Gesichtspunkte, nach denen bei der WEBERschen Bildung von "Idealtypen" verfahren wird, sind im Gegensatz dazu nach Gegenständen, nach Zeit und Ort grundsätzlich verschieden. Während als bei RICKERT der erkenntniskritische Standpunkt, als bloß subjektiver, doch zugleich in der transzendental vorgestellten "Objektivität" allgemein-notwendiger Prinzipien verankert ist, sind es bei WEBER die vielfachen "interessanten" Erscheinungen, die der Forscher subjektiv erfaßt, indem ihm eine Vielheit von Kulturwerten vorschwebt:
    "zwischen dem historischen Interesse an einer Familienchronik und demjenigen an der Entwicklung der denkbar größten Kulturerscheinungen, welche einer Nation oder der Menschheit in langen Perioden gemeinsam waren und sind, besteht eine unendliche Stufenleiter der "Bedeutungen", deren Staffeln für jeden einzelnen von uns eine andere Reihenfolge haben werden."
Die  "den Forscher und seine Zeit  beherrschenden Wertideen" bestimmen, was Gegenstand der Untersuchung wird, und wieweit eine Untersuchung sich in die Unendlichkeit der "Kausalzusammenhänge" erstreckt. Hier sieht WEBER auch den wesentlichen Unterschied der verschiedenen wissenschaftlichen Diszplinen; er sieht in ihnen weniger prinzipielle, sondern gradweise Verschiedenheiten, indem er alle Forschung überhaupt an feste "Normen unseres Denkens" gebunden sieht, die ihm als überall gleich vorschweben. (74) Der Gedanke der prinzipiellen Verschiedenartigkeit des logischen Verfahrens, wie er für die Theorie RICKERTs grundlegend ist, tritt in den Untersuchungen WEBERs zurück. Nur dadurch, daß RICKERT ein über alle Wirklichkeit erhabenes System von Prinzipien, seien sie metaphysisch, im Sinne HEGELs oder transzendental im Sinne KANTs gedacht, findet und zum "objektiven", d. h. außerhalb aller Erfahrung stehenden Maßstab einzusetzen versucht, ist zugleich eine eigentlich "objektive" Scheidung der Wissenschaften möglich. Metaphysik wie auch Apriori werden jedoch von WEBER nicht in den Umfang seines Problems aufgenommen. Dem Relativismus seiner "Wertideen" entspricht ein gewisser Empirismus seiner Gesamtauffassung. Über der Erfahrung liegt für ihn nur ein Begriff der Logik, welcher selbst aber seinen allgemein-notwendigen Bedingungen nach nicht näher erklärt wird. Eine rein logische und damit wissenschaftlich Stellungnahme des Forschers scheint dadurch gegeben, daß bei der Aufstellung von "Ideal typen"  von der wertenden Beurteilung der Wirklichkeit aus irgendwelchen  "Idealen streng geschieden wird. Der Idealtypus enthält für ihn "logische Vollkommenheit" (75). Aber es fehlt eine klare Einheit im Begriff des "Idealtypus" gegenüber der verschiedenen logischen Struktur derjenigen Vorstellungskomplexe, die darunter begriffen werden sollen. Für WEBER kam es darauf an, dem Begriff des "Ideals" den axiologischen Beigeschmack zu nehmen und durch den Zusatz des "Typischen" einen Begriff werturteilsfreier Wissenschaft zu erhalten. In dieser Begriffsfestlegung zeigt sich insoweit die rein logische Bedeutung der in den Wirtschaftswissenschaften und insbesondere der theoretischen Nationalökonomie vorkommenden Begriffsbildungen. Die Idealtypen sind für WEBER ins "Rationale" gesteigerte Vorstellungen. Das Vernunftelement des Allgemein-Notwendigen, welches WEBER sowohl in Gestalt eines Wert-Apriori wie in der der HEGELschen, sich in der Realität auswirkenden Idee verwirft, kommt bei ihm im Begriff eines "rationalen Handelns" zum Durchbruch. Der Begriff der Rationalität ergibt sich für ihn als Gegensatz zu der von KNIES zum Beweis der Unmöglichkeit von gesetzmäßigen Bestimmungen in den Geisteswissenschaften behaupteten Irrationalität der menschlichen Handlungen. Diese sollten durch die "Willensfreiheit" aller eigentlichen Kausalerklärung entrückt sein. WEBER weist - hierin sehr mit Zustimmung RICKERTs - nach, daß das Problem der Willensfreiheit in allen Formen, die es überhaupt annehmen kann, durchaus jenseits des Betriebes der Geschichte steht und für sie ohne alle Bedeutung ist, wenn es in irgendeinem anderen Sinn gefaßt wird als dem der Erklärung  zweckvoll-rationalen  Handelns. Die  "deutende"  Motiverforschung des Historikers ist seiner Ansicht nach in absolut dem gleichen logischen Sinn eine kausale Zurechnung wie die kausale Interpretation des individuellen Naturvorgangs, denn ihr Ziel ist die Feststellung eines zureichenden Grundes genauso, wie diese bei komplexen Naturvorgängen, falls es auf deren individuelle Bestandteile ankommt, allein das Ziel der Forschung sein kann (76). Je mehr Freiheit des Willens gegeben ist, desto mehr besteht also die Möglichkeit rationalen Handelns. Dessen Idealtypus wird für WEBER zum "Deutungsschema" für die Erkenntnis und zum Mittel der "kausalen Interpretation".
    "Der Eindruck von der ganz spezifischen Irratonalität des Persönlichen entsteht dadurch, daß der Historiker das Handeln seiner Helden und die daraus sich ergebenden Konstellationen am Ideal teleologisch-rationalen Handelns mißt."

    "Gerade der empirisch frei, d. h. nach Erwägungen Handelnde, ist teleologisch durch die nach Maßgabe der  objektiven Situation  ungleichen und erkennbaren Mittel zur Erreichung seiner Zwecke gebunden. Dem Fabrikanten im Konkurrenzkampf, dem Makler an der Börse hilft der Glaube an seine  Willensfreiheit  herzlich wenig. Er hat die Wahl zwischen ökonomischer Ausmerzung oder der Befolgung sehr  bestimmter  Maximen des ökonomischen Gebarens."
Dieser Grundgedanke der Möglichkeit eines nach bestimmten objektiven Zwecken gerichteten rationalen Handelns, dessen Typisierung zugleich das Prinzip der Erklärung, der Deutung des aus ihm folgenden Seins und Geschehens ist, erscheint hiernach als eine Verwertung des erkenntnistheoretischen Gesichtspunkts der WINDELBAND-RICKERTschen "Wertbezogenheit" im Hinblick auf die Beurteilung ökonomischer Vorgänge, wie sie innerhalb der theoretischen Nationalökonomie geschieht. Der Idealtypus in diesem engeren Sinne, als Idee größter Rationalität der Wirtschaft, hat damit die große Bedeutung, einen Maßstab  ethisch indifferenter  Art an die Hand zu geben, vermöge dessen eine rein sachliche Beurteilung wirtschaftlicher Geschehensfolgen stattfinden kann. In diesem Sinne sind für WEBER die Gesetze der theoretischen Nationalökonomie "idealtypische Konstruktionen". Da das Problem, welches WEBER vor Augen hat, die pragmatische Erklärung der Begriffsbildung ist, so geht er - ebensowenig wie RICKERT in den "Grenzen" das System der Wert selbst als Problem behandelt -, auf die Untersuchung des Wesens der durch solche Idealtypen zum Ausdruck gebrachten Vernunftgemäßheit des Handelns nicht ein. Obwohl er von der "Rationalität" spricht, bestreitet er doch zugleich MENGER gegenüber jeden "denknotwendigen" Gehalt der "exakten" Gesetze der theoretischen Nationalökonomie (77). Gegenüber der kausalpsychologischen Interpretation der Gesetze seitens NEUMANNs und DIETZELs, oder der ethischen Grundlegung durch SCHMOLLER, will WEBER - statt einer seelischen Analyse der Persönlichkeit mit Hilfe irgendwelcher besonderer Mittel psychischer Erkenntnis - eine Analyse der "objektiv" gegebenen Situation mit Hilfe unseres "nomologischen Wissens".
    "Die Deutung verblaßt hier,  bei der rationalen, technischen Wertung,  zu einem allgemeinen Wissen davon, daß wir zweckvoll handeln können. Infolge der eminenten faktischen Bedeutung des in diesem Sinn  zweckmäßigen  Handelns in der empirischen Wirklichkeit läßt sich die teleologische Rationalisierung als konstruktives Mittel zur Schaffung von Gedankengebilden verwenden, welche den außerordentlichen Wert für die kausale Analyse haben."
WEBER unterscheidet konstruktive Gedankengebilde in der Historie, wo sie "individuellen" Charakter - wie etwa durch die "Konstruktion einer durch supponierte Zwecke einerseits, durch die Konstellation der  Großen Mächte  andererseits bedingten Politik  Friedrich Wilhelms IV." - von "idealtypischen Konstruktionen generellen Charakters, wie es die Gesetze der abstrakten Nationalökonomie sind, welche unter der Voraussetzung streng rationalen Handelns die Konsequenzen bestimmter Situationen gedanklich konstruieren." So ein "teleologisches  Schema  rationalen Handelns ist eine kausale Deutung mit problematischer empirischer Geltung". WEBER unterscheidet sehr scharf die rationale Geltung von der empirischen Verwirklichung und widerlegt auf diese Weise den alten Einwand gegen die abstrakttheoretischen Gesetze, die sich auf ihre Irrealität stützen zu können meinte. Das Wesen der Rationalität selber wird hier nicht schärfer geprüft, wie überhaupt das Wesen des Generellen, d. h. seine logische Möglichkeit innerhalb der nationalökonomischen Erkenntnisse gegenüber der Frage nach seiner praktischen Bedeutung für die Erkenntnis des Individuellen bei WEBER als Problem zurücktritt.
LITERATUR Hero Moeller, Zur Frage der Objektivität des wirtschaftlichen Prinzips, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 47, Tübingen 1920/21
    Anmerkungen
    39) Vgl. ANDREAS VOIGT, Der ökonomische Wert der Güter, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 1892, Seite 193f
    40) WAGNER, Grundlegung, a. a. O., § 67.
    41) MENGER, Untersuchungen, a. a. O., Seite 12 und 32.
    42) MENGER, Untersuchungen, a. a. O., Seite 53f
    43) Vgl. für das Folgende vielfach die philosophie-geschichtlichen Werke von WINDELBAND (insbesondere sein "Lehrbuch", OSWALD KÜLPE, ÜBERWEG-ÖSTERREICH und auch KUNO FISCHER.
    44) WILHELM WUNDT, Logik II, dritte Auflage 1906/08, Seite 28.
    45) vgl. EDMUND KÖNIG, Wilhelm Wundt als Psychologe und als Philosoph, Stuttgart 1909, Seite 172
    46) WILHELM WINDELBAND, Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1914, Seite 241f.
    47) WINDELBAND, Geschichte und Naturwissenschaft, Straßburger Rektoratsrede, abgedruckt in "Präludien, Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie", vierte Auflage 1911, Bd. 2, Seite 5.
    48) WINDELBAND, Prinzipien der Logik, Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften, Tübingen 1913, Seite 42.
    49) HEINRICH RICKERT, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung", zweite Auflage, Tübingen 1913.
    50) RICKERT, Grenzen, a. a. O., Seite 267
    51) RICKERT, Grenzen, a. a. O., Seite 270.
    52) MÜNSTERBERG, Grundzüge der Psychologie, 1900
    53) WINDELBAND, a. a. O., Seite 254
    54) ERNST BERNHEIM, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, Leipzig 1903, Seite 654f.
    55) BERNHEIM, a. a. O., Seite 680.
    56) WUNDT, Über Ziele und Wege der Völkerpsychologie, Philosophische Studien, Bd. IV, Leipzig 1888, Seite 6f.
    57) WINDELBAND, Logik, Seite 42
    58) WINDELBAND, Logik, Seite 45. Diesen Auffassungen WINDELBANDs schließt sich auch von KRIES an ("Logik, Grundzüge einer kritischen und formalen Urteilslehre", 1916) und zwar sowohl bezüglich der bloßen Relativität der Trennung, wie bezüglich der Eingliederung der Psychologie in die Naturwissenschaften bzw. Gesetzeswissenschaften. (Vgl. Seite 510f)
    59) Siehe ERNST TROELTSCH, Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge, Berliner Universitätsrede vom 27. Januar 1916, Seite 26f.
    60) Vgl. TROELTSCH, a. a. O., Seite 21 und 26: "wollte man die trotz aller Verwerfung der Metaphysik im Grunde doch sehr metaphysisch empfundene Lehre  Rickerts  in diesem Sinne interpretieren, so würde man auf den letzten unauflöslichen Gegensatz, auf den zwischen dem von ihm so stark betonten individuellen Charakter eines allgemeingültigen und objektiven Systems der Werte stoßen." TROELTSCH vertritt die Ansicht, daß dies überhaupt nicht das "Ausleseprinzip" bildet und man im Interesse der Wahrung des individuellen Charakters der Geschichte sowohl auf alle Allgemeingültigkeit, Zeitlosigkeit, Absolutheit und Abstraktheit der Beurteilungsmaßstäbe, wie auf eine "einfache Einerleiheit mit der Vernunft ansich oder mit einem göttlichen Weltwesen" verzichten müsse; vielmehr eine tiefe und lebendige Einfühlung in das Individuelle historische Ganze, und die Gewißheit, darin einen inneren Zug der Entwicklung, eine innere Lebensbewegung des Alls oder der Gottheit zu ergreifen, lassen nach TROELTSCH Maßstäbe der Beurteilung entstehen, die sehr wohl vom bloßen Subjektivismus der Einfälle und der Gewaltsamkeiten frei sein sollen.
    61) WINDELBAND, Logik, Seite 45
    62) WINDELBAND, Logik, Seite 45. In ähnlicher Weise trennt PAUL NATORP exakte, biologische und soziologisch-historische Disziplinen voneinander (vgl. "Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften", Leipzig 1910, Seite IV).
    63) vgl. RICKERT, Grenzen, a. a. O., Seite 75f, auch 60f.
    64) vgl. JOSEPH SCHUMPETER, Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte, Seite 106f
    65) MAX WEBER, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 1904, Seite 22f, ferner "Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie", Schmollers Jahrbuch 1903, Seite 181; 1905, Seite 1323; 1906 Seite 81.
    66) WEBER, Die Objektivität etc., a. a. O., Seite 37.
    67) WEBER, Objektivität, Seite 53f.
    68) WEBER, Objektivität, Seite 63.
    69) WEBER, Roscher und Knies I, a. a. O., Seite 1326f. In diesem Sinne wendet sich hier WEBER gegen die Kategorie des Schöpferischen in den Geisteswissenschaften, wie sie WUNDT lehrt.
    70) WEBER, Objektivität, a. a. O., Seite 66
    71) Vgl. RICKERT, Grenzen, Vorwort.
    72) RICKERT, Grenzen, Seite 606/7
    73) RICKERT, Grenzen, Seite 605
    74) vgl. WEBER, Objektivität, Seite 58
    75) WEBER, Objektivität, Seite 74
    76) WEBER, Roscher und Knies III, a. a. O., Seite 109
    77) WEBER, Roscher und Knies III, a. a. O., Seite 92