cr-2ra-2Der Sinn der Wertfreiheit dow
 
MAX WEBER
Die "Objektivität"
sozialwissenschaftlicher und
sozialpolitischer Erkenntnis
(1) (2)

I.

"Die Kritik macht vor den
Werturteilen nicht Halt."

Die erste Frage, mit der bei uns eine sozialwissenschaftliche und zumal eine sozialpolitische Zeitschrift bei ihrem Erscheinen oder bei ihrem Übergang in eine neue Redaktion begrüßt zu werden pflegt, ist: welches ihre "Tendenz" sei. Auch wir können uns einer Antwort auf diese Frage nicht entziehen, und es soll an dieser Stelle darauf im Anschluß an die Bemerkungen in unserem "Geleitwort" in etwas prinzipiellerer Fragestellung eingegangen werden. Es bietet sich dadurch Gelegenheit, die Eigenart der in unserem Sinne "sozialwissenschaftlichen" Arbeit überhaupt nach manchen Richtungen in ein Licht zu rücken, welches, wenn nicht für den Fachmann, so doch für manchen der Praxis der wissenschaftlichen Arbeit ferner stehenden Leser nützlich sein kann, obwohl oder vielmehr gerade weil es sich dabei um "Selbstverständlichkeiten" handelt.

Ausgesprochener Zweck des "Archivs" war seit seinem Bestehen  neben  der Erweiterung unserer Erkenntnis der "gesellschaftlichen Zustände aller Länder", also der  Tatsachen  des sozialen Lebens, auch die Schulung des  Urteils  über  praktische Probleme  desselben und damit - in demjenigen, freilich sehr bescheidenen Maße, in dem ein solches Ziel von privaten Gelehrten gefördert werden kann - die Kritik an der sozialpolitischen Arbeit der Praxis, bis hinauf zu derjenigen der gesetzgebenden Faktoren. Trotzdem hat nun aber das Archiv von Anfang an daran festgehalten, eine ausschließlich wissenschaftliche Zeitschrift sein zu wollen, nur mit den Mitteln  wissenschaftlicher  Forschung zu arbeiten, - und es entsteht zunächst die Frage: wie sich jener Zweck mit der Beschränkung auf diese Mittel prinzipiell vereinigen läßt. Wenn das Archiv in seinen Spalten Maßregeln der Gesetzgebung und Verwaltung oder praktische Vorschläge zu solchen  beurteilen  läßt - was bedeutet das? Welches sind die  Normen  für diese Urteile? Welches ist die  Geltung  der Werturteile, die der Beurteilende seinerseits etwa äußert, oder welche ein Schriftsteller, der praktische Vorschläge macht, diesen zugrunde legt? In welchem Sinne befindet er sich dabei auf dem Boden  wissenschaftlicher  Erörterung, da doch das Merkmal wissenschaftlicher Erkenntnis in der "objektiven" Geltung ihrer Ergebnisse als  Wahrheit  gefunden werden muß? Wir legen zunächst unseren Standpunkt zu  dieser  Frage dar, um daran später die weitere zu schließen: in welchem Sinne  gibt  es "objektiv gültige Wahrheiten" auf dem Boden der Wissenschaften vom Kulturleben  überhaupt?  - eine Frage, die angesichts des steten Wandels und erbitterten Kampfes um die scheinbar elementarsten Probleme unserer Disziplin, die Methode ihrer Arbeit, die Art der Bildung ihrer Begriffe und deren Geltung, nicht umgangen werden kann. Nicht Lösungen bieten, sondern Probleme aufzeigen, wollen wir hier, - solche Probleme nämlich, denen unsere Zeitschrift, um ihrer bisherigen und zukünftigen Aufgabe gerecht zu werden, ihre Aufmerksamkeit wird zuwenden müssen.





I.

Wir alle wissen, daß unsere Wissenschaft, wie mit Ausnahme vielleicht der politischen Geschichte jede Wissenschaft, deren Objekt menschliche Kulturinstitutionen und Kulturvorgänge sind, geschichtlich zuerst von  praktischen  Gesichtspunkten ausging. Werturteile über bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahmen des Staates zu produzieren, war ihr nächster und zunächst einziger Zweck. Sie war "Technik" etwa in dem Sinne, in welchem es auch die klinischen Disziplinen der medizinischen Wissenschaften sind. Es ist nun bekannt, wie diese Stellung sich allmählich veränderte, ohne daß doch eine prinzipielle Scheidung von Erkenntnis des "Seienden" und des "Seinsollenden" vollzogen wurde. Gegen diese Scheidung wirkte zunächst die Meinung, daß unabänderlich gleiche Naturgesetze, sodann die andere, daß ein eindeutiges Entwicklungsprinzip die wirtschaftlichen Vorgänge beherrsche und daß also das  Seinsollende  entweder - im ersten Falle - mit dem unabänderlich  Seienden,  oder - im zweiten Falle - mit dem unvermeidlich  Werdenden  zusammenfalle. Mit dem Erwachen des historischen Sinnes gewann dann in unserer Wissenschaft eine Kombination von ethischem Evolutionismus und historischem Relativismus die Herrschaft, welche versuchte, die ethischen Normen ihres formalen Charakters zu entkleiden, durch Hineinbeziehung der Gesamtheit der Kulturwerte in den Bereich des "Sittlichen" dies letztere  inhaltlich  zu bestimmen und so die Nationalökonomie zur Dignität einer "ethischen Wissenschaft" auf empirischer Grundlage zu erheben. Indem man die Gesamtheit aller möglichen Kulturideale mit dem Stempel des "Sittlichen" versah, verflüchtigte man die spezifische Dignität der ethischen Imperative, ohne doch für die "Objektivität" der Geltung jener Ideale irgend etwas zu gewinnen. Indessen kann und muß eine prinzipielle Auseinandersetzung damit hier beiseite bleiben: wir halten uns lediglich an die Tatsache, daß noch heute die unklare Ansicht nicht geschwunden, sondern besonders den Praktikern ganz begreiflicherweise geläufig ist, daß die Nationalökonomie  Werturteile  aus einer spezifisch "wirtschaftlichen Weltanschauung" heraus produziere und zu produzieren habe.

Unsere Zeitschrift als Vertreterin einer empirischen Fachdisziplin muß, wie wir gleich vorweg feststellen wollen, diese Ansicht  grundsätzlich ablehnen,  denn wir sind der Meinung, daß es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann,  bindende  Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können.

Was folgt aber aus diesem Satz? Keineswegs, daß Werturteile deshalb, weil sie in letzter Instanz auf bestimmten Idealen fußen und daher "subjektiven" Ursprungs sind, der wissenschaftlichen Diskussion überhaupt entzogen seien. Die Praxis und der Zweck unserer Zeitschrift würde einen solchen Satz ja immer wieder desavouieren. Die Kritik macht vor den Werturteilen nicht Halt. Die Frage ist vielmehr: Was  bedeutet  und bezweckt wissenschaftliche Kritik von Idealen und Werturteilen? Sie erfordert eine etwas eingehendere Betrachtung.

Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien "Zweck" und "Mittel". Wir wollen etwas in concreto entweder "um seines eigenen Wertes willen" oder als Mittel im Dienste des in letzter Linie Gewollten. Der wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich ist nun zunächst unbedingt die Frage der Geeignetheit der Mittel bei gegebenem Zwecke. Da wir (innerhalb der jeweiligen Grenzen unseres Wissens) gültig festzustellen vermögen,  welche  Mittel zu einem vorgestellten Zwecke zu führen geeignet oder ungeeignet sind, so können wir auf diesem Wege die Chancen, mit bestimmten zur Verfügung stehenden Mitteln einen bestimmten Zweck überhaupt zu erreichen, abwägen und mithin indirekt die Zwecksetzung selbst, praktisch sinnvoll oder aber als nach Lage der gegebenen Verhältnisse sinnlos kritisieren. Wir können weiter,  wenn  die Möglichkeit der Erreichung eines vorgestellten Zweckes gegeben erscheint, natürlich immer innerhalb der Grenzen unseres jeweiligen Wissens, die  Folgen  feststellen, welche die Anwendung der erforderlichen Mittel  neben  der eventuellen Erreichung des beabsichtigten Zweckes, infolge des Allzusammenhanges alles Geschehens, haben würde. Wir bieten alsdann dem Handelnden die Möglichkeit der Abwägung dieser ungewollten gegen die gewollten Folgen seines Handelns und damit die Antwort auf die Frage: was  "kostet"  die Erreichung des gewollten Zweckes in Gestalt der voraussichtlich eintretenden Verletzung  anderer  Werte? Da in der großen Überzahl aller Fälle jeder erstrebte Zweck in diesem Sinne etwas "kostet" oder doch kosten kann, so kann an der Abwägung von Zweck und Folgen des Handelns gegeneinander keine Selbstbesinnung verantwortlich handelnder Menschen vorbeigehen, und sie zu ermöglichen, ist eine der wesentlichsten Funktionen der  technischen  Kritik, welche wir bisher betrachtet haben. Jene Abwägung selbst nun aber zur Entscheidung zu bringen, ist freilich  nicht  mehr eine mögliche Aufgabe der Wissenschaft, sondern des wollenden Menschen: er wägt und wählt nach seinem eigenen Gewissen und seiner persönlichen Weltanschauung zwischen den Werten, um die es sich handelt. Die Wissenschaft kann ihm zu dem  Bewußtsein  verhelfen, daß  alles  Handeln, und natürlich auch, je nach den Umständen, das  Nicht-Handeln, in seinen Konsequenzen eine  Parteinahme  zugunsten bestimmter Werte bedeutet, und damit - was heute so besonders gern verkannt wird - regelmäßig  gegen andere.  Die Wahl zu treffen, ist seine Sache.

Was wir ihm für diesen Entschluß nun noch weiter bieten können ist:  Kenntnis  der  Bedeutung  des Gewollten selbst. Wir können ihn die Zwecke nach Zusammenhang und Bedeutung kennen lehren, die er will, und zwischen denen er wählt, zunächst durch Aufzeigung und logisch zusammenhängende Entwicklung der "Ideen", die dem konkreten Zweck zugrunde liegen oder liegen können. Denn es ist selbstverständlich eine der wesentlichsten Aufgaben einer jeden Wissenschaft vom menschlichen Kulturleben, diese "Ideen", für welche teils wirklich, teils vermeintlich gekämpft worden ist und gekämpft wird, dem geistigen Verständnis zu erschließen. Das überschreitet nicht die Grenzen einer Wissenschaft, welche "denkende Ordnung der empirischen Wirklichkeit" erstrebt, so wenig wie die Mittel, die dieser Deutung geistiger Werte dienen, "Induktionen" im gewöhnlichen Sinne des Wortes sind. Allerdings fällt diese Aufgabe wenigstens teilweise aus dem Rahmen der ökonomischen Fachdisziplin in ihrer üblichen arbeitsteiligen Spezialisation heraus; es handelt sich um Aufgaben der  Sozialphilosophie.  Allein die historische Macht der Ideen ist für die Entwicklung des Soziallebens eine so gewaltige gewesen und ist es noch, daß unsere Zeitschrift sich dieser Aufgabe niemals entziehen, deren Pflege vielmehr in den Kreis ihrer wichtigsten Pflichten einbeziehen wird.

Aber die wissenschaftliche Behandlung der Werturteile möchte nun weiter die gewollten Zwecke und die ihnen zugrunde liegenden Ideale nicht nur verstehen und nacherleben lassen, sondern vor allem auch kritisch "beurteilen" lehren.  Diese  Kritik freilich kann nur dialektischen Charakter haben, d.h. sie kann nur eine formal-logische Beurteilung des in den geschichtlich gegebenen Werturteilen und Ideen vorliegenden Materials, eine Prüfung der Ideale an dem Postulat der inneren  Widerspruchslosigkeit  des Gewollten sein. Sie kann, indem sie sich diesen Zweck setzt, dem Wollenden verhelfen zur Selbstbesinnung auf diejenigen letzten Axiome, welche dem Inhalt seines Wollens zugrunde liegen, auf die letzten Wertmaßstäbe, von denen er unbewußt ausgeht oder - um konsequent zu sein - ausgehen müßte. Diese letzten Maßstäbe, welche sich in dem konkreten Werturteil manifestieren, zum  Bewußtsein  zu bringen, ist nun allerdings das letzte, was sie, ohne den Boden der Spekulation zu betreten, leisten kann. Ob sich das urteilende Subjekt zu diesen letzten Maßstäben bekennen  soll,  ist seine persönlichste Angelegenheit und eine Frage seines Wollens und Gewissens, nicht des Erfahrungswissens.

Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er  soll,  sondern nur, was er  kann  und - unter Umständen - was er  will.  Richtig ist, daß die persönlichen Weltanschauungen auf dem Gebiet unserer Wissenschaften unausgesetzt hineinzuspielen pflegen auch in die wissenschaftliche Argumentation, sie immer wieder trüben, das Gewicht wissenschaftlicher Argumente auch auf dem Gebiet der Ermittlung einfacher kausaler Zusammenhänge von Tatsachen verschieden einschätzen lassen, je nachdem ob das Resultat die Chancen der persönlichen Ideale: die Möglichkeit, etwas Bestimmtes zu wollen, mindert oder steigert. Auch die Herausgeber und Mitarbeiter unserer Zeitschrift werden in dieser Hinsicht sicherlich "nichts Menschliches von sich fern glauben". Aber von diesem Bekenntnis menschlicher Schwäche ist es ein weiter Weg bis zu dem Glauben an eine "ethische" Wissenschaft der Nationalökonomie, welche aus ihrem Stoff Ideale oder durch Anwendung allgemeiner ethischer Imperative auf ihren Stoff konkrete Normen zu produzieren hätte. - Richtig ist noch etwas weiteres: gerade jene innersten Elemente der "Persönlichkeit", die höchsten und letzten Werturteile, die unser Handeln bestimmen und unserem Leben Sinn und Bedeutung geben, werden von uns als etwas  "objektiv"  Wertvolles empfunden. Wir können sie ja nur vertreten, wenn sie uns als geltend, als aus unseren höchsten Lebenswerten fließend, sich darstellen und so, im Kampfe gegen die Widerstände des Lebens, entwickelt werden. Und sicherlich liegt die Würde der "Persönlichkeit" darin beschlossen, daß es für sie Werte gibt, auf die sie ihr eigenes Leben bezieht, - und lägen diese Werte auch im einzelnen Falle ausschließlich  innerhalb  der Sphäre der eigenen Individualität: dann gilt ihr eben das "Sichausleben" in  denjenigen  ihrer Interessen, für welche sie die  Geltung als Werte  beansprucht, als die Idee, auf welche sie sich bezieht. Nur unter der Voraussetzung des Glaubens an Werte jedenfalls hat der Versuch Sinn, Werturteile nach außen zu vertreten.  Aber:  die  Geltung  solcher Werte zu  beurteilen,  ist Sache des  Glaubens, daneben  vielleicht  eine Aufgabe spekulativer Betrachtung und Deutung des Lebens und der Welt auf ihren Sinn hin, sicherlich aber  nicht  Gegenstand einer Erfahrungswissenschaft in dem Sinne, in welchem sie an dieser Stelle gepflegt werden soll. Für diese Scheidung fällt nicht - wie oft geglaubt wird - entscheidend ins Gewicht die empirisch erweisliche Tatsache, daß jene letzten Ziele historisch wandelbar und streitig sind. Denn auch die Erkenntnis der sichersten Sätze unseres theoretischen - etwa des exakt naturwissenschaftlichen oder mathematischen - Wissens ist, ebenso wie die Schärfung und Verfeinerung des Gewissens, erst Produkt der Kultur.

Es ist einfach eine Naivität, wenn auch von Fachmännern gelegentlich immer noch geglaubt wird, es gelte, für die praktische Sozialwissenschaft vor allem "ein Prinzip" aufzustellen und wissenschaftlich als gültig zu erhärten, aus welchem alsdann die Normen für die Lösung der praktischen Einzelprobleme eindeutig deduzierbar seien. So sehr "prinzipielle" Erörterungen praktischer Probleme, d.h. die Zurückführung der unreflektiert sich aufdrängenden Werturteile auf ihren Ideengehalt, in der Sozialwissenschaft vonnöten sind, und so sehr unsere Zeitschrift speziell sich gerade auch ihnen zu widmen beabsichtigt, - die Schaffung eines praktischen Generalnenners für unsere Probleme in Gestalt allgemein gültiger letzter Ideale kann sicherlich weder ihre Aufgabe noch überhaupt die irgendeiner Erfahrungswissenschaft sein: sie wäre als solche nicht etwa nur praktisch unlösbar, sondern in sich widersinnig. Und wie immer Grund und Art der Verbindlichkeit ethischer Imperative gedeutet werden mag, sicher ist, daß aus ihnen, als aus Normen für das konkret bedingte Handeln des  Einzelnen,  nicht  Kulturinhalte  als gesollt eindeutig  deduzierbar  sind, und zwar um so weniger, je umfassender die Inhalte sind, um die es sich handelt. Nur positive Religionen - präziser ausgedrückt: dogmatisch gebundene  Sekten  - vermögen dem Inhalt von  Kulturwerten  die Dignität unbedingt gültiger  ethischer  Gebote zu verleihen. Außerhalb ihrer sind Kulturideale, die der Einzelne verwirklichen  will,  und ethische Pflichten, die er erfüllen  soll,  von prinzipiell verschiedener Dignität. Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, daß wir den  Sinn  des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen, daß "Weltanschauungen" niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können, und daß also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren.

Nur ein optimistischer Synkretismus [Mischmasch - wp], wie er zuweilen das Ergebnis des entwicklungsgeschichtlichen Relativismus ist, kann sich über den gewaltigen Ernst dieser Sachlage entweder theoretisch hinwegtäuschen oder ihren Konsequenzen praktisch ausweichen. Es kann selbstverständlich subjektiv im einzelnen Falle genau ebenso pflichtgemäß für die praktischen Politiker sein, zwischen vorhandenen Gegensätzen der Meinungen zu vermitteln, als für eine von ihnen Partei zu ergreifen. Aber mit  wissenschaftlicher  "Objektivität" hat das nicht das Allermindeste zu tun. Die "mittlere Linie"  ist um kein Haarbreit mehr wissenschaftliche Wahrheit  als die extremsten Parteiideale von rechts oder links. Nirgends ist das Interesse der Wissenschaft auf die Dauer schlechter aufgehoben als da, wo man unbequeme Tatsachen und die Realitäten des Lebens in ihrer Härte nicht sehen will. Das Archiv wird die schwere Selbsttäuschung, man könne durch Synthese von mehreren oder auf der Diagonale zwischen mehreren Parteiansichten praktische Normen von  wissenschaftlicher Gültigkeit  gewinnen, unbedingt bekämpfen, denn sie ist, weil sie ihre eigenen Wertmaßstäbe relativistisch zu verhüllen liebt, weit gefährlicher für die Unbefangenheit der Forschung als der alte naive Glaube der Parteien an die wissenschaftliche "Beweisbarkeit" ihrer Dogmen. Die Fähigkeit der  Unterscheidung  zwischen Erkennen und Beurteilen und die Erfüllung sowohl der wissenschaftlichen Pflicht, die Wahrheit der Tatsachen zu sehen, als der praktischen, für die eigenen Ideale einzutreten, ist das, woran wir uns wieder stärker gewöhnen wollen.

Es ist und bleibt -  darauf  kommt es für uns an - für alle Zeit ein unüberbrückbarer Unterschied, ob eine Argumentation sich an unser Gefühl und unsere Fähigkeit, für konkrete praktische Ziele oder für Kulturformen und Kulturinhalte uns zu begeistern, wendet, oder, wo einmal die Geltung ethischer Normen in Frage steht, an unser Gewissen,  oder  endlich an unser Vermögen und Bedürfnis, die empirische Wirklichkeit in einer Weise  denkend zu ordnen,  welche den Anspruch auf Geltung als Erfahrungswahrheit erhebt. Und dieser Satz bleibt richtig, trotzdem, wie sich noch zeigen wird, jene höchsten "Werte" des  praktischen  Interesses für die  Richtung,  welche die ordnende Tätigkeit des Denkens auf dem Gebiete der Kulturwissenschaften jeweils einschlägt, von entscheidender Bedeutung sind und immer bleiben werden. Denn es ist und bleibt wahr, daß eine methodisch korrekte wissenschaftliche Beweisführung auf dem Gebiete der Sozialwissenschaften, wenn sie ihren Zweck erreicht haben will, auch von einem Chinesen als richtig anerkannt werden muß oder - richtiger gesagt - daß sie dieses, vielleicht wegen Materialmangels nicht voll erreichbare, Ziel jedenfalls  erstreben  muß, daß ferner auch die  logische  Analyse eines Ideals auf seinen Gehalt und auf seine letzten Axiome hin und die Aufzeigung der aus seiner Verfolgung sich logischer und praktischer Weise ergebenden Konsequenzen, wenn sie als gelungen gelten soll, auch für ihn gültig sein muß, - während ihm für unsere ethischen Imperative das "Gehör" fehlen kann, und während er das Ideal selbst und die daraus fließenden konkreten  Wertungen ablehnen kann und sicherlich oft ablehnen wird, ohne dadurch dem wissenschaftlichen Wert jener denkenden  Analyse  irgend zu nahe zu treten. Sicherlich wird unsere Zeitschrift die immer und unvermeidlich sich wiederholenden Versuche, den  Sinn  des Kulturlebens eindeutig zu bestimmen, nicht etwa ignorieren. Im Gegenteil: sie gehören ja selbst zu den wichtigsten Erzeugnissen eben dieses Kulturlebens und unter Umständen auch zu seinen mächtigsten treibenden Kräften. Wir werden daher den Verlauf auch der in  diesem  Sinne "sozialphilosophischen" Erörterungen jederzeit sorgsam verfolgen. Ja, noch mehr: es liegt hier das Vorurteil durchaus fern, als ob Betrachtungen des Kulturlebens, die über die denkende Ordnung des empirisch Gegebenen hinausgehend die Welt metaphysisch zu deuten versuchen, etwa schon um dieses ihres Charakters willen keine Aufgabe im Dienste der Erkenntnis erfüllen  könnten.  Wo diese Aufgaben etwa liegen würden, ist freilich ein Problem zunächst der Erkenntnislehre, dessen Beantwortung hier für unsere Zwecke dahingestellt bleiben muß und auch kann. Denn eines halten wir für  unsere  Arbeit fest: eine sozial-wissenschaftliche Zeitschrift in unserem Sinne soll, soweit sie  Wissenschaft  treibt, ein Ort sein, wo Wahrheit gesucht wird, die - um im Beispiel zu bleiben - auch für den Chinesen die Geltung einer denkenden Ordnung der empirischen Wirklichkeit beansprucht.

Freilich können die Herausgeber weder sich selbst noch ihren Mitarbeitern ein- für allemal verbieten, die Ideale, die sie beseelen, auch in Werturteilen zum Ausdruck zu bringen. Nur erwachsen daraus zwei wichtige Pflichten. Zunächst die: in jedem Augenblick den Lesern und sich selbst scharf zum Bewußtsein zu bringen,  welches  die Maßstäbe sind, an denen die Wirklichkeit gemessen und aus denen das Werturteil abgeleitet wird, anstatt, wie es nur allzuoft geschieht, durch unpräzises Ineinanderschieben von Werten verschiedenster Art sich um die Konflikte zwischen den Idealen herumzutäuschen und "jedem etwas bieten" zu wollen. Wird dieser Pflicht streng genügt, dann kann die praktisch urteilende Stellungnahme im rein wissenschaftlichen Interesse nicht nur unschädlich, sondern direkt nützlich, ja, geboten sein: in der wissenschaftlichen Kritik von gesetzgeberischen und anderen praktischen Vorschlägen ist die Aufklärung der Motive des Gesetzgebers und der Ideale des kritisierten Schriftstellers in ihrer Tragweite sehr oft gar nicht anders in anschaulich-verständliche Form zu bringen, als durch  Konfrontierung  der von ihnen zugrunde gelegten Wertmaßstäbe mit  anderen,  und dann natürlich am besten: mit den eigenen. Jede sinnvolle  Wertung  fremden  Wollens  kann nur Kritik aus einer eigenen "Weltanschauung" heraus, Bekämpfung des  fremden  Ideals vom Boden eines  eigenen  Ideals aus sein.  Soll  also im einzelnen Fall das letzte Wertaxiom, welches einem praktischen Wollen zugrunde liegt, nicht nur festgestellt und wissenschaftlich analysiert, sondern in seinen Beziehungen zu  anderen  Wertaxiomen veranschaulicht werden, so ist eben "positive" Kritik durch zusammenhängende Darlegung der letzteren unvermeidlich.

Es wird also in den Spalten der Zeitschrift - speziell bei der Besprechung von Gesetzen - neben der Sozialwissenschaft  - der denkenden Ordnung der Tatsachen - unvermeidlich auch die Sozialpolitik - die Darlegung von Idealen - zu Worte kommen. Aber: wir denken nicht daran, derartige Auseinandersetzungen für  "Wissenschaft"  auszugeben und werden uns nach besten Kräften hüten, sie damit vermischen und verwechseln zu lassen. Die  Wissenschaft  ist es dann nicht mehr, welche spricht, und das zweite fundamentale Gebot wissenschaftlicher Unbefangenheit ist es deshalb: in solchen Fällen den Lesern (und - sagen wir wiederum - vor allem sich selbst!) jederzeit deutlich zu machen,  daß  und  wo  der denkende Forscher aufhört und der wollende Mensch anfängt zu sprechen, wo die Argumente sich an den Verstand und  wo  sie sich an das Gefühl wenden. Die stete Vermischung wissenschaftlicher Erörterung der Tatsachen und wertender Raisonnements ist eine der zwar noch immer verbreitetsten, aber auch schädlichsten Eigenarten von Arbeiten unseres Faches. Gegen diese  Vermischung,  nicht etwa gegen das  Eintreten  für die eigenen Ideale richten sich die vorstehenden Ausführungen.  Gesinnungslosigkeit  und  wissenschaftliche  "Objektivität" haben keinerlei innere Verwandtschaft. - Das Archiv ist, wenigstens seiner Absicht nach, niemals ein Ort gewesen und soll es auch nicht werden, an welchem Polemik gegen bestimmte politische oder sozialpolitische Parteien getrieben wird, ebensowenig eine Stelle, an der für oder gegen politische oder sozialpolitische Ideale geworben wird; dafür gibt es andere Organe. Die Eigenart der Zeitschrift hat vielmehr von Anfang an gerade darin bestanden und soll, soviel an den Herausgebern liegt, auch fernerhin darin bestehen, daß in ihr scharfe politische Gegner sich zu wissenschaftlicher Arbeit zusammenfinden. Sie war bisher kein "sozialistisches" und wird künftig kein "bürgerliches" Organ sein. Sie schließt von ihrem Mitarbeiterkreise niemand aus, der sich auf den Boden wissenschaftlicher Diskussion stellen will. Sie kann kein Tummelplatz von "Erwiderungen", Repliken und Dupliken sein, aber sie schützt niemand, auch nicht ihre Mitarbeiter und ebensowenig ihre Herausgeber dagegen, in ihren Spalten der denkbar schärfsten sachlich-wissenschaftlichen Kritik ausgesetzt zu sein. Wer das nicht ertragen kann, oder wer auf dem Standpunkt steht, mit Leuten, die im Dienste anderer Ideale arbeiten als er selbst, auch im Dienste wissenschaftlicher Erkenntnis nicht zusammenwirken zu wollen, der mag ihr fern bleiben.

Mit dieser Bemerkung gelangen wir zu der bisher noch nicht erörterten Frage der  sachlichen Abgrenzung  unseres Arbeitsgebietes. Hierauf kann aber eine Antwort nicht gegeben werden, ohne auch hier die Frage nach der Natur des Zieles sozialwissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt aufzurollen. Wir haben bisher, indem wir "Werturteile" und "Erfahrungswissen" prinzipiell schieden, vorausgesetzt, daß es eine unbedingt gültige Art der Erkenntnis, d.h. der denkenden Ordnung der empirischen Wirklichkeit auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften tatsächlich gebe. Diese Annahme wird jetzt insofern zum Problem, als wir erörtern müssen, was objektive "Geltung" der Wahrheit, die wir erstreben, auf unserem Gebiet bedeuten  kann.  Daß das Problem als solches besteht und hier nicht spintisierend geschaffen wird, kann niemandem entgehen, der den Kampf um Methode, "Grundbegriffe" und Voraussetzungen, den steten Wechsel der "Gesichtspunkte" und die stete Neubestimmung der "Begriffe", die verwendet werden, beobachtet und sieht, wie theoretische und historische Betrachtungsform noch immer durch eine scheinbar unüberbrückbare Kluft getrennt sind: "  zwei  Nationalökonomien", wie ein verzweifelnder Wiener Examinand seinerzeit jammernd klagte. Was heißt hier Objektivität? Lediglich  diese  Frage wollen die nachfolgenden Ausführungen erörtern.


II.

Die Zeitschrift (3) hat von Anfang an die Gegenstände, mit denen sie sich befaßte, als sozial- ökonomische  behandelt. So wenig Sinn es nun hätte, hier Begriffsbestimmungen und Abgrenzungen von Wissenschaften vorzunehmen, so müssen wir uns doch darüber summarisch ins Klare setzen, was das bedeutet.

Daß unsere physische Existenz ebenso wie die Befriedigung unserer idealsten Bedürfnisse überall auf die quantitative Begrenztheit und qualitative Unzulänglichkeit der dafür benötigten äußeren Mittel stößt, daß es zu ihrer Befriedigung der planvollen Vorsorge und der Arbeit, des Kampfes mit der Natur und der Vergesellschaftung mit Menschen bedarf, das ist, möglichst unpräzise ausgedrückt, der grundlegende Tatbestand, an den sich alle jene Erscheinungen knüpfen, die wir im weitesten Sinne als "sozial-ökonomische" bezeichnen. Die Qualität eines Vorganges als "sozial-ökonomischer" Erscheinung ist nun nicht etwas, was ihm als solchem "objektiv" anhaftet. Sie ist vielmehr bedingt durch die Richtung unseres Erkenntnis interesses,  wie sie sich aus der spezifischen Kulturbedeutung ergibt, die wir dem betreffenden Vorgange im einzelnen Fall beilegen. Wo immer ein Vorgang des Kulturlebens in denjenigen Teilen seiner Eigenart, auf welchen für uns seine spezifische  Bedeutung  beruht, direkt oder in noch so vermittelter Weise an jenem Tatbestand verankert ist, da enthält er oder kann er wenigstens, so  weit  dies der Fall ist, ein sozialwissenschaftliches  Problem  enthalten, d.h. eine Aufgabe für eine Disziplin, welche die Aufklärung der Tragweite jenes grundlegenden Tatbestandes zu ihrem Gegenstande macht. Wir können nun innerhalb der sozialökonomischen Probleme unterscheiden: Vorgänge und Komplexe von solchen, Normen, Institutionen usw., deren Kulturbedeutung für uns wesentlich auf ihrer ökonomischen Seite beruht, die uns - wie z.B. etwa Vorgänge des Börsen- und Banklebens - zunächst wesentlich nur unter  diesem  Gesichtspunkt interessieren. Dies wird regelmäßig (aber nicht etwa ausschließlich) dann der Fall sein, wenn es sich um Institutionen handelt, welche  bewußt  zu ökonomischen Zwecken geschaffen wurden oder benutzt werden. Solche Objekte unseres Erkennens können wir im engeren Sinn "wirtschaftliche" Vorgänge bzw. Institutionen nennen. Dazu treten andere, die - wie z.B. etwa Vorgänge des  religiösen  Lebens - uns nicht oder doch sicherlich nicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt ihrer ökonomischen Bedeutung und um dieser willen interessieren, die aber unter Umständen unter diesem Gesichtspunkt Bedeutung gewinnen, weil von ihnen  Wirkungen  ausgehen, die uns unter ökonomischen Gesichtspunkten interessieren: "ökonomisch relevante" Erscheinungen. Und endlich gibt es unter den  nicht  in unserem Sinne "wirtschaftlichen" Erscheinungen solche, deren ökonomische Wirkungen für uns von keinem oder doch nicht erheblichem Interesse sind: etwa die Richtung des künstlerischen Geschmacks einer Zeit, - die aber ihrerseits im Einzelfalle in gewissen bedeutsamen Seiten ihrer Eigenart durch ökonomische Motive, also z.B. in unserem Fall etwa durch die Art der sozialen Gliederung des künstlerisch interessierten Publikums mehr oder minder stark mit  beeinflußt  sind: ökonomisch  bedingte  Erscheinungen. Jener Komplex menschlicher Beziehungen, Normen und normbestimmter Verhältnisse, die wir "Staat" nennen, ist beispielsweise bezüglich der staatlichen Finanzwirtschaft eine "wirtschaftliche" Erscheinung; - insofern er gesetzgeberisch oder sonst auf das Wirtschaftsleben einwirkt (und zwar auch da, wo ganz andere als ökonomische Gesichtspunkte sein Verhalten bewußt bestimmen), ist er "ökonomisch relevant", - sofern endlich sein Verhalten und seine Eigenart auch in anderen als in seinen "wirtschaftlichen" Beziehungen durch ökonomische Motive mitbestimmt wird, ist er "ökonomisch bedingt". Es versteht sich nach dem Gesagten von selbst, daß einerseits der Umkreis der "wirtschaftlichen" Erscheinungen ein flüssiger und nicht scharf keineswegs etwa die "wirtschaftlichen" Seiten einer Erscheinung  nur  "wirtschaftlich bedingt" oder  nur  "wirtschaftlich wirksam" sind, und daß eine Erscheinung überhaupt die Qualität einer "wirtschaftlichen" nur insoweit und  nur  so lange behält, als unser  Interesse  sich der  Bedeutung,  die sie für den materiellen Kampf ums Dasein besitzt, ausschließlich zuwendet.

Unsere Zeitschrift nun befaßt sich wie die sozialökonomische Wissenschaft seit MARX und ROSCHER nicht nur mit "wirtschaftlichen", sondern auch mit "wirtschaftlich relevanten" und "wirtschaftlich bedingten" Erscheinungen. Der Umkreis derartiger Objekte erstreckt sich natürlich - flüssig, wie er je nach der jeweiligen Richtung unseres Interesses ist, - offenbar durch die Gesamtheit aller Kulturvorgänge. Spezifisch ökonomische Motive - d.h. Motive, die in ihrer für uns bedeutsamen Eigenart an jenem grundlegenden Tatbestand verankert sind - werden überall da wirksam, wo die Befriedigung eines noch so immateriellen Bedürfnisses an die Verwendung  begrenzter  äußerer Mittel gebunden ist. Ihre Wucht hat deshalb überall nicht nur die Form der Befriedigung, sondern auch den Inhalt von Kulturbedürfnissen auch der innerlichsten Art mitbestimmt und umgestaltet. Der indirekte Einfluß, der unter dem Drucke "materieller" Interessen stehenden sozialen Beziehungen, Institutionen und Gruppierungen der Menschen, erstreckt sich (oft unbewußt) auf alle Kulturgebiete ohne Ausnahme, bis in die feinsten Nuancierungen des ästhetischen und religiösen Empfindens hinein. Die Vorgänge des alltäglichen Lebens nicht minder wie die "historischen" Ereignisse der hohen Politik, Kollektiv- und Massenerscheinungen ebenso wie "singuläre" Handlungen von Staatsmännern oder individuelle literarische und künstlerische Leistungen sind durch sie mitbeeinflußt, - "ökonomisch bedingt". Andererseits wirkt die Gesamtheit aller Lebenserscheinungen und Lebensbedingungen einer historisch gegebenen Kultur auf die Gestaltung der materiellen Bedürfnisse, auf die Art ihrer Befriedigung, auf die Bildung der materiellen Interressengruppen und auf die Art ihrer Machtmittel und damit auf die Art des Verlaufes der "ökonomischen Entwicklung" ein, - wird "ökonomisch relevant". Soweit unsere Wissenschaft  wirtschaftliche  Kulturerscheinungen im kausalen Regressus individuellen Ursachen - ökonomischen oder nicht ökonomischen Charakters - zurechnet, erstrebt sie "historische" Erkenntnis. Soweit sie  ein  spezifisches Element der Kulturerscheinungen: das ökonomische, in seiner Kulturbedeutung durch die verschiedensten Kulturzusammenhänge hindurch verfolgt, erstrebt sie Geschichts interpretation  unter einem spezifischen Gesichtspunkt und bietet ein Teilbild, eine  Vorarbeit  für die volle historische Kulturerkenntnis.

Wenn nun auch nicht überall, wo ein Hineinspielen ökonomischer Momente als Folge oder Ursache stattfindet, ein sozial-ökonomisches  Problem  vorliegt - denn ein solches entsteht nur da, wo die Bedeutung jener Faktoren eben  problematisch  und nur durch die Anwendung der Methoden der sozial-ökonomischen Wissenschaft sicher feststellbar ist -, so ergibt sich doch der schier unübersehbare Umkreis des Arbeitsgebietes der sozial-ökonomischen Betrachtungsweise.

Unzweifelhaft bedeutet die Heraushebung der  sozialökonomischen  Seite des Kulturlebens eine sehr fühlbare Begrenzung unserer Themata. Man wird sagen, daß der ökonomische oder, wie man unpräzise gesagt hat, der "materialistische" Gesichtspunkt, von dem aus das Kulturleben hier betrachtet wird, "einseitig" sei. Sicherlich, und diese Einseitigkeit ist beabsichtigt. Der Glaube, es sei die Aufgabe fortschreitender wissenschaftlicher Arbeit, die "Einseitigkeit" der ökonomischen Betrachtungsweise dadurch zu heilen, daß sie zu einer  allgemeinen  Sozialwissenschaft erweitert werde, krankt zunächst an dem Fehler, daß der Gesichtspunkt des "Sozialen", also der Beziehung zwischen Menschen, nur dann irgendeine zur Abgrenzung wissenschaftlicher Probleme ausreichende Bestimmtheit besitzt, wenn er mit irgend einem speziellen inhaltlichen Prädikat versehen ist. Sonst umfaßte er, als Objekt einer Wissenschaft gedacht, natürlich z.B. die Philologie ebensowohl wie die Kirchengeschichte und namentlich alle jene Disziplinen, die mit dem wichtigsten konstitutiven Elemente jedes Kulturlebens: dem Staat, und mit der wichtigsten Form seiner normativen Regelung: dem Recht, sich beschäftigen. Daß die Sozialökonomik sich mit "sozialen" Beziehungen befaßt, ist so wenig ein Grund, sie als notwendigen Vorläufer einer "allgemeinen Sozialwissenschaft" zu denken, wie etwa der Umstand, daß sie sich mit Lebenserscheinungen befaßt, dazu nötigt, sie als Teil der Biologie, oder der andere, daß sie es mit Vorgängen auf einem Himmelskörper zu tun hat, dazu, sie als Teil einer künftigen vermehrten und verbesserten Astronomie anzusehen. Nicht die  "sachlichen"  Zusammenhänge der  "Dinge",  sondern die  gedanklichen Zusammenhänge  der  Probleme  liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde: wo mit neuer Methode einem neuen Problem nachgegangen wird und dadurch Wahrheiten entdeckt werden, welche neue bedeutsame Gesichtspunkte eröffnen, da entsteht eine neue "Wissenschaft".

Es ist nun kein Zufall, daß der Begriff des "Sozialen", der einen ganz allgemeinen Sinn zu haben scheint, sobald man ihn auf seine Verwendung hin kontrolliert, stets eine durchaus besondere, spezifisch gefärbte, wenn auch meist unbestimmte, Bedeutung an sich trägt; das "allgemeine" beruht bei ihm tatsächlich in nichts anderem als eben in seiner Unbestimmtheit. Er bietet eben, wenn man ihn in seiner "allgemeinen" Bedeutung nimmt, keinerlei spezifische  Gesichtspunkte,  unter denen man die  Bedeutung  bestimmter Kulturelemente beleuchten könnte.

Frei von dem veralteten Glauben, daß die Gesamtheit der Kulturerscheinungen sich als Produkt oder als Funktion "materieller" Interessenkonstellationen  deduzieren  lasse, glauben wir unsererseits doch, daß die  Analyse der sozialen Erscheinungen und Kulturvorgänge  unter dem speziellen Gesichtspunkt ihrer  ökonomischen  Bedingtheit und Tragweite ein wissenschaftliches Prinzip von schöpferischer Fruchtbarkeit war und, bei umsichtiger Anwendung und Freiheit von dogmatischer Befangenheit, auch in aller absehbarer Zeit noch bleiben wird. Die sogenannte "materialistische Geschichtsauffassung" als  "Weltanschauung"  oder als Generalnenner kausaler Erklärung der historischen Wirklichkeit ist auf das Bestimmteste abzulehnen, - die Pflege der ökonomischen Geschichts interpretation  ist einer der wesentlichsten Zwecke unserer Zeitschrift. Das bedarf der näheren Erläuterung.

Die sogenannte "materialistische Geschichtsauffassung" in dem  alten  genial-primitiven Sinne etwa des kommunistischen Manifests beherrscht heute wohl nur noch die Köpfe von Laien und Dilettanten. Bei ihnen findet sich allerdings noch immer die eigentümliche Erscheinung verbreitet, daß ihrem Kausalbedürfnis bei der Erklärung einer historischen Erscheinung so lange nicht Genüge geschehen ist, als nicht irgendwie und irgendwo ökonomische Ursachen als mitspielend nachgewiesen sind (oder zu sein scheinen); ist dies aber der Fall, dann begnügen sie sich wiederum mit der fadenscheinigsten Hypothese und den allgemeinsten Redewendungen, weil nunmehr ihrem dogmatischen Bedürfnis, daß die ökonomischen "Triebkräfte" die "eigentlichen", einzig "wahren", in "letzter Instanz überall Ausschlag gebenden" seien, Genüge geschehen ist. Die Erscheinung ist ja nichts Einzigartiges. Es haben fast alle Wissenschaften, von der Philologie bis zur Biologie, gelegentlich den Anspruch erhoben, Produzenten nicht nur von Fachwissen, sondern auch von "Weltanschauungen" zu sein. Und unter dem Eindruck der gewaltigen Kulturbedeutung der  modernen  ökonomischen Umwälzungen und speziell der überragenden Tragweite der "Arbeiterfrage" glitt der unausrottbare monistische Zug jedes gegen sich selbst unkritischen Erkennens naturgemäß auf diesen Weg. Der gleiche Zug kommt jetzt, wo in zunehmender Schärfe der politische und handelspolitische Kampf der Nationen untereinander um die Welt gekämpft wird, der Anthropologie zugute: ist doch der Glaube weit verbreitet, daß "in letzter Linie" alles historische Geschehen Ausfluß des Spiels angeborener "Rassenqualitäten" gegeneinander sei. An die Stelle der kritiklosen bloßen Beschreibung von "Volkscharakteren" trat die noch kritiklosere Aufstellung von eigenen "Gesellschaftstheorien" auf "naturwissenschaftlicher" Grundlage. Wir werden in unserer Zeitschrift die Entwicklung der anthropologischen Forschung, soweit sie für unsere Gesichtspunkte Bedeutung gewinnt, sorgsam verfolgen. Es steht zu hoffen, daß der Zustand, in welchem die kausale Zurückführung von Kulturvorgängen auf die "Rasse" lediglich unser  Nichtwissen dokumentierte - ähnlich wie etwa die Bezugnahme auf das "Milieu" oder, früher, auf die "Zeitumstände" -, allmählich durch methodisch geschulte Arbeit überwunden wird. Wenn etwas dieser Forschung bisher geschadet hat, so ist es die Vorstellung eifriger Dilettanten, daß sie für die Erkenntnis der  Kultur  etwas spezifisch Anderes und Erheblicheres leisten könnte, als die Erweiterung der Möglichkeit sicherer Zurechnung einzelner  konkreter  Kulturvorgänge der historischen Wirklichkeit zu  konkreten historisch  gegebenen Ursachen durch Gewinnung  exakten,  unter spezifischen Gesichtspunkten erhobenen Beobachtungsmaterials. Ausschließlich soweit sie uns  dies  zu bieten vermögen, haben ihre Ergebnisse für uns Interesse und qualifizieren sie die "Rassenbiologie" als etwas mehr als ein Produkt des modernen wissenschaftlichen Gründungsfiebers.

Nicht anders steht es um die Bedeutung der ökonomischen Interpretation des Geschichtlichen. Wenn nach einer Periode grenzenloser Überschätzung heute beinahe die Gefahr besteht, daß sie in ihrer wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit  unterbewertet  werde, so ist das die Folge der beispiellosen Unkritik, mit welcher die ökonomische Deutung der Wirklichkeit als "universelle" Methode in dem Sinne einer Deduktion aller Kulturerscheinungen - d.h. alles an ihnen für uns Wesentlichen - als in letzter Instanz ökonomisch bedingt verwendet wurde. Heute ist die logische Form, in der sie auftritt, nicht ganz einheitlich. Wo für die rein ökonomische Erklärung sich Schwierigkeiten ergeben, stehen verschiedene Mittel zur Verfügung, um ihre Allgemeingültigkeit als entscheidendes ursächliches Moment aufrecht zu erhalten. Entweder man behandelt alles das, was in der historischen Wirklichkeit  nicht  aus ökonomischen Motiven deduzierbar ist, als eben  deshalb  wissenschaftlich  bedeutungslose  "Zufälligkeit". Oder man dehnt den Begriff des Ökonomischen bis zur Unkenntlichkeit, so daß alle menschlichen Interessen, welche irgendwie an äußere Mittel gebunden sind, in jenen Begriff einbezogen werden. Steht historisch fest, daß auf zwei in ökonomischer Hinsicht  gleiche  Situationen dennoch  verschieden  reagiert wurde - infolge der Differenzen der politischen und religiösen, klimatischen und der zahllosen anderen  nicht  ökonomischen Determinanten -, dann degradiert man, um die Suprematie des Ökonomischen zu erhalten, alle diese Momente zu den historisch zufälligen "Bedingungen", unter denen die ökonomischen Motive als "Ursachen" wirken. Es versteht sich aber, daß alle jene für die ökonomische Betrachtung "zufälligen" Momente ganz in demselben Sinne wie die ökonomischen jeweils ihren eigenen Gesetzen folgen, und daß für eine Betrachtungsweise, welche  ihre  spezifische Bedeutung verfolgt, die jeweiligen  ökonomischen  "Bedingungen" ganz in dem gleichen Sinne "historisch zufällig" sind, wie umgekehrt. Ein beliebter Versuch, demgegenüber die überragende Bedeutung des Ökonomischen zu retten, besteht endlich darin, daß man das konstante Mit- und Aufeinanderwirken der einzelnen Elemente des Kulturlebens in eine kausale oder funktionelle  Abhängigkeit  des einen von den anderen oder vielmehr aller übrigen von einem: dem ökonomischen, deutet. Wo eine bestimmte einzelne  nicht  wirtschaftliche Institution historisch auch eine bestimmte "Funktion" im Dienste von ökonomischen Klasseninteressen versehen hat, d.h. diesen dienstbar geworden ist, wo z.B. etwa bestimmte religiöse Institutionen als "schwarze Polizei" sich verwenden lassen und verwendet werden, wird dann die ganze Institution entweder als für diese Funktion geschaffen, oder - ganz metaphysisch - als durch eine vom Ökonomischen ausgehende "Entwicklungstendenz" geprägt, vorgestellt.
LITERATUR - Max Weber, Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, Tübingen 1922
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    1) Wo in Abschnitt I der nachstehenden Ausführungen ausdrücklich im Namen der Herausgeber gesprochen wird oder dem Archiv Aufgaben gestellt werden, handelt es sich natürlich nicht um Privatansichten des Verfassers, sondern sind die betreffenden Äußerungen von den Mitherausgebern ausdrücklich gebilligt. Für Abschnitt II trifft die Verantwortung für Form und Inhalt den Verfasser allein.

    Daß das Archiv niemals in den Bann einer bestimmten Schulmeinung geraten wird, dafür bürgt der Umstand, daß der Standpunkt nicht nur seiner Mitarbeiter, sondern auch seiner Herausgeber, auch in methodischer Hinsicht, keineswegs schlechthin identisch ist. Andererseits war natürlich eine Übereinstimmung in gewissen Grundanschauungen Voraussetzung der gemeinsamen Übernahme der Redaktion. Diese Übereinstimmung besteht insbesondere bezüglich der Schätzung des Wertes theoretischer Erkenntnis unter "einseitigen" Gesichtspunkten, sowie bezüglich der Forderung der Bildung scharfer Begriffe und der strengen Scheidung von Erfahrungswissen und Werturteil, wie sie hier - natürlich ohne den Anspruch, damit etwas "Neues" zu fordern - vertreten wird.

    Die vielen Breiten der Erörterung (sub II) und die häufige Wiederholung desselben Gedankens dient dem ausschließlichen Zweck, das bei solchen Ausführungen mögliche Maximum von Gemeinverständlichkeit zu erzielen. Diesem Interesse ist viel - hoffentlich nicht zu viel - an Präzision des Ausdrucks geopfert, und ihm zuliebe ist auch der Versuch, an Stelle der Aneinanderreihung einiger methodologischer Gesichtspunkte eine systematische Untersuchung treten zu lassen, hier ganz unterlassen worden. Dies hätte das Hineinziehen einer Fülle von zum Teil noch weit tiefer liegenden erkenntnistheoretischen Problemen erfordert. Es soll hier nicht Logik getrieben, sondern es sollen bekannte Ergebnisse der modernen Logik für uns nutzbar gemacht, Probleme nicht gelöst, sondern dem Laien ihre Bedeutung veranschaulicht werden. Wer die Arbeiten der modernen Logiker kennt - ich nenne nur WINDELBAND, SIMMEL, und für unsere Zwecke speziell HEINRICH RICKERT -, wird sofort bemerken, daß in allem Wesentlichen lediglich an sie angeknüpft ist.
    2) Diese Abhandlung wurde beim Übergang des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik an die Herausgeber Werner Sombart, Max Weber, Edgar Jaffé veröffentlicht [Anm. Marianne Weber].
    3) Das Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik.