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WILHELM WINDELBAND
Logik
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"Der Versuch, die logische Gesetzmäßigkeit auf der mathematischen aufzubauen, die Prinzipien des Denkens aus denen des Anschauens abzuleiten, darf heute als aussichtslos bezeichnet werden."

"Die mathematische Logik vermag mit ihrer Quantifikation des Prädikats alle Urteile wirklich in korrekte Umfangsgleichungen zu verwandeln und danach das ganze System der Folgerungen und Schlüsse von der Umkehrung der Urteile an bis zu komplizierten Syllogismusketten aus arithmetischen Prinzipien der Gleichheit und der Substitution als ein wohlgefügtes Ganzes zu entwickeln. Schade nur, daß aus diesem schönen System der lebendige Sinn aller Urteile, die ein sachliches Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat zu behaupten oder zu verneinen berufen sind, rettungslos unter den Tisch fällt. Als ob wir über nichts Besseres nachzudenken hätten als darüber, in welcher Ausdehung der Umfang des Begriffes  A  dem des Begriffes  B  einzuordnen ist! Das ist eine Logik des grünen Tisches, mit der die lebendige Arbeit der Wissenschaft nichts anzufangen weiß."

"Die Lehre vom Begriff und die Lehre vom Schluß sind nur einzelne Auszweigungen der Lehre vom Urteil: diese ist das Hauptproblem der Logik. Das dürften wir jetzt als einheitliche Grundlage für die zukünftige Ausgestaltung dieser Wissenschaft ansehen. Logik ist Urteilslehre."

"Die  Prädikation  schien ihre Bedeutung für die Urteilslehre verloren zu haben; schon in der einfachsten Grundform des Existentialsatzes scheint ja nur  ein  Begriff vorzukommen, das Subjekt, das durch dieses Urteil  anerkannt  werden soll, ohne daß ihm das "Sein" als Prädikat zugesprochen würde."

"In jedem Urteil handelt es sich darum, eine Beziehung vin den Vorstellungsinhalten zu denken und über die Geltung dieser Beziehung zu entscheiden. Deshalb sind Relation und Qualität die beiden wesentlichen und gleich unerläßlichen Merkmale des Urteils und sie bedingen die Einteilung, wonach die Urteilslehre in der reinen Logik entwickelt werden muß."

Wenn man die reiche Entwicklung und die in weiten Gegensätzen sich auseinanderlegende Entfaltung übersieht, welche die Logik im 19. Jahrhundert erfahren hat, so denkt man unwillkürlich an KANTs eigenartige Stellung zu dieser Wissenschaft. Man erinnert sich, wie er die allgemeine Logik, die er auch die analytische oder wohl die formale nannte, für ein so festgefügtes Ergebnis der Arbeit von zwei Jahrtausenden erklärte, daß daran nur noch Geringfügiges zu ergänzen und zu verbessern sei und wie er daneben als ein völlig Neues seine transzendentale Logik stellte, die erkenntnistheoretische, die er wiederum so vollständig, so sicher in ihrer systematischen Geschlossenheit festgestellt zu haben überzeugt war, daß auf ihr nur noch der Bau einer Metaphysik der Erscheinungen aufgeführt zu werden brauchte. Das kritische Geschäft sollte, wie das formale abgeschlossen und der Philosophie nun endlich das doktrinale eröffnet sein.

Aber gerade das Verhältnis dieser beiden, KANTs Absicht nach völlig getrennten Systemen der logischen Lehren ist das Ferment gewesen, das in die Untersuchungen über das Wesen des wissenschaftlichen Denkens die gewaltigste Gärung gebracht und eine Fülle von neuen Bewegungen ausgelöst hat, in deren noch nicht im geringsten ausgeglichenen Gegensätzen wir heute stehen.

Die allgemeine Logik sollte von den analytischen Formen des Denkens handeln, nach denen der Verstandesgebrauch von jedem beliebigen Begriff aus, was auch dessen einmal gegebener Inhalt sein mag, in allgemein und notwendig gültiger Weise fortzuschreiten berechtigt und verpflichtet ist: die synthetischen Formen der transzendentalen Logik dagegen sollten die Verknüpfung der Wahrnehmungsinhalte zu Gegenständen der Erfahrung in einer auch ihrerseits allgemein und notwendig geltenden Weise regeln. So energisch deshalb KANT die Versuche der rationalistischen Metaphysik ablehnte, die aus den Grundsätzen der formalen Logik und spezielle aus dem sie alle beherrschenden Satz des Widerspruchs eine sachliche Erkenntnis vom Wesen der Dinge und von ihren Beziehungen ableiten wollte, - ebenso energisch behauptete er gegen den Empirismus und den Skeptizismus, der dessen ehrliche Konsequenz ist, die gegenständliche Geltung der synthetischen Denkformen für den ganzen Umkreis der Erfahrung. Den analytischen Formen der allgemeinen Logik entzog er jede sachliche Erkenntniskraft und beschränkte ihren Sinne auf eine Polizei des korrekten Denkens über jeden beliebigen Inhalt: den synthetischen Formen der transzendentalen Logik dagegen schrieb er für die gesamte Erscheinungswelt den konstitutiven Wert zu, den die alte Metaphysik den analytischen Formen für die Dinge ansich zugesprochen hatte.

Allein die beiden Systeme der Logik waren bei KANT am entscheidenden Punkt miteinander verwachsen: die Tafel der Kategorien entwickelte sich an der der Urteile. Und diese Beziehung zwischen beiden wurde früh als eine künstliche und nicht stichhaltige erkannt. An diesem Punkt spaltete sich deshalb die folgende Entwicklung: auf der einen Seite wurde KANTs schöpferisches Prinzip der transzendentalen Logik und die Gestaltung eines ganz neuen System dieser Wissenschaft Schritt für Schritt mehr als erforderlich befunden; auf der anderen Seite gab man unter der Herrschaft der alten Lehre den Gedanken der transzendentalen Logik wieder auf und bildete nun mit vollem Bewußtsein die Logik zu einer rein formalen Disziplin aus. Das eine taten FICHTE, SCHELLING, SCHLEIERMACHER und HEGEL, das andere (neben den unbedeutenderen Kantianern) HERBART, - dieser als der konservative Denker, der zu LEIBNIZ und WOLFF zurückgriff, jene als die fortschreitenden Genien, die vor einer vollständigen Revolution der Logik nicht zurückschreckten. Für HERBART blieb deshalb die Logik eine regulative Wissenschaft, welche lediglich die Formen für die Bearbeitung der Begriffe festzustellen und im Prinzip der Widerspruchslosigkeit ihre höchste Norm aufzustellen hatte; für die FICHTE folgende Entwicklung wuchs sich die Wissenschaftslehre zu einem System sachlicher Prinzipien und gegenständlicher Erkenntnisse aus und fiel die Logik schließlich bei Hegel vollständig mit der Metaphysik zusammen. So begründet sich der Gegensatz der formalen und der erkenntnistheoretischen Logik, der sich durch das ganz Jahrhundert hindurchgezogen hat.

Es liegt in der Natur der Sache, daß dabei das geringere Maß von Fruchtbarkeit und Entwicklungsfähigkeit auf der Seite der formalen Logik gewesen ist. Denn die Besinnung auf die Regeln des korrekten Denkfortschritts, die Technik des richtigen Denkens, ist in der Tat von der früheren Philosophie unter den Voraussetzungen der naiven Weltansicht zu einer hohen Vollkommenheit gebracht worden. Was ARISTOTELES in genialem Wurf geschaffen hat, ist im späteren Altertum und im Mittelalter miti feinster Filigranarbeit ausgestattet worden: eine Beweis und Widerlegungskunst, die in der Theorie des Schlusses gipfelt und die von da aus rückwärs die Lehre vom Urteil und vom Begriff konstruiert hat. An diesem sicher gefügten Bau ist, wenn man einmal die Grundlagen angenommen hat, nicht zu rütteln: er kann nur hier und da verfeinert und vielleicht neuen wissenschaftlichen Bedürfnissen adaptiert werden. hat doch auch BACONs Neues Organon seine Theorie der Induktion ganz auf dem Boden des alten aufgeführt. Demgemäß haben sich dann auch die formal-logischen Arbeiten der Kantianer und Herbartianer auf Kleinigkeiten in der Ausbesserung des Systems, auf Fixierung der Terminologien, auf Ausspinnung des Schematismus der Schlußlehre und in der Hauptsache auf eine didaktische Vervollkommnung des Vortrages beschränken müssen. Als die beste, durch glückliche Anordnung des Ganzen, scharfsinnige Ausführung des Einzelnen, zweckmäßige und reichhaltige Auswahl von Beispielen ausgezeichnete Lösung dieser Aufgabe darf noch heute die oft aufgelegte Darstellung von DROBISCH angesehen werden.

Es ist nicht zufällig, daß gerade in dieser Analogie zwischen logischen und mathematischen Formen besonders deutlich zutage tritt und geflissentlich hervorgehoben wird oder daß z. B. die mühsamen scharfsinnigen Ausführungen der Möglichkeiten, die sich bei der Aneinanderreihung von Prosyllogismen [Vorschlüsse - wp] und Episyllogismen [Nachschlüsse - wp] ergeben, an der Hand der Variations- und Kombinationsrechnung entwickelt werden. In der Tat muß die rein formale Logik einer natürlichen Neigung folgen, die sie dahin führt, ihre Formen in mathematische Formeln umzuprägen und ihre Begründung in mathematischen Verhältnissen zu suchen. Denn wie schon HOBBES im siebzehnten und präziser noch CONDILLAC im achtzehnten Jahrundert ausgesprochen hat, die ganze Arbeit dieser formalen Logik läuft schließlich darauf hinaus, die Verhältnisse festzustellen, welche zwischen gegebenen Begriffen vermöge der partiellen Gleichheit ihres Inhalts sich für die Einordnung und Unterordnung ihrer Umfänge ergeben. Daher ist der Satz der Identität, bzw. das Verbot des Widerspruchs ihr oberstes Prinzipund ihr ganzes Geschäft analytisch: es handelt sich darum, die Begriffe in ihre Merkmale zu zerlegen und durch die Vergleichung dieser Merkmale das Verhältnis ihrer Umfänge zu bestimmen. Das ist an sich deutlich und wird durch die aristotelische Syllogistik bestätigt, die in dieser Hinsicht durchaus auf dem formalen Standpunkt steht. Danach wird jedes Urteil auf den Ausdruck des Umfangverhältnisses von Subjekt und Prädikat reduziert; die Quantität der Urteile ist das Wesentliche und die Qualität nur die Entscheidung darüber, ob und in welchem Maße der Umfang des einen Begriffs in den Umfang des anderen eingeordnet werden soll. So wird das Denken, das Urteilen und Schließen ein "Rechnen mit Begriffen", das Urteil nimmt den Charakter einer Gleichsetzung an und aus der Formel  A  ist  B  wir die andere  A = B.  Aus den zahlreichen Verhältnissen zwischen Subjekt und Prädikat, welche die Kopula mehr anzudeuten als auszusprechen vermag, ist nur das eine der Gleichheit übrig geblieben. Ein Hilfsmittel der Darstellung soll das Wesen der Sache bedeuten.

Diese Folge der analytischen Betrachtungsweise tritt vielfach schon in den logischen Theorien des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts zutage: die volle Konsequenz daraus hat erst die englische Logik des neunzehnten Jahrunderts seit GEORGE BENTHAM und Sir WILLIAM HAMILTON gezogen, die mathematische Logik, die mit ihrer - von diesem Standpunkt aus sehr konsequent gedachten- Quantifikation des Prädikats alle Urteile wirklich in korrekte Umfangsgleichungen verwandelt und danach das ganze System der Folgerungen und Schlüsse von der Umkehrung der Urteile an bis zu komplizierten Syllogismusketten aus arithmetischen Prinzipien der Gleichheit und der Substitution als ein wohlgefügtes Ganzes zu entwickeln vermag. Schade nur, daß aus diesem schönen System der lebendige Sinn aller Urteile, die ein sachliches Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat zu behaupten oder zu verneinen berufen sind, rettungslos unter den Tisch fällt. Als ob wir über nichts Besseres nachzudenken hätten als darüber, in welcher Ausdehung der Umfang des Begriffes  A  dem des Begriffes  B  einzuordnen ist! Das ist eine Logik des grünen Tisches, mit der die lebendige Arbeit der Wissenschaft nichts anzufangen weiß.

In Deutschland hat dieser logische Sport, dem das Verdienst einer Übung formalen Scharfsinns nicht abzusprechen ist, wenig Anklang gefunden: hier und da istman auf die Bedeutung dieser Analogien für arithmetische Lehren aufmerksam geworden; im ganzen wurde die Sache von den Logikern abgelehnt. WUNDT hat in seiner Logik diesem Algorithmus der logischen Formeln ein eigenes Kapitel gewidmet, aber dabei mit einiger Kühle erklärt, daß das Studium dieses Kapitels nicht unerläßlich sei.

So wenig wie dieser Versuch der Arithmetisierung der Logik ist der der Geometrisierung gelungen, den ALBERT LANGE in seinen posthum von COHEN herausgegebenen Logischen Studien gemacht hat. Er wollte den Geltungsgrund formal-logischer Gesetze in den ursprünglichen Notwendigkeiten räumlicher Anschauung finden, wie er im glücklichen Beispiel der Disjunktion die logischen Verhältnisse darauf reduzierte, daß ein Punkt, der in ein Ganzes fällt, nur einem seiner Teile angehören kann, aber auch einem dieser Teile angehören muß. Auch hierin liegt die Verwechslung eines erfolgreichen Veranschaulichungsmittels mit dem Wesen der Sache deutlich zutage. Die bekannten Kreiszeichnungen, mit denen man seit langem (vielleicht schon seit dem Altertum) die Regeln der Syllogistik zu illustrieren gewohnt ist, sollten nicht nur den eigentlichen Sinn der logischen Formen, sondern auch in letzter Instanz ihren Rechtsgrund enthalten. Auch dieser Versuch, die logische Gesetzmäßigkeit auf der mathematischen aufzubauen, die Prinzipien des Denkens aus denen des Anschauens abzuleiten, darf heute als aussichtslos bezeichnet werden.

Dagegen zieht sich durch alle diese Umbildungen der formalen Logik und durch alle Darstellungen der traditionellen Lehre, z. B. bei ULRICI, ÜBERWEG und BENNO ERDMANN, aber auch bei Herbartianern wie LOTT, eine gemeinsame, wenn auch nicht immer gleich deutlich ausgesprochene Neigung, das logische Grundphänomen im Urteil zu suchen und das alte fichte.htmlSchema des Aufbaus der formalen Logik zu verlassen, worin man, durch sprachliche Analogien und grammatische Theorien irregeleitet, vom Begriff zu beginnen und von da zum Urteil, dann zum Schluß und weiter zu den "systematischen Formen des Denkens" aufzusteigen pflegte. Diese Anordnung mochte praktisch sein, solange die logischen Untersuchungen ihre letzte Instanz in der Frage hatten, wie man etwas beweisen oder widerlegen könne: aber sie versagte, sobald man über die Kriterien formaler Korrektheit hinaus nach der sachlichen Verwendbarkeit und der inhaltlichen Fruchtbarkeit der Denktätigkeiten für die Zwecke des Erkennens fragte. Und dieser Frage mochten sich doch auch gerade jene selbständigeren Vertreter der formalen Logik nicht entziehen.

Es kam entscheidend hinzu, daß auch die erkenntnistheoretische Logik von KANT auf die Urteilslehre als ihren Ausgangspunkt gewiesen war. Das System der Kategorien sollte auf dem der Urteile beruhen. KANT hatte der formalen Logik zugetraut, das letztere mit Sicherheit festgestellt zu haben: aber diese seine Voraussetzung wurde durch die Entwicklung der Kategorienlehre von FICHTE bis HEGEL über den Haufen geworfen und so ist die Forderung nach einer neuen Urteilslehre die Grundfrage der heutigen Logik geworden.

Sie rechtfertigt sich systematisch gegenüber der früheren Einteilungs- und Behandlungsweise der Logik auf das einfachste und einleuchtendste. Es ist deutlich und, sobald man es sich klar macht, selbstverständlich, daß ein Begriff seinen logischen Sinn und seine logische Geltung immer nur durch ein Urteil erhalten kann, in welchem die Zusammengehörigkeit seiner Merkmale in allgemein gültiger Weise erkannt und behaußtet worden ist. Deshalb kann die logische Lehre nicht prinzipiell die Begriffe als Voraussetzungen der Urteile, sie muß sie wesentlich als die allgemeingültigen Ergebnisse der Urteile behandeln. Nur bei den verwickelten Formen des Erkennens stößt sie auf solche Operationen des Denkens, bei denen früher durch Urteile begründete Begriffe als Voraussetzungen neuer Urteile verwendet werden. Um mit Kantischen Ausdrücken zu reden: analytische Urteile sind erst dann berechtigt, wenn die Begriffe, von denen sie ausgehen, durch synthetische Urteile begründet worden sind. Der Begriff ist nur ein Durchgangsprodukt oder ein festgehaltener Niederschlag aus dem Erkenntnisprozeß, der aus Urteilen besteht. - Andererseits ist der Schluß in allen seinen deduktiven wie induktiven Formen nichts anderes, als eine Art der Begründung von Urteilen und hat seinen logischen Sinn lediglich in diesem seinem Zweck. Der ganze Apparat der traditionellen Syllogistik ist eine größtenteils an sprachliche Formen gebundene Lehre, wie man Urteile durch andere schon geltende Urteile begründen oder widerlegen kann. - Die Lehre vom Begriff und die Lehre vom Schluß sind daher nur einzelne Auszweigungen der Lehre vom Urteil: diese ist das Hauptproblem der Logik. Das dürften wir jetzt als einheitliche Grundlage für die zukünftige Ausgestaltung dieser Wissenschaft ansehen. Logik ist Urteilslehre.

Aber philosophische Urteilslehre! Das muß besonders hervorgehoben werden: denn es hat sich keineswegs immer und überall von selbst verstanden. Urteilen ist eine seelische Tätigkeit; worin sie besteht und was dabei vorgeht, bildet somit einen Gegenstand der Psychologie. Sie hat es zu beschreiben und die dabei ablaufenden Prozesse nach Assoziations- und Apperzeptionsgesetzen zu erklären. Diese psychologische Vorarbeit sollte die Logik am Urteil ebenso als erledigt voraussetzen dürfen, wie die Ethik die empirische Kenntnis und das theoretische Verständnis der Willensfunktionen ihrer Untersuchung zugrunde zu legen hat. Aber die Psychologie ist bekanntlich keine fertige, vielmehr gerade in unseren Tage eine zwischen sehr verschiedenartigen Antrieben ihre methodisch und sachliche Einhelligkeit erst suchende Wissenschaft. Daraus ergibt sich für den Logiker die Notwendigkeit, zu den psychologischen Auffassungen des Urteils selber erst Stellung zu nehmen: er kann keine allgemein anerkannte Definition des Urteils übernehmen, sondern muß die bestehenden revidieren, um seinen Ausgangspunkt zu gewinnen.

Aus diesem unvermeidlichen Verhältnis ergibt sich nun aber die große Gefahr der Verquickung logischer mit psychologischen Untersuchungen. Muß der Logiker von psychologischen Analysen dessen, was im Urteil wirklich geschieht, ausgehen, so schieben sich ihm leicht unvermerkt die dabei gewonnenen Gesichtspunkte auch als Kriterien für die logische Behandlung der Sache unter und ist der entscheidende Differenzpunkt einmal verfehlt, so droht die ganze Logik nur eine Auszweigung der Psychologie zu werden, wie es früher zum Beispiel von BENEKE verlangt und ausgeführt worden ist. Die feste Abgrenzung gegen diesen Psychologismus ist eine Lebensfrage für die Logik als philosophische Disziplin. Aber so lebhaft von vielen Seiten dieses Bedürfnis nach einer prinzipiellen Scheidung von Logik und Psychologie empfunden und ausgesprochen wird, so wenig dürfen wir heute behaupten, daß es in einer vollkommen genügenden Form erfüllt worden wäre. Denn es genügt dazu nicht, daß man im allgemeinen den normativen Charakter der Logik mit Emphase betont, daß man sich auf die fundamentale Unterscheidung dessen, was wirklich geschieht, und dessen was geschehen soll, auch für das Urteilen besinnt; es genügt auch nicht, daß man die tatsächlichen Merkmale der Urteilsfähigkeit in der sprachlichen Form von Imperativen ausspricht: sondern es muß, wie ein für allemal, so an jeder besonderen Stelle genau der Punkt bezeichnet werden, wo die psychologische Betrachtung aufhört und die logische einsetzt. Das ist wohl hier und da versucht, aber noch nicht im systematischen Zusammenhang geleistet worden: wie schwierig es ist, zeigen am besten neuerdings die direkt auf dieses Ziel gerichteten Untersuchungen von HUSSERL.

Wenn damit die methodische Unabhängigkeit der Logik von psychologischen Voraussetzungen verlangt wird, so ist die Kehrseite davon die, daß nicht geleugnet werden soll, wie lebhaft unter Umständen gerade die Anregungen sein können, welche von psychologischen Theorien aus die Logik zur Stellungnahme zwingen. Ein lehrreiches Beispiel dafür ist die Bewegung, welche in der Urteilslehre durch die Psychologie von FRANZ BRENTANO hervorgerufen worden ist. Dieser hatte mit einer Erneuerung der stoisch-cartesianischen Einteilung der Seelentätigkeiten die Urteile als eine besondere Klasse den "Vorstellungen" gegenübergestellt und fand das charakteristische Merkmal der Urteile in einem Akt der Anerkennung oder Verwerfung, der jedesmal auf den vorgestellten Inhalt gerichtet sei. Daß dieser Akt, seinem psychologischen Wesen nach, eher mit dem Willen Verwandtschaft habe, wurde von ihm nicht für wesentlich gehalten; erst andere, wie BERGMANN, haben nachher vom "praktischen Moment im Urteil" gesprochen. Für BRENTANO wurde danach das, was die formale Logik die Qualität der Urteile nennt, deren einzig wesenhaftes Merkmal: alle anderen Unterschiede fielen nicht auf die Urteile, sondern auf die Vorstellungen und Vorstellungsverhältnisse, die im Urteil anerkannt oder verworfen werden. Als gemeinsame Form aller Urteile sollte damit der Existentialsatz zu Ehren kommen, der in der traditionellen Tafel der Urteile keine Stelle hatte. Sogar bei KANT, der die logische Eigenart des Existentialsatzes in der transzendentalen Dialektik sehr deutich ins Auge zu fassen wußte, war diese Urteilsform heimatlos gewesen, obwohl in der Tafel der Kategorien sowohl Realität als auch Dasein ihre Rolle spielten. Jetzt lenkte sich die Aufmerksamkeit um so mehr auf diese interessante Urteilsform und es wurden ihr eine Reihe von Untersuchungen gewidmet, ohne daß es zu einer fertigen Lehre über die Mannigfaltigkeit des Sinnes gekommen wäre, in welchem jene urteilsmäßige "Anerkennung" vollzogen werden kann, - eine Mannigfaltigkeit, der dann auch die Verschiedenheit der Bedeutungen entspricht, worin "Existenz" behauptet oder geleugnet werden kann.

An diese Untersuchung schlossen sich sogleich andere an. Galt die Anerkennung als das einzige Spezifische am Urteil, so konnte das Verhältnis von Subjekt und Prädikat nicht mehr wie früher als wesentlich oder für den Bestand des Urteils unerläßlich angesehen werden. Die "Prädikation" schien ihre Bedeutung für die Urteilslehre verloren zu haben; schon in der einfachsten Grundform des Existentialsatzes scheint ja nur  ein  Begriff vorzukommen, das Subjekt, das durch dieses Urteil "anerkannt" werden soll, ohne daß ihm das "Sein" als Prädikat zugesprochen würde. So wurde KANTs berühmte Lehre, daß das "Sein" kein "Merkmal an einem Begriff" sein kann, in verschiedenem Sinn in diese Diskussion hineingezogen. Auf der anderen Seite aber lenkten diejenigen Urteile die Aufmerksamkeit auf sich, in denen das Subjekt für die Prädikation zu fehlen scheint, die "subjektlosen Sätze" oder die "Impersonalien". Auch die Behandlung dieser Fragen ergab eine Fülle feiner und scharfsinniger Beobachtungen und interessanter Analysen. Ihr bleibendes Ergebnis, wie es namentlich durch SIGWARTs erschöpfende Untersuchung deutlich gemacht wurde, dürfte darin bestehen, daß es eindringlich zu Bewußtsein kam, wie wenig sich sprachliche Formverschiedenheiten mit logischen decken. Je zweifelloser es ist, daß sich in der Sprache die psychologischen Apperzeptionsprozesse zum Ausdruck bringen, umso mehr muß man auf den Unterschied der logischen Form von der sprachlichen achten. Man darf weder voraussetzen, daß derselben Sprachform immer dieselbe logische Form zugrunde liege, noch daß dieselbe logische Form sich immer in derselben sprachlichen Form äußere. Die Logik kann von der Grammatik, mit der sie geschichtlich nicht zu ihrem Vorteil verwachsen ist, zwar Anregungen und Fragen, aber keine Antworten und Einsichten erwarten. Wir müssen immer hinter die sprachliche Form dringen, um den logischen Sinn zu finden. Die Arten der Urteile fallen nicht mit den Arten des Satzes zusammen. Achtet man aber darauf, so zeigt es sich, daß die "Anerkennung sich niemals auf einen einfachen Vorstellungsinhalt allein richtet, sondern immer eine Beziehung trifft, ein Verhältnis zwischen mehrfachen Vorstellungsinhalten. Der synthetische Charakter, worin KANT das Wesen des Bewußtseins fand, ist auch für das Urteilen unerläßlich. In jedem Urteil handelt es sich darum, eine Beziehung vin den Vorstellungsinhalten zu denken und über die Geltung dieser Beziehung zu entscheiden. Deshalb sind Relation und Qualität die beiden wesentlichen und gleich unerläßlichen Merkmale des Urteils und sie bedingen die Einteilung, wonach die Urteilslehre in der reinen Logik entwickelt werden muß.

Den synthetischen Charakter des Urteils haben vor allem die beiden Hauptwerke betont, die das Rückgrat der logischen Literatur in den letzten Jahrzehnten gebildet haben, die von SIGWART und LOTZE. Beide aber haben gerade von diesem Gesichtspunkt aus die völlige Unzulänglichkeit der traditionellen Urteilslehre aufgedeckt und ihr wohl definitiv ein Ende bereitet, - SIGWART, indem er diesen grammatisch-formalistischen Bau völlig niederriß, LOTZE, indem er aus den Trümmern die Fundamente eines Neubaus aufzuführen unternahm. SIGWART zeigte, daß alle die Verschiedenheiten, die man in der üblichen Arteinteilung der Urteile als Unterschiede der Urteilsfunktion aufzufassen pflegt, in Wahrheit Verschiedenheiten entweder der Subjekte oder der Prädikate seien. So blieb schließlich als die Grundform allen Urteilens nur die kategorische Aussage eines Prädikats von einem Subjekt übrig, die Synthesis von Subjekt und Prädikat. Diese Synthesis könne in einem Satz einfach oder mehrfach enthalten sein; aber von verschiedenen Arten der Synthesis dürfe man nicht hinsichtlich ihrer Form, sondern höchstens in dem Sinne sprechen, daß inhaltlich Subjekt und Prädikat in verschiedenen sachlichen Beziehungen stehen können. Von diesem Ergebnis der Urteilslehre geht die SIGWARTsche Logik dann zur Untersuchung der Elemente und der Bildung der Begriffe und weiterhin der Begründung der Urteile im Schluß über.

Unter diese Kritik fielen auch die Unterschiede der Qualität, die noch durchaus parallel mit den drei anderen Einteilungen behandelt wurden, - wie denn auch LOTZE Affirmation [Bekräftigung - wp] und Negation nur als "Nebengedanken" zur primären Synthesis des Urteils auffaßte. Bei SIGWART stellte sich das in einer eigenartigen Theorie der Negation dar, die mannigfache, noch nicht ganz ausgetragene Folgen gehabt hat. Er wollte das negative Urteil über den positiven Urteilsversuch aufgefaßt wissen. Damit machte er es zu einem Werturteil und veranlaßte eine Beziehung seiner Ansicht auf diejenigen Theorien, welche die Qualität der Urteile als einen dem Willen verwandten Akt der Billigung oder Mißbilligung ansahen. So wurde eine Diskussion der Negationslehre eingeleitet, bei der außer der Frage, ob Affirmation und Negation als gleichstufige Arten des Urteils zu koordinieren seien, auch die andere in Fluß kam, ob neben ihnen etwa noch weitere Formen der qualitativen Bestimmtheit des Urteils in Betracht zu ziehen seien. Die limitativen [einschränkenden - wp] oder unendlichen Urteile aus der kantischen Tafel fielen natürlich fort: dafür kamen die Frage und andererseits das problematische Verhalten in Vorschlag. Der letztere Vorschlag eignet sich vielleicht besonders zu einer Verdeutlichung des Unterschiedes von logischer und psychologischer Behandlungsweise. Wenn gegen ihn häufig geltend gemacht wurde, daß man die Urteilsenthaltung unmöglich als ein Urteil auffassen könne, so ist das psychologisch ganz richtig. In diesem Sinn kann ein Urteil nur der fertige Akt genannt werden, der entweder affirmativ oder negativ, entweder Anerkennung oder Verwerfung ist, - gerade so wie ein Gefühl nur Lust oder Unlust, ein Wollen nur Begehren oder Verabscheuen sein kann. Aber das steht der logischen Forderung nicht im Wege, daß das Urteil suspendiert werden soll, wenn zureichende Gründe weder für Bejahung noch für Verneinung vorliegen. Diese Forderung ist, während das Verhältnis von affirmativem und negativem Urteil durch die beiden Sätze vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten reguliert wird, gerade im dritten Denkgesetz gegeben, dem Satz vom zureichenden Grund, der Bejahung und Verneinung gleichermaßen für den Fall verbietet, daß die Gründe dafür fehlen oder unzulänglich sind. Die logische Koordination des problematischen Verhaltens zur Affirmation und Negation kann also damit nicht bestritten werden, daß sie keine psychologische Form des Urteils darstellt.

Je geringer bei Sigwart der künstliche Aufbau der formalen Logik gewertet wird (denn auch die Syllogistik erfährt bei ihm eine ähnliche Reduktion auf die einfache Grundform des sogenannten hypothetischen Schlusses), umso mehr verlegt er den Schwerpunkt der logischen Untersuchungen in die Methodologie. Der lebendige Zusammenhang mit der vielgestaltigen Arbeit der einzelnen Wissenschaften, die genaue Einsicht in die Formen des Forschungsverfahrens, das Verständnis des Zusammenhangs, der dabei zwischen diesen Formen und der allgemeinen oder besonderen Struktur der Gegenstände besteht, worauf sie sich beziehen - das alles erscheint als die fruchtbare Hauptarbeit des Logikers. Weit entfernt ist solche Methodologie vom phantastischen Bestreben, eine Universalmethode für alle Wissenschaften auszuklügeln: umgekehrt sucht sie mit verständnisvollem Eingehen auf die im Gegenstand wurzelnde Eigenart der einzelnen ihre provinziale Autonomie im Gesamtreich des Wissens aufrechtzuerhalten.

Auch LOTZE hat der Logik diese intime Beziehung zu den Interessen der besonderen Wissenschaften gegeben; aber bei ihm steht die Tendenz in einem noch allgemeinerem Zweckzusammenhang. Niemand kann weiter als er von der formalen Auffassung entfernt sein, als bildeten die logischen Formen ein in sich geschlossenes, nur auf sich selbst bezogenes System. Getreu seinem teleologischen Idealismus suchte er vielmehr die Anfänge der Logik bei der Ethik, den Sinn ihrer Lehren in den Zwecken des Erkennens. Von diesem Grundgedanken aus wollte er dann auch bei aller eindringenden Kritik des einzelnen mit konservativer Anlehnung an die traditionallen Auffassungen, Bezeichnungen und Anordnungen die Gesamtheit der logischen Funktionen als einen zweckvollen Stufenbau entwickeln, worin der Fortgang von Form zu Form durch die Aufgaben bestimmt erschien, welche Schritt für Schritt aus dem schon Geleisteten als neue Probleme entspringen. Er war sich wohl bewußt, damit zur Methode der Idealisten und namentlich HEGELs zurückzukehren und ihr durch die bewußte Anpassung an die Arbeitsziele der empirischen Wissenschaften eine neue brauchbare Gestalt zu geben. In diesem Sinne fügten sich bei ihm die alten Formen zu einem neuen Bau, der seinen Einheit im Zweck des Erkennens und seiner dialektisch aufsteigenden Verwirklichung hatte.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Logik, Philosophische Abhandlungen, Festschrift für Kuno Fischer, Heidelberg 1905