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GERARD HEYMANS
(1857-1930)
Zurechnung und Vergeltung
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"Wenn man den Begriffen des Stoffes, der Masse, der Dichtigkeit usw. ihre objektive Gültigkeit wahren will, darf man dieselbe dem Kraftbegriff gewiß nicht versagen, denn diese Kraft ist eine absolut notwendige Annahme, welche zwar fortwährend auf einfachere Formen zurückgebracht, niemals aber ganz aus der Wissenschaft entfernt werden kann. Bei der einfachsten Stoßwirkung wie bei den kompliziertesten Erscheinungen muß sie vorausgesetzt werden, bleibt aber ihrer tiefsten Natur nach vollständig unbegreiflich."

"Es läßt sich demgemäß die Aufgabe der Psychologie in diesen Worten zusammenfassen: die Erscheinungen der inneren Erfahrung auf eine möglichst geringe Anzahl elementarer Kräfte zurückzuführen und für jede Kraft den möglichst genauen Ausdruck - das Gesetz - zu finden."


Erster Artikel

Es ist eine sonderbare Sache um die Willensfreiheit; einen ganz unvergleichlichen Reiz scheint das Wort auf den Menschen auszuüben. Es geht damit wie in alten Märchen: manch tapfrer Ritter zieht aus, das Ungetüm zu bekämpfen, manch guter Schwertstreich wird geführt und trifft, - vergebens, denn ist der böse Form in einer Form besiegt, flugs steht er in einer anderen schon wieder da, als ob nichts geschehen wäre. Wird es nachgerade unmöglich, das eigentliche liberum arbitrium indifferentiae [absolute Wahlfreiheit und Willkür - wp] unverfälscht zu behaupten, so gibt es ja Surrogate im Überfluß; man begnügt sich mit einer "inintelligiblen" Freiheit ("intelligible", meinen die klardenkenden Franzosen) oder man beruft sich auf einen "vorzeitlichen Willensakt", woran sich leider niemand mehr erinnert; man weist nach, daß doch wenigstens die äußeren Umstände oder gar Affekte und Leidenschaften, nicht ausschließlich die determinierenden Faktoren sind; holt auch wohl im Notfall den alten Esel BURIDANs noch einmal herbei und meint, es werde wohl kein Mensch so sehr Esel sein, um dessen Beispiel zu folgen. Da hat man dann leichtes Spiel, denn jeder nimmt gern an, daß er kein Esel sei und das Experiment läßt sich nicht machen. Es kommen aber andere und behaupten, die Motive seien zwar inklinierende [Neigung zu etwas haben - wp], keineswegs aber necessitierende [zwingende - wp] Ursachen oder in etwas veränderter Form: der Mensch sei zwar notwendig determiniert,aber nur dazu, daß er sich selbst frei determiniere; womit denn wenigstens das Problem um ein paar Zoll zurück und vorläufig von der Hand geschoben ist. Als letzter Schlupfwinkel für die arme verfolgte Freiheit bleibt dann noch die Behauptung übrig, wenigstens auf beschränktem Gebiet sei sie doch zulässig und mit aller Anstrengung wird nun ein solches bescheidenes Heim in allen Richtungen für sie gesucht. Der eine meint, wenn auch das "daß" des Handelns necessitiert sei, so bleibe doch wenigstens das "wie", die Wahl der Mittel, frei; der andere aber sucht eben in jenem die Freiheit, während er dieses dem Determinismus preisgibt. Verschiedene behaupten, nur das sittliche Handeln nach Maximen sei im höchsten Sinne frei, während andere für den sittlich hochstehenden wie für den tiefverdorbenen Menschen den Determinismus anerkennen, zwischen beiden aber der Freiheit ihr Plätzchen zu währen versuchen; - noch andere aber sie auf gleichgültige Handlungen beschränken, wo dann freilich ihr ethischer Wert ein sehr problematischer wird. Es wäre leicht, die Zahl dieser Beispiele, welche durchwegs der Literatur der letzten Jahrzehnte entnommen sind, noch um ein Beträchtliches zu vermehren; das Angeführte wird aber schon genügen. Wenn irgendwo, so hat gewiß hier die nüchterne empirische Wissenschaft etwas zu tun.

Es ist nun gewiß nicht meine Absicht, die stattliche Reihe der Schriften über Willensfreiheit noch mit einer neuen Arbeit zu vermehren, - und das umso weniger, als ich die Frage für vollständig erledigt halte. Neue Gründe zur Unterstützung der streng-deterministischen Weltanschauung vorzuführen, scheint mir ebenso schwierig als unnötig; es ist wohl nur noch eine Zeitfrage, wie lange es der "freie Wille" der immer größeren Verbreitung naturwissenschaftlicher Methoden und Ergebnisse gegenüber aushalten wird. In der Tat steht es mit dem Glauben an die Willensfreiheit ganz so wie es nach einer richtigen Bemerkung LECKYs mit dem Gespensterglauben steht: nicht so sehr durch absolut zwingende Beweise kann man seine Unrichtigkeit dartun, als vielmehr durch die einfache Tatsache, daß bei fortschreitender Entwicklung Individuum und Gesellschaft sich immer weniger veranlaßt finden, ihm beizutreten.

Wenn aber die Willensfreiheit selbst kaum noch unter die Probleme gerechnet zu werden verdient, ein ungelöstes Problem ist immer noch die  Lehre  von der Willensfreiheit. Wie ist es psychologisch zu erklären, daß einer Lehre, welche mit aller Wissenschaft in geradem Gegensatz steht, ja eigentlich nichts anderes ist als die Verneinung der Rechte der Wisenschaft auf ihrem Gebiet, - einer Lehre, welche mitten durch unsere Weltanschauung einen unheilbaren Riss postuliert, dazu noch mit jeder Praxis vollständig unvereinbar ist, sodaß es unmöglich scheint, auch nur einen Tag zu leben, ohne hundertmal mit ihr in geradem Widerspruch zu handeln, - wie ist es möglich, daß einer solchen Lehre eine so unverwüstliche Lebenskraft innewohnt? Wo liegen die Motive, welche sie tragen, wo der verborgene Weg, der von den Tatsachen der Erfahrung zu der aller Erfahrung zuwiderlaufenden Annahme führen mag? - Diese Fragen und andere, welche sich aus der Lösung der ersteren ergeben werden, wird die vorliegende Arbeit zu beantworten versuchen.

Die Verwechslung einer relativen, bedingen, mit einer absoluten, unbedingten Möglichkeit, worauf vielfach die Gegner der Willensfreiheit diese Lehre zurückzuführen bestrebt sind, mag wirklich in manchen Fällen stattfinden, keineswegs darf dieselbe aber als die einzige oder selbst als die vornehmste Ursache betrachtet werden. Daß ich "tun kann was ich will", heute dieses, morgen ein anderes, mag dem Geistespöbel als ein genügender Grund für die Annahme der Willensfreiheit erscheinen; es gibt doch im indeterministischen Lager auch noch andere Leute, bei denen man ein so tölpelhaftes Mißverständnis keineswegs voraussetzen darf. Auch muß man sich vor dem Irrtum hüten, ohne weiteres die zur Unterstützung irgendwelcher Ansicht beigebrachten Argumente mit den wirklichen Gründen dieser Ansicht zu identifizieren; nur zu oft greift das rohe Denken in der Verzweiflung des Kampfes zu Gründen, welche nur dem Wortlaut nach etwas mit der Sache zu schaffen haben, während es, unfähig zur scharfen Selbstbeobachtung, die wahren Gründe übersieht. Daß sich im vorliegenden Fall die Sache wirklich so verhält, geht schon daraus hervor, daß sich einerseits unzählige Male dieselbe relative Möglichkeit verschiedener Ereignisse vorfindet, ohne daß auch nur  einer  daran denkt, irgendwelche "Freiheit" zu wittern, während andererseis auch die klarste Erkenntnis der determinierenden Motive das Bewußtsein der Freiheit vielmehr verstärkt aufhebt, - wie denn auch im praktischen Leben oft genug in einem Atem die absolute Freiheit behauptet und nach streng deterministischen Grundsätzen gehandelt wird. Daß ein Kranker vielleicht sterben, vielleicht aber auch seine Gesundheit zurückerhalten wird, das weiß auch der ungebildetste Mensch; dennoch ruft er den Arzt oder betet zu Gott, sucht also jedenfalls  Ursachen  herbeizuführen, um die Genesung zustande zu bringen; die "Freiheit" aber bleibt aus dem Spiel. Daß ein reicher Blutsverwandter ebensowohl mich wie einen anderen zum Erben einsetzen kann, davon bin ich sehr überzeugt; dennoch werde ich, wenn ich ein habsüchtiger Mensch bin, nicht versäumen, dem Mann zur ersten Entschließung Motive beizubringen. Zugleich aber behaupte ich, er sei frei; was ist nun dieses "er", das sich in die Rechnung hineinschiebt, während wir sonst nur von Ursachen und Wirkungen reden? Hier wie dort zwei Möglichkeiten, von bekannten oder bekannt geglaubten Momenten bedingt; hier wie dort die feste Überzeugung, daß bestimmte Ursachen bestimmte Wirkungen herbeiführen; wo steckt der Unterschied?

Wir können aber noch weiter gehen; es gibt zahlreiche Fälle, wo der Mensch im selben Augenblick seine absolute Freiheit behauptet und zugleich den Gedanken weit von sich wirft, es wäre ihm auch ein anderes Handeln als das seinige möglich gewesen. Der Märtyrer und ebenso der verhärtete Egoist, fühlen sich in ihrem Handeln vollständig frei und dennoch werden beide mit vollster Gewißheit ihr Betragen unter bestimmten Umständen vorauszubestimmen imstande sein. Andererseits wird aber derjenige, der auf einem Mittelstandpunkt zwischen gut und böse hin- und herschwankt und bei dessen Handeln also für die verschiedenartigsten "Möglichkeiten" der größte Raum freigelassen ist, sich dessenungeachtet als "Sklave der Umstände" und sein Heraustreten aus diesem Zustand als eine Erhebung zur Freiheit zu betrachten genötigt sein. Wo steckt der Knoten?

Man wird unschwer finden: das "Ich" spielt seine Rolle dabei. "Ich" oder ein anderes "Ich" will eben diese Bewegungen, welche ich als frei bezeichne; in der unbelebten Natur aber ist mir nichts diesem Ich Analoges bekannt. Was ist nun aber dieses "Ich"? Jedermann ist sich bewußt, daß es nicht mit den Motiven identisch ist; er meint auch, es schwebe über seinen Neigungen und Leidenschaften; es sei heute und morgen immer dasselbe, während jene wechseln; so weit aber dieses "Ich" sein Handeln bestimmt, sei es frei. Wie denkt man sich aber diese Bestimmung, wie das Verhältnis zwischen Ich und den Motiven? Ist das Ich eine Partialursache neben, ist es eine höhere Ursache über den Motiven? Man weiß es nicht. Die Tatsachen aber, welche mit diesem Ich in Beziehung stehen, faßt man unter den Begriffen der  Verantwortlichkeit  und der  Zurechnung  zusammen.

Ein zweites Moment tritt dazu: die ethische Forderung der  Vergeltung.  Alle jene Ereignisse, welche man als Äußerungen des Ich betrachtet, unterliegen der moralischen Beurteilung und erwecken den Trieb zu lohnen oder zu strafen. Was dieser Trieb seinem tiefsten Wesen nach ist, weiß man wieder nicht, fühlt aber ganz genau heraus, daß er all demjenigen gegenüber verstummt, was sich als etwas von außen Determiniertes herausstellt. Also noch einmal: wenn nicht ein fundamentaler Widerspruch die ganze Ethik erschüttern soll, muß "Ich" frei sein.

Das wären also die Tatsachen, welche dem Freiheitsglauben bisher seine feste Grundlage im menschlichen Denken sicherten. Diese Freiheit selbst aber wäre demnach  nicht  etwas unmittelbar Wahrgenommenes,  auch nicht  etwas auf deduktivem Weg Erschlossenes, sondern eine Hypothese im naturwissenschaftlichen Sinne: eine Ausnahme, womit man gewisse Erfahrungstatsachen verständlich zu machen versucht hat. Freilich eine ganz schlechte, über die Maßen leichtfertige, von tausend anderen Tatsachen widersprochene Hypothese, wie es eben die Einfälle des ungeschulten "gesunden Menschenverstandes" zu sein pflegen; - auch keineswegs genügend, um dasjenige zu tragen, was sie zu tragen bestimmt ist. Unterwerfen wir, dieses nachzuweisen, jene beiden Tatsachenkomplexe - die psychologischen Erscheinungen der Zurechnung, die ethischen der Vergeltung - einer genaueren Untersuchung; vielleicht wird es uns dabei noch gelingen, für dieselben ein stärkeres und besser begründetes Fundament aufzufinden, als die Hypothese der Willensfreiheit zu bieten vermag.



Wenden wir also zunächst der Verantwortlichkeitsfrage unsere Aufmerksamkeit zu. Jeder unbefangene Mensch - es seien hiermit die Materialisten und die Gläubigen ausgenommen - jeder unbefangene Mensch, auch wenn er die durchgängige Bestimmtheit seiner Handlungen durch Motive eingesehen hat, hat nichtsdestoweniger die unzerstörbare Gewißheit, daß er der Täter seiner Taten ist, - daß er, in normalen Fällen wenigstens, die volle Verantwortlichkeit dafür zu tragen, Lob und Tadel dafür hinzunehmen hat, - daß er endlich keiner fremden Macht Unterbau, also in gewissem Sinne frei genannt zu werden verdient. Diese Gewißheit hat eine so zwingende Kraft, daß sie zur bekannten Äußerung LICHTENBERGs Veranlassung geben konnte: "Wir wissen mit weit mehr Deutlichkeit, daß unser Wille frei ist, als daß alles, was geschieht, eine Ursache haben müsse. Könnte man also nicht einmal das Argument umkehren und sagen: Unsere begriffe von Ursache und Wirkung müssen sehr unrichtig sein, weil unser Wille nicht frei sein könnte, wenn sie richtig wären." Solche Tatsachen lassen sich aber weder ignorieren noch hinwegdisputieren; vielmehr ist es im Interesse der Wissenschaft, daß der bestehende Widerspruch ehrlich anerkannt und dann auf dem Boden dieser Anerkennung seine Lösung versucht werde.

Allerdings hat es, namentlich in der letzteren Zeit, an Versuchen in dieser Richtung nicht gefehlt. Am leichtesten machen es sich dabei die Engländer: "Verantwortung" sagt MILL ganz einfach, "bedeutet Betrafung". (1) Es ist unbestreitbar, daß dem Wort in der Tat diese Vorstellung mehr oder weniger deutlich assoziiert ist, woraus aber noch gar nicht zu folgen braucht, daß es dieselben als seine Merkmale in sich enthält. Vielmehr wird sich bei genauerer Selbstbestimmung herausstellen, daß wir uns die Verantwortlichkeit sehr wohl von allen Lohn- und Strafgedanken abgesondert vorzustellen vermögen; nur nicht umgekehrt diese ohne jene. Selbst wenn wir von aller ethischen oder juristischen Beurteilung völlig abstrahieren, werden wir, wenn z. B. irgendeiner eine Torheit begangen hat, ohne Widerspruch sagen zu können, nur er sei für die Tat verantwortlich, d. h. nur sich selbst könne er die möglichen Folgen derselben zurechnen,  er  habe sie eben begangen. Kommt nun noch die Möglichkeit der ethischen Wertschätzung hinzu, fällt die Tat in das Gebiet der moralisch bedeutsamen Handlungen, so wird allerdings diese Verantwortlichkeit die notwendige Grundlage unseres billigenden oder mißbilligenden Urteils bilden. Es ist also Letzteres nicht ein essentielles Merkmal der Verantwortlichkeit, wohl aber dadurch bedingt; somit wird es geraten erscheinen, die Verantwortlichkeit zuerst losgelöst von ihren möglichen Folgen, rein an sich, zu betrachten. Wenn das Ich wirklich nur ein Kollektivbegriff wäre, wie etwa die "Welt", so ließe sich kaum die Hartnäckigkeit begreifen, womit man aller wissenschaftlichen Einsicht ungeachtet fortfährt, dieses Kollektivum, sei es auch nicht in streng exakter Fassung, als die Ursache der dasselbe konstituierenden Elemente zu betrachten. Die unerschütterlich Gewißheit der Selbstbestimmung auch bei den best motivierten Handlungen muß doch ihre Wurzeln noch etwas tiefer haben.

Man kann nun aber noch einen Schritt weiter gehen und das volle Licht statt auf die Motive auf den Charakter fallen lassen: auf jenes Konglomerat ererbter oder erworbener Eigenschaften, Ansichten, Triebe und Neigungen, welches die individuelle Verschiedenheit des menschlichen Handelns bestimmt. In diesem Sinne meint z. B. VÖLKER, der Wille sei in diesem Sinne frei, "daß er nicht einem äußeren Zwang unterworfen ist, sondern den individuellen psychologischen Faktoren" (2) und BÖRNER, das Wollen stamme "seiner tiefsten Grundlage nach aus dem Innern des Menschen und in dieser Beziehung (sei) dasselbe ein durchaus  freies,  durch nichts Fremdartiges außerhalb der Willenskräfte selbst begründetes". (3) Er widerspricht der Meinung, es müsse doch auch den äußeren Umständen, der Verführung usw. irgendwelcher Einfluß zugestanden werden: "es hätten jene nicht das Unrechte begangen, wenn sie nicht die Anlagen  in sich  gehabt, wenn sie nicht die unmoralische Neigung zu dem, was sie taten, in sich getragen hätten". (4) Die Zurechnung sei nun nichts weiteres als "die Zurückführung eines Erfolges auf das wahre Innere des Menschen". (5) Da nun aber BÖRNER zufolge der Mensch ohne angeborene Neigungen zur Welt kommt, "bildungsfähig, nicht gebildet", da derselbe also vollständig ein Produkt der Umstände ist, muß sich dieser Ansicht zufolge die Zurechnung ausnahmslos auf alle Handlungen erstrecken, namentlich auch weder durch schlechte Erziehung oder böses Beispiel, noch durch die günstige Gelegenheit aufgehoben oder beschränkt werden. In der Tat geht BÖRNER diesen notwendigen Folgerungen aus seinem Prinzip nicht aus dem Weg. Die Tatsache aber, daß man im täglichen Leben jene Umstände unbedingt als beschränkende Momente für die Verantwortlichkeit gelten läßt, beweist schon zur Genüge, daß BÖRNER nur einen neuen, vielleicht sehr wertvollen Begriff in die Wissenschaft eingeführt, daß er aber die alte, uns allen bekannte Verantwortlichkeit, die es zu erklären galt, um nichts verständlicher gemacht hat. Er selbst scheint dieses wenigstens geahnt zu haben, wie aus seiner unklaren Unterscheidung des "wahren" von einem scheinbaren Ich hervorgeht. Im Leben wird allerdings diese Unterscheidung gemacht, in BÖRNERs Lehre aber ist für sie kein Raum. Wenn unser Ich nichts anderes ist als ein leeres Gefäß, das von außen her seinen Inhalt bekommt, so gehört eben entweder dieser ganze Inhalt oder nur die leere Form, zum "wahren" Ich; die Gedankenassoziationen z. B., welche die Erziehung bildet, müssen ebensoviel oder ebensowenig die Verantwortlichkeit beschränken, wenn sie zur Manie entartet, als wenn sie zum festen Charakter ausgebildet worden sind; Idiotismus und psychische Erregung müssen die Zurechnung ungehindert bestehen lassen usw. Denn von den "das schwache Innere überwältigenden Eindrücken der Außenwelt" (6) beim Idioten, der "Anhäufung überströmender Elemente" (7) im Affekt gilt es doch noch immer, daß "Jene nicht das Unrechte begangen hätten, wenn sie nicht die Anlagen in sich gehabt hätten", daß die bloße "Gunst oder Ungunst der Gelegenheit und der äußeren Umstände niemanden zu einem Wollen und Handeln zwingt". (8) Die innere Haltlosigkeit des BÖRNERschen Standpunktes geht wohl am deutlichsten daraus hervor, daß er die Verführung durch Personen wohl, die Verführung durch andere Umstände aber nicht als beschränkendes Moment der Verantwortlichkeit gelten lassen will. (9) Und doch ist es vollkommen gleichgültig, ob "durch künstliche, meist mit Absicht angewendete Mittel die Kräfte, auf welche das Handeln zurückgeführt werden muß, in eine sonst nich in der Seele begründeten Zusammenstellung gebracht und dadurch zu einer das Entgegenstehende unterdrückenden momentanen Macht emporgehoben worden wären" - oder ob die günstige Gelegenheit diese Motivfälschung zustande gebracht hat. Was ich gewollt habe, habe ich gewollt und selbst wenn man mich mit gezücktem Dolch zur Entschließung gezwungen hat, - ich würde mich eben nicht haben einschüchtern lassen, wenn ich nicht den Trieb, um jeden Preis zu leben, in mir gehabt hätte. Quamquam coactus, attamen voluit [Obwohl gezwungen, wollte er dennoch. - wp], war schon ein alter römischer Rechtsspruch. So muß denn diese Ansicht entweder dazu führen, die Verantwortlichkeit vollständig aufzuheben oder aber sie ausnahmslos auf alle Handlungen auszudehnen: Beides in gleich grellem Widerspruch mit der gewöhnlichen Meinung. Aufgabe der Wissenschaft aber ist es, diese Meinung nicht nur zu berichtigen, sondern auch zu begreifen; und erst wenn ihr das gelungen ist, kann sie jenes unternehmen.

Überhaupt muß den Versuchen, irgendwelche Freiheit des Wollens durch Zurückführung der Handlung auf das Innere des Menschen zu retten, immer etwas Unklares anhaften bleiben. Denn jedenfalls ist doch die Tat das Ergebnis des Zusammenstoßes eines gegebenen Charakters mit bestimmten äußeren Umständen (günstige Gelegenheit usw.); beide sind gleich notwendige Bedingungen zum Eintritt der Willensentschließung und man kann diese ebenso wenig auf eine derselben zurückführen, als man ein Produkt als ausschließliches Ergebnis eines seiner Faktoren betrachten oder das Volumen eines Gases entweder aus der Temperatur oder aus dem Luftdruck erklären kann. Wenn man es daher mit vollem Recht bei den Materialisten tadelt, daß sie die volle Ursächlichkeit dem Motiv zuschieben und die Bedeutung der menschlichen Persönlichkeit verkennen, so darf man sich ebensowenig den entgegengesetzten Fehler zuschulden kommen lassen und im "Charakter" einen genügenden Grund des Handelns gefunden zu haben behaupten. Beide Extreme sind gleich einseitig und gleich falsch, nur ihre Zusammenfassung in eine höhere Einheit gibt die volle Wahrheit. Übrigens zeigt sich dieselbe Ungenauigkeit auch auf physischem Gebiet, wo man oft entweder das Loslassen eines Steines oder aber die Gravitationskraft als einzige, auch wohl, noch unklarer, als Hauptursache des Fallens bezeichnet findet.

Mehrere Denker in Deutschland und Frankreich versuchen die Freiheit zu retten, indem sie uns dieselbe in etwas veränderter Form, als  sittliche Freiheit,  vorführen: frei sei derjenige, der nicht mehr seinen Neigungen und Leidenschaften widerstandslos gehorcht, sondern durchweg nach selbstgeschaffenen Maximen handelt. In gleicher Weise meint LIEBMANN: "Frei ist das Subjekt des Wollens dann, wenn es nur will, was es wollen will"; (10) um aber meine Freiheit zu beweisen, "muß ich meine Pflicht tun. Tue ich sie in allen Fällen, so bin ich im höchsten denkbaren Sinn des Wortes frei; tue ich sie nicht, unfrei". (11)

Alle diese Aussprüche könnte man mit gutem Gewissen unterschreiben, wenn nur ihre Urheber, statt "Freiheit" schlechthin, jedesmal "Freiheit vom Zwang der anschaulich gegenwärtigen Objekte" oder aber "von unsittlichen Neigungen" geschrieben hätten; der relative Charakter des Freiheitsbegriffs macht es ja möglich, so viele Arten der Freiheit zu unterscheiden, als man hemmende Einflüsse finden kann. Freilich würden jene Behauptungen, in dieser Form gefaßt, zum Rang bloßer Binsenwahrheiten oder vielmehr Definitionen herabsinken; es bliebe denselben nur noch diese Bedeutung, daß wir keine andere als jene sittliche Freiheit anzunehmen berechtigt seien. Damit aber wären aber die vorliegenden Tatsachen wieder keineswegs erklärt. Denn erstens ist das Gefühl der Freiheit gewiß nicht auf jene Fälle beschränkt, wo nach sittlichen Maximen oder selbst nach Maximen überhaupt gehandelt wird. Es mag wahr sein, daß der bessere Mann im schweren Kampf des Lebens dazu kommt, all jene Einflüsse, welche er im Streben nach Vervollkommnung niederzukämpfen hat, als etwas außer ihm, als Hemmungen zu betrachten, - eben dasselbe gilt dem hartherzigen Egoisten von jenen moralischen Anwandlungen, welche noch immer von jenen moralischen Anwandlungen, welche noch immer von Zeit zu Zeit seine Seelenruhe beeinträchtigen; und es mag als eine erwiesene Tatsache gelten, daß niemand sich so frei fühlt als der Liebende im "Joch" der befriedigten Leidenschaft. (12) Zweitens aber ist der Verantwortlichkeit mit der LIEBMANNschen Erklärung in keiner Weise geholfen. Denn, wie es freilich von beiden ausdrücklich anerkannt wird, auch das Wollen-wollen ist doch in letzter Instanz wieder von äußeren Umständen mitbestimmt und es macht am Ende wenig Unterschied, ob ich unmittelbar zum Wollen determiniert werde, oder aber dazu, mich selbst mit gleicher Notwendigkeit zum Wollen zu determinieren. In beiden Fällen bleibt, wie DROBISCH richtig bemerkt hat, "die Moralität eines jeden ... das Produkt seiner äußeren und inneren Lebensgeschichte, zu welch letzteren aber allerdings sein eigenes Wollen gehört. Wer sich wenigstens nicht schwere Verirrungen zu bereuen, nicht bittere Vorwürfe über Getanes oder Unterlassenes zu machen hat und sich in der sittlichen Selbstbeherrschung auch für die Zukunft sicher fühlt, hat doch, dieser Ansicht zufolge, "nicht Ursache, auf seine Tugend stolz zu sein; denn die Mittel dazu und die gute Stunde, in der er zum ersten Mal vom inneren unvergänglichen Wert des Guten ergriffen wurde und bewußt das Gute zu wollen anfing, verdankt er nicht sich selbst, sondern seinem gütigen Geschick." (13) Eben dieser "Tugendstolz" im guten Sinne, das Bewußtsein des eigenen sittlichen Wertes, wird aber vom moralischen Bewußtsein entschieden gebilligt; in der Tat wäre es der reine Widerspruch, von einem Verbrecher zu fordern, daß er sich schäme, also seine Tat sich selbst zurechne; dem Heroen aber das gleiche Recht zu verweigern. Im angeführten Passus aber wird diese moralische Verantwortlichkeit, dieses Zurückführen der Tat auf das Ich als letzten Grund, ganz folgerichtig als ein zu bekämpfender Irrtum verworfen. Damit ist aber nur erwiesen, daß wir es hier noch einmal mit einer neuen, nicht aber mit der alten, zu erklärenden Freiheit zu tun haben.

Die richtige Einsicht, daß mit der Zurückführung der Freiheit und Verantwortlichkeit auf ein Wollen-wollen die Sache nicht abgetan, vielmehr nur der erste Schritt zu einem unendlichen Regress ohne Ruhepunkt gemacht worden ist, hat dann LAAS dazu geführt, den ganzen Apparat über Bord zu werfen und ganz allgemein den Satz zu proklamieren: "so weit  meine Lust  und  meine  Voraussicht das in letzter Instanz Bestimmende ist, so weit bin  ich  Herr", (14) - womit dann wieder die Freiheit zu jeder auf irgendwelchen Zweck bezogenen Handlung ausgedehnt werden soll. Es gehen ja alle kausativen Wünsche auf die Zukunft; schon dadurch erscheine die willkürliche Bewegung als etwas von allen mechanischen Naturvorgängen radikal Verschiedenes. An die Stelle des Stoßes a tergo [von hinten - wp] sei gleichsam der Zug a fronte gesetz, der fatalistische Zwang der Vergangenheit entwunden und die Zukunft zur Herrin gemacht; dabei sei es schlechterdings sein eigenstes Interesse und Wollen, was dem Ich die Vorsorge für die Zukunft eingibt. (15) - Alle diese, und die nachfolgenden Erörterungen über die Macht des Ich auf jedem Gebiet, mögen nun dazu sehr geeignet sein, die beengende Vorstellung eines Zwanges von außen, einer blinden Fatalität, die sich so leicht beim neubekehrten Deterministen einschleicht, zu beseitigen, für die Verantwortlichkeitsfrage leisten sie doch wieder nicht das, was zu leisten nötig war. Denn im letzten Grunde läßt auch diese Ansicht wieder den Menschen in den Händen der Natur, aus denen er sich eben befreien zu können meinte: was sein Interesse erregt, sein Wollen bestimmt, hängt doch wieder von demjenigen ab, was er erfahren, d. h. was die Natur ihm vor Augen geführt hat; jedenfalls ist es nicht das Zukünftige, sondern die  Vorstellung  des Zukünftigen, welche sein Handeln bestimmt; diese Vorstellung aber ist doch immer wieder ein Antezedens [das Vorhergehende - wp] und zwar ein naturnotwendig bedingtes. So ist denn die LAASsche Anschauung, genau genommen, ein Resultat bewußter, kunstmäßiger Abstraktion: man schwelgt im erhebenden Blick der allseitigen und durch unendliche Zeiten fortwirkenden Macht des Ich, führt aber die Kausalkette nicht weiter als auf das Dasein dieses strebenden und wollenden Wesens zurück. Diese Betrachtungsweise ist aber mehr eine künstlerische als eine wissenschaftliche; wie dann auch die ausgesprochene Tendenz der LAASschen Arbeit eine entschieden praktische ist: eine Verständigung herbeizuführen zwischen den mechanischen Neigungen der modernen Naturwissenschaft und einem gewissen "Grauen", welches dieselbe zu erregen pflegen. (16)

Einen viel besseren Weg und zwar den einzigen, der zu richtigen Ergebnissen führen könnte, schlägt WOLLNY ein. (17) Es ist ihm klar, daß man nur von Freiheit sprechen kann, wo Selbständigkeit ist, daß aber diese Selbständigkeit nur dem Sein, niemals aber dem Werden zugesprochen werden kann; - womit, wenn auch nicht die Lösung selbst, so doch die Bedingunen zu einer endgültigen Lösung unseres Problems gegeben sind. In der Tat kann, wer die Ausnahmslosigkeit des Kausalitätsgesetzes anerkennt, in keiner Weise mehr ein Handeln oder Wollen als frei betrachten; der Begriff der Freiheit ist ohne den der Unabhängigkeit gar nicht zu denken; diese Unabhängigkeit aber kann, wenn irgendwo, nur im bleibenden, als bloße Tatsache gegebenen und auf nichts anderes zurückzuführenden Sein gefunden werden. Der Mensch nun "existiert", wie WOLLNY ausführt, "wirklich nur auf elementarer Grundlage"; niemals darf er sich "als ein bloßes Geschöpft", "als bloße Wirkung einer Ursache oder irgendwelcher Ursachen ansehen: sein Dasein ist etwas mehr als eine bloße Wirkung". (18) "Dieser Freiheitsbegriff, der sich also auf die elementare Selbständigkeit des menschlichen Daseins gründet, muß gegen jene fatalistische Vorstellungsweise besonders stark betont und aufrecht erhalten werden, welche dem Menschen ... das Bewußtsein der Ursprünglichkeit seiner Existenz in ihrer elementaren Beschaffenheit und hiermit das echte Lebensgefühl raubt." (19) Das Bewußtsein dieser Freiheit "muß mir sagen, daß ich mich mit allem übrigen Sein mindestens in gleicher Linie befinde"; es "berechtigt mich zu einem gewissen stolzen Selbstgefühl". (20) - Das sind doch wenigstens kräftige, männliche Worte; man fühlt gleich heraus, daß man hier der wahren Freiheit auf der Spur ist, der Freiheit, die ich meine, wenn ich im Vollbewußtsein meines Menschenwertes mich über alles Zeitliche erhebe und die Ahnung eines Unendlichen mich durchschauert.  Diese  Freiheit, das tiefe Bewußtsein der absoluten Unabhängigkeit, gilt es zu erklären und, wenn nicht unser Leben in das ethische Nichts zerrinnen soll, zu rechtfertigen. Kaum aber dürfte dieser Zweck schon damit erreicht sein, daß die Unabhängigkeit der  Grundlage,  auf welcher der Mensch existiert, nachgewiesen wird. Wenn wir auch "die Tendenz zu den eigentümlichen Gestaltungen, welche die gegebene Wirklichkeit aufzuweisen hat, von Anfang an als treibende Kraft in den Dingen voraussetzen" müssen, (21) so sind doch eben diese Dinge nicht Ich, ihre Freiheit ist nicht die meinige; immer wird mir der niederdrückende Gedanke bleiben, mein Ich sei doch immer nur das Ergebnis dieser Dinge und damit sei doch seine Selbständigkeit wieder aufgehoben. Jedenfalls, wenn ich auch kein  bloßes  Geschöpf bin, wer sagt mir, inwieweit ich es bin, inwieweit nicht? Es muß also weiter geforscht werden; es ist aber wenigstens der zu erreichende Zweck und damit der leitende Gedanke für die folgenden Untersuchungen, nun ins rechte Licht gerückt.

So stehen jetzt die Sachen: so viel Köpfe, so viel Meinungen; und keine wirklich genügend, um vollständig dasjenige zu erklären, was erklärt werden soll. Und doch hat schon vor vierzig Jahren SCHOPENHAUER den richtigen Weg gezeigt in seinem zwar ungenau formulierten und daher oft mißverstandenen, aber dennoch bedeutungsschweren Ausspruch: "die Verantwortlichkeit, deren (der Mensch) sich bewußt ist, trifft bloß zunächst und ostensibel [zur Schau gestellt - wp] die Tat, im Grunde aber seinen Charakter; für diesen fühlt er sich verantwortlich und für diesen machen ihn auch die anderen verantwortlich." (22) "Der Charakter aber ist angeboren und unveränderlich." (23) Es hat diese Lehre von vielen Seiten scharfen Widerspruch herausgefordert, wie es auch bei der unklaren Form, in welcher SCHOPENHAUER sie ausspricht, bei der mangelhaften Begründung, welche er ihr zuteil werden läßt und den sonderbaren Floskeln, welche er ihr anhängt, wohl nicht anders zu erwarten war. Die nächstfolgenden Erörterungen werden versuchen, diesen Mängeln nachzuhelfen und den wesentlichen Inhalt der großen SCHOPENHAUERschen Entdeckung (deren tiefste Wurzeln freilich schon bei KANT zu suchen sind) gegen alle Angriffe zu verteidigen.

Wenden wir also zunächst unsere Aufmerksamkeit der oft besprochenen Frage von der Charakterkonstanz zu. Oft besprochen und doch kaum oft genug; denn es läßt sich nicht leugnen, daß die Art der Behandlung meistens in keinem Verhältnis stand zur Wichtigkeit des Problems. Fast immer hat man sich auf Argumente beschränkt, welche wenig mehr als die Oberfläche berühren; der Sache wirklich auf den Grund zu kommen, hat man fast niemals versucht. Freilich hatte SCHOPENHAUER selbst zu diesem Verfahren ein gefährliches Beispiel gegeben, indem er für seine Behauptung Gründe aufstellte, welche entweder zuviel oder aber gar nichts beweisen. Denn daß man bei getäuschtem Zutrauen von Einem nicht sagt, sein Charakter habe sich geändert, sondern vielmehr, man habe sich in ihm geirrt, das beweist doch nur, selbst wenn nicht auch das Umkehrte oft stattfand, daß eine plötzliche, radikale Charakterveränderung eine seltene Sache ist; daß aber "ein Mensch, selbst bei der deutlichsten Erkenntnis, ja Verabscheuung seiner moralischen Fehler und Gebrechen, ja, beim aufrichtigsten Vorsatz der Besserung, sich doch eigentlich nicht bessert, sondern trotz ernsten Vorsätzen und redlichem Versprechen, sich, bei erneuter Gelegenheit, doch wieder auf denselben Pfaden wie zuvor, zu seiner eigenen Überraschung, antreffen läßt," (24) - das mag in vielen Fällen zutreffen, ist jedoch, in dieser Allgemeinheit gefaßt, bestimmt unwahr. Da war es denn den Gegnern leicht, eine Reihe negativer Instanzen vorzuführen, welche ein verändertes Verhalten des Subjekts den Motiven gegenüber außer Frage zu stellen schienen, auch ohne daß irgendeine Berichtigung der Einsicht, worauf SCHOPENHAUER bekanntlich alle sogenannte Charakterverbesserung zurückführen wollte (25), nachweisbar war. Daß aber damit die Sache keineswegs abgetan ist, stellt sich bei genauerem Zusehen leicht heraus.

Jeder Mensch hat seine Welt für sich und zwar eine doppelte: eine äußere und eine innere,  eine,  welche sich im Raum manifestiert, eine andere, die er unmittelbar in sich wahrzunehmen glaubt. Beide Welten ziehen sich in eine Reihe zeitlich getrennter Erscheinungen auseinander, deren genaueres Studium aber eine Regelmäßigkeit zeigt, worauf unsere ganze Wissenschaft begründet ist. Ausnahmslos erfolgen, wenn bestimmte Bedingungen gegeben sind, dieselbe Resultate: die ersten nennen wir Ursachen, die anderen Wirkungen. Schärferem Nachdenken entgeht es aber nicht, daß die bloße Nebeneinanderstellung von Ursachen und Wirkungen den Geist nicht befriedigt; vielmehr muß, um diese aus jenen erklären zu können, noch ein Drittes hinzugedacht werden: eine bestimmte Relationi zwischen verschiedenen Dingen, welche man sich in den Eigenschaften derselben begründet denkt und welche man "Kraft" zu nennen übereingekommen ist. Aus dem bloßen Dasein gegebener Massen in bestimmter Entfernung läßt sich keineswegs schließen, daß sich dieselben mit einer bestimmten Beschleunigung einander nähern werden; es muß eben, um diesen Schluß zu ermöglichen, die Gravitation vorausgesetzt werden und diese bildet dann mit den gegebenen Bedingungen den zureichenden Grund der eintretenden Bewegung. Daß eine Mischung aus Sauerstoff und Wasserstoff, auf eine gewisse Temperatur erhitzt, explodieren und sich in Wasser umsetzen wird, läßt sich aus den wahrnehmbaren Tatsachen in keiner Weise ableiten; nur wenn man chemische Kräfte annimmt, welche in diesen Elementen wirken, wird die Sache erklärbar; - nicht in jenem Sinne freilich, daß damit der ganze Hergang vollständig klar und jede weitere Untersuchung unnötig geworden wäre, wohl aber in diesem, daß Prämissen gewonnen sind, woraus das tatsächlich Wahrgenommene sich als logischer Schluß folgern läßt. Allerdings sind diese Kräfe selbst nichts unmittelbar Wahrgenommenes, nur Hypothesen; es ist aber unsere ganze Weltauffassung aus solchen Hypothesen zusammengesetzt. Alles was diese mehr enthält als die unmittelbar gegebenen Empfindungen, ist Hypothese; wenn man den Begriffen des Stoffes, der Masse, der Dichtigkeit usw. ihre objektive Gültigkeit wahren will, darf man dieselbe dem Kraftbegriff gewiß nicht versagen, wie dies noch neuerdings von LIEBMANN in seiner lichtvollen Abhandlung über die Arten der Notwendigkeit mit größter Schärfe klargemacht worden ist. (26) Denn es ist diese Kraft eine absolut notwendige Annahme, welche zwar fortwährend auf einfachere Formen zurückgebracht, niemals aber ganz aus der Wissenschaft entfernt werden kann; bei der einfachsten Stoßwirkung wie bei den kompliziertesten Erscheinungen muß sie vorausgesetzt werden, bleibt aber ihrer tiefsten Natur nach vollständig unbegreiflich. Die  Definition  der Kraft aber gibt das  Gesetz;  (27) es sagt aus, daß, so oft gewisse Erscheinungen in bestimmten Verhältnissen zusammen sind, andere sich einstellen werden.

Alles hier Angeführte findet auch auf dem Gebiet der Psychologie seine volle Anwendung. Daß die Vorstellung bestimmter Handlungen oder Charaktere, sobald unsere Aufmerksamkeit sich darauf richtet, das Gefühl des Hasses oder der Liebe erzeugt, mag uns sehr natürlich scheinen, weil hier die wirkende Kraft ein Teil unseres eigenen Wesens ist und wir dieselbe also als etwas Selbstverständliches stillschweigend hinzudenken, - ohne Zuhilfenahme einer solchen Kraft bliebe es völlig unbegreiflich. Ähnliches gilt von den logischen Operationen: es nimmt sich zwar aus wie ein Paradox, ist aber unbestreitbar, daß auch diese in letzter Instanz psychologisch, nicht logisch zu erklären sind; - das heißt: wenn die Vorstellung bestimmter Prämissen diejenige des zugehörigen Schlusses hervorruft, so ist dieser Vorgang für das logische Denken selbst, objektiv betrachtet, unbegreiflich, solange nicht jene Kräfte vorausgesetzt werden, welche in den Denkgesetzen ihren vorläufigen Ausdruck gefunden haben. So ist es aber mit allen psychischen Erscheinungen: so mit denjenigen der Gedankenassoziation, der sinnlichen Gefühle, der ästhetischen moralischen Wertschätzung; so ist es auch mit den Erscheinungen des Wollens. Daß die Vorstellung eines Genusses notwendig das Streben hervorruft, dieselbe zu verwirklichen, können wir uns nur durch den Egoismus erklären: eine Kraft genau in dem Sinne, in welchem die Naturwissenschaft das Wort gebraucht und deren Gesetz sich so formulieren läßt: die Vorstellung von Genuß- und Leidzuständen bestimmter Intensität ruft positive oder negative Strebungen hervor, welche diesen Intensitäten proportional sind; - wobei sich scheinbare Ausnahmen leicht durch die "Enge des Bewußtseins" erklären lassen. Für das sittliche Wollen ist nun zwar beim jetzigen unvollkommenen Zustand der Ethik das Gesetz noch nicht gefunden; es läßt sich aber mit Bestimmtheit voraussagen, daß es sich hier nicht anders verhalten wird. Überall, wo wir strenge Kausalität anzunehmen uns genötigt finden, muß die wissenschaftliche Forschung danach streben, Gesetze aufzufinden, welche die Wirkungsweise elementarer Kräfte auszudrücken sich genügend erweisen.

In ihrer strengsten Fassung aber sind diese Kräfte notwendig  konstant,  die entsprechenden Gesetze also von der Zeit unabhängig. Gesetze mit Ausnahmen oder zeitlich beschränkte Gesetze beweisen eben dadurch, daß sie keine wirklichen Gesetze sind, d. h. daß sie nicht die Definition einer wirklichen elementaren Kraft enthalten, sondern höchstens die Wirkungsweise einer solchen Kraft in bestimmten Umständen beschreiben. Hätte man etwa die Erscheinungen des Falles nur in der atmosphärischen Luft untersucht, ohne deren Widerstand zu berücksichtigen und hätte man daraus abgeleitet, daß im Allgemeinen ein fallender Körper einer Zunahme der Fallgeschwindigkeit unterliegt, welche in einem bestimmten Verhältnis zum spezifischen Gewicht steht, so würde sich bald bei weiteren Experimenten in anderen Medien oder im luftleeren Raum herausstellen, daß man hier nur ein Gesetz mit Ausnahmen, also  kein  Gesetz, gefunden hätte. Fände man bei irgendeiner Person, daß die Vorstellung bestimmter sinnlicher Genüsse für sie ein Motiv von höchster Stärke abgibt und wollte man ohne weiteres dieses Kausalverhältnis als ein Gesetz hypostasieren [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp], so würde wahrscheinlich bald, wenn der Geschmack der betreffenden Person sich änderte und neue Assoziationen entständen, das Unerlaubte dieses Verfahrens klar werden. Wenn nun aber auf physischem Gebiet keiner daran denkt, in einem solchen Fall die Unveränderlichkeit der wirklichen zugrunde liegenden Kräfte zu bezweifeln, warum sollte dann auf dem Gebiet der Psychologie dieser Zweifel erlaubt oder geboten sein?

Um die hier behauptete Analogie vollständig klar zu machen, seien mir noch einige weitere Erörterungen erlaubt. Denn was es hier zu bekämpfen gilt, sind größtenteils mehr Mißverständnisse als Gründe: man hat sich eben eine bestimmte Betrachtungsweise angewöhnt, welche es außerordntlich schwer macht, sich in eine andere: die der Naturwissenschaft, zu versetzen. Und zwar ist oft die Schwierigkeit am größten für diejenigen, welche sich am meisten mit naturwissenschaftlichen Studien beschäftigt haben; weil sie nicht nur die Methode und die Auffassungsweise, sondern auch die Objekte und Resultate ihrer Wissenschaft auf das fremde Gebiet überzuführen unwillkürlich geneigt sind und deshalb, aller theoretischen Ablehnung des Materialismus ungeachtet, den vollständigen Parallelismus, die wissenschaftliche Gleichwertigkeit beider Erscheinungskomplexe verkennen. So kommen sie dann auch leicht dazu, das menschliche Bewußtsein als etwas im Raum Daseiendes, mit der Hirnsubstanz oder Hirnwirkung räumlich Verbundes zu betrachten, welches etwa wie ein Magnet seine Anziehungskraft oder ein beliebiger Körper seine Wärme, Eigenschaften und Kräfte erhalten und verlieren könnte. Dieser Anschauungsweise muß aber von Seiten der strengen Wissenschaft energisch entgegengearbeitet werden. Denn die Welt der inneren Erfahrung ist, ganz wie die äußere, ein eigenes Ganzes mit ganz eigentümlicher, von der stofflichen vollständig verschiedener Kausalität; für jede Person bildet sie einen selbständigen, der äußeren Natur ebenbürtig nebengeordneten Komplex von Erscheinungen; selbständig will sie untersucht, selbständig erklärt sein. Zwar sind wir gewöhnt, die äußere Welt als etwas unabhängig von uns in rerum natura [der Natur der Dinge - wp] Begründetes zu betrachten und derselben die inneren Erlebnisse jedes Menschen als das Besondere, Zeitliche dem Allgemeinen, Bleibenden gegenüberzustellen; wir müssen uns aber vor allem darüber klar zu werden versuchen, daß diese Auffassungweise sich nur auf die Gleichheit der äußeren Welt für alle, bei der Verschiedenheit der inneren für jedes Individuum, stützt. Es bleibt aber, jener Gleichheit ungeachtet, der Tatsache ihre volle Evidenz erhalten, daß uns die äußere Natur nur als Vorstellung bekannt ist, daß es also zunächst ebensoviele stoffliche wie geistige Welten gibt und zwar je eine für jede Person. Die Gleichheit dieser äußeren Welten mag ein Problem für die Metaphysik bleiben; für unseren Zweck war es nur die Aufgabe, der inneren Welt denselben Rang wie der äußeren zu wahren. Solange der influxus physicus [Wechselwirkung zwischen Leib und Seele - wp] etwas Undenkbares bleibt, solange das Gesetz der Erhaltung der Kraft seine Bedeutung nicht verliert, solange wird es unerlaubt sein, stoffliche Bewegungen durch geistige Ursachen oder geistige Erscheinungen durch physische Kausalität zu erklären. Genauso wie die Physiologie sich nicht damit begnügt, willkürliche Bewegungen auf den Willensimpuls zurückzuführen, vielmehr danach strebt, für jedes äußere Geschehen äußere Ursachen aufzufinden, genauso darf auch die Psychologie die Gegenstände ihrer Forschung nicht als ein Glied in der Kette der stofflichen Erscheinungen betrachten. Allerdings kann und muß die Physiologie ihr Hilfswissenschaft sein: der vollständige Parallelismus der beiden Erscheinungsreihen läßt uns sogar hoffen, daß die beiden Wissenschaften einander zahlreiche Anregungen verdanken werden; immer aber gehören die Resultate der einen nur im Baugerüst, niemals aber im System der anderen zuhause. Es läßt sich demgemäß die Aufgabe der Psychologie in diesen Worten zusammenfassen: die Erscheinungen der inneren Erfahrung auf eine möglichst geringe Anzahl elementarer Kräfte zurückzuführen und für jede Kraft den möglichst genauen Ausdruck - das Gesetz - zu finden.

Betrachtet man aber die Sache aus diesem Standpunkt, so lassen sich die Kräfte, welche die psychischen Erscheinungen im Allgemeinen und diejenigen des Wollens im Besonderen, beherrschen, wohl nicht anders als konstant denken. Welche Rolle man auch der "Entwicklung" zuschreiben mag - und es ist ohne Zweifel eine sehr bedeutende - diese Entwicklung setzt doch immer das Dasein bestimmter elementarer Kräfte voraus, kann auch ohne dieselben gar nicht gedacht werden. Auf dem Gebiet der stofflichen Natur würde das Entstehen der Arten völlig unerklärlich bleiben, wenn nicht unveränderliche physische und chemische Kräfe die Bildung und das Leben der Organismen beherrschten; in der Entwicklung des individuellen Geistes ist es unmöglich, das Erreichen einer höheren Stufe zu begreifen, wenn nicht konstante psychische Kräfte den Übergang dazu von der vorhergehenden aus vermittelten. Wenn z. B. der gebildete Mann anderen Genüssen nachstrebt als das Kind oder der Naturmensch, so läßt sich das unschwer auf seine reichere Erfahrung und auf die zahlreichen assoziativen Gedankenverbindungen, welche sich bei ihm gebildet haben, zurückführen; die erstere ist aber nicht zu begreifen ohne die elementaren Kräfte des Denkens, die anderen sind es nicht, ohne die Assoziationsgesetze zuhilfe zu nehmen und der ganze Hergang bliebe dennoch unverständlich, wenn man nicht die elementare Kraft des Egoismus voraussetzen wollte. Das Bestreben aber, diese ursprünglichen Kräfte dadurch zu eliminieren, daß man sich dieselben selbst als ein Produkt der Entwicklung, als in der langsamen Evolution unzähliger Geschlechter entstanden denkt, muß notwendig an der einfachen Betrachtung scheitern, daß eine große Unbegreiflichkeit nicht begreiflich wird, wenn man dieselbe in viele kleinere auflöst.
LITERATUR Gerard Heymans, Zurechnung und Vergeltung - eine psychologisch-ethische Untersuchung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 7, Leipzig 1883
    Anmerkungen
    1) JOHN STUART MILL, An Examination of Sir William Hamiltons philosophy, London 1865, Seite 506
    2) VÖLKER, Ist der menschliche Wille frei? Stuttgart 1880, Seite 7
    3) BÖRNER, Die Willensfreiheit, Zurechnung und Strafe in ihren Grundlehren, Freiberg 1857, Seite 32
    4) BÖRNER, ebenda Seite 33
    5) BÖRNER, ebenda Seite 37
    6) BÖRNER, ebenda Seite 46
    7) BÖRNER, ebenda Seite 49
    8) BÖRNER, ebenda Seite 33
    9) BÖRNER, ebenda Seite 42 und 59
    10) OTTO LIEBMANN, Über den individuellen Beweis für die Freiheit des Willens, Stuttgart 1866, Seite 131
    11) LIEBMANN, ebenda Seite 131
    12) Daß aber die Allgemeinheit des Freiheitsgefühls nicht, wie LIEBMANN (Seite 133 - 136) behauptet, auf eine Verwechslung des momentanen, wirklichen, mit dem allgemeinen, idealen Ich zurückzuführen ist, geht nicht nur aus den angeführten Tatsachen, sondern auch daraus hervor, daß dieses Gefühl faktisch in gewissen Umständen eine Beschränkung erleidet, jene Verwechslung dagegen unter allen Umständen gleich möglich und wahrscheinlich bleibt.
    13) MORITZ WILHELM DROBISCH, Die moralische Statistik und die menschliche Willensfreiheit, Leipzig 1867, Seite 91
    14) ERNST LAAS, Die Causalität des Ich, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, IV. Jahrgang, Seite 50
    15) LAAS, ebenda Seite 47 und 48
    16) LAAS, ebenda Seite 7
    17) FRANZ WOLLNY, Über Freiheit und Charakter, Leipzig 1876
    18) WOLLNY, ebenda, Seite 36
    19) WOLLNY, ebenda, Seite 34
    20) WOLLNY, ebenda, Seite 37
    21) WOLLNY, ebenda, Seite 33
    22) ARTHUR SCHOPENHAUER, Die Freiheit des menschlichen Willens, Sämtliche Werke IV, Seite 93
    23) SCHOPENHAUER, ebenda Seite 94
    24) SCHOPENHAUER, ebenda Seite 51
    25) SCHOPENHAUER, ebenda Seite 52
    26) OTTO LIEBMANN, Gedanken und Tatsachen I, Stuttgart 1882, Seite 11f
    27) RÜMELIN, Reden und Aufsätze, Tübingen 1875, Seite 6