ra-2ra-2cr-2Die Objektivität der ErkenntnisWirtschaft und Gesellschaft
 
MAX WEBER
Der Sinn der "Wertfreiheit"
der soziologischen und
ökonomischen Wissenschaften
(1)

"Schon so einfache Fragen aber, wie die: inwieweit ein Zweck die unvermeidlichen Mittel heiligen solle, wie auch die andere: inwieweit die nicht gewollten Nebenerfolge in Kauf genommen werden sollen, wie vollends die dritte, wie Konflikte zwischen mehreren in concreto kollidierenden, gewollten oder gesollten Zwecken zu schlichten seien, sind ganz und gar Sache der Wahl oder des Kompromisses. Es gibt keinerlei (rationales oder empirisches) wissenschaftliches Verfahren irgendwelcher Art, welches hier eine Entscheidung geben könnte."

Unter "Wertungen" sollen nachstehend, wo nicht ein anderes gesagt oder von selbst ersichtlich ist,  "praktische"  Bewertungen einer durch unser Handeln beeinflußbaren Erscheinung als verwerflich oder billigenswert verstanden sein. Mit dem Problem der "Freiheit" einer bestimmten Wissenschaft von Wertungen dieser Art, mit der Geltung und dem Sinn dieses logischen Prinzips also, in keiner Art identisch ist die ganz andere, kurz vorweg zu besprechende Frage: Ob man im  akademischen Unterricht  sich zu seinen ethischen oder durch Kulturideale oder sonst weltanschauungsmäßig begründeten praktischen Wertungen "bekennen"  solle  oder nicht. Wissenschaftlich diskutierbar ist sie nicht. Denn sie ist selbst eine gänzlich von praktischen Wertungen abhängige und eben deshalb unaustragbare Frage. Vertreten sind, um nur die Extreme zu zitieren, sowohl: a) der Standpunkt, daß zwar die Trennung rein logisch erschließbarer und rein empirischer Sachverhalte einerseits, von den praktischen, ethischen oder weltanschauungsmäßigen, Wertungen andererseits, zu Recht bestehe, daß aber dennoch (oder vielleicht sogar: eben deshalb) beide Kategorien von Problemen auf das Katheder gehören, - wie: b) der Standpunkt, daß, auch wenn jene Trennung logisch  nicht  konsequent durchführbar sei, dennoch Unterricht möglichst zurücktreten zu lassen.

Der Standpunkt "b" scheint mir unannehmbar. - Insbesondere scheint mir die für unsere Disziplinen nicht selten gemachte Unterscheidung praktischer Wertungen in solche " parteipolitischen" und solche anderen Charakters schlechterdings undurchführbar und nur geeignet, die praktische Tragweite der den Hörern suggerierten Stellungnahme zu verhüllen. Die Ansicht vollends: daß dem Katheder die "Leidenschaftslosigkeit" eignen müsse, folglich Dinge auszuscheiden seien, welche die Gefahr "temperamentvoller" Erörterungen mit sich brächten, wäre, wenn man überhaupt einmal auf dem Katheder wertet, eine Bureaukratenmeinung, die jeder unabhängige Lehrer zurückweisen müßte. Von denjenigen Gelehrten, welche sich die praktischen Wertungen bei empirischen Erörterungen  nicht  versagen zu sollen glaubten, waren gerade die leidenschaftlichsten - wie etwa TREITSCHKE, in seiner Art auch MOMMSEN - am ehesten zu ertragen. Denn gerade durch die Stärke der Affektbetontheit wird der Hörer wenigstens in die Lage versetzt,  seinerseits  die Subjektivität der Wertung des Lehrers in ihrem Einfluß auf eine etwaige Trübung seiner Feststellungen abzuschätzen und also für sich das zu tun, was dem Temperament des Lehrers versagt blieb. Dem echten Pathos bliebe so diejenige Wirkung auf die Seelen der Jugend gewahrt, welche - wie ich annehme - die Anhänger der praktischen Kathederwertungen ihnen gern sichern möchten, ohne daß der Hörer dabei zur Konfusion verschiedener Sphären miteinander verbildet würde, wie es geschehen muß, wenn die Feststellung empirischer Tatsachen und die Aufforderung zur praktischen Stellungnahme zu großen Lebensproblemen beide in die gleiche kühle Temperamentlosigkeit getaucht werden.

Der Standpunkt "a" scheint mir, und zwar vom eigenen subjektiven Standpunkt seiner etwaigen Anhänger aus, dann und nur dann akzeptabel,  wenn  der akademische Lehrer sich zur unbedingten Pflicht setzt, in jedem einzelnen Falle, auch auf die Gefahr hin, seinen Vortrag dadurch reizloser zu gestalten, seinen Hörern und, was die Hauptsache ist,  sich selbst  unerbittlich klar zu machen:  was  von seinen jeweiligen Ausführungen entweder rein logisch erschlossen oder rein empirische Tatsachenfeststellung und was praktische Wertung ist. Dies zu tun allerdings scheint mir direkt ein Gebot der intellektuellen Rechtschaffenheit, wenn man einmal die Fremdheit der Sphären zugibt; in diesem Falle ist es das absolute Minimum des zu Fordernden.

Die Frage dagegen: ob man auf dem Katheder  überhaupt  (auch unter dieser Kautel) praktisch werten solle oder nicht, ist ihrerseits eine solche der praktischen Universitätspolitik und deshalb letztlich nur vom Standpunkt jener Aufgaben aus entscheidbar, welche der Einzelne von  seinen  Wertungen aus den Universitäten zuweisen möchte. Wer für sie, und damit für sich selbst,  kraft  seiner Qualifikation zum akademischen Lehrer heute noch die universelle Rolle: Menschen zu prägen, politische, ethische, künstlerische, kulturliche oder andere Gesinnung zu propagieren, in Anspruch nimmt, wird zu ihr anders stehen, als derjenige, welcher die Tatsache (und ihre Konsequenzen) bejahen zu müssen glaubt: daß die akademischen Hörsäle heute ihre wirklich wertvollen Wirkungen nun einmal nur durch  fachmäßige Schulung seitens  fachmäßig Qualifizierter entfalten und daß deshalb die "intellektuelle Rechtschaffenheit" die einzige spezifische Tugend sei, zu der sie zu erziehen haben. Man kann den ersten Standpunkt aus ebensoviel verschiedenen letzten Positionen heraus vertreten wie den zweiten. Diesen letzteren insbesondere (den ich persönlich einnehme) kann man ableiten sowohl aus einer höchst überschwenglichen wie gerade umgekehrt auch aus einer durchaus bescheidenen Einschätzung der Bedeutung der "Fach"bildung. Z.B. nicht, weil man etwa wünschte, daß alle Menschen, im innerlichen Sinne, zu möglichst reinen "Fachmenschen" werden möchten. Sondern gerade umgekehrt, weil man die letzten höchst persönlichen Lebensentscheidungen, die ein Mensch aus sich heraus zu treffen hat,  nicht  mit Fachschulung - wie hoch deren Bedeutung für die allgemeine Denkschulung nicht nur, sondern indirekt auch für die Selbstdisziplin und sittliche Einstellung des jungen Menschen gewertet werden möge - in denselben Topf geworfen und ihre Lösung aus eigenem Gewissen heraus dem Hörer  nicht  durch eine Kathedersuggestion abgenommen zu sehen wünscht.

Das günstige Vorurteil Professor v. SCHMOLLERs für die Kathederwertung ist mir persönlich als Nachhall einer großen Epoche, die er und seine Freunde mit schaffen halfen, durchaus verständlich. Aber ich meine: es könne auch ihm doch schon der Umstand nicht entgehen, daß zunächst die rein tatsächlichen Verhältnisse sich für die jüngere Generation in einem wichtigen Punkt erheblich geändert haben. Es war vor 40 Jahren in den Kreisen der Gelehrtenwelt unserer Disziplinen der Glaube weit verbreitet: daß auf dem Gebiet der praktisch-politischen Wertungen letztlich eine der möglichen Stellungnahmen die ethisch  allein  richtige sein müsse. (SCHMOLLER selbst hat freilich diesen Standpunkt stets nur sehr eingeschränkt vertreten.) Dies nun ist heute gerade unter den Anhängern der Kathederwertungen, wie leicht festzustellen ist, nicht mehr der Fall. Nicht mehr die ethische Forderung, deren (relativ) schlichte Gerechtigkeitspostulate sowohl in der Art ihrer letzten Begründung wie in ihren Konsequenzen (relativ) einfach und vor allem (relativ) unpersönlich, weil unzweideutig spezifisch überpersönlich, geartet teils waren, teils zu sein schienen, ist es, in deren Namen heute die Legitimität der Kathederwertungen gefordert wird. Sondern (kraft einer unvermeidlichen Entwicklung) ein bunter Strauß von "Kulturwertungen" , in Wahrheit: von subjektiven  Ansprüchen  an die Kultur, oder ganz offen: das angebliche "Recht der Persönlichkeit" des Lehrers. Man mag sich nun über den Standpunkt entrüsten, aber man wird ihn - und zwar deshalb, weil auch er eben eine "praktische Wertung" enthält - wohl nicht widerlegen können: daß von allen Arten der Prophetie die in diesem Sinne "persönlich" gefärbte  Professoren-Prophetie  die einzige ganz und gar unerträgliche ist. Es ist doch ein beispielloser Zustand, wenn zahlreiche staatlich beglaubigte Propheten nicht auf den Gassen oder in den Kirchen oder sonst in der Oeffentlichkeit, oder, wenn privatim, dann in persönlich ausgelesenen Glaubenskonventikeln, die sich als solche bekennen, predigen, sondern in der angeblich objektiven, unkontrollierbaren, diskussionslosen und also vor allem Widerspruch sorgsam geschützten Stille des vom Staat privilegierten Hörsaals "im Namen der Wissenschaft" maßgebende Kathederentscheidungen über Weltanschauungsfragen zum besten zu geben sich herausnehmen. Es ist ein alter, von Schmoller bei einer gegebenen Gelegenheit scharf vertretener Grundsatz: daß die Vorgänge in den Hörsälen der öffentlichen Erörterung entzogen bleiben sollen. Obwohl nun die Ansicht möglich ist, daß dies gelegentlich, auch auf empirisch-wissenschaftlichem Gebiet, gewisse Nachteile haben könne, nimmt man offenbar und nehme auch ich an: daß die "Vorlesung" eben etwas anderes als ein "Vortrag" sein  solle,  daß die unbefangene Strenge, Sachlichkeit, Nüchternheit der Kollegdarlegung unter dem Hineinreden der Oeffentlichkeit, z.B. der Presse-Oeffentlichkeit, zum Schaden des pädagogischen Zweckes leiden könne. Allein ein solches Privileg der Unkontrolliertheit scheint doch jedenfalls nur für den Bereich der rein  fachlichen  Qualifikation des Professors angemessen. Für persönliche Prophetie aber gibt es keine Fachqualifikation und darf es daher auch nicht jenes Privileg geben. Vor allem aber darf sie nicht die bestehende  Zwangslage  des Studenten, um seines Fortkommens im Leben willen bestimmte Lehranstalten und also: deren Lehrer, aufsuchen zu müssen, dazu ausbeuten, um ihm neben dem, was er hierzu braucht: Weckung und Schulung seiner Auffassungsgabe und seines Denkens, und daneben: Kenntnisse, auch noch, vor jedem Widerspruch sicher, die eigene zuweilen gewiß ganz interessante (oft auch recht gleichgültige) sogenannte "Weltanschauung" einzuflößen.

Für die Propaganda seiner praktischen Ideale stehen dem Professor, ebenso wie jedermann sonst, andere Gelegenheiten zu Gebote, und wenn nicht, so kann er sie sich in geeigneter Form leicht schaffen, wie bei jedem ehrlichen Versuch dazu die Erfahrung beweist. Aber der Professor sollte nicht den Anspruch erheben,  als Professor  den Marschallstab des Staatsmanns (oder des Kulturreformers) im Tornister zu tragen, wie er tut, wenn er die Sturmfreiheit des Katheders für staatsmännische (oder kulturpolitische) Sentiments benutzt. In der Presse, in Versammlungen, Vereinen, Essays, in jeder jedem anderen Staatsbürger ebenfalls zugänglichen Form mag (und: soll) er tun, was sein Gott oder Dämon ihn heißt. Was aber heute der Student im  Hörsaal  doch vor allen Dingen von seinem Lehrer lernen sollte, ist:
    1. die Fähigkeit, sich mit der schlichten Erfüllung einer gegebenen Aufgabe zu bescheiden;

    2. Tatsachen, auch und gerade persönlich unbequeme Tatsachen, zunächst einmal anzuerkennen und ihre Feststellung von der bewertenden Stellungnahme dazu zu scheiden;

    3. seine eigene Person hinter die Sache zurückzustellen und also vor allem das Bedürfnis zu unterdrücken: seine persönlichen Geschmacks- und sonstigen Empfindungen ungebeten zur Schau zu stellen.
Es scheint mir, daß dies heute ganz ungleich dringlicher ist, als es etwa vor 40 Jahren war, wo gerade dies Problem eigentlich gar nicht in dieser Form existierte. Es ist ja  nicht wahr  - wie man behauptet hat -, daß die "Persönlichkeit" in dem Sinn eine "Einheit" sei und sein solle, daß sie sozusagen in Verlust geraten müßte, wenn man ihrer nicht bei jeder Gelegenheit ansichtig wird. Bei jeder  beruflichen  Aufgabe verlangt die Sache als solche ihr Recht und will nach ihren eigenen Gesetzen erledigt sein. Bei jeder beruflichen Aufgabe hat der, welchem sie gestellt ist, sich zu beschränken und das auszuscheiden, was nicht streng zur  Sache  gehört, am meisten aber: eigene Liebe und Haß. Und es ist  nicht wahr,  daß eine starke Persönlichkeit sich darin dokumentiere, daß sie bei jeder Gelegenheit zuerst nach einer nur ihr eigenen ganz "persönlichen Note" fragt. Sondern es ist zu wünschen, daß gerade die jetzt heranwachsende Generation sich vor allen Dingen wieder an den Gedanken gewöhne: daß "eine Persönlichkeit zu sein" etwas ist, was man nicht absichtlich wollen kann, und daß es nur einen einzigen Weg gibt, um es (vielleicht!) zu werden: die rückhaltlose Hingabe an eine "Sache" , möge dies und die von ihr ausgehende "Forderung des Tages" nun im Einzelfall aussehen, wie sie wolle. Es ist stilwidrig, in sachliche Facherörterungen persönliche Angelegenheiten zu mischen. Und es heißt, den "Beruf" seines einzigen heute wirklich noch bedeutsam gebliebenen Sinnes entkleiden, wenn man diejenige spezifische Art von Selbstbegrenzung, die er verlangt, nicht vollzieht. Ob aber der modische Persönlichkeitskult auf dem Thron, in der Amtsstube oder auf dem Katheder sich auszuleben trachtet, - er wirkt äußerlich fast immer effektvoll, im innerlichsten Sinn aber überall gleich kleinlich, und er schädigt überall die Sache. Nun hoffe ich, nicht besonders sagen zu müssen: daß mit  dieser  Art von Kultus des Persönlichen, nur weil es "persönlich" ist, gerade die Gegner, mit denen sich diese Darlegungen befassen, ganz gewiß am allerwenigsten zu schaffen haben.

Was schließlich am allerentschiedensten bekämpft werden muß, ist die nicht seltene Vorstellung: der Weg zur wissenschaftlichen "Objektivität" werde durch ein Abwägen der verschiedenen Wertungen gegeneinander und ein "staatsmännisches" Kompromiß zwischen ihnen betreten. Die "mittlere Linie" ist nicht nur mit den Mitteln empirischer Disziplinen genau ebensowenig wissenschaftlich beweisbar, wie die "extremsten" Wertungen. Sondern in der  Wertungssphäre  wäre gerade sie  normativ  am allerwenigsten eindeutig. Auf das Katheder gehört sie nicht, - sondern in die politischen Programme, Bureaus und Parlamente. Die Wissenschaften, normative und empirische, können den politisch Handelnden und den streitenden Parteien nur  einen  unschätzbaren Dienst leisten, nämlich ihnen zu sagen:
    1. es sind die und die verschiedenen "letzten" Stellungnahmen zu diesem praktischen Problem  denkbar; 

    2. so und so liegen die Tatsachen, mit denen ihr bei eurer Wahl zwischen diesen Stellungnahmen zu rechnen habt.
Damit sind wir bei unserer "Sache" . Unendliches Mißverständnis und vor allem terminologischer, daher gänzlich steriler, Streit hat sich an das Wort "Werturteil" geknüpft, welches zur Sache offenbar gar nichts austrägt. Es ist, wie eingangs gesagt, ganz unzweideutig, daß es sich bei diesen Erörterungen für unsere Disziplinen um  praktische  Wertungen sozialer Tatsachen als, unter ethischen oder unter Kulturgesichtspunkten oder aus anderen Gründen, praktisch wünschenswert oder unerwünscht, handelt. Daß die Wissenschaft
    1. "wertvolle" , d.h. logisch und sachlich gewertet  richtige  und

    2. "wertvolle" , d.h. im Sinne des wissenschaftlichen Interesses  wichtige  Resultate zu erzielen wünscht,
daß ferner schon die Auswahl des Stoffes eine "Wertung" enthält, - solche Dinge sind trotz alles darüber Gesagten (2) allen Ernstes als "Einwände" aufgetaucht. Nicht minder ist das fast unbegreiflich starke Mißverständnis immer wieder entstanden: als ob behauptet würde, daß die empirische Wissenschaft "subjektive" Wertungen von Menschen nicht als  Objekt  behandeln könne (während doch die Soziologie, in der Nationalökonomie aber die gesamte Grenznutzenlehre auf der gegenteiligen Voraussetzung beruht). Aber es handelt sich doch ausschließlich um die an sich höchst triviale Forderung: daß der Forscher und Darsteller die Feststellung empirischer Tatsachen (einschließlich des von ihm festgestellten "wertenden" Verhaltens der von ihm untersuchten empirischen Menschen) und seine praktisch wertende, d.h. diese Tatsachen (einschließlich etwaiger, zum Objekt einer Untersuchung gemachter "Wertungen" von empirischen Menschen) als erfreulich oder unerfreulich  beurteilende , in diesem Sinn: "bewertende" Stellungnahme unbedingt  auseinanderhalten  solle, weil es sich da nun einmal um heterogene Probleme handelt. In einer sonst wertvollen Abhandlung führt ein Schriftsteller aus: ein Forscher könne doch auch seine eigene Wertung als "Tatsache" hinnehmen und nun daraus die Konsequenzen ziehen. Das hiermit Gemeinte ist ebenso unbestreitbar richtig wie der gewählte Ausdruck irreführend. Man kann natürlich sich vor einer Diskussion darüber einigen, daß eine bestimmte praktische Maßregel: etwa die Deckung der Kosten einer Heeresvermehrung lediglich aus den Taschen der Besitzenden, "Voraussetzung" der Diskussion sein und lediglich die  Mittel,  dies durchzuführen, zur Erörterung gestellt werden sollen. Das ist oft recht zweckmäßig. Aber eine solche gemeinsam vorausgesetzte praktische Absicht nennt man doch nicht eine "Tatsache" , sondern einen "a priori feststehenden Zweck" . Daß das auch sachlich zweierlei ist, würde sich sehr bald in der Diskussion der "Mittel" zeigen, es sei denn, daß der als undiskutabel "vorausgesetzte Zweck" so konkret wäre, wie der: sich jetzt eine Zigarre anzuzünden. Dann sind freilich auch die Mittel einer Diskussion nur selten bedürftig. In fast  jedem  Falle einer allgemeiner formulierten Absicht, z.B. in dem vorhin als Beispiel gewählten, wird man dagegen die Erfahrung machen: daß bei der Diskussion der Mittel nicht nur sich zeigt, daß die Einzelnen unter jenem vermeintlich eindeutigen Zweck ganz Verschiedenes verstanden haben. Sondern insbesondere kann sich ergeben: daß der genau  gleiche  Zweck aus sehr verschiedenen letzten Gründen gewollt wird und daß dies auf die Diskussion der Mittel von Einfluß ist. Doch dies beiseite. Denn daß man von einem bestimmten Zweck als gemeinsam gewollt ausgehen und nur die Mittel, ihn zu erreichen, diskutieren  kann  und daß dies dann eine rein empirisch zu erledigende Diskussion ergeben  kann,  - das ist wohl noch nie jemandem zu bestreiten eingefallen. Aber gerade um die Wahl der Zwecke (und nicht: der "Mittel" bei fest gegebenem Zweck), gerade darum also, in welchem Sinn die Wertung, die der Einzelne zugrunde legt, eben  nicht  als "Tatsache" hingenommen, sondern zum Gegenstand einer wissenschaftlichen  Kritik  gemacht werden könne, dreht sich ja die ganze Erörterung. Wenn dies nicht festgehalten wird, so ist alle weitere Auseinandersetzung vergeblich.

Gar nicht zur Diskussion steht eigentlich die Frage: inwieweit praktische Wertungen, insbesondere also: ethische, ihrerseits  normative  Dignität beanspruchen dürfen, also anderen Charakter haben als z.B. die als Beispiel angeführte Frage: ob Blondinen den Brünetten vorzuziehen seien, oder als ähnlich subjektive Geschmacksurteile. Das sind Probleme der Wertphilosophie, nicht der Methodik der empirischen Disziplinen. Worauf allein es für diese ankommt, ist: daß einerseits die Geltung eines praktischen Imperativs als Norm und andererseits die Wahrheitsgeltung einer empirischen Tatsachenfeststellung in absolut heterogenen Ebenen der Problematik liegen und daß der spezifischen Dignität  jeder  von beiden Abbruch getan wird, wenn man dies verkennt und beide Sphären zusammenzuzwingen sucht.

Denn dies ist der eigentliche Sinn einer  Wertdiskussion: das, was der Gegner (oder auch: man selbst) wirklich meint, d.h. den Wert, auf den es jedem der beiden Teile wirklich und nicht nur scheinbar ankommt, zu erfassen und so zu diesem Wert eine Stellungnahme überhaupt erst zu ermöglichen. Weit entfernt [davon] also, daß vom Standpunkt der Forderung der "Wertfreiheit" empirischer Erörterungen aus Diskussionen von Wertungen steril oder gar sinnlos wären, ist gerade die Erkenntnis dieses ihres Sinnes Voraussetzung aller nützlichen Erörterungen dieser Art. Sie setzen einfach das Verständnis für die Möglichkeit prinzipiell und unüberbrückbar  abweichender  letzter Wertungen voraus. Denn weder bedeutet "alles verstehen" auch "alles verzeihen" , noch führt überhaupt vom bloßen Verstehen des fremden Standpunktes an sich ein Weg zu dessen Billigung. Sondern mindestens ebenso leicht, oft mit weit höherer Wahrscheinlichkeit, zu der Erkenntnis: daß, warum und worüber, man sich  nicht  einigen könne. Gerade diese Erkenntnis  ist  aber eine Wahrheitserkenntnis und gerade  ihr  dienen "Wertungsdiskussionen" . Was man dagegen auf diesem Wege ganz gewiß nicht gewinnt - weil es in der gerade entgegengesetzten Richtung liegt -, ist irgendeine normative Ethik oder überhaupt die Verbindlichkeit irgendeines "Imperativs . Jedermann weiß vielmehr, daß ein solches Ziel durch die, zum mindesten dem Anschein nach, "relativierende" Wirkung solcher Diskussionen eher erschwert wird. Damit ist natürlich nun wieder nicht gesagt: daß man um deswillen sie vermeiden solle. Im geraden Gegenteil. Denn eine "ethische" Überzeugung, welche durch psychologisches "Verstehen" abweichender Wertungen sich aus dem Sattel heben läßt, ist nur ebensoviel  wert  gewesen wie religiöse Meinungen, welche durch wissenschaftliche Erkenntnis zerstört werden, wie dies ja ebenfalls vorkommt.

Zu den von  keiner  Ethik eindeutig entscheidbaren Fragen gehören die Konsequenzen des Postulates der "Gerechtigkeit" . Ob man z.B. - wie dies wohl Schmollers seinerzeit geäußerten Anschauungen am ehesten entsprechen würde - dem, der viel leistet, auch viel schuldet, oder umgekehrt von dem, der viel leisten kann, auch viel fordert, ob man also z.B. im Namen der Gerechtigkeit (denn andere Gesichtspunkte - etwa der des nötigen "Ansporns" - haben dann auszuscheiden) dem großen Talent auch große Chancen gönnen solle, oder ob man umgekehrt (wie Babeuf) die Ungerechtigkeit der ungleichen Verteilung der geistigen Gaben auszugleichen habe durch strenge Vorsorge dafür, daß das Talent, dessen bloßer Besitz ja schon ein beglückendes Prestigegefühl geben könne, nicht auch noch seine besseren Chancen in der Welt für sich ausnützen könne: - dies dürfte aus "ethischen" Prämissen unaustragbar sein. Diesem Typus entspricht aber die  ethische  Problematik der meisten sozial-politischen Fragen. - Aber auch auf dem Gebiet des persönlichen Handelns gibt es ganz spezifisch ethische Grundprobleme, welche die Ethik aus eigenen Voraussetzungen nicht austragen kann. Dahin gehört vor allem die Grundfrage: ob der Eigenwert des ethischen Handelns - der "reine Wille" oder die "Gesinnung" , pflegt man das auszudrücken - allein zu seiner Rechtfertigung genügen soll, nach der Maxime: "der Christ handelt recht und stellt den Erfolg Gott anheim" , wie christliche Ethiker sie formuliert haben. Oder ob die Verantwortung für die als möglich oder wahrscheinlich vorauszusehenden  Folgen  des Handelns, wie sie dessen Verflochtenheit in die ethisch irrationale Welt bedingt, mit in Betracht zu ziehen ist. Auf sozialem Gebiet geht alle radikal revolutionäre politische Haltung, der sog. "Syndikalismus" vor allem, von dem ersten, alle "Realpolitik" von dem letzten Postulat aus. Beide berufen sich auf ethische Maximen. Aber diese Maximen liegen untereinander in ewigem Zwist, der mit den Mitteln einer rein in sich selbst beruhenden Ethik schlechthin unaustragbar ist.

Es handelt sich nämlich zwischen den Werten letztlich überall und immer wieder nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwischen "Gott" und "Teufel" . Zwischen diesen gibt es keine Relativierungen und Kompromisse. Wohlgemerkt: dem  Sinn  nach nicht. Denn es gibt sie, wie jedermann im Leben erfährt, der Tatsache und folglich dem äußeren Schein nach, und zwar auf Schritt und Tritt. In fast jeder einzelnen wichtigen Stellungnahme realer Menschen kreuzen und verschlingen sich ja die Wertsphären. Das Verflachende des "Alltags" in diesem eigentlichsten Sinn des Wortes besteht ja gerade darin: daß der in ihm dahinlebende Mensch sich dieser teils psychologisch, teils pragmatisch bedingten Vermengung todfeindlicher Werte nicht bewußt wird und vor allem: auch gar nicht bewußt werden  will,  daß er sich vielmehr der Wahl zwischen "Gott" und "Teufel" und der eigenen letzten Entscheidung darüber: welcher der kollidierenden Werte von dem Einen und welcher von dem Andern regiert werde, entzieht. Die aller menschlichen Bequemlichkeit unwillkommene, aber unvermeidliche Frucht vom Baum der Erkenntnis ist gar keine andere als eben die: um jene Gegensätze wissen und also sehen zu müssen, daß jede einzelne wichtige Handlung und daß vollends das Leben als Ganzes, wenn es nicht wie ein Naturereignis dahingleiten, sondern bewußt geführt werden soll, eine Kette letzter Entscheidungen bedeutet, durch welche die Seele, wie bei Platon, ihr eigenes Schicksal: - den Sinn ihres Tuns und Seins heißt das -  wählt.  Wohl das gröblichste Mißverständnis, welches den Absichten der Vertreter der Wertkollision gelegentlich immer wieder zuteil geworden ist, enthält daher die Deutung dieses Standpunkts als "Relativismus" , - als einer Lebensanschauung also, die gerade auf der radikal entgegengesetzten Ansicht vom Verhältnis der Wertsphären zueinander beruht und (in konsequenter Form) nur auf dem Boden einer sehr besonders gearteten ( "organischen" ) Metaphysik sinnvoll durchführbar ist.

Schon so einfache Fragen aber, wie die: inwieweit ein Zweck die unvermeidlichen Mittel heiligen solle, wie auch die andere: inwieweit die nicht gewollten Nebenerfolge in Kauf genommen werden sollen, wie vollends die dritte, wie Konflikte zwischen mehreren in concreto kollidierenden, gewollten oder gesollten Zwecken zu schlichten seien, sind ganz und gar Sache der Wahl oder des Kompromisses. Es gibt keinerlei (rationales oder empirisches) wissenschaftliches Verfahren irgendwelcher Art, welches hier eine Entscheidung geben könnte. Am allerwenigsten kann diese Wahl  unsere  streng empirische Wissenschaft dem Einzelnen zu ersparen sich anmaßen, und sie sollte daher auch nicht den Anschein erwecken, es zu können.

Ausdrücklich sei schließlich aber noch bemerkt: daß die Anerkennung dieses Sachverhalts  für unsere Disziplinen  von der Stellungnahme zu den vorstehend in größter Kürze angedeuteten werttheoretischen Ausführungen vollständig unabhängig ist. Denn es gibt eben überhaupt keinen logisch haltbaren Standpunkt, von dem aus man ihn ablehnen könnte, außer dem einer durch  kirchliche  Dogmen eindeutig vorgeschriebenen Rangfolge der Werte. Ich muß abwarten, ob sich wirklich Leute finden, welche behaupten, daß die Fragen: ob eine konkrete Tatsache sich so oder anders verhält?, warum der betreffende konkrete Sachverhalt so und nicht anders geworden ist?, ob auf einen gegebenen Sachverhalt nach einer Regel des faktischen Geschehens ein anderer Sachverhalt, und mit welchem Grade von Wahrscheinlichkeit, zu folgen pflegt? - dem Sinn nach  nicht  grundverschieden seien von den Fragen: was man in einer konkreten Situation praktisch  tun  solle?, unter welchen Gesichtspunkten jene Situation praktisch erfreulich oder unerfreulich erscheinen könne?, ob es - wie immer geartete - allgemein formulierbare Sätze (Axiome) gebe, auf welche sich diese Gesichtspunkte reduzieren lassen?; - ferner: daß einerseits die Frage: in welcher Richtung sich eine konkret gegebene tatsächliche Situation (oder generell: eine Situation eines bestimmten, irgendwie hinlänglich bestimmten Typus) mit Wahrscheinlichkeit, und mit wie großer Wahrscheinlichkeit sie sich in jener Richtung entwickeln  werde  (bzw. typisch zu entwickeln  pflege)?,  und die andere Frage: ob man dazu  beitragen  solle, daß eine bestimmte Situation sich in einer bestimmten Richtung - sei es der an sich wahrscheinlichen, sei es der gerade entgegengesetzten oder irgendeiner anderen - entwickelt?; - endlich, daß einerseits die Frage: welche Ansicht sich bestimmte Personen unter konkreten, oder eine unbestimmte Vielheit von Personen sich unter gleichen, Umständen über ein Problem welcher Art immer mit Wahrscheinlichkeit (oder selbst mit Sicherheit) bilden  werden?,  und andererseits die Frage: ob diese mit Wahrscheinlichkeit oder Sicherheit entstehende Ansicht  richtig  sei?, - daß die Fragen jedes dieser Gegensatzpaare miteinander dem Sinn nach auch nur das mindeste zu tun haben?, daß sie wirklich, wie immer einmal wieder behauptet wird, "voneinander nicht zu trennen" seien?, daß diese letztere Behauptung  nicht  mit den Anforderungen des wissenschaftlichen Denkens im Widerspruche stehe? Ob dagegen jemand, der die absolute Heterogenität beider Arten von Fragen zugibt, dennoch für sich in Anspruch nimmt: in einem und demselben Buch, auf einer und derselben Seite, ja in einem Haupt- und Nebensatz einer und derselben syntaktischen Einheit sich einerseits über das eine und andererseits über das andere der beiden heterogenen Probleme zu äußern, - das ist seine Sache. Was von ihm zu verlangen ist, ist lediglich: daß er seine Leser über die absolute Heterogenität der Probleme nicht unabsichtlich (oder auch aus absichtsvoller Pikanterie)  täusche.  Persönlich bin ich der Ansicht, daß kein Mittel der Welt zu "pedantisch" ist, um nicht zur Vermeidung von Konfusionen am Platze zu sein.

Der Sinn von Diskussionen über  praktische Wertungen  (der an der Diskussion  Beteiligten  selbst) kann also nur sein:
    a) Die Herausarbeitung der letzten, innerlich "konsequenten" Wertaxiome, von denen die einander entgegengesetzten Meinungen ausgehen. Nicht nur über die der Gegner, sondern auch über die eigenen täuscht man sich oft genug. Diese Prozedur ist dem Wesen nach eine von der Einzelwertung und ihrer sinnhaften Analyse ausgehende, immer höher zu immer prinzipielleren wertenden Stellungnahmen aufsteigende Operation. Sie operiert nicht mit den Mitteln einer empirischen Disziplin und zeitigt keine Tatsachenerkenntnis. Sie "gilt" in gleicher Art wie die Logik.

    b) Die Deduktion der "Konsequenzen" für die wertende Stellungnahme, welche aus bestimmten letzten Wertaxiomen folgen würden, wenn man sie, und nur sie, der praktischen Bewertung von faktischen Sachverhalten zugrunde legte. Sie ist rein sinnhaft in bezug auf die Argumentation, dagegen an empirische Feststellungen gebunden für die möglichst erschöpfende Kasuistik derjenigen empirischen Sachverhalte, welche für eine praktische Bewertung überhaupt in Betracht kommen  können. 

    c) Die Feststellung der  faktischen  Folgen, welche die praktische Durchführung einer bestimmten praktisch wertenden Stellungnahme zu einem Problem haben müßte:

      1. infolge der Gebundenheit an bestimmte unvermeidliche  Mittel, 

      2. infolge der Unvermeidlichkeit bestimmter, nicht direkt gewollter Nebenerfolge. Diese rein empirische Feststellung kann u.a. als Ergebnis haben:

      1. die absolute Unmöglichkeit irgendeiner auch noch so entfernt annäherungsweisen Durchführung des Wertpostulates, weil keinerlei Wege seiner Durchführung zu ermitteln sind;

      2. die mehr oder minder große  Unwahrscheinlichkeit  seiner vollen oder auch nur annäherungsweisen Durchführung, entweder aus dem gleichen Grunde oder weil die Wahrscheinlichkeit des Eintretens ungewollter Nebenerfolge besteht, welche direkt oder indirekt die Durchführung illusorisch zu machen geeignet sind;

      3. die Notwendigkeit, solche Mittel oder solche Nebenerfolge mit in Kauf zu nehmen, welche der Vertreter des betreffenden praktischen Postulats nicht in Betracht gezogen hatte, so, daß seine Wertentscheidung zwischen Zweck, Mittel und Nebenerfolg ihm selbst zu einem neuen Problem wird und an zwingender Gewalt auf andere einbüßt. - Endlich können dabei


    d)  neue  Wertaxiome und daraus zu folgernde Postulate vertreten werden, welche der Vertreter eines praktischen Postulats nicht beachtet und zu denen er infolgedessen nicht Stellung genommen hatte, obwohl die Durchführung seines eignen Postulats mit jenen praktischen Konsequenzen, also: sinnhaft oder praktisch, kollidiert. Im Fall 1 handelt es sich bei der weiteren Erörterung um Probleme des Typus a, im Falle 2 des Typus c.
Sehr weit entfernt davon also, "sinnlos" zu sein, haben Wertungsdiskussionen dieses Typus, gerade wenn sie in ihren Zwecken richtig verstanden werden, und m. E. nur dann, ihren sehr erheblichen Sinn.

Der  Nutzen  einer Diskussion praktischer Wertungen, an der richtigen Stelle und im richtigen Sinne, ist aber mit solchen direkten "Ergebnissen" , die sie zeitigen kann, keineswegs erschöpft. Sie befruchtet vielmehr, wenn richtig geführt, die empirische Arbeit auf das Nachhaltigste, indem sie ihr die  Fragestellungen  für ihre Arbeit liefert.

Die Problemstellungen der empirischen Disziplinen sind zwar ihrerseits "wertfrei" zu beantworten. Sie sind keine "Wertprobleme" . Aber sie stehen im Bereich unserer Disziplinen unter dem Einfluß der Beziehung von Realitäten "auf" Werte. Über die Bedeutung des Ausdruckes "Wertbeziehung" muß ich mich auf eigene frühere Äußerungen und vor allem auf die bekannten Arbeiten von H. RICKERT beziehen. Es wäre unmöglich, das hier nochmals vorzutragen. Es sei daher nur daran erinnert, daß der Ausdruck "Wertbeziehung" lediglich die philosophische Deutung desjenigen spezifisch wissenschaftlichen  "Interesses"  meint, welches die Auslese und Formung des Objektes einer empirischen Untersuchung beherrscht.

Innerhalb der empirischen Untersuchung werden durch diesen rein logischen Sachverhalt jedenfalls keinerlei "praktische Wertungen" legitimiert. Wohl aber ergibt jener Sachverhalt in Übereinstimmung mit der geschichtlichen Erfahrung, daß Kultur- und das heißt:  Wertinteressen es sind, welche auch der rein empirisch-wissenschaftlichen Arbeit die  Richtung  weisen. Es ist nun klar, daß diese Wertinteressen durch Wertdiskussionen in ihrer Kasuistik sich entfalten können. Diese können dem wissenschaftlich, insbesondere dem historisch arbeitenden, Forscher vor allem die Aufgabe der  "Wertinterpretation":  für ihn eine höchst wichtige Vorarbeit seiner eigentlich empirischen Arbeit, weitgehend abnehmen oder doch erleichtern. Da die Unterscheidung nicht nur von Wertung und Wertbeziehung, sondern auch von Wertung und Wertinterpretation (das heißt: Entwicklung  möglicher  sinnhafter Stellungnahmen gegenüber einer gegebenen Erscheinung) vielfach nicht klar vollzogen wird und namentlich für die Würdigung des logischen Wesens der Geschichte dadurch Unklarheiten entstehen, so verweise ich in dieser Hinsicht auf die Bemerkungen auf S. 245 ff. dieser Sammlung (3) (ohne diese übrigens für irgendwie abschließend auszugeben).

Nur wo bei einem absolut eindeutig gegebenen Zweck nach dem dafür geeigneten Mittel gefragt wird, handelt es sich um eine wirklich empirisch entscheidbare Frage. Der Satz: x ist das einzige Mittel für y, ist in der Tat die bloße Umkehrung des Satzes: auf x folgt y. Der Begriff der "Angepaßtheit" aber (und alle ihm verwandten) gibt - und das ist die Hauptsache - jedenfalls nicht die geringste Auskunft über die letztlich zugrunde liegenden Wertungen, die er vielmehr - ebenso wie z.B. der m. E. grundkonfuse neuerdings beliebte Begriff der "Menschenökonomie" - lediglich verhüllt. "Angepaßt" ist auf dem Gebiet der "Kultur" , je nachdem, wie man den Begriff meint, entweder alles oder: nichts. Denn nicht auszuscheiden ist aus allem Kulturleben der  Kampf.  Man kann seine Mittel, seinen Gegenstand, sogar seine Grundrichtung und seine Träger ändern, aber nicht ihn selbst beseitigen. Er kann statt ein äußeren Ringens von feindlichen Menschen um äußere Dinge ein inneres Ringen sich liebender Menschen um innere Güter und damit statt äußeren Zwangs eine innere Vergewaltigung (gerade auch in Form erotischer oder karitativer Hingabe) sein oder endlich ein inneres Ringen innerhalb der Seele des Einzelnen selbst mit sich selbst bedeuten, - stets ist er da, und oft um so folgenreicher, je weniger er bemerkt wird, je mehr sein Verlauf die Form stumpfen oder bequemen Geschehenlassens oder illusionistischen Selbstbetrugs annimmt oder sich in der Form der "Auslese" vollzieht. "Friede" bedeutet Verschiebung der Kampfformen oder der Kampfgegner oder der Kampfgegenstände oder endlich der Auslesechancen und nichts anderes. Ob und wann solche Verschiebungen vor einem ethischen oder einem anderen bewertenden Urteil die Probe bestehen, darüber läßt sich offenbar generell schlechthin nichts aussagen. Nur eines ergibt sich zweifellos: Ausnahmslos jede, wie immer geartete Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen ist, wenn man sie  bewerten  will, letztlich auch daraufhin zu prüfen,  welchem menschlichen Typus  sie, im Wege äußerer oder innerer (Motiv-)Auslese, die optimalen Chancen gibt, zum herrschenden zu werden. Denn weder ist sonst die empirische Untersuchung wirklich erschöpfend, noch ist auch die nötige tatsächliche Basis für eine, sei es bewußt subjektive, sei es eine objektive Geltung in Anspruch nehmende, Bewertung überhaupt vorhanden. Wenigstens denjenigen zahlreichen Kollegen sei dieser Sachverhalt in Erinnerung gebracht, welche glauben, es ließe sich mit eindeutigen  "Fortschritts"begriffen bei der Feststellung von gesellschaftlichen Entwicklungen operieren. Das führt nun zu einer näheren Betrachtung dieses wichtigen Begriffs.

Man kann natürlich den Begriff des "Fortschritts" absolut wertfrei brauchen, wenn man ihn mit dem "Fortschreiten" irgendeines konkreten, isoliert betrachteten Entwicklungs-Prozesses identifiziert. Aber in den meisten Fällen ist der Sachverhalt wesentlich komplizierter. Wir betrachten hier einige Fälle, wo die Verquickung mit Wertfragen am intimsten ist, aus heterogenen Gebieten.

Auf dem Gebiet der irrationalen, gefühlsmäßigen, affektiven Inhalte unseres seelischen Verhaltens kann die quantitative Zunahme und - was damit meist verbunden ist - qualitative Vermannigfaltigung der  möglichen  Verhaltungsweisen wertfrei als Fortschritt der seelischen "Differenzierung" bezeichnet werden. Alsbald verbindet sich aber damit der Wertbegriff: Vermehrung der "Spannweite" , der "Kapazität" einer konkreten "Seele" oder - was schon eine nicht eindeutige Konstruktion ist - einer "Epoche" (so in Simmels "Schopenhauer und Nietzsche" ).

Es ist natürlich gar kein Zweifel, daß es jenes faktische "Fortschreiten der Differenzierung" gibt. Mit dem Vorbehalt, daß es nicht immer wirklich da vorhanden ist, wo man an sein Vorhandensein glaubt. Das für die Gegenwart zunehmende  Beachten  der Gefühlsnuancen, wie es auftritt, sowohl als Folge zunehmender Rationalisierung und Intellektualisierung aller Lebensgebiete wie als Folge zunehmender subjektiver Wichtigkeit, die der Einzelne allen seinen eigenen (für andere oft äußerst gleichgültigen) Lebensäußerungen beimißt, täuscht sehr leicht zunehmende Differenzierung vor. Es kann sie bedeuten oder befördern. Aber der Schein trügt leicht, und ich gestehe, daß ich die faktische Tragweite dieser Täuschung ziemlich hoch veranschlagen möchte. Immerhin: der Sachverhalt besteht. Ob nun jemand fortschreitende Differenzierung als "Fortschritt"  bezeichnet,  ist an sich terminologische Zweckmäßigkeitsfrage. Ob man sie aber als "Fortschritt" im Sinn zunehmenden "inneren Reichtums"  bewerten  soll, kann jedenfalls keine empirische Disziplin entscheiden. Denn die Frage, ob jeweils die neu sich entwickelnden oder neu in das Bewußtsein gehobenen Gefühlsmöglichkeiten mit unter Umständen neuen "Spannungen" und "Problemen" als "Werte" anzuerkennen sind, geht sie nichts an. Wer aber zu der Tatsache der Differenzierung als solcher bewertend Stellung nehmen will - was gewiß keine empirische Disziplin jemandem verbieten kann - und nach dem Standpunkt dafür sucht, dem werden naturgemäß manche Erscheinungen der Gegenwart auch die Frage nahelegen: um welchen Preis dieser Prozeß, soweit er zur Zeit überhaupt mehr als eine intelektualistische Illusion ist, "erkauft" wird. Er wird z.B. nicht übersehen dürfen, daß die Jagd nach dem "Erlebnis" - dem eigentlichen Modewert der deutschen Gegenwart - in sehr starkem Maß Produkt abnehmender Kraft sein kann, den "Alltag" innerlich zu bestehen, und daß jene Publizität, welche der Einzelne seinem "Erleben" zu geben das zunehmende Bedürfnis empfindet, vielleicht auch als ein Verlust an Distanz- und also an Stil- und Würdegefühl bewertet werden könnte. Jedenfalls ist auf dem Gebiet der Wertungen des subjektiven Erlebens "Fortschritt der Differenzierung" mit Mehrung des "Werts" zunächst  nur  in dem intellektualistischen Sinn der Vermehrung des zunehmend  bewußten  Erlebens oder der zunehmenden Ausdrucksfähigkeit und Kommunikabilität identisch.

Es gibt also in diesem Sinne, wohl gemerkt: bei  eindeutig gegebenem Zweck, eindeutig feststellbare Begriffe von "technischer" Richtigkeit und von "technischem" Fortschritt in den Mitteln (wobei hier "Technik" in einem allerweitesten Sinne als rationales Sichverhalten überhaupt, auf allen Gebieten: auch denen der politischen, sozialen, erzieherischen, propagandistischen Menschenbehandlung und -beherrschung gemeint ist). Man kann insbesondere (um nur die uns naheliegenden Dinge zu berühren) auf dem speziellen, gewöhnlich "Technik" genannten Gebiet, ebenso aber auf dem der Handelstechnik, auch der Rechtstechnik, von einem "Fortschritt" annähernd eindeutig reden,  wenn  dabei ein eindeutig bestimmter Status eines konkreten Gebildes als Ausgangspunkt angenommen wird. Annähernd: denn die einzelnen technisch rationalen Prinzipien geraten, wie jeder Kundige weiß, in Konflikte miteinander, zwischen denen ein Ausgleich zwar vom jeweiligen Standpunkt konkreter Interessenten, niemals aber "objektiv" , zu finden ist. Und es gibt, bei Annahme  gegebener  Bedürfnisse, bei der ferneren Unterstellung, daß alle diese Bedürfnisse als solche und ihre subjektive Rangeinschätzung der Kritik  entzogen  sein sollen, und schließlich bei Annahme einer fest  gegebenen  Art der Wirtschaftsordnung überdies - wiederum unter dem Vorbehalt, daß z.B. die Interessen an Dauer, Sicherheit und Ausgiebigkeit der Deckung dieser Bedürfnisse in Konflikt geraten können und geraten - auch "ökonomischen" Fortschritt zu einem relativen Optimum der Bedarfsdeckung bei  gegebenen  Möglichkeiten der Mittelbeschaffung. Aber nur unter diesen Voraussetzungen und Einschränkungen.

Die ökonomische Theorie endlich ist offensichtlich eine Dogmatik in einem logisch sehr anderen Sinn als etwa die Rechtsdogmatik. Ihre Begriffe verhalten sich zur ökonomischen Realität spezifisch anders als diejenigen der Rechtsdogmatik zur Realität des Objekts der empirischen Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie. Aber wie die dogmatischen Rechtsbegriffe als "Idealtypen" für die letzteren verwertet werden können und müssen, so ist diese Art der Verwendung für die Erkenntnis der sozialen Wirklichkeit der Gegenwart und Vergangenheit der geradezu  ausschließliche  Sinn der reinen ökonomischen Theorie. Sie macht bestimmte, in der Realität kaum jemals rein erfüllte, aber in verschieden starker Annäherung an sie anzutreffende Voraussetzungen und fragt: wie sich das soziale Handeln von Menschen, wenn es strikt rational verliefe, unter diesen Voraussetzungen gestalten würde. Sie unterstellt insbesondere das Walten rein ökonomischer Interessen und schaltet also den Einfluß machtpolitischer ebenso wie anderer außerökonomischer Orientierungen des Handelns aus.

Nun vollzog sich aber in ihr der typische Hergang der "Problemverschlingung". Denn jene, in diesem Sinn, "staatsfreie", "moralfreie", "individalistische" reine Theorie, welche als methodisches Hilfsmittel unentbehrlich war und immer sein wird, faßte die radikale Freihandelsschule als ein erschöpfendes Abbild der "natürlichen", d.h. der nicht durch menschliche Torheit verfälschten, Wirklichkeit, darüber hinaus aber und auf Grunds dessen als ein "Sollen" auf: als ein in der Wertsphäre geltendes Ideal statt als einen für die empirische Erforschung des Seienden brauchbaren Idealtypus. Als infolge wirtschafts- und sozialpolitischer Änderungen der Einschätzung des Staats der Rückschlag in der Wertungssphäre eintrat, griff er seinerseits alsbald auf die Seinssphäre über und verwarf die reine ökonomische Theorie nicht nur als Ausdruck eines Ideals - als welches zu gelten sie nie hätte beanspruchen dürfen -, sondern auch als methodischen Weg zur Erforschung des Tatsächlichen. "Philosophische" Erwägungen der verschiedensten Art sollten die rationale Pragmatik ersetzen, und bei der Identifizierung des "psychologisch" Seienden mit dem ethisch Geltenden wurde eine reinliche Scheidung der Wertungssphäre von der empirischen Arbeit undurchführbar. Die außerordentlichen Leistungen der Träger dieser wissenschaftlichen Entwicklung auf historischem, soziologischem, sozialpolitischem Gebiet sind ebenso allgemein anerkannt, wie für den unbefangen Urteilenden der Jahrzehnte dauernde völlige Verfall der theoretischen und der streng wirtschaftswissenschaftlichen Arbeit überhaupt als naturgemäße Folge jener Problemvermischung zutage liegt. Die eine der beiden Hauptthesen, mit welchen die Gegner der reinen Theorie arbeiteten, war: daß die rationale Konstruktion dieser "reine Fiktionen" seien, welche über die Realität der Tatsachen nichts aussagten. Richtig verstanden, trifft diese Behauptung zu. Denn die theoretischen Konstruktionen stehen durchaus nur im Dienst der von ihnen selbst keineswegs gelieferten Erkenntnis der Realitäten, welche, infolge der Mitwirkung anderer, in ihren Voraussetzungen nicht enthaltener, Umstände und Motivenreihen, selbst im äußersten Fall nur Annäherungen an den konstruierten Verlauf enthalten. Das beweist freilich, nach dem Gesagten, nicht das mindeste gegen die Brauchbarkeit und Notwendigkeit der reinen Theorie. Die zweite These war: daß es jedenfalls eine wertungsfreie Lehre von der Wirtschaftspolitik  als Wissenschaft nicht geben könne. Sie ist natürlich grundfalsch, so falsch, daß gerade die "Wertungsfreiheit" - im vorstehend vertretenen Sinn - die Voraussetzung  jeder  rein wissenschaftlichen Behandlung der Politik, insbesondere der Sozial- und Wirtschaftspolitik, ist. Daß es selbstverständlich möglich, wissenschaftlich nützlich und nötig ist, Sätze zu entwickeln von dem Typus: für die Erreichung des (wirtschaftspolitischen) Erfolgs x ist y das einzige oder sind - unter den Bedingungen b1, b2, b3 - y1, y2, y3 die einzigen oder die erfolgreichsten Mittel, bedarf wohl nicht der Wiederholung. Und nur daran sei nachdrücklich erinnert, daß das Problem in der Möglichkeit absoluter  Eindeutigkeit  der Bezeichnung des Erstrebten besteht. Liegt diese vor, dann handelt es sich um einfache Umkehrung von Kausalsätzen und also um ein rein "technisches" Problem. Eben deshalb liegt aber auch in allen diesen Fällen gar kein Zwang für die Wissenschaft vor, diese technischen teleologischen Sätze nicht als einfache Kausalsätze, also in der Form zu fassen: auf y folgt stets bzw. auf y1, y2, y3 folgt unter den Bedingungen b1, b2, b3 der Erfolg x. Denn das besagt genau dasselbe, und die "Rezepte" kann sich der "Praktiker" daraus unschwer entnehmen. Aber die wissenschaftliche Lehre von der Wirtschaft hat denn doch neben der Ermittlung rein idealtypischer Formeln einerseits und andrerseits der Feststellung solcher kausalen wirtschaftlichen Einzelzusammenhänge - denn um solche handelt es sich ausnahmslos, wenn "x" hinlänglich eindeutig und also die Zurechnung des Erfolgs zur Ursache und also des Mittels zum Zweck hinlänglich streng sein soll - noch einige andere Aufgaben.
LITERATUR - Max Weber, Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, Tübingen 1922
    Anmerkungen
  1. Umarbeitung eines für eine interne Diskussion im Ausschuß des "Vereins für Sozialpolitik" 1913 erstatteten, als Manuskript gedruckten Gutachtens. Ausgeschaltet wurde möglichst alles nur diesen Verband Interessierende, erweitert sind die allgemeinen methodologischen Betrachtungen. Von anderen für jene Diskussion erstatteten Gutachten ist dasjenige von Professor SPRANGER in >SCHMOLLERs Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft publiziert worden. Ich gestehe, daß ich diese Arbeit jenes auch von mir geschätzten Philosophen für merkwürdig schwach, weil nicht zur Klarheit gediehen, halte, vermeide aber jede Polemik mit ihm schon aus Raumgründen und lege nur den eigenen Standpunkt dar.
  2. Ich muß mich auf das beziehen, was ich in den vorangehenden Aufsätzen S. 146 ff., ferner S. 215 ff., 291 ff., gesagt habe (die, wie recht wohl möglich ist, zuweilen ungenügende Korrektheit der Einzelformulierungen dürfte keinen zur Sache wesentlichen Punkt betreffen), und möchte für die "Unaustragbarkeit" gewisser letzter Wertungen auf einem wichtigen Problemgebiet u.a. namentlich auf GUSTAV RADBRUCHs "Einführung in die Rechtswissenschaft" (2. Aufl. 1913) verwiesen haben. Ich weiche in einigen Punkten von ihm ab. Aber für das hier erörterte Problem sind sie nicht von Bedeutung.
  3. Original-Verweisung: Arch. f. Soz.wiss.u. Soz.pol. Bd. XXII S. 168 f.