ra-2C. MengerO. SpannH. DietzelR. SchüllerH. AlbertL. Brentano    
 
FEITEL LIFSCHITZ
Zur Methodologie der
Wirtschaftswissenschaften


"Der Wirtschaftstheoretiker, möge er auch Empiriker reinsten Wassers sein, operiert nicht mit den wirklich wahrnehmbaren Gegenständen des Wirtschaftslebens, sondern mit deren Abbildungen,  Kopien,  in Buchstaben und Ziffern ausgedrückt. Er operiert nicht mit der Ware in concreto, sondern mit der Ware in abstracto, in Symbolen dargestelle, in Schreibzeichen, welche nicht Realitäten, sondern purste Abstraktion sind. Also in dem Augenblick, wo der Wirtschaftstheoretik seine Denkfunktionen unternimmt, sind schon die primären, unmittelbaren Eindrücke vorbei, sind nur  Vorstellungen  geblieben."

"Was soll  praktische Ökonomie  bedeuten? Nichts anderes als Untersuchungen darüber, wie sich die wirtschaftlichen Erscheinungen in der Praxis manifestieren. Wir wollen sie doch gerade begreifen, erklären, und das kann nur die Wissenschaft, die mit dem  Sollen  nichts zu tun hat. Wohl kann sich jede  praktische  Politik auf die Wissenschaft berufen, sie selbst ist aber keine Wissenschaft. Dadurch ist auch die  Finanzwissenschaft  aus dem Tempel der Wissenschaften zu verbannen; man kann  höchstens  von einem  Finanzwissen  sprechen, nicht aber von einer  Finanzwissenschaft.  Denn das Wissen von  Finanztatsachen  ohne die kausale Verkettung, losgelöst vom wirtschaftlichen Inhalt, kann keine Wissenschaft darstellen. Inhalt ohne Form ist blind, Form ohne Inhalt ist leer! Daß die  Finanztatsachen  so behandelt werden, zeigen uns zur Genüge die Lehrbücher der sogenannten Finanzwissenschaft. Es mag wohl praktisch sehr nützlich sein, Wissenschaft ist es nicht."

Das menschliche Erkennen hat mit zwei Erkenntnisreihen zu tun: mit konkreten Tatsachen, welche es der Erfahrung entnimmt und mit Theorien, die aus Begriffen bestehen, oder in unserer Terminologie: mit Induktionen und Deduktionen. Aus welcher Quelle auch diese zwei Erkenntnisreihen stammen mögen - ihre Verschiedenheit zu leugnen ist unmöglich. Diese Verschiedenheit der Erkenntnisreihen manifestiert sich nicht nur im Inhalt, sondern auch formal in der Beziehung zueinander innerhalb jeder Erkenntnisreihe. Während bei der ersten Erkenntnisreihe, bei der Erkenntnis von Tatsachen, mit der Umwandlung der Empirie zu einem allgemeinen Begriff der Denkprozeß abschließt, will sagen: die Funktion des Erkennens ausschließlich darin besteht, die Induktionen in Deduktionen umzuwandeln (und damit hat das Erkennen seine Aufgabe vollständig gelöst und erschöpften erfüllt), so sehen wir bei der zweiten Erkenntnisreihe hingegen das Erkennen fortwährend in einem Aufsteigen begriffen, auf jeder neu gewonnenen Deduktion wird eine neue errichtet, die erste Deduktion ist eine Vorstufe der zweiten, die zweite eine Vorstufe der dritten usw., d. h. die Deduktionen schlagen in Induktionen um, sie sind einzelne Bestandteile des nächsten Begriffs. Die Abschließung des Denkprozesses liegt bei dieser Erkenntnisreihe an der Grenze der "letzten Ursache". In einer solchen Kette von Deduktionen erscheint jede Deduktion im Verhältnis nach oben als Induktion, im Verhältnis nach unten als eine Deduktion. Der Fortschritt einer Wissenschaft besteht lediglich darin, die Kette der Deduktionen nach oben zu schicken und daher: je höher die Kette steigt, destor reicher ist die Wissenschaft und umgekehrt: je niedriger die Kette sinkt, desto niedriger, regressiver ist die betreffende Wissenschaft. So wie der Höhepunkt einer Wissenschaft an der Grenze der "letzten Ursache" stattfindet, so ist die Degradation derselben an der Oberfläche der Erfahrung anzutreffen.

Mit den letzten Worten soll nicht gemeint sein, als wollten wir die  Erfahrung  aus der Wissenschaft ausgeschlossen wissen. Das liegt dem Schreiber dieser Zeilen fern. Denn "auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, woducht sie sich auf dieselben unmittelbar bezieht und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung". Was wir lediglich darzutun suchten, ist, den Verlauf des Erkenntnisprozesses vom Anfang seiner Aktion bis zu dessen Abschluß zu verfolgen und darauf hinzuweisen, in welcher Beziehung die Erfahrung und die abgeschlossene Wissenschaft sich zueinander verhalten.

Die Einteilung unserer Erkenntnisse in zwei Reihen, wie es oben geschehen ist, ist von großer Wichtigkeit für die Hauptprobleme der Wirtschaftswissenschaft. Vorerst bedarf es aber noch einer Feststellung des Hauptobjekts bzw. der Hauptaufgabe oder richtiger gesagt, der  einzigen  Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft, bei diesem Zusammenhang vorzunehmen.

Die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft kann nur die sein:  die Entwicklungstendenzen des Wirtschaftslebens zu erklären.  Mit dieser Feststellung des Objekts unserer Disziplin dürfte sich jeder Forscher einverstanden erklären, der dem gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Forschung nicht abhold ist. Die Zeit, wo man sich gesagt hat, die Wirtschaftswissenschaft habe es mit dem  Reichtum der Völker  zu tun, ist schon länst vorüber. Ferner muß es als irrtümlich und irrig betrachtet werden, wenn man die  Sozial-  und  Wirschaftspolitik  mit der  Wirtschaftswissenschaft  vermengt. Die Wirtschaftswissenschaft, wie jede Wissenschaft, hat mit dem "Sein-Sollen" nichts zu tun. Die Sozial- und Wirtschaftspolitik ist eine  normative  Disziplin; sie kann sich wohl auf wissenschaftliche Prinzipien berufen, aber sie ist keine Wissenschaft, bzw. man darf sie mit der Wirtschaftswissenschaft nicht vermengen, da die letztere nur damit zu tun hat, die wirtschaftlichen Erscheinungen zu erklären, sie auf  Ursache  und  Wirkung  zurückzuführen, die Wirtschaftswissenschaft ist also eine  explikative  Disziplin.

Halten wir diese zwei Disziplinen streng auseinander, die  normative  und die  explikative,  so werden wir imstande sein, einen Widerspruch, der sich in der Wirtschaftswissenschaft geltend gemacht hat, aufzudecken. Bekanntlich hat die "ethische Nationalökonomie" den  Klassikern  zum Vorwurf gemacht, die letzteren hätten die Staatsintervention nicht gebührend für die Bedeutung des Wirtschaftslebens gewürdigt, will sagen: man müsse das Prinzip des "Sein-Sollens" zu einem Prinzip der Wirtschaftswissenschaft machen. Andererseits hat aber die "ethische Nationalökonomie" behauptet, die  Klassiker  wären nicht wissenschaftlich richtig verfahren, weil sie ein "Sollen" aufgestellt hätten, die Wissenschaft müsse aber auf das "Sollen" verzichten, um voraussetzungslos vorangehen zu können! Dieser Widerspruch wird aber gelöst, wenn man sich vergegenwärtigt, worin eigentlich der Unterschied besteht zwischen der  explikativen  und der  normativen  Ethik: die erste, wie mit Recht mehrere Moralphilosophen behaupten, ist allein die  wissenschaftliche  Ethik, die normative hingegen ist es nicht, weil die Wissenschaft nicht mit einem "Sollen" zu tun haben kann. Man sieht, wie groß die Kluft ist zwischen einer Normdisziplin und einer Erklärungsdisziplin. Da sich die "ethische Nationalökonomie" in  zweifacher  Beziehung in Gegensatz zu den  Klassikern  gesetzt hat,  methodisch  und  sozialpolitisch,  so mußte sie in diesen Widerspruch verfallen, indem sie  methodisch  gegen das "Sein-Solen" im Namen der Voraussetzungslosigkeit auftrat, um unserer Wissenschaft eine wissenschaftliche Stellung zu sichern und  sozialpolitisch  das "Sein-Sollen" wieder einschmuggelte; dadurch hat sie sich in einen Widerspruch verwickelt. Die "ethische Nationalökonomie" könnte sich noch dadurch retten, indem sie die Sozialpolitik aus der Wirtschaftswissenschaft ausgesondert hätte, d. h. die Sozialpolitik befürwortet, als Politik, die sich auf Wissenschaft  beruft,  aber selbst keine Wissenschaft ist. Allein dies hat sie nicht getan, hingegen das "Sollen" mit der Wirtschaftswissenschaft durch den Begriff der "Sozialökonomie" vermengt. Dadurch ist der Widerspruch entstanden.

Nachdem hier die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft festgestellt worden ist, können wir nun übergehen zu dem von uns angeschnittenen Problem.

Wir sahen bereits, daß die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft darin besteht, die Entwicklungstendenzen des Wirtschaftslebens zu erklären. Ferner, daß unser Erkennen mit zwei Reihen zu tun hat, deren Unterschied bereits dargetan wurde. Es ist oben betont worden, daß diese Einteilung der Erkenntnisreihen von großer Wichtigkeit für die Probleme der Wirtschaftswissenschaft ist. Es gilt nun dies festzustellen und zu charakterisieren.

Es ist oben behauptet worden, daß bei der Erkenntnisreihe von Begriffen das Denken immer in einem Aufsteigen begriffen ist, d. h. auf jeder gewonnenen Deduktion wird eine neue errichtet. Das läßt sich folgendermaßen exemplifzieren:

Stellen wir uns eine Reihe von ökonomischen "Gesetzen" vor:  a, b, c, d, e, f, g, h  usw. wie ein Gesetz des Angebotes, der Nachfrage, ein Preisgesetz, Lohngesetz, Absatzgesetz, Krisengesetz, Wertgesetz, Gewinngesetz usw. Die gesamte Wirtschaftswissenschaft ist nun von uns in einer Reihe von einzelnen "Gesetzen" aufgelöst worden. Da die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft nun darin bestehen kann, die Entwicklungstendenzen des Wirtschaftslebens zu erklären und ferner mit jedem Fortschritt der Wissenschaft die Pyramide der Deduktionen steigen muß und zwar in der Form einer Vereinheitlichung aller Deduktionen in einem Punkt, d. h. am Punkt der "letzten Ursache", so leuchtet es ein, daß jedes gefundene Gesetz als Bestandteil zu betrachten ist, aus welchen wieder ein neues Gesetz konstruiert werden muß. Wenn wir ein Gesetz des Angebotes und der Nachfrage festgestellt haben, so können wir schreiten in der wissenschaftlichen Forschung und aus diesen Gesetzen ein neues ableiten, wie z. B. ein Gesetz der Warenpreise. Freilich muß man es nicht buchstäblich verstehen, d. h. daß man  nur  aus dem Gesetz der Nachfrage und des Angebotes ein Preisgesetz folgern kann. Es ist hier lediglich gemeint, wie man aus Gesetzen ein neues Gesetz ableitet. Man kann diesen theoretischen Prozeß mit einer Stufenleiter vergleichen, stufenweise erhebt sich das theoretische Denken, wo jede Stufe eine Vorstufe zugleich bedeutet.

Betrachtet man etwas näher die Reihe von ökonomischen "Gesetzen", wie  a, b, c, d, e, f, g, h  usw., so erhellt sich daraus, wie und in welcher Beziehung sie zueinander stehen. Aus zwei oder mehreren "Gesetzen" wird ein neues Gesetz abgeleitet. Während jedes neu gefundene Gesetz in seiner Beziehung  nach unten  ein  Begriff  oder, in unserer Terminologie, eine Deduktion ist, eine Verallgemeinerung, so ist es in seiner  nach oben  hingegen ein einzelner Bestandteil oder in unserer Terminologie eine Induktion. Man sieht hier klipp und klar, wie bei der Erkenntnis von Begriffen die Deduktionen in ihrem Aufsteigen in Induktionen umschlagen. Da die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft darin besteht, die Entwicklungstendenzen zu erklären, zu begreifen, so kann es nur in der Weise geschehen, indem sie das gesamte Wirtschaftsleben unter einem  einheitlichen  Begriff zusammenfaßt. Denn der Grundsatz der Logik lautet: jeder Begriff steht in einem entgegengesetzten Verhältnis zu seinem Umfang, also muß die ganze Welt der wirtschaftlichen Erscheinungen in ihrem Umfang unter einem Begriff zusammengefaßt, sollte sie theoretisch in ihrer Gesamtheit begriffen werden. Dies geschieht, wie es bereits dargetan wurde, auf dem Weg des Aufsteigens von einer Deduktion zur anderen, bis endlich die höchst mögliche Deduktion erreicht ist, d. h. bei der Grenze der "letzten Ursache".

Aus der angeführten Auffassung der Wirtschaftswissenschaft folgen einige Ansichten, die mit Bezug auf die Methodologie der Wirtschaftswissenschaft nicht zu unterschätzen sind.

Bekanntlich hat sich die "österreichische Schule" in einen Gegensatz zur "historischen Schule" gesetzt. Die erstere meint, es bestehe ein  prinzipieller  Unterschied zwischen ihr und der "historischen Schule". Dies trifft aber nicht zu, doch ist der Unterschied nur ein  gradueller,  wenn man das Problem vom Standpunkt betrachtet, der hier zu entwickeln gesucht worden ist. Ein Wertgesetz, ein Lohngesetz, ein Preisgesetz usw. ist lange noch nicht abschließend für das Problem der Wirtschaftswissenschaft. Und wenn wir uns vorstellen, daß die ökonomischen "Gesetze" eine Reihe darstellen, wie  a, b, c, d, e, f, g, h  usw., und daß die  oberste,  letzte Deduktion, der letzte einheitliche Begriff der Wirtschaftswissenschaft erst abschließt, alle bisherigen Deduktionen hingegen nur als Vorstufen zu betrachten sind, so leuchtet es ohne weiteres ein, daß ein Lohngesetz, ein Wertgesetz nicht die letzte Deduktion sein kann, bzw. es findet seinen Platz in der Mitte auf dem Weg des Aufsteigens zum obersten Begriff. Kein Wunder daher, daß die "österreichische Schule" uns die Entwicklungstendenzen des Wirtschaftslebens nicht erklärt, eine  einheitliche  Theorie nicht gegeben hat, da die Wirtschaftswissenschaft bei dieser "Schule" in einzelne ökonomische "Gesetze" aufgelöst wurde. Faßt man die "historische Schule" in dem Sinne auf, daß sie mit den "Tatsachen", die sie der Erfahrung entnimmt, zu tun hat oder in unserer Terminologie sich mit Induktion beschäftigt, welche in Deduktion umschlagen (hier haben wir von den extremen historischen Nationalökonomen abzusehen!), so stellt sich heraus, daß, während die "historische Schule" sich damit immer befaßt, aus der Erfahrung "Gesetze" (1) abzuleiten, d. h. bei der Reihe von  a, b, c, d, e, f, g, h  usw. bei  a  stehen bleibt, so sehen wir bei der "österreichischen Schule", aber nicht  prinzipiell.  Denn der Unterschied der Methoden dieser beiden "Schulen" ändert an der Sache nichts, weil die Methode nur  Mittel  und nicht  Selbstzweck  der Wirtschaftswissenschaft ist. Mögen die beiden "Schulen" methodisch sich voneinander prinzipiell unterscheiden, was aber den Selbstzweck anbetrifft, so unterscheiden sie sich nur  graduell.  Und wenn die "österreichische Schule" der "historischen Schule" zum Vorwurf gemacht hat, die letztere verwechsle Zweck und Mittel, so trifft derselbe Vorwurf bis zu einem  gewissen Grad  auch die "österreichische Schule". Denn die Deduktionen von Wert, Preis, Lohn usw. müssen in ihrer Beziehung nach oben, d. h. zum obersten einheitlichen Begriff, nicht mehr als  Mittel  betrachtet werden, wenn man sich über die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft Rechenschaft abgegeben hat.

Bei diesem Zusammenhang ist es wohl angebracht, einen Einwand abzuweisen, der neuerdings erhoben wurde. Ein Wirtschaftstheoretiker hat behauptet, daß die Begriffe von Wert, Lohn, Preis, Gewinn usw. einer "Propädeutik" der Wirtschaftswissenschaft gehören bzw. einem Lehrbuch derselben. Diese Behauptung ist grundsätzlich falsch. Gewiß ist jeder Begriff von Wert, Lohn, Preis. Gewinn eine Vorbereitung, wollen wir richtiger sagen: eine Vorstufe jeder  einheitlichen  Auffassung des Wirtschaftslebens, aber nicht im "lehrbücherischen" Sinne, sondern in dem des Aufsteigens zu einem letzten Begriff, der die ganze Welt der wirtschaftlichen Erscheinungen zusammenfassen muß. Jede Lohndeduktion, jede Wertdeduktion, jede Preisdeduktion usw. sind Vorbereitungen, Vorstufen zu einer einheitlichen Theorie, aber nicht im schlimmen Sinne des Wortes, sondern umgekehrt im guten Sinne des Wortes. Ohne diese vorangehenden Deduktionen ist jeder Versuch zu einer einheitlichen Theorie von vornherein zum Scheitern verurteilt. Also diese Begriffe sind nicht eine "Propädeutik" im Sinne des Unterrichts für Studenten der Wirtschaftswissenschaft, sondern für den Forscher derselben. Dem entsprechend ist der erhobene Einwand abzuweisen, welcher ganz unzulässig ist.

Es ist vorauszusehen, daß der Anhänger der  ausschließlichen  empirisch-realistischen Forschungsweise sich damit nicht einverständigen wird, was hier zu entwickeln gesucht wird und demgemäß auch nicht mit der Kritik, die hier geübt wurde. Der Einwand, den er machen wird, dürfte folgender sein:

Es ist von uns behauptet worden, daß das menschliche Erkennen in zwei Erkenntnisreihen zerfällt: in Erkenntnis von "Tatsachen" und Erkenntnis von "Begriffen". Ferner, daß die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft dadurch gelöst wird, das man aus gewonnenen Begriffen oder "Gesetzen" wieder Begriffe bildet und zwar bis das ganze Wirtschaftsleben unter einem Begriff zusammengefaßt ist. Nun wird der  ausschließliche  Empiriker sagen: gerade gegen diese "Abstraktionen" kämpfen wir doch. Die hier vertretene Auffassung wäre nichts anderes als ein Rückfall zur "Dogmatik" zurück. Der Empiriker stellt sich die Sache ganz anders vor. Wir haben eine Welt von ökonomischen Erscheinungen vor uns. Stellen wir uns das empirische Material, bestehend aus  a, b, c, d, e, f  usw. vor. Wollen wir ein Gesetz feststellen, so müssen wir es aus der Erfahrung ableiten; wollen wir ein zweites Gesetz ableiten, so müssen wir es ebenfalls der Erfahrung entnehmen; Ableitung eines Begriffs von anderen Begriffen gibt es überhaupt nicht für uns und damit auch kein Erkennen von Begriffen, kein Deduzieren von Deduktionen.

Sollte der Empiriker mit diesen Ausführungen den  Rationalismus  aus der Wirtschaftswissenschaft gänzlich verbannen wollen, so ist doch dieser Einwand, erkenntnistheoretisch betrachtet, nicht begründet. Ferner, dieser  ausschließliche  Empiriker selbst steckt doch zu tief im "Dogmatismus", gegen welchen er umsonst ankämpft. Es dürfte nicht als paradoxal betrachtet werden, wenn wir behaupten, der Unterschied zwischen dem "Dogmatismus" der  Klassiker  und der "historischen Schule" ist kein  prinzipieller,  sondern ein gradueller. Es muß aber noch hinzugefügt werden: der  Klassiker  gemäß der Auffassung der "historischen Schule", denn sonst wird man schwerlich einen Unterschied mit Bezug auf den "Dogmatismus" finden können.

Wir haben uns nun mit dem Einwand des  ausschließlichen  Empirikers auseinanderzusetzen.

Daß auch der Empiriker mit apriorischen Begriffen operiert, leuchtet jedem ein, der erkenntnistheoretisch gebildet ist. Denn jede  Erfahrung  ist ohne  Raum und Zeit  unmöglich. Ferner, wenn wir den Erkenntnisprozeß des Empirikers analysieren, so stellt sich heraus, daß er sich nicht  rein empirisch vollzieht, daß er ohne "Abstraktionen" unmöglich ist. Und möge man gegen die isolierende Abstraktion  in der Wirtschaftswissenschaft kämpfen, wie man wolle, man wird doch schließlich die Einsicht gewinnen müssen, daß Wirtschaftswissenschaft, wie jede Wissenschaft, ohne Abstraktion ein Unding ist.

Versuchen wir nun dies auseinanderzusetzen.

Gesetzt, wir hätten eine Lohnbewegung zu untersuchen und verfahren empirisch-realistisch. Wir sammeln Material, statistische Zahlen der Konjunkturen, der Arbeiter, der Verhältnisse des Marktes usw. Nachdem wir im Besitz der "Tatsachen" sind, suchen wir das "Typische" festzustellen. Daß wir mit aprioristischen Begriffen an die Gruppierung und Ordnung des Stoffs herankommen, ist einleuchtend genug. Aber sehen wir davon ab und analysieren wir den Erkenntnisprozeß, wie er sich vollzieht.

Der Wirtschaftstheoretiker, möge er auch Empiriker reinsten Wassers sein, operiert nicht mit den wirklich wahrnehmbaren Gegenständen des Wirtschaftslebens, sondern mit deren Abbildungen, "Kopien", in Buchstaben und Ziffern ausgedrückt. Er operiert nicht mit der Ware in concreto, sondern mit der Ware in abstracto, in Symbolen dargestelle, in Schreibzeichen, welche nicht Realitäten, sondern purste Abstraktion sind. Also in dem Augenblick, wo der Wirtschaftstheoretik seine Denkfunktionen unternimmt, sind schon die primären, unmittelbaren Eindrücke vorbei, sind nur  Vorstellungen  geblieben. Damit haben wir aber das Problem noch lange nicht erschöpft. Wir wissen wohl, daß der menschliche Verstand und die menschlichen Denkfunktionen unvollkommen sind. Es ist nicht möglich, zur  gleichen  Zeit verschiedene und mehrere Gedankenreihen zu verfolgen, es geschieht immer  nacheinander,  ein Gedanke nach dem anderen, eine Idee nach der anderen können zum größten Teil nur isoliert vor dem Denkprozeß Revue passieren, sollte keine Verwirrung stattfinden. In jeder wirtschaftlichen Erscheinung treffen wir einen Konnex von Faktoren an, wie Recht, Sitte, Kulturwilper.html, Nationalität usw., die Erscheinung ist mannigfaltig. Sollte aber der Denkprozeß stattfinden, so isoliert der menschliche Verstand selbst die verschiedenen Vorstellungen voneinander, verarbeitet sie isoliert. Ferner beim Denkprozeß, in dem der Empiriker seinen gesammelten Stoff theoretisch zu verarbeiten hat, ist es für ihn als Mensch unmöglich, mit den großen Zahlen zu operieren, die er in der Erfahrung angetroffen hat. Der empirische Forscher eines Lohngesetzes wird doch theoretisch nicht mit dem ungeheuren Material, das ihm die Welt der Wirklichkeit bietet, operieren können. Denn er will doch die Übersicht gewinnen, was bei großen Zahlen unmöglich ist und deswegen ist er von vornherein gezwungen, das Quantum zu verkleinern. Zieht man nun in Betracht das Verhältnis zwischen dem vorhandenen Stoff in der Welt der Wirklichkeit und dem des operierenden Denkens des empirischen Forschers, ferner, daß er nicht mit Realitäten, sondern mit Abstraktionen, wie mit Ziffern und Buchstaben, operiert und vollends daß auch er, der empirische Forscher gezwungen ist jede Seite der Erscheinung isoliert zu betrachten, so erhellt es, daß auch wirtschaftswissenschaftlicher  Empirismus  ohne  isolierende Abstraktion  unmöglich ist. Allerdings kann man doch einen Unterschied machen zwischen der "historischen Schule" und den Klassikern (wohl gemerkt: wie die letzten von den "Historikern" aufgefaßt wurden), daß die  Klassiker  nur das Ökonomische als ausschlaggebend betrachtet haben, während die  Historiker  auf die Mannigfaltigkeit der Faktoren hingewiesen haben. Aber dieser Unterschied bedeutet nicht, philosophisch gesprochen,  isolierende Abstraktionen  und  empirisch-realistische  Forschungsweise, sondern  Materialismus  und  Dualismus  oder  Pluralismus Dieser erkenntnistheoretische Unterschied könnte diesen beiden "Schulen" gelegt werden, aber nicht die  Methode der isolierenden Abstraktion  ist hier ausschlaggebend für den Unterschied. Man sieht, daß der Unterschied zwischen den  Empiristen  und den  Klassikern  der Wirtschaftswissenschaft im allgemeinen nicht sehr groß ist, weil auch der  Empirist  nicht ohne "Abstraktionen" zu theoretisieren vermag.

Damit ist unsere Einteilung der menschlichen Erkenntnisse in zwei Reihen nicht aufgehoben und der Einwand des "naiven Realismus" beseitigt.

Faßt man den begrifflichen Unterschied, der zwischen den "Schulen" der Wirtschaftswissenschaft vorhanden ist, etwas näher ins Auge, so verliert er immer mehr an Größe. Bekanntlich hat sich die "historische Schule" gegen den "Dogmatismus" der "Klassiker" gewendet. Sonderbar ist es, daß in dieser Beziehung zwischen den Gegnern kein  prinzipieller,  sondern ein  gradueller  Unterschied vorhanden ist, so paradoxal es auch klingen mag, allein es ist doch Tatsache, wie es sich sofort zeigen wird.

Einer der Haupteinwände gegen die  Klassiker,  der seitens der "historischen Schule" gemacht wurde, besteht darin, die Klassiker hätten unter dem Einfluß der damaligen Verhältnisse in England eine allgemeine Theorie für alle Völker aufstellen wollen. Angenommen, der Einwand wäre berechtigt. Unterscheiden sich denn in Wahrheit in dieser Beziehung die Theorien, die aufgestellt wurden von den "empirisch-realistischen" Forschern, wesentlich von denen der "Klassiker"? Das ist nun die Frage.

Und wenn man in Betracht zieht, daß die Theorien, wie die Entwicklungsstufen des Wirtschaftslebens: "Dorfwirtschaft", "Territorialwirtschaft", "Stadtwirtschaft", "Volkswirtschaft", "Weltwirtschaft" usw. Allgemeingültigkeit verlangen, mögen sie auch Ausnahmen zugestehen, so kann man denselben Einwand erheben, den man gegen die  Klassiker  erhoben hat, nämlich: unter dem Einfluß der deutschen Verhältnisse sind sie aufgestellt worden. Über die Verhältnisse der meisten Länder Europas, wie auch über die der übrigen Erdteile reichen unsere Kenntnisse nicht weit, doch hat man schon Theorien konstruiert! Es ist einleuchtend genug, daß der Unterschied des "Dogmatismus" mit Bezug auf diese zwei "Schulen" der Wirtschaftswissenschaft nicht so bedeutend ist, wie es manche glauben. Mit dem "Dogmatismus" in der Wirtschaftswissenschaft ist ähnliches geschehen, wie mit der Metaphysik in der Philosophie: aus einer Tür wird sie verbannt, durch die andere aber wieder eingeschmuggelt.



Ist man den oben entwickelten Ausführungen gefolgt, so lassen sich einige Schlüsse ziehen mit Bezug auf die Klassifikation der Wirtschaftswissenschaft, ein Gebiet, auf welchem eine große Zerfahrenheit herrscht. Nicht umsonst hat man neulich von der Wirtschaftswissenschaft sagen hören, sie sei eine "zerfahrene" Wissenschaft. Und nicht mit Unrecht bis zu einem  gewissen  Grad. Es genügt nur, daran zu erinnern, wie weit die Begriffsbestimmungen der sogenannten "theoretischen" und "praktischen" Nationalökonomie auseinandergehen! Man ist so weit gegangen, zu behaupten: die theoretische Nationalökonomie sei "Dogmengeschichte", was eigentlich auf eine Verwechslung zurückzuführen ist und zwar eine Verwechslung von der  Geschichte  einer Wissenschaft mit der Wissenschaft selbst. Der Vorwurf, der der "historischen Schule" gemacht wurde, sie verwechsle  Zweck  und Mittel, trifft auch die Begriffsbestimmung der theoretischen Nationalökonomie als "Dogmengeschichte". Diese Verwechslung wird beseitigt, wenn man sich Klarheit verschafft über die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft. Diese hat sich damit zu beschäftigen, die  Entwicklungstendenzen des Wirtschaftslebens zu erklären,  indem sie unter einem einheitlichen Begriff das Wirtschaftsleben zusammenfaßt.

Es folgt daraus ferner, wie logisch falsch es ist, von einer "theoretischen" oder "praktischen" Nationalökonomie zu sprechen. Denn nimmt man an, daß die wirtschaftlichen Erscheinungen auf  Ursache  und  Wirkung  zurückgeführt werden müssen, so kann es nur  eine  und nicht eine zweiteilige Wirtschaftswissenschaft geben. Was soll "praktische Ökonomie" bedeuten? Nichts anderes als Untersuchungen darüber, wie sich die wirtschaftlichen Erscheinungen in der Praxis manifestieren. Wir wollen sie doch gerade begreifen, erklären, und das kann nur die Wissenschaft, die mit dem "Sollen" nichts zu tun hat. Wohl kann sich jede "praktische" Politik auf die Wissenschaft berufen, sie selbst ist aber keine Wissenschaft. Dadurch ist auch die  Finanzwissenschaft  aus dem Tempel der Wissenschaften zu verbannen; man kann  höchstens  von einem  Finanzwissen  sprechen, nicht aber von einer  Finanzwissenschaft.  Denn das Wissen von "Finanztatsachen" ohne die kausale Verkettung, losgelöst vom wirtschaftlichen Inhalt, kann keine Wissenschaft darstellen. Inhalt ohne Form ist blind, Form ohne Inhalt ist leer! Daß die "Finanztatsachen" so behandelt werden, zeigen uns zur Genüge die Lehrbücher der sogenannten Finanzwissenschaft. Es mag wohl praktisch sehr nützlich sein, Wissenschaft ist es nicht.

Nicht besser ist es bestellt mit dem Namen unserer Disziplin; er lautet verschieden: "Nationalökonomie", "Sozialökonomie", "Volkswirtschaftslehre", "Sozialwirtschaftslehre" usw. Daß das Wort "Sozial" unserer Wissenschaft angehängt wurde - ist darauf zurückzuführen, weil wir in einem "sozialen" Zeitalter leben und "was man heute nicht definieren kann, das sieht man als  sozial  an." Befaßt sich die Wirtschaftswissenschaft nur mit "sozialen" Erscheinungen und nicht mit "antisozialen"? Kann wirklich der Begriff "Sozial" die Aufgaben der Wirtschaftswissenschaft zusammenfassen? Wir möchten es doch bezweifeln. Und schließlich ist doch dieser Begriff "Sozial" nichts mehr als für eine bestimmte Richtung bezeichnend, eine Wissenschaft hat doch über den  Richtungen  zu stehen. Das gleiche gilt von der "Nationalökonomie". Wenn wir unter den Namen einer Wissenschaft alle diejenigen Faktoren unterbringen wollen, welche den Inhalt der Erscheinungen bestimmen, so ist doch nicht einzusehen, warum Faktoren wie Kultur, Sitte, Tradition, Recht, Klima usw., die ebenfalls bestimmend sind für das Wirtschaftsleben, nicht an den Namen unserer Wissenschaft angehängt werden sollen? Und vollends die Vorliebe "National". Spricht denn heute jemand von einer "Nationalrechtswissenschaft"? Und ferner befaßt sich dann unsere Wissenschaft nur mit der Nationalökonomie und nicht auch mit der Weltökonomie? Es bleibt uns daher übrig, unsere Wissenschaft auf den Namen "Wirtschaftswissenschaft" zu taufen. Dieser Name entspricht am besten dem heutigen Stand der Wissenschaft.

Es ist im Laufe der Abhandlung gezeigt worden, wieviel Unheil die begriffliche Unklarheit gestiftet hat. Das ist darauf zurückzuführen, daß der erkenntnistheoretische Geist sich sehr wenig in der Wirtschaftswissenschaft kundgibt. Es war nicht die Aufgabe dieser Abhandlung, Probleme definitiv zu lösen, sondern vielmehr die Probleme erkenntnistheoretisch zu beleuchten, bzw. sie ihrem richtigen Platz zu nähern. Die  positive  Lösung muß einem größeren Werk vorbehalten werden. Eins dürfen wir wohl feststellen: die wissenschaftliche Arbeitsteilung hat zwar einerseits befruchtend gewirkt, andererseits nicht wenig Schaden angerichtet. Der Überblick über das gesamte Gebiet der Wirtschaftswissenschaft ist verloren gegangen. Das gilt auch von anderen Wissenschaften. Den Tadel, man verwechsle Rechtsgeschichte mit Rechtswissenschaft, Sittengeschichte mit Ethik, Kunstgeschichte mit Ästhetik, Religionsgeschichte mit Religionsphilosophie, Geschichte der Philosophie mit Philosophie, Wirtschaftsgeschichte mit Wirtschaftswissenschaft - haben die Wissenschaften gewiß verdient.
LITERATUR Feitel Lifschitz, Zur Methodologie der Wirtschaftswissenschaften, Archiv für systematische Philosophie, Neue Folge Bd. XI, Berlin 1905
    Anmerkungen
    1) Die Frage nach der Möglichkeit der "Gesetze" bleibt hier außer Spiel.