ra-2F. J. NeumannF. EulenburgL. Spiegel    
 
WALTER ADOLF JÖHR
Gesetz und Wirklichkeit in
Wirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik


"Indem jedes Wirtschaftssubjekt auf dem Markt ausschließlich seinen Vorteil sucht, wozu es durch den ihm vom Schöpfer verliehenen Trieb des Egoismus angehalten wird, werden alle Produktionsfaktoren in der bestmöglichen Weise genutzt und jeder, der zur Produktion beiträgt, erhält einen gerechten Anteil. Der Mechanismus der Marktwirtschaft gehorcht also Gesetzen, welche sicherstellen, daß das unbekümmerte Verfolgen des eigenen Interesses weder zu Chaos, noch zum Krieg aller gegen alle, sondern zur allgemeinen Harmonie führt."

Einleitung

Das Thema des mir übertragenen Vortrages scheint  methodologischer Art  zu sein. Nun ist aber schon für die Nationalökonomen selbst die Methodologie ein wenig geschätztes Forschungs- und Studiengebiet. Das zeigt nichts deutlicher als die Tatsache, daß ein bedeutender Nationalkönonom ein gewichtiges methodologisches Werk mit den Worten begann: "Dieses Buch ist kein methodologisches Buch." Ich muß gestehen, daß ich, umso mehr als ja der größere Teil meiner verehrten Zuhörer der Nationalökonomie etwas ferner steht, auch die Versuchung verspürte, meinen Vortrag als nicht-methodologisch zu deklarieren. Aber ich konnte dieser Versuchung widerstehen, da sich mir ein anderer Weg zeigte, der vielleicht geeignet ist, Ihr Interesse für das Thema zu wecken.

Die Frage "Gesetz und Wirklichkeit" betrifft nämlich nicht nur den Aufbau der Nationalökonomie, dem die Vertreter anderer Wissenschaften ein wohlwollendes Interesse entgegenbringen, das angesichts unserer Schwierigkeiten vielleicht auch nicht von jeder Regung der Schadenfreude frei ist, die Frage betrifft auch den Aufbau der  Wirtschaftsordnung  selbst, führt uns also in Probleme hinein, die für die großen Massen der Bevölkerung eigentliche Schicksalsprobleme sind: Je nach der Gestaltung der Wirtschaftsordnung wird der einzelne die Möglichkeit haben, die Konsumgüter zu kaufen oder die Wohnung zu mieten, die er wünscht, oder wird er beides von einer Behörde zugeteilt erhalten; je nachdem wird er seine Beschäftigung nach Belieben wählen und ändern können oder wird er - wie der Soldat in der militärischen Organisation - von einer Zentralbehörde aufgrund eines Planes eingesetzt, je nachdem wird die Arbeiterschaft der Plage periodischer Massenarbeitslosigkeit ausgesetzt sein oder nicht.

Daß diese Problem für das Leben des einzelnen, der Völker und für das Zusammenleben der Völker von allergrößter Bedeutung sind, wird niemand leugnen können. Worin besteht aber ihr Zusammenhang zu der uns gestellten Frage nach dem Verhältnis zwischen Gesetz und Wirklichkeit? Die Antwort auf diese Frage ist sehr einfach zu geben. Wir wollen wissen, inwieweit die Menschen in der Gestaltung der wirtschaftlichen Wirklichkeit  frei  sind und inwieweit sie durch wirtschaftliche Gesetzlichkeiten  gebunden  sind. Kann man also beispielsweise die Marktwirtschaft lenken oder lassen das die Gesetzlichkeiten des Marktmechanismus nicht zu? Ist es möglich, die konjunkturellen Bewegungen auszuschalten, oder sind diese der Ausdruck einer unabänderlichen Gesetzmäßigkeit? Ist es möglich, sei es in einer kollektivistischen Wirtschaft oder in einer Marktwirtschaft, die Gleichheit der Einkommensverteilung herbeizuführen oder stößt der gestaltende Wille wiederum auf Gesetzlichkeiten, denen er sich beugen muß? Aber man muß die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gesetz und Wirklichkeit in der Wirtschaft noch unter einem anderen Aspekt sehen. Die Gesetze könnten nicht nur Hindernisse der freien Gestaltung sein, sondern - ganz ähnlich wie in der Natur - Verhaltensweisen der Wirklichkeit, deren man sich zur Erreichung bestimmter Ziele mit größtem Erfolg bedienen kann.

Die große Tragweite, welche dem Gesetzesbegriff gerade für wirtschaftspolitische Fragen zukommt, zeigt ein Blick auf die Dogmengeschichte unserer Wissenschaft.


I. Die Rolle des Gesetzes in der Geschichte der Nationalökonomie

1. Sittliches Gesetz und Naturgesetz

Als sich die Nationalökonomie im 18. Jahrhundert aus einer Sammlung wirtschaftspolitischer Regeln zu einer systematischen Wissenschaft entwickelte, hat sie sich auch mit Erfolg des Gedankes einer naturgesetzlichen Bestimmtheit des Wirtschaftslebens bedient. Obwohl sich diese Idee von Anfang an als fruchtbar erwies - wenngleich sie auch der Anlaß zahlreicher Mißverständnisse war -, so war ihre Einordnung in das System der ökonomischen Wissenschaften nur aufgrund der Ergebnisse eines ganz bestimmten  geistesgeschichtlichen Prozesses  möglich. Wir wollen diesem kurz unsere Aufmerksamkeit schenken, umso mehr, als er noch eine weitere Seite der Problematik aufdeckt.

Im Begriff des Gesetzes im juristischen oder ethischen Sinne finden wir die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Gesetz noch heute vor: Es handelt sich um eine sich an den frei wollenden Menschen richtende  Forderung,  bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen, wobei der Mensch unverbrüchlichen Gehorsam schuldet. Nun wurde nicht nur das ethische Gesetz, sondern in den meisten Fällen auch das staatliches Gesetz auf ein göttliches Gebot oder Gesetz zurückgeführt. Als man nun in der Natur gewisse Regelmäßigkeiten feststellte, konnte man sich das zunächst nur erklären, indem man annahm, daß der Schöpfer der Natur auch diese bestimmten Gesetzen unterworfen habe. Da sich aber diese Gesetze nicht an frei wollende Subjekte wenden, mußte man den Dingen die Eigenschaft zuschreiben, sich im Sinne dieser Gesetze zielstrebig zu verhalten. Diese  teleologisch Auffassung wurde dann auf die Menschen zurückübertragen, indem man auch diese einem Naturgesetz unterstellte, jedoch den Sitz desselben in die menschliche Vernunft verlegte und nun dem Menschen die Aufgabe setzte, dieses in sich zu erkennen und zu befolgen. Diese teleologische Auffassung wich später - vor allem unter dem Einfluß der Entdeckungen in der Mechanik und der Astronomie - einer kausalen Betrachtungsweise. Damit verwandelte sich die sehende oder doch zumindest gerichtete Gesetzmäßigkeit des Geschehens in eine  blinde Gesetzmäßigkeit. 

Aber noch sah man in dieser mechanischen oder blinden Gesetzmäßigkeit die kunstvolle Anlage eines gütigen Schöpfers, der die Welt nicht anders als zum Wohl des Menschen organisiert haben konnte. Vor allem die große Leistung eines NEWTON, der zeigen konnte, wie die schon früher erkannten Bahnen der Planeten - und damit die ganze Harmonie der Sphären - auf dem Gravitationsgesetz beruhen, war die grandiose Bestätigung dieser Weltanschauung. Mußte nicht auch im Bereich der Gesellschaft eine solche prästabilierte [vorgefertigte - wp] Harmonie vorliegen und der Entdeckung harren?

Die positive Antwort, welche die Physiokraten und ADAM SMITH, der Begründer der "klassischen" Nationalökonomie, auf diese Frage erteilt haben, bildet das Einfallstor für die naturgesetzliche Wirtschaftsbetrachtung.


2. Der harmonistische Liberalismus

Aber diese deistische Weltanschauung, derzufolge der Schöpfer die Welt wie eine kunstvolle Uhr gebaut hat und nun ihren Ablauf sich selbst überlassen kann, hätte noch nicht ausgereicht, um der naturgesetzlichen Auffassung auch eine systembildende Rolle zukommen zu lassen. Dazu war erforderlich, daß sich die Marktwirtschaft aus der Enge der Zunftwirtschaft befreit und einen gewissen Entwicklungsstand erreicht hatte, so daß man eben in der Wirklichkeit das glaubte entdecken zu können, was man als den von Gott geschaffenen und dem Menschen zum Wohl bestimmten Mechanismus betrachten konnte. Die Marktwirtschaft entsprach diesem Bild in weitgehendem Maße: Indem jedes Wirtschaftssubjekt auf dem Markt ausschließlich seinen Vorteil sucht, wozu es durch den ihm vom Schöpfer verliehenen Trieb des Egoismus angehalten wird, werden alle Produktionsfaktoren in der bestmöglichen Weise genutzt und jeder, der zur Produktion beiträgt, erhält einen gerechten Anteil. Der Mechanismus der Marktwirtschaft gehorcht also Gesetzen, welche sicherstellen, daß das unbekümmerte Verfolgen des eigenen Interesses weder zu Chaos, noch zum Krieg aller gegen alle, sondern zur allgemeinen Harmonie führt.

Daraus wird abgeleitet, daß jeder Eingriff in diesen gesetzmäßigen Verlauf entweder unmöglich sei oder das Ergebnis nur verschlechtern könne. Aus der Vorstellung eines gesetzmäßig sich vollziehenden Wirtschaftsablaufs bestimmter Art wird somit die Konsequenz des  wirtschaftlichen Liberalismus  gezogen. Aber noch in einer zweiten Hinsicht verdient diese Lösung unsere Aufmerksamkeit. Wir wiesen schon früher darauf hin, daß dem Wort "Gesetz" eine doppelte Bedeutung zukommt. Es kann ein Sollen zum Ausdruck bringen oder ein Müssen; es kann, anders formuliert, sich an frei wollende Menschen als eine Forderung richten, oder es kann - wenn wir uns hier auf die soziale Problematik beschränkten - zum Ausdruck bringen, daß bestimmte gesellschaftliche Prozesse so und nicht anders ablaufen können. Es charakterisiert nun diese erste Phase des ökonomischen Liberalismus, daß das  ethische Gesetz  und das als Naturgesetz aufgefaßte  Wirtschaftsgesetz  miteinadner im  Einklang  stehen. Die Gesetze des Marktmechanismus sind eine von Gott geschaffene Einrichtung; was also der Markt kraft der ihm eigenen Wirkungsweise zustande bringen muß, ist zugleich das, was nach Gottes Willen geschehen soll.

Diese  harmonische Einheit  bildet den Ausgangspunkt unserer Geschichte der Gesetzesproblematik in der Nationalökonomie. Er ist gewissermaßen der paradiesische Urzustand, in dem die Nationalökonomen der glücklichen Auffassung waren, daß alles, was geschehen muß, auch gut ist und deshalb geschehen soll und daß alles, was, weil es gut ist, geschehen soll, auch geschehen muß.


3. Die weitere Entwicklung
des ökonomischen Liberalismus

Aber diese harmonistische Welt- und Wirtschaftsbetrachtung wurde schon von der nächsten Generation der klassischen Nationalökonomie durch eine - wie man allgemein sagt -  pessimistische  Beurteilung der Ergebnisse des Marktmechanismus abgelöst. Das ist vor allem auf zwei Tatsachen zurückzuführen: einmal verblaßte die deistische Weltauffassung, welche eine wesentliche Stütze des Harmonismus gewesen war, andererseits zeigten sich bereits die Anfänge des Arbeiterelends, wie es für das 19. Jahrhundert charakteristisch gewesen ist. Wohl wurde die Lehre vom Marktmechanismus weiter entwickelt, wohl wurde versucht, mit Hilfe des BENTHAMschen Utilitarismus die Übereinstimmung von Einzel- und Privatinteresse abzuleiten, aber an die Stelle des von Gott geschaffenen wohltätigen Mechanismus trat nun die Vorstellung einer Wirksamkeit blinder Naturgesetze. RICARDO stand auf dem Standpunkt, daß sich der Lohn auf die Dauer nicht über das Existenzminimum erheben könne, da jede zeitweilige Erhöhung eine lohndrückende Bevölkerungsvermehrung zur Folge hätte. Der deutsche Sozialist LASSALLE, der sich diese Erkenntnis zu eigen machte, charakterisierte sie treffend als "ehernes Lohngesetz". Sodann glaubte RICARDO aus den Gesetzen der Einkommensverteilung ablesen zu können, daß jede weitere Vermehrung der Bevölkerung die Einkünfte der Kapitalistenklasse schmälern muß. Und schließlich sah MALTHUS, da die Nahrungsmittelvermehrung bestenfalls dem Gesetz der arithmetischen, die Bevölkerungsvermehr jedoch dem der geometrischen Progression gehorcht, die Welt von einer permanenten Überbevölkerung mit allen ihren schrecklichen Folgen bedroht.

Diese düsteren Ergebnisse, zu denen die Wirksamkeit der als Naturgesetze betrachteten wirtschaftlichen und sozialen Gesetze führte, brachten die Nationalökonomen in einen  tragischen Zwiespalt.  Auf der einen Seite sahen sie ihre Aufgabe darin, für das Wohl der Menschheit und besonders der ärmsten Schichten besorgt zu sein, auf der anderen Seite waren sie davon überzeugt, daß gerade die von ihnen entdeckten Gesetze besagten, daß der Arbeiterschaft jede Aufstiegsmöglichkeit genommen sei. Und sie glaubten nun so sehr an die Wirksamkeit der Naturgesetze, daß sie dem Liberalismus treu blieben, ja eine ihrer Hauptaufgaben darin sahen, vor jeglicher Armenfürsorge und anderen sozialpolitischen Maßnahmen dringend abzuraten, da diese Interventionen, indem sie die Armen davon abhalten, ihre Vermehrung einzuschränken, das Übel nur verschlimmern, indem sie noch mehr Menschen in Not stürzen. Einzig MALTHUS wußte einen positiven Ausweg, indem er die Bevölkerungsvermehrung durch späte Heirat und sittliche Enthaltsamkeit zu bremsen empfahl.

Nun zeigte aber nicht nur die Bevölkerungsvermehrung und die mit ihr parallel gehende Wohlstandserhöhung auch der untersten Schichten, daß die Wirklichkeit offenbar anderen Gesetzen gehorcht als den von RICARDO und MALTHUS entdeckten. Dies zeigte auch die neue Begründung der Lehre vom Marktmechanismus, wie sie von der  Grenznutzenschule die sich in Österreich, Lausanne und England gleichzeitig und in unabhängiger Weise entwickelte, gegeben wurde. Diese lehrte, daß die unbehinderte und reine Auswirkung der Marktgesetze einen Zustand des Gleichgewichts, der optimalen Bedürfnisbefriedigung, der Vollbeschäftigung und der Entlohnung der Produktionsfaktoren - auch der Arbeit - gemäß ihrer Produktivität gewährleiste. Damit gelangt die Nationalökonomie neuerdings in die Nähe jener harmonischen Weltbetrachtung, für welche Sittengesetz und Wirtschaftsgesetz im Einklang standen: die Ergebnisse des Marktmechanismus waren gerade jene, welche vom sozialethischen Standpunkt aus als wünschbar betrachtet werden konnten. Gestützt auf diese neue Beurteilung der Wirtschaftsgesetze wurden dann alle Übelstände, welche in der Wirklichkeit vorhanden waren, wie ungenügende Entlohnung, monopolistische Marktausbeutung, Entwicklung zum Riesen- und Mammutbetrieb, Zusammenballung der Menschen in Industrierevieren, ja selbst die konjunkturellen Schwankungen auf die interventionistische Praxis des Staates zurückgeführt.

Gegenüber den  konjunkturellen Schwankungen  erschien nun allerdings diese Deutung schon von vornherein wenig plausibel, umso mehr, als diese seit der Beendigung der napoleonischen Kriege bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges - wenigstens auf den ersten Blick - eine ganz erstaunliche Regelmäßigkeit aufweisen. Auch wenn man der Theorie nicht beipflichtete, daß diese Schwankungen auf kosmische Ursachen, wie z. B. die Sonnenfleckentätigkeit, zurückzuführen sei, so lag doch der Gedanke nahe, hier eine streng gesetzliche Bewegung anzunehmen. Dies umso mehr, als sowohl der Aufschwung als Expansionskonjunktur wie der Niedergang als Reinigunskur gerechtfertigt werden konnten. Aus dieser Auffassung, daß es sich bei den Konjunkturschwankungen um eine gesetzmäßige Bewegung handle, wurde nicht nur gefolgert, daß der Staat sie nicht ausschalten kann. Es wurde auch abgeleitet, daß ein Aufschwung erst eintreten kann, wenn sich der Niedergang vollzogen hat: wenn der Staat sich also des konjunkturellen Schicksal annehmen will, so darf er den Niedergang nicht aufzuhalten versuchen, sondern muß ihn im Gegenteil beschleuniggen, da nur so die Voraussetzung für einen baldigen Aufstieg geschaffen werden kann. Diese Doktrin, welche die Wirtschaftsgesetze neuerdings in einen Gegensatz zu wichtigen wirtschaftspolitischen Zielen brachte, hat auch zu Beginn der Weltwirtschaftsdepression noch einen beachtlichen Einfluß ausgeübt.


4. Der Marxismus

Eine besonders große Rolle spielt der Gesetzesbegriff im System von MARX. Seine Position unterscheidet sich von denjenigen der bisher behandelten Autoren schon darin, daß er verschiedene Gesetzesvorstellungen zu vereinigen sucht.

Die größte Bedeutung haben in seinem System die  Marktgesetze,  die eine Weiterentwicklung der Lehre RICARDOs darstellen. Mit Hilfe des Kunstgriffes, die Arbeit als Ware zu betrachten, gelingt es ihm, diese seinem Wertgesetz, demzufolge sich die Güter nach der in ihnen steckenden gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit tauschen, zu unterstellen. Daraus folgert er, daß der Arbeiter einen Mehrwert erzeugt, den sich der Kapitalist aneignen kann. Und nun wird aus dem Bestreben des Kapitalisten, diesen Mehrwert zu vergrößern, die weitere Entwicklung des Kapitalismus abgeleitet. Diese zeichnet sich aus durch eine Konzentration der Betriebe, durch Akkumulation und Zentralisation des Kapitals, durch einen Fall der Profitrate, durch Verendelung der Arbeiter und eine Verschärfung der Krisen, bis schließlich ein unhaltbarer Zustand eintritt, die letzten Expropriateure expropriiert werden und die Gesellschaft selbst die Produktion in die Hand nimmt. MARX glaubt nun, daß sich dieser Prozeß streng gesetzmäßig abspiele. Er spricht ausdrücklich von einem  naturgesetzlichen  Ablauf und betont, daß es unmöglich sei, Entwicklungsphasen zu überspringen oder wegzudekretieren. Die einzige Einwirkungsmöglichkeit bestehe darin, Geburtswehen abzkürzen; doch setze dies voraus, daß man dem Naturgesetz der kapitalistischen Entwicklung auf die Spur gekommen sei.

Diese markttheoretische Entwicklungstheorie, die ansich geschlossen ist und keiner weiteren Ergänzung bedürfte, wird nun mit zwei weiteren Entwicklungslehren kombiniert. Einmal mit der  materialistischen Geschichtsauffassung,  die man allerdings besser die "technisch-ökonomische" Geschichtsauffassung nennen würde. Das für den Geschichtsablauf Bestimmende sind nach MARX und ENGELS die "Produktionskräfte", worunter das technische Wissen und Können des Menschen, wie es z. B. in einer Maschine zum Ausdruck kommt, verstanden wird. Die Produktionskräfte sind nun maßgebend für die "Produktionsverhältnisse", also die inner- und zwischenbetriebliche Organisation der Produktion und diese wiederum für den "politischen und juristischen Überbau". Wir haben somit auch hier ein Verhältnis gesetzlicher Bestimmtheit. Indem MARX und ENGELS annehmen, daß der technische Fortschritt anhält, folgern sie, daß die Produktionskräfte die ganze bürgerliche Gesellschaft "wie mit Naturnotwendigkeit" dem Untergang zutreiben.

Aber noch eine weitere Gesetzmäßigkeit wird von MARX zu Hilfe genommen, um das sichere Ende des Kapitalismus zu prophezeien: es ist die  dialektische Gesetzmäßigkeit,  die er von HEGEL übernimmt. Obwohl er die HEGELsche Philosophie umstülpt, indem er nicht den Geist, sondern die Materie als die für den Geschichtsprozeß bestimmende Kraft ansieht, so läßt er diesen trotzdem gemäß dem Prinzip des Widerspruchs - These, Antithese, Synthes - sich vollziehen. MARX und ENGELS haben als These bald das urwüchsige Gemeineigentum, bald das Privateigentum eingesetzt. Die endgültige Überwindung des Widerspruchs, die bleibende Synthese, ist aber jedesmal der sozialistische Endzustand.

Nun ist es ein weiteres besonderes Merkmal der MARXschen Lehre, daß die angeführten Gesetzmäßigkeiten nur für die  präsozialistische  Geschichtsperiode gelten. Nach deren Ablauf treten die Naturgesetze, wie es SOMBART einmal treffend ausgedrückt hat, in den Ruhestand! Denn nach den Worten von ENGELS bedeutet der Übergang zur sozialistischen Gesellschaft den "Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit". Dieses Wort ist mehr als eine Phrase oder eine bloße Konsequenz eines dialektischen Gedankenschritts. Es liegt ihm der Gedanke zugrunde, daß die Beseitigung der Klassengegensätze aufgrund einer vollen Entwicklung der Produktivkräfte und einer Abschaffung der Arbeitsteilung den Menschen von seiner ökonomischen Situation unabhängig mache und ihm damit gewissermaßen den  freien Willen zurückgebe. 

MARXens Lehre, die hier von unserem Problem aus mit wenigen Worten skizziert wurde, bietet natürlich Anlaß zu den verschiedensten Bemerkungen. Wir wollen aber hier nur zwei Dinge festhalten. Einmal folgt aus der MARXschen Lehre für die präsozialistische Zeit eine  liberale  Einstellung. Das Naturgesetz der kapitalistischen Entwicklung treibt diese ganz automatisch dem sozialistischen Endzustand entgegen; bevor die Gesellschaft sozialisierungsreif ist, kann an dieser Entwicklung gar nichts geändert werden. Der Versuch, die Lage der Arbeiterschaft durch sozialpolitische Maßnahmen zu verbessern, hätte, falls er überhaupt gelänge, die Wirkung, daß die Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft gemildert werden, während effektiv ihre Verschärfung den Übergang zum Sozialismus notwendig machen soll. - In Bezug auf das Verhältnis zwischen dem ethischen Gesetz und den Wirtschaftsgesetzen verkörpert MARXens Lehre eine Kombination des Harmonismus der frühen Klassik mit dem Pessimismus der späteren: Für MARX besteht ein  schroffer Widerspruch  zwischen seinen uneingestandenen ethischen Anforderungen an die Wirtschaft und den Auswirkungen der kapitalistischen Wirtschaft. Je mehr sich diese entwickelt, desto mehr entfernen sich die Verhältnisse von dem Zustand, wie er sich gemäß seinem Ethos ergeben müßte. Aber schließlich führt der weitere gesetzmäßige Ablauf zu einer völligen Umgestaltung, welche dann auch die Wirtschaft restlos in Einklang mit seinen Forderungen bringt. Man geht wohl nicht fehl, wenn man in dieser Lehre eine Säkularisierung des altjüdischen und christlichen Chiliasmus [Hoffnung auf das Reich Gottes auf Erden - wp] erblickt.


*

Damit haben wir an einigen wichtigen Beispielen gezeigt, zu welchen Schlußfolgerungen die Auffassung, daß der Ablauf des Wirtschaftsprozesses durch Gesetze bestimmt sei, führen kann. Wir erkennen nun, wie wichtig die Frage ist, ob eine solche gesetzmäßige Bestimmtheit bestehe oder nicht. Von ihrer Beantwortung hängt unser Urteil über die staatliche Wirtschaftspolitik in weitgehendem Maße ab. Daß gegenüber der Auffassung einer gesetzmäßigen Bestimmtheit des Wirtschaftslebens große Bedenken angebracht sind, zeigt ein Jahrhundert interventionistischer Politik, der auch der Liberale nicht jeden Erfolg absprechen kann. Wir wollen uns nun im folgenden fragen, in welcher Weise man diesen und ähnlichen Bedenken Rechnung zu tragen versuchte.


II. Die Bestrebungen zu einer
Relativierung des Gesetzesbegriffs

Die Auffassung, daß der Ablauf des Wirtschaftslebens gesetzmäßig sei, mußte starken Widerständen begegnen und auf gewichtige Einwendungen stoßen. Um diesen Rechnung zu tragen, wurde immer mehr versucht, den Inhalt und die Anwendbarkeit des Gesetzesbegriffs in der verschiedensten Weise einzuschränken, so daß wir in gewissem Sinne die Geschichte der Nationalökonomie im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts als eine fortgesetzte Relativierung des Gesetzesbegriffs auffassen könnten.


1. Widerstände und Einwände

Die Auffassung, daß man den Ablauf des Geschehens nicht ändern könne, auch wenn er die Menschheit in Not bringt oder in der Not erhält, widerspricht dem menschlichen  Temperament  zutiefst. So entstand das dringende Bedürfnis nach einer anderen Wirtschaftsbetrachtung, welche von dieser Konsequenz, den "Passivismus" und dem "Unbedingtheitsaberglauben", wie es ALEXANDER RÜSTOW nennt, frei ist. Auch in der marxistischen Bewegung zeigte sich das Bedürfnis, handelnd in den Gang der Entwicklung einzugreifen. Die opportunistische Richtung wollte schon vor der Erreichung des sozialistischen Endzustandes zur Verbesserung des Loses der Arbeiterklasse in das wirtschaftliche Geschehen eingreifen. Die revolutionäre Richtung wollte mit der Auslösung des Umsturzes nicht zuwarten, bis der Kapitalismus dafür reif war.

Die Auffassung vom gesetzmäßigen Ablauf der Wirtschaft widersprach aber auch dem  Menschenbild,  dem sich die meisten - bewußt oder unbewußt - verpflichtet fühlten. In der Lehre von den Gesetzen des Konkurrenzmechanismus wird der menschliche Egoismus als die treibende Kraft des Wirtschaftsprozesses eingesetzt. Das schien aber nicht nur der Wirklichkeit zu widersprechen, eine solche Sanktionierung des Egoismus mußte auch den Protest von seiten des Christentums und anderer sittlicher Lehren hervorrufen. Sodann mußte die Lehre von den Gesetzen des Wirtschaftsablaufes auch insofern befremden, als sie in ihrem Kern eine deterministische Gesellschaftsauffassung birgt, die mit dem Postulat und dem Erlebnis der Willensfreiheit in klarem Widerspruch steht. Aber auch in anderer Hinsicht schien die Lehre von den Gesetzen des Marktmechanismus der Wirklickeit nicht angemessen zu sein; sie isoliert gewisse Tatbestände, deduziert davon die Ergebnisse, die Autoren wie SCHMOLLER als "abstrakte Nebelbilder, denen jede Realität mangelt", erschienen. Und schließlich macht es auch den Nationalökonomen Eindruck, daß in der modernen Naturwissenschaft - unter dem Einfluß der Entdeckungen von PLANCK und HEISENBERG - die Vorstellung einer strengen Determiniertheit des Geschehens preisgegeben und durch die einer bloß statistischen Gesetzmäßigkeit ersetzt wurde.

Auch der von SOMBART und anderen unternommene Versuch, die Nationalökonomie als eine  Geisteswissenschaft  neu aufzubauen, führte nicht nur wegen der Frontstellung gegenüber der naturwissenschaftlichen Methode, sondern auch wegen der Vernachlässigung der wirtschaftspolitischen Problemstellung zu einer ausgesprochenen Distanzierung gegenüber der Lehre von den Wirtschaftsgesetzen, die allerdings nicht bis zu einer eigentlichen Ablehnung dieser Gesetze ging.


2. Einschränkung des Geltungsbereichs

Um den vorhin genannten Einwänden gerecht zu werden, wurde der Geltungsbereicht der Wirtschaftsgesetze eingeschränkt. Für ADAM SMITH wie auch - wenigsten was die Periode der kapitalistischen Entwicklung anbetrifft - für MARX sind die Wirtschaftsgesetze im Großen und Ganzen nicht nur unabänderlich, sondern die Menschen können ihnen auch nicht zuwiderhandeln.

Eine erste Auflockerung dieses Gesetzesbegriffs räumt dem Menschen die Möglichkeit ein,  gesetzeswidrig zu handeln;  doch muß er dann eine Verschlechterung des Gesamtergebnisses in Kauf nehmen. Diese erste Auflockerung, die wir schon bei RICARDO angetroffen haben und die seither kaum mehr rückgängig gemacht wurde, ist auch insofern bedeutsam, als mit ihr der strikte Determinismus preisgegeben und die menschliche Gestaltungsfreiheit auch im sozialen Bereich anerkannt wird.

Eine zweite Auflockerung geschah in der Weise, daß das  Anwendungsgebiet  der Gesetze  begrenzt  wurde. So versuchte man unter dem Einfluß des Historismus die Marktgesetze ihrer unbedingten Gültigkeit zu entkleiden und sie nur als Gesetze eines bestimmten Wirtschaftssystems, nämlich des kapitalistischen, aufzufassen. Wir sahen schon früher, daß der historische Materialismus von MARX und ENGELS ebenfalls auf diesem Standpunkt steht. Oder man nahm an, daß die Gesetze den Verlauf der Wirklichkeit nur in großen Zügen und auf lange Sicht zu erfassen vermögen, hingegen die Details in Zeit und Raum - z. B. die Friktionen [Transaktionshemmnisse - wp] und Leiden, die eine bestimmte Anpassungsbewegung im Gefolge hat - nicht zu erklären vermögen. Eine interessante Begrenzung des Geltungsbereiches der Gesetze führte JOHN STUART MILL durch: Die Gesetze, welche die Produktion von Gütern bestimmen, haben den Charakter von Naturgesetzen und können von den Menschen nicht abgeändert werden. Anders dagegen die Gesetze, welche die Verteilung der erzeugten Güter regeln; diese kann die Menschheit nach ihren Ansichten, nach ihrem Belieben gestalten.

Eine weitere entscheidende Einschränkung hat ebenfalls als erster JOHN STUART MILL vorgenommen, indem er erkannte, daß die Wirtschaftsgesetze nur  hypothetische Geltung  besitzen. Wohl kommt den von ihnen ausgedrückten Beziehungen Notwendigkeit zu, weil sie von gewissen angenommenen Sätzen mit den Mitteln der Logik abgeleitet wurden; aber sie gelten nicht für die Wirklichkeit, sondern nur für den Bereich dieser Voraussetzungen, sie gelten also nur hypothetisch. Man hat mit den verschiedensten begrifflichen und terminologischen Hilfsmitteln diesen Sachverhalt zu erfassen oder zu veranschaulichen versucht. Man faßte bestimmte Gesetze als Idealtypen auf oder bezeichnet sie als Fiktionen oder als rationale Schemata oder charakterisierte sie als Ableitung in einem theoretischen Modell. Dabei gingen gewisse Autoren so weit, daß sie diesen hypothetischen Gesetzen jede Beziehung zur Wirklichkeit absprachen, sie als reine Produkte des spielerischen Verstandes auffaßten, die zwar theoretisch unanfechtbar, jedoch in praktischer Hinsicht völlig unverbindlich sind.


3. Einschränkung des
Aussagewertes und Aussageinhaltes

Man versuchte aber nicht nur, die Geltung der Gesetze einzuschränken, sondern ihnen auch in anderer Weise ihre Bedeutung zu nehmen.

So bezeichnete man die mit den Mitteln der Logik gewonnenen Gesetze als bloße  Tautologien:  sie sagen uns nichts, was wir nicht schon vorher wußten, ja was wir nicht selbst in den Ansatz, aus dem das Gesetz gewonnen wird, hineingesteckt haben. Ein häufiges Angriffsziel einer solchen entwertenden Beurteilung ist die Formel der Quantitätstheorie: Geldmenge mal Umlaufgeschwindigkeit gleich Handelsvolumen mal Preisniveau.

Eine zweite Einschränkung des Aussagewertes ging dahin, daß man in den Gesetzen nicht mehr den Ausdruck von Kausalbeziehungen, sondern nur noch von  Funktionalbeziehungen  erblicken wollte. Damit erlitten sie aber eine wesentliche Einbuße sowohl an Erklärungskraft wie auch an wirtschaftspolitischer Bedeutung.

Eine wichtige Einschränkung des Inhalts des Gesetzesbegriffs brachte der Verzicht auf die Notwendigkeit der Beziehung und seine Ersetzung durch die  Wahrscheinlichkeit.  Diese Konsequenz ist unvermeidlich, sobald man die Gesetze ausschließlich mit den Mitteln der Induktion [vom Besonderen zum Allgemeinen - wp] gewinnt, denn aus Erfahrung folgt, wie schon KANT klar erkannte, nie Notwendigkeit. Ein besonders leistungsfähiges Mittel der Induktion ist die Statistik. Die mit ihrer Hilfe ermittelten Regelmäßigkeiten werden nun als statistische Gesetze bezeichnet. Ein englischer Methodologe unseres Fachs, T. W. HUTCHINSON möchte sogar den terminus "Gesetz" ausdrücklich nur für diese empirisch gewonnenen Verallgemeinerungen reservieren.

Andere Autoren, wie vor allem der Begründer der sozialrechtlichen Richtung, KARL DIEHL, wollen dagegn überhaupt nicht von Wirtschaftsgesetzen sprechen; sehe man ab von den natürlichen Bedingtheiten, deren Erklärung - z. B. mit Hilfe des Gesetzes vom abnehmenden Bodenertrag - Sache der Naturwissenschaften sei, so gebe es für die Nationalökonomie immer nur "gewisse  Regelmäßigkeiten  und  Entwicklungstendenzen",  aber auch diese nur "innerhalb einzelner Gesellschaftsformen".


4. Ausschaltung des ethischen Gesetzes

In der harmonistischen Phase des frühen Liberalismus glaubte man, daß das Wirtschaftsleben zugleich den wirtschaftlichen Naturgesetzen wie dem ethischen Gesetz entspreche. Wir haben sodann festgestellt, wie die beiden Gesetzlichkeiten in der späteren Entwicklung der Nationalökonomie in Konflikt gerieten. Dieser wurde nun zum Teil dadurch gemildert, daß der Gesetzesbegriff in starkem Maße relativiert wurde. Aber ein noch radikaleres Mittel war die Ausschaltung des ethischen Gesetzes aus dem Bereich der Wissenschaft selbst. So wollen MAX WEBER und SOMBART die Werturteile, deren Bedeutung sie in keiner Weise verkannten, aus der Wissenschaft eliminieren, weil diese die  Werturteile weder zu beweisen, noch abzuleiten vermag.  Ein großer Teil der Nationalökonomen schloß sich dieser Auffassung an. Andere versuchten, wenigstens noch das Ziel der Vergrößerung des Wohlstandes als apriori der Volkswirtschafts- oder Volkswohlstandslehre beizubehalten, sahen aber als Nationalökonomen von allen übrigen Zielen, wie etwa Gerechtigkeit, Freiheit, Schutz der Landwirtschaft, ab.

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Dieser zweite geschichtliche Rückblick hat nun die Szenerie völlig verändert. Während sich in der ersten Darstellung das Bild, das sich der Nationalökonom von der Wirklichkeit machte, als ein starrer, aber mit den Mitteln der Wissenschaft klar erkennbarer und bewertbarer Mechanismus erweist, so beginnt nun alles zu wanken. Wir wissen nicht mehr, was die Gesetze zu bedeuten haben, ob sie auch für die Wirklichkeit gelten, ob wir mit ihnen etwas erklären können; auch das ethische Gebot, das uns allein ermöglicht, die Ergebnisse der Wirtschaft zu beurteilen, wurde aus dem Gebiet der Wissenschaft verbannt.

In dieser Lage hilft uns nur eine genaue Prüfung der wichtigsten Gesetzmäßigkeiten der Wirtschaft weiter.
LITERATUR Walter Adolf Jöhr - Gesetz und Wirklichkeit in Wirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik in Simon Moser (Hg), Gesetz und Wirklichkeit, Internationale Hochschulwochen Alpbach-Tirol vom 21. August bis 9. September 1948, Innsbruch-Wien 1949