p-4cr-4Geschichte und NaturwissenschaftKategorie: Empfindung    
 
ALDOUS HUXLEY
(1894 - 1963)
Rose und Nachtigall

Der literarische Künstler geht an Erlebnisse ganz anders heran. Wiederholbare Versuche und die Abstraktion gebrauchsfähiger Verallgemeinerungen aus der Erfahrung sind nicht seine Sache.

Alle unsere Erlebnisse sind streng privat; aber einige Erlebnisse sind weniger privat, als andere. Sie sind weniger privat in dem Sinn, daß unter gleichen Bedingungen die meisten normalen Menschen ähnliche Erlebnisse haben und daher die mündlichen oder schriftlichen Berichte über solche Erlebnisse gewiß auf so ziemlich dieselbe Weise auslegen werden.

Von den mehr privaten unserer Erlebnisse kann das nicht behauptet werden. Zum Beispiel werden die visuellen, akustischen und olfaktorischen (1) Erlebnisse einer Gruppe von Leuten, welche dem Brand eines Hauses zusehen, wahrscheinlich einander ähnlich sein. Einander ähnlich werden auch die intellektuellen Erlebnisse derjenigen Angehörigen der Gruppe sein, die sich die Mühe nehmen, logisch über die Ursachen gerade dieses Brandes nachzudenken, und zwar im Licht landläufigen Wissens über Verbrennung im allgemeinen. Mit anderen Worten, Sinneseindrücke und die Vorgänge rationalen Denkens sind Erlebnisse, welche nicht allzu privat sind, um ein gemeinsames Anteilhaben an ihnen auszuschließen. Betrachten wir nun aber die emotionalen Erlebnisse unserer Brandbeobachter. Der eine wird vielleicht sexuelle Erregung fühlen, ein anderer ästhetisches Wohlgefallen, ein dritter Entsetzen und noch ein anderer etwa menschliches Mitgefühl oder unmenschliche und boshafte Schadenfreude. Solche Erlebnisse sind, das ist klar, grundverschieden voneinander. In dieser Hinsicht sind sie privater als Sinneserfahrungen und die intellektuellen Erlebnisse logischen Denkens.

In dem vorliegenden Zusammenhang läßt sich Naturwissenschaft definieren als ein Verfahren zur Untersuchung, Ordnung und Mitteilung der mehr öffentlichen menschlichen Erlebnisse. Auch die Literatur behandelt, allerdings weniger systematisch, solche öffentlichen Erlebnisse. Ihre Hauptbeschäftigung betrifft jedoch mehr die rein privaten Erlebnisse des Menschen und die Wechselwirkung zwischen den privaten Welten empfindender, ihrer selbst bewußter Individuen und dem öffentlichen Universum der "objektiven Realität", der Logik, der sozialen Konventionen und der jeweils verfügbaren angesammelten Kenntnisse. Der Naturwissenschaftler betrachtet seine eigenen mehr öffentlichen Erlebnisse und die berichteten Erlebnisse anderer Personen; er formuliert sie in Begriffen irgendeiner Sprache, einer aus Wörtern bestehenden oder einer mathematischen, welche den Angehörigen seiner Kulturgruppe gemein ist; setzt diese Begriffe in einem logisch zusammenhängenden System miteinander in Beziehung; sieht sich dann in der Welt der Natur nach operationalen"(2) Definitionen" um und versucht, durch Beobachtung und Experiment zu beweisen, daß seine Schlußfolgerungen gewissen Aspekten von Ereignissen entsprechen, welche sich "dort draussen" vollziehen.

Auf seine Weise ist auch der literarische Künstler ein Beobachter, Ordner, Mitteiler seiner eigenen und anderer Menschen mehr öffentlichen Erlebnisse von Ereignissen, welche sich in den Welten der Natur, der Kultur und der Sprache vollziehen. In gewisser Hinsicht bilden solche Erlebnisse das Rohmaterial vieler Zweige der Naturwissenschaften. Sie sind auch das Rohmaterial vieler Gedichte, vieler Dramen, Romane und Essays. Während aber der Wissenschaftler die von seinen eigenen und anderer Menschen mehr privaten Erlebnisse enthüllten Welten möglichst unbeachtet läßt, beschränkt sich der literarische Künstler nie für lange auf das, was bloß öffentlich ist. Für ihn ist die äußere Wirklichkeit beständig auf die innere Welt privaten Erlebens bezogen; mit anderen teilbare Logik geht in mit niemand teilbares Fühlen über, unbezähmbare Individualität durchbricht immerzu die Kruste kultureller Gewohnheit. Überdies ist die Art und Weise, wie der literarische Künstler seinen Gegenstand behandelt, sehr verschieden davon, wie derselbe Gegenstand vom Naturwissenschaftler behandelt wird. Dieser untersucht eine Anzahl besonderer Fälle, vermerkt alle Ähnlichkeiten und Gleichartigkeiten und abstrahiert aus diesen eine Verallgemeinerung, in deren Licht (nachdem sie an den beobachteten Tatsachen geprüft worden ist) alle anderen analogen Fälle verstanden und behandelt werden können. Seine oberste Sorge gilt nicht der Konkretheit irgendeines einzigartigen Ereignisses, sondern den abstrahierten Verallgemeinerungen, in deren Begriffen alle Ereignisse einer bestimmten Kategorie "einen Sinn ergeben".

Der literarische Künstler geht an Erlebnisse - sogar an Erlebnisse der mehr öffentlichen Art - ganz anders heran. Wiederholbare Versuche und die Abstraktion gebrauchsfähiger Verallgemeinerungen aus der Erfahrung sind nicht seine Sache. Seine Methode besteht darin, sich auf einen Individualfall zu konzentrieren, so angespannt in ihn hineinzusehen, daß er endlich fähig ist, ihn glatt zu durchschauen. Jede konkrete Besonderheit, ob öffentlich oder privat, ist für ihn ein Fenster, das sich aufs Allgemeine öffnet. "König Lear", "Hamlet", "Macbeth" - drei grausige Anekdoten über höchst individualisierte Menschen in außergewöhnlichen Lebenslagen. Aber durch diese Berichte über einzigartige und äußerst unwahrscheinliche Ereignisse, welche sich gleichzeitig in den Welten privaten und öffentlichen Erlebens abspielten, sah Shakespeare hindurch - und machte es auf wunderbare Weise uns möglich hindurchzusehen - auf erleuchtende Wahrheit auf jeder Ebene, von der theatralischen bis zur komischen, von der politischen bis zur sentimentalen und physiologischen, von der allzu wohlbekannt menschlichen bis zur unerkennbar göttlichen.

Die Naturwissenschaften begannen Fortschritte zu machen, als die Forscher ihre Aufmerksamkeiten von Qualitäten auf Quantitäten verlegten, von der äußeren Erscheinung der als Ganzheiten wahrgenommenen Dinge auf ihre feinen Strukturen; von den dem Bewußtsein durch die Sinne dargebotenen Phänomenen auf ihre unsichtbaren und ungreifbaren Bestandteile, deren Vorhandensein eben nur durch einen analytischen Verstand erschlossen werden konnte. Die Naturwissenschaften sind "nomothetisch"(3); sie suchen erklärende Gesetze aufzustellen, und diese Gesetze sind höchst nützlich und erhellend, wenn sie Beziehungen zwischen dem Unsichtbaren und Ungreifbaren, welches den Erscheinungen zugrunde liegt, betreffen. All dieses Unsichtbare läßt sich nicht beschreiben, denn es ist nicht Gegenstand unmittelbarer Erfahrung; es ist nur bekannt durch Schlüsse aus unmittelbaren Erfahrungen auf der Ebene gewöhnlicher Erscheinung. Die Literatur ist nicht "nomothetisch", sondern "ideographisch"(4); sie befaßt sich nicht mit Regelmäßigkeiten und erklärenden Gesetzen, sondern mit Beschreibungen von Erscheinungen und von den erkennbaren Eigenschaften als Ganzheiten wahrgenommener Objekte, mit Urteilen, Vergleichen und Unterscheidungen, mit "Innenlandschaften" (inscapes) und Wesenheiten und schließlich mit der "Istigkeit" der Dinge, dem beim Denken Nichtgedachten, dem zeitlosen Sosein in einer Unendlichkeit unaufhörlichen Vergehens und unaufhörlicher Erneuerung.

Es gibt in jeder Sprache einen schlecht und recht brauchbaren Wortschatz für das Ausdrücken und Mitteilen der privaten Erlebnisse des Einzelmenschen. Jeder der Sprache Mächtige kann sagen: "Ich fürchte mich" oder "Wie schön!" Und wer die Worte hört, wird eine rohe, aber für die meisten praktischen Zwecke genügend lebhafte Vorstellung davon haben, wovon die Rede ist. Schlechte Literatur geht kaum über das "Wie schön!" und "Ich fürchte mich" der durchschnittlichen Alltagsrede hinaus. In guter Literatur weichen die stumpfen Ungenauigkeiten konventioneller Sprache den subtileren und eindringlicheren Ausdrucksformen. Der Ehrgeiz des literarischen Künstlers ist es, vom Unaussprechlichen zu sprechen, in Wörtern das mitzuteilen, zu dessen Übermittlung Wörter nie bestimmt waren. Denn alle Wörter sind Abstraktionen und stehen für solche Aspekte einer gegebenen Klasse von Erlebnissen, die erkennbar einander gleich sind. Diejenigen Elemente der Erfahrung, die einzigartig abweichend, anders als durchschnittlich sind, bleiben außerhalb des Pferchs gemeinsamer Sprache. Aber es sind gerade diese Elemente mehr privater Erlebnisse des Menschen, die der literarische Künstler mitzuteilen trachtet. Für diesen Zweck ist die gewöhnliche Sprache unzulänglich. Jeder literarische Künstler muß darum irgendeine Art ungewöhnlicher Sprache erfinden oder erborgen, welche fähig ist, zumindest teilweise diejenigen Erlebnisse auszudrücken, die zu vermitteln dem Wortschatz und der Grammatik gewöhnlicher Sprache so offenkundig nicht gelingt.

Als ein Medium literarischer Aussage ist die gewöhnliche Sprache unzulänglich. Sie ist nicht weniger unzulänglich als ein Medium wissenschaftlicher Aussage. Wie der Literat findet auch der Wissenschaftler es notwendig, "den Wörtern seines Faches einen reineren Sinn zu geben". Aber die Reinheit wissenschaftlicher Sprache ist nicht dieselbe wie die der literarischen Sprache. Der Wissenschaftler ist bestrebt, jeweils nur eins zu sagen und es unzweideutig und mit der größtmöglichen Klarheit zu sagen. Um das zu erreichen, vereinfacht und jargonisiert er. Mit anderen Worten, er gebraucht den Wortschatz und die Grammatik gemeinsamer Sprache auf eine solche Weise, daß jeder Ausdruck und jeder Satz nur auf eine einzige Weise auslegbar ist und wenn der Wortschatz und die Grammatik gemeinsamer Sprache zu ungenau für seine Zwecke sind, erfindet er eine neue, eine Fachsprache oder einen solchen Jargon eigens dazu, um die eingeschränkten Bedeutungen auszudrücken, mit welchen er berufsmäßig befaßt ist. In vollkommener Reinheit hört die wissenschaftliche Sprache auf, eine Sache der Wörter zu sein, und verwandelt sich in Mathematik.

Der literarische Künstler reinigt die Sprache seines Fachs auf eine grundverschiedene Weise. Das Bestreben des Wissenschaftlers ist, wie wir gesehen haben, jeweils nur eins und nur dieses eine zu sagen. Das ist entschieden nicht das Bestreben des literarischen Künstlers. Das menschliche Leben wird gleichzeitig auf vielen Ebenen gelebt und hat viele Bedeutungen. Die Literatur ist ein Mittel, um die mannigfaltigen Tatsachen zu berichten und ihre verschiedenen Bedeutungen auszudrücken. Wenn der literarische Künstler es unternimmt, den Wörtern seines Faches einen reineren Sinn zu geben, tut er das mit dem ausdrücklichen Zweck, eine Sprache zu schaffen, die fähig ist, nicht die einzige Bedeutung in einer bestimmten Wissenschaft zu vermitteln, sondern die vielfache Bedeutung menschlichen Erlebens auf dessen höchster privater ebenso wie auf dessen mehr öffentlicher Ebene. Er reinigt oder läutert nicht mittels Vertiefens und Erweiterns, mittels Bereicherns durch anspielende Harmonien, oder durch Obertöne der Assoziationen und Untertöne klangvoller Magie. Was ist eine Rose? Eine Narzisse? Eine Lilie? Eine Gruppe von Antworten auf diese Fragen läßt sich in den stark gereinigten Sprachen der Biochemie der Zellenlehre und der Genetik geben. "Eine besondere Ribonukleinsäure (genannt Überbringer-RNS) bringt die genetische Botschaft vom Gen, welches sich im Zellkern befindet, zu dem umgebenden Zytoplasma, wo viele der Proteine synthetisiert werden." Und so weiter in endlosen faszinierenden Einzelheiten. Eine Rose ist eine Rose, ist eine Rose, ist RNS, DNS, polypeptide Ketten von Aminosäuren...

Und hier, auf einer beträchtlich niedereren Stufe wissenschaftlicher Reinigung, die gewohnheitsmäßig botanischen Antworten auf unsere Fragen, wie ein Konversationslexikon sie unter den Stichwörtern "Rose" und "Narzisse" bietet: "Die Fruchtblätter der Rose sind in der rezeptakulären Röhre verborgen, und in der Regel ragen aus ihrem Mund nur die Narben hervor. Durch wiederholte radiale und tangentiale Verzweigung wird eine riesige Zahl von Staubgefäßen erzeugt. Unter natürlichen Verhältnissen sondern Rosenblüten keinen Honig ab; die Anziehung für Insekten wird durch Farbe und Duft reichliche Pollen als Nahrung besorgt. Hundsrosengelee wird aus den reifen Hagebutten der Rosa canina gemacht. Es wird nur bei der Erzeugung von Pillen verwendet." Was Narcissus pseudonarcissus betrifft, so "sind die Blüten groß, gelb, duftend und ein wenig hängend, mit einem in sechs Lappen gespaltenen Perianth und einem zentralen glockenförmigen an seinem Rand gekräuseltem Nektarium. Die Staubgefäße sind kürzer als der Kelch, die Staubbeutel länglich und konvergierend; der Fruchtknoten ist kugelig und hat drei Furchen. Die Zwiebeln sind groß und orbikular; ebenso wie den Blüten werden ihnen emetische Eigenschaften zugeschrieben."

Das primäre Interesse des literarischen Künstlers gilt nicht den Zellen oder Genen oder chemischen Verbindungen, nicht der Zahl von Staubgefäßen, nicht einmal der Pillenerzeugung oder dem Absud pflanzlicher Brechmittel. Er befaßt sich mit seinen eigenen und anderer Leute mehr privaten Erlebnissen in Bezug auf Blumen und mit den vielfältigen Bedeutungen, die er in ihnen findet. Er ist ein Mensch und oft niedergeschlagen von zuviel und gelangweilt von zuwenig Denken. Aber - dem Himmel sei Dank! - die Erinnerung an Narzissen wirft ihr jähes Licht auf jenes innere Auge, das die Seligkeit der Einsamkeit ist. "Wie könnt' ein Dichter denn nicht fröhlich sein" aber ach, diese wackeren Blumen, "die kommen, bevor's die Schwalbe wagt, und sich in Schönheit auf dem Märzwind wiegen" - wie schnell verblühen sie! Der Dichter weint über die entfliehende Zeit und den herannahenden Tod und den Verlust derer, die er liebt. Sehr hübsch! bemerkt dazu der Botaniker und belehrt uns unbeirrt weiter, daß "zur Gattung Helianthus ungefähr fünfzig Arten gehören, zumeist in Nordamerika einheimische, und einige in Peru und Chile gefunden werden." "In Teilen von England", fügt er hinzu, "werden Hunderte von Pflanzen ihrer Samen wegen auf Abwässerschlick gezogen..."
LITERATUR - Aldous Huxley, Rose und Nachtigall in Helmut Kreuzer(Hrsg), Die zwei Kulturen, München 1987
    Anmerkungen
    1) Olfaktorius = Riechnerv
    2) operational = wirksam
    3) nomothetisch = gesetzlich
    4) ideographisch = individuell