tb-1ra-2E. TroeltschJ. NeumannE. WachlerB. Schmeidler     
 
WILHELM WINDELBAND
Geschichte und Naturwissenschaft

"Was innerhalb sehr großer Zeiträume keine unmittelbar merkliche Veränderung erleidet und deshalb auf seine unveränderlichen Formen hin nomothetisch behandelt werden darf, kann sich darum doch vor einem weiteren Ausblick als etwas nur für einen immerhin begrenzten Zeitraum Gültiges, d. h. als etwas Einmaliges erweisen."

"Wie schlimm entwertet ist das Leben, wenn es genau so schon, wer weiß wie oft dagewesen sein und, wer weiß wie oft sich noch wiederholen soll - wie entsetzlich der Gedanke, daß ich als derselbe schon einmal dasselbe gelebt und gelitten, gestrebt und gestritten, geliebt und gehaßt, gedacht und gewollt haben soll und daß, wenn das große Weltjahr abgelaufen ist und die Zeit wiederkommt, ich dieselbe Rolle auf demselben Theater noch wieder und wieder soll abspielen müssen! Und was so vom individuellen Menschenleben gilt, das gilt erst recht von der Gesamtheit des geschichtlichen Prozesses: er hat nur Wert, wenn er einmalig ist. Dies ist das Prinzip, welches die christliche Philosophie in der Patristik siegreich gegen den Hellenismus behauptet hat."

"Die Ursache einer Explosion ist in der einen - nomothetischen - Bedeutung die Natur der explosiblen Stoffe, die wir als chemisch-physikalische Gesetze aussprechen, in der anderen - idiographischen - Bedeutung eine einzelne Bewegung, ein Funke, eine Erschütterung oder Ähnliches. Erst beides zusammen verursacht und erklärt das Ereignis, aber keines von beiden ist eine Folge des anderen; ihre Verbindung ist in ihnen selbst nicht begründet. So wenig, wie der bei der syllogistischen Subsumtion angefügte Untersatz eine Folge des Obersatzes selbst ist, so wenig ist beim Geschehen die zum allgemeinen Wesen der Sache hinzutretende Bedingung aus diesem gesetzlichen Wesen selbst abzuleiten."

"Aus den allgemeinen Naturgesetzen folgt der gegenwärtige Weltzustand nur unter der Voraussetzung des unmittelbar vorhergehenden, dieser wieder aus dem früheren, und so fort; niemals aber folgt ein solcher bestimmter einzelner Lagerungszustand der Atome aus den allgemeinen Bewegungsgesetzen selbst. Aus keiner  Weltformel  kann die Besonderheit eines einzelnen Zeitpunktes unmittelbar entwickelt werden: es gehört dazu immer noch die Unterordnung des vorhergehenden Zustandes unter das Gesetz."

"Der Inhalt des Weltgeschehens ist nicht aus seiner Form zu begreifen. Hieran sind alle Versuche gescheitert, das Besondere aus dem Allgemeinen, das  Viele  aus dem  Einen,  das  Endliche  aus dem  Unendlichen,  das  Dasein  aus dem  Wesen  begrifflich abzuleiten. Dies ist ein Riss, welchen die großen Systeme der philosophischen Welterklärung nur zu verdecken, aber nicht auszufüllen vermocht haben."

Hochansehnliche Versammlung!

Es ist ein wertvolles Vorrecht des Rektors, daß er am Stifungsfeste der Universität das Ohr ihrer Gäste und ihrer Mitglieder für einen Gegenstand aus dem Umkreise der von ihm vertretenen Wissenschaft in Anspruch nehmen darf: die Pflicht aber, welche diesem Recht entspricht, verwickelt den Philosophen in ganz besondere Bedenken. Freilich ist es für ihn verhältnismäßig leicht ein Thema zu finden, das mit Sicherheit auf allgemeines Interesse rechnen kann. Aber dieser Vorteil wird bedeutend durch die Schwierigkeiten überwogen, welche die Eigenart der philosophischen Untersuchungsweise mit sich bringt. Alle wissenschaftliche Arbeit ist darauf gerichtet, ihren besonderen Gegenstand in einen weiteren Kreis zu rücken und die einzelne Frage aus allgemeineren Gesichtspunkten zu entscheiden. Soweit steht es mit der Philosophie nicht anders als mit den übrigen Wissenschaften: aber während die letzeren mit einer für die Spezialforschung genügenden Zuverlässigkeit solche Prinzipien als fest und gegeben behandeln dürfen, ist es für die Philosophie wesentlich, daß ihr eigentliches Untersuchungsobjekt eben die Prinzipien selbst sind, daß sie also ihre Entscheidungen nicht aus einem Allgemeineren ableiten kann sondern jedesmal im Allgemeinsten selber zu bestimmen hat. Für die Philosophie gibt es streng genommen überhaupt keine Spezialuntersuchung; jedes ihre Sonderprobleme dehnt seine Linien von selbst in die höchsten und letzten Fragen aus. Wer über philosophische Dinge philosophisch reden will, muß allemal den Mut haben, im ganzen Stellung zu nehmen, und er muß auch den schwerer zu bewahrenden Mut haben, seine Zuhörer auf das hohe Meer allgemeinster Überlegungen hinauszuführen, wo dem Auge wie dem Fuß das feste Land zu entschwinden droht.

Durch solche Bedenken könnte der Vertreter der Philosophie sich wohl ersucht finden, entweder nur ein historisches Bild aus seiner Wissenschaft zu zeichnen oder seine Zuflucht zu der besonderen Erfahrungswissenschaft zu nehmen, die ihm nach den noch bestehenden akademischen Einrichtungen und Gewöhnungen ebenfalls obzuliegen pflegt, - der Psychologie. Bietet doch auch sie eine Fülle von Gegenständen, die jeden angehen und deren Behandlung um so sicherer Ausbeute verspricht, je mannigfaltiger die methodischen und sachlichen Gesichtspunkte sind, welche die lebhafte Bewegung dieser Disziplin in den letzten Jahrzehnten hat zutage treten lassen. Ich verzichte auf beide Auswege: ich möchte weder der Meinung Vorschub leisten, daß es nicht mehr Philosophie, sondern nur deren Geschichte gebe, - noch der anderen, als könne die Philosophie, wie sie KANT neu begründet hat, jemals wieder in den engen Rahmen derjenigen Spezialwissenschaft zusammenschrumpfen, deren Erkenntniswert er selbst unter den theoretischen Disziplinen am geringsten veranschlagte. Vielmehr erscheint es mir bei einer Gelegenheit wie der heutigen als Pflicht, dafür Zeugnis abzulegen, daß die Philosophie auch in ihrer jetzigen Form, wo sie alle metaphysische Begehrlichkeit abgelegt hat, sich jenen großen Fragen gewachsen fühlt, denen sie, wie den bedeutsamen Inhalt ihrer Geschichte, so auch ihren Wert in der Literatur und ihrer Stellung im akademischen Unterricht verdankt. Und so reizt mich das Wagnis der Aufgabe, jene Triebkraft der philosophischen Untersuchung, wodurch jedes Sonderproblem sich in die letzten Rätsel menschlicher Welt- und Lebensansicht ausweitet, Ihnen an einem Beispiel zu veranschaulichen, und daran die Notwendigkeit aufzuzeigen, mit welcher ein jeder Versuch, das scheinbar klar und einfach Bekannte zu vollem Verständnis zu bringen und schnell und unentfliehbar an die äußersten, von dunklen Geheimnissen umlagerten Grenzen unseres Erkenntnisvermögens drängt.

Wenn ich zu diesem Zwecke ein Thema aus der Logik, insbesondere aus der Methodologie, der Theorie der Wissenschaft wähle, so geschieht es in der Meinung, daß an einem solchen in besonders deutlicher, greifbarer Weise der innige Zusammenhang hervortreten muß, in welchem die Arbeit der Philosophie mit derjenigen der übrigen Wissenschaften steht. Nicht wissensfremd in eigener erdachter Welt, sondern in reichem Wechselverkehr mit aller lebendigen Wirklichkeitserkenntnis und mit allem Wertgehalte des wirklichen Geisteslebens hat die Philosophie bestanden und besteht sie: wenn ihre Geschichte die der menschlichen Irrthümer gewesen ist, so war der Grund davon der, daß sie guten Glaubens aus den Theorien der besonderen Wissenschaften als fertig und sicher übernahm, was auch in diesen nur höchstens als werdende Wahrheit hätte gelten dürfen. Dieser Lebenszusammenhang zwischen der Philosophie und den übrigen Disziplinen zeigt sich am deutlichsten gerade in der Entwicklung der Logik, welche nie etwas anderes war als die kritische Reflexion auf die vor ihr betätigten Formen des wirklichen Erkennens. Niemals ist eine fruchtbare Methode aus abstracter Konstruktion oder rein formalen Überlegungen der Logiker erwachsen: diesen fällt nur die Aufgabe zu, das erfolgreich am einzelnen Ausgeübte auf seine allgemeine Form zu bringen und danach seine Bedeutung, seinen Erkenntniswert und die Grenzen seiner Anwendung zu bestimmen. Woher - um gleich das vornehmste Beispiel heranzuziehen - hat die moderne Logik, der griechischen Mutter gegenüber, die gereifte Vorstellung vom Wesen der Induktion? Nicht aus der programmatischen Emphase, mit der sie BACON empfohlen und scholastisch beschrieben hat, sondern aus der Reflexion auf die tatkräftige Anwendung, welche diese Denkform in der Einzelarbeit der Naturforschung, von Sonderproblem zu Sonderproblem sich verfeinernd und steigernd, seit den Tagen KEPLERs und GALILEIs bewährt hat.

Auf denselben Zusammenhängen aber beruhen selbstverständlich auch die der neueren Logik eigentümlichen Versuche, in dem zu so bunter Mannigfaltigkeit ausgewachsenen Reich des menschlichen Wissens begrifflich bestimmte Linien zur Grenzabsonderung der einzelnen Provinzen zu ziehen. Die wechselnde Vorherrschaft, welche in den wissenschaftlichen Interessen der neueren Zeit Philologie, Mathematik, Naturwissenschaft, Psychologie, Geschichte ausgeübt haben, spiegle sich in den verschiedenen Entwürfen zum "System der Wissenschaften", wie man früher sagte, zur "Klassifikation der Wissenschaften", wie es heute genannt wird. Viel wurde dabei durch die universalistische Tendenz gefehlt, welche, mit Verkennung der Autonomie der einzelnen Wissensgebiete, alle Gegenstände dem Zwange einer und derselben Methode unterwerfen wollte, sodaß für die Gliederung der Wissenschaften nur noch sachliche, das hieß metaphysische Gesichtspunkte übrig blieben. So haben nach einander die mechanistische, die geometrische, die psychologische, die dlalektische, in neuester Zeit die entwicklungsgeschichtliche Methode den Anspruch erhoben, von den engeren Feldern ihrer ursprünglichen fruchtbaren Anwendung ihre Herrschaft möglichst über den ganzen Umfang der menschlichen Erkenntnis zu erweitern. Je größer der Widerstreit dieser verschiedenen Bestrebungen erscheint, um so mehr erwächst für die Besonnenheit der logischen Theorie die weitausschauende Aufgabe, eine gerechte Abwägung jener Ansprüche und eine ausgleichende Scheidung ihrer Geltungsbereiche durch die allgemeinen Bestimmungen der Erkenntnislehre zu gewinnen. Die Aussichten dafür stehen nicht ungünstig. Durch KANT ist die methodische Auseinandersetzung der Philosophie mit der Mathematik und im Prinzip auch mit der Psychologie vollzogen worden. Seitdem hat das neunzehnte Jahrhundert bei einer gewissen Erlahmung des anfangs überreizten philosophischen Triebes eine um so buntere Mannigfaltigkeit von Bestrebungen und Bewegungen in den besonderen Wissenschaften erlebt: in der Bewältigung zahlreicher neuer und neuartiger Probleme ist der methodische Apparat nach allen Seiten hin verändert und in nie vorher dagewesenem Masse zugleich verbreitert und verfeinert worden. Dabei haben sich die verschiedenen Verfahrungsweisen vielfach ineinander verästelt, und wenn dann doch jede einzelne für sich eine herrschende Stellung in der allgemeinen Welt- und Lebensansicht unserer Tage verlangt, so erwachsen gerade daraus der theoretischen Philosophie neue Fragen: und solche sind es, für welche ich, ohne sie irgendwie erschöpfen zu wollen, Ihr Interesse in Anspruch zu nehmen wünsche.

Es bedarf kaum der Erwähnung, daß Einteilungen wie ich sie hier im Auge habe, sich nicht mit der Gliederung decken können, welche die Wissenschaften in der Abgrenzung der Fakultäten finden. Diese ist aus den praktischen Aufgaben der Universitäten und deren geschichtlicher Entwicklung hervorgegangen. Dabei hat der praktische Zweck häufig vereinigt, was in rein theoretischer Hinsicht zu trennen, und auseinandergerissen, was sonst eng zu verbinden wäre: und dasselbe Motiv hat die eigentlich szientifischen mit praktischen und technischen Disciplinen mehrfach verschmolzen. Doch meine man nicht, daß dies alles zum Schaden der wissenschaftlichen Tätigkeit gewesen wäre: vielmehr haben die praktischen Beziehungen auch hier den Erfolg gehabt, eine reichere und lebendigere Wechselwirkung, zwischen den verschiedenen Arbeitsgebieten hervorzurufen, als es vielleicht bei den abstrakteren Zusammenfassungen des Gleichartigen, wie sie in den Akademien vorliegen, der Fall gewesen wäre. Gleichwohl zeigen die Verschiebungen, welche die Fakultätsordnungen der deutschen Universitäten, insbesondere hinsichtlich der ehemaligen  facultas artium  [Artistenfakultät - wp]in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, eine gewisse Neigung den methodischen Motiven der Gliederung größere Bedeutung einzuräumen.

Geht man diesen Motiven mit nur theoretischem Interesse nach, so darf zunächst als gültig vorausgesetzt werden, daß wir die Philosophie und doch wohl noch immer auch die Mathematik den Erfahrungswissenschaften gegenüberstellen. Die beiden ersteren mögen unter dem alten Namen der "rationalen" Wissenschaften zusammengefaßt werden, wenn auch in sehr verschiedener und hier nicht näher zu erörternder Bedeutung des Wortes. Es genügt für jetzt, ihre Gemeinsamkeit in der negativen Form auszusprechen, daß sie selbst nicht unmittelbar auf die Erkenntnis von etwas in der Erfahrung Gegebenen gerichtet sind, wenn auch die von ihnen gewonnenen Einsichten in anderen Wissenschaften für diesen Zweck verwendet werden können und sollen. Diesem gegenständlichen Moment entspricht auf der formalen Seite die logische Gemeinschaft, daß beide - Philosophie wie Mathematik - ihre Behauptungen niemals auf einzelne Wahrnehmungen oder auf Massen von Wahrnehmungen stützen, so sehr auch der tatsächliche, psychogenetische Anlaß für ihre Untersuchungen und Entdeckungen in empirischen Motiven liegen mag. Unter Erfahrungswissenschaften dagegen verstehen wir diejenigen, deren Aufgabe es ist, eine irgendwie gegebene und der Wahrnehmung zugängliche Wirklichkeit zu erkennen: ihr formales Merkmal besteht somit darin, daß sie zur Begründung ihrer Resultate neben den allgemeinen axiomatischen Voraussetzungen und der für alles Erkennen gleichmäßig erforderlichen Richtigkeit des normalen Denkens durchweg einer Feststellung von Tatsachen durch Wahrnehmung bedürfen.

Für die Einteilung dieser auf die Erkenntnis des Wirklichen gerichteten Disziplinen ist gegenwärtig die Scheidung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften geläufig: ich halte sie in dieser Form nicht für glücklich. Natur und Geist - das ist ein sachlicher Gegensatz, der in den Ausgängen des antiken und den Anfängen des mittelalterlichen Denkens zu beherrschender Stellung gelangt und in der neueren Metaphysik von DESCARTES und SPINOZA bis zu SCHELLING und HEGEL mit voller Schroffheit aufrecht erhalten worden ist. Sofern ich die Stimmungen der neuesten Philosophie und die Nachwirkungen der erkenntnistheoretischen Kritik richtig beurteile, so würde diese in der allgemeinen Vorstellungs- und Ausdrucksweise haften gebliebene Scheidung jetzt nicht mehr als so sicher und selbstverständlich anerkannt werden, daß sie unbesehen zur Grundlage einer Klassifikation gemacht werden dürfte. Dazu kommt, daß dieser Gegensatz der Objekte sich nicht mit einem solchen der Erkenntnisweisen deckt. Denn, wenn LOCKE den cartesianischen Dualismus auf die subjektive Formel brachte, äußere und innere Wahrnehmung - sensation und reflection - als die beiden gesonderten Organe für die Erkenntnis einerseits der körperlichen Außenwelt, der Natur, andererseits der inneren Geisteswelt einander gegenüberzustellen, so hat wiederum die Erkenntniskritik der neuesten Zeit diese Auffassung mehr als je ins Schwanken gebracht und die Berechtigung zur Annahme einer "inneren Wahrnehmung" als besonderer Erkenntnisart wenigstens stark in Zweifel gezogen. Auch würde weiterhin keineswegs zugegeben werden, daß die Tatsachen der sogenannten Geisteswissenschaften lediglich durch innere Wahrnehmung begründet wären. Vor allem aber zeigt sich die Inkongruenz des sachlichen und des formalen Einteilungsprinzips darin, daß zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft eine empirische Disziplin von solcher Bedeutsamkeit wie die Psychologie nicht unterzubringen ist: ihrem Gegenstand nach ist sie nur als Geisteswissenschaft und in gewissem Sinne als die Grundlage aller übrigen zu charakterisiren; ihr ganzes Verfahren aber, ihr methodisches Gebahren ist vom Anfang bis zum Ende dasjenige der Naturwissenschaften. Daher hat sie es sich dann auch gefallen lassen müssen, gelegentlich als die "Naturwissenschaft des inneren Sinnes" oder gar als "geistige Naturwissenschaft" bezeichnet zu werden.

Eine Einteilung, welche solche Schwierigkeiten aufweist, hat keinen systematischen Bestand: indessen bedarf sie vielleicht, um ihn zu gewinnen, nur geringer Veränderungen der Begriffsbestimmung. Worin besteht denn die methodische Verwandtschaft der Psychologie mit den Naturwissenschaften? Offenbar darin, daß jene wie diese ihre Tatsachen feststellt, sammelt und verarbeitet nur unter dem Gesichtspunkte und zu dem Zwecke, daraus die allgemeine Gesetzmäßigkeit zu verstehen, welcher diese Tatsachen unterworfen sind. Dabei bringt es freilich die Verschiedenheit der Gegenstände mit sich, daß die besonderen Methoden zur Feststellung der Tatsachen, die Art und Weise ihrer induktiven Verwertung und die Formel, auf welche sich die gefundenen Gesetze bringen lassen, sehr verschieden sind; und doch ist in dieser Hinsicht der Abstand der Psychologie z. B. von der Chemie kaum größer, als etwa der der Mechanik von der Biologie: aber - worauf es hier ankommt - alle diese sachlichen Differenzen treten weit zurück hinter der logischen Gleichheit, welche alle diese Disziplinen hinsichtlich des formalen Charakters ihrer Erkenntnisziele besitzen: es sind immer Gesetze des Geschehens, welche sie suchen, mag dies Geschehen nun eine Bewegung von Körpern, eine Umwandlung von Stoffen, eine Entfaltung des organischen Lebens oder ein Prozeß des Vorstellens, Fühlens und Wollens sein.

Demgegenüber ist die Mehrzahl derjenigen empirischen Disziplinen, die man wohl sonst als Geisteswissenschaften bezeichnet entschieden darauf gerichtet, ein einzelnes, mehr oder minder ausgedehntes Geschehen von einmaliger, in der Zeit begrenzter Wirklichkeit zu voller und erschöpfender Darstellung zu bringen. Auch auf dieser Seite sind die Gegenstände und die besonderen Kunstgriffe, wodurch man sich ihrer Auffassung versichert, von äußerster Mannigfaltigkeit. Da handelt es sich etwa um ein einzelnes Ereignis oder um eine zusammenhangende Reihe von Taten und Geschicken, um das Wesen und Leben eines einzelnen Mannes oder eines ganzen Volkes, um die Eigenart und die Entwicklung einer Sprache, einer Religion, einer Rechtsordnung, eines Erzeugnisses der Literatur, der Kunst oder der Wissenschaft: und jeder dieser Gegenstände verlangt eine seiner Besonderheit entsprechende Behandlung. Immer aber ist der Erkenntniszweck der, daß ein Gebilde des Menschenlebens, welches sich in einmaliger Wirklichkeit dargestellt hat, in dieser seiner Tatsächlichkeit reproduziert und verstanden werde. Es ist klar, daß hiermit der ganze Umfang der historischen Disziplinen gemeint ist. Hier haben wir nun eine rein methodologische, auf sichere logische Begriffe zu gründende Einteilung der Erfahrungswissenschaften vor uns. Das Einteilungsprinzip ist der formale Charakter ihrer Erkenntnisziele. Die einen suchen allgemeine Gesetze, die anderen besondere geschichtliche Tatsachen: in der Sprache der formalen Logik ausgedrückt, ist das Ziel der einen das generelle, apodiktische [logisch zwingende, demonstrierbare - wp] Urteil, das der anderen der singuläre, assertorische [als gültig behauptete - wp] Satz. Und so knüpft sich dieser Unterschied an jenes wichtigste und entscheidende Verhältnis im menschlichen Verstande, das von Sokrates als die Grundbeziehung alles wissenschaftlichen Denkens erkannt wurde: das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen. Die antike Metaphysik spaltete sich von hier aus, indem PLATON das Wirkliche in den unveränderlichen Gattungsbegriffen, ARISTOTELES dasselbe in den zweckvoll sich entwickelnden Einzelwesen suchte. Die moderne Naturwissenschaft hat uns gelehrt, das Seiende zu definieren durch die dauernden Notwendigkeiten des an ihm stattfindenden Geschehens: sie hat das Naturgesetz an die Stelle der platonischen Idee gesetzt.

So dürfen wir sagen: die Erfahrungswissenschaften suchen in der Erkenntnis des Wirklichen entweder das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes oder das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt; sie betrachten zu einem Teil die immer sich gleichbleibende Form, zum anderen Teil den einmaligen, in sich bestimmten Inhalt des wirklichen Geschehens. Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die anderen Ereigniswissenschaften; jene lehren, was immer ist, diese, was einmal war. Das wissenschaftliche Denken ist - wenn man neue Kunstausdrücke bilden darf - in dem einen Falle nomothetisch, in dem andern idiographisch. Wollen wir uns an die gewohnten Ausdrücke halten, so dürfen wir ferner in diesem Sinne von dem Gegensatz naturwissenschaftlicher und historischer Disziplinen reden, vorausgesetzt daß wir in Erinnerung behalten, in diesem methodischen Sinne die Psychologie durchaus zu den Naturwissenschaften zu zählen.

Überhaupt aber bleibt dabei zu bedenken, daß dieser methodische Gegensatz nur die Behandlung, nicht den Inhalt des Wissens selbst klassifiziert. Es bleibt möglich und zeigt sich in der Tat daß dieselben Gegenstände zum Objekt einer nomothetischen und daneben auch einer idiographischen Untersuchung gemacht werden können. Das hängt damit zusammen, daß der Gegensatz des Immergleichen und des Einmaligen in gewissem Betracht relativ ist. Was innerhalb sehr großer Zeiträume keine unmittelbar merkliche Veränderung erleidet und deshalb auf seine unveränderlichen Formen hin nomothetisch behandelt werden darf, kann sich darum doch vor einem weiteren Ausblick als etwas nur für einen immerhin begrenzten Zeitraum Gültiges, d. h. als etwas Einmaliges erweisen. So ist eine Sprache in allen ihren einzelnen Anwendungen durch ihre Formgesetze beherrscht, die bei allem Wechsel des Ausdrucks dieselben bleiben: aber andererseits ist diese selbe ganze besondere Sprache mitsammt ihrer ganzen besonderen Formgesetzmäßigkeit doch nur eine einmalige, vorübergehende Erscheinung im menschlichen Sprachleben überhaupt. Ähnliches gilt für die Physiologie des Leibes, für die Geologie, in gewissem Sinne sogar für die Astronomie; und damit wird das historische Prinzip auf das Gebiet der Naturwissenschaften hinübergetrieben.
Das klassische Beispiel dafür bildet die Wissenschaft der organischen Natur. Als Systematik ist sie nomothetischen Charakters insofern als sie die innerhalb der paar Jahrtausende bisheriger menschlicher Beobachtung sich stets gleichbleibenden Typen der Lebewesen als deren gesetzmäßige Form betrachten darf. Als Entwicklungsgeschichte, wo sie die ganze Reihenfolge der irdischen Organismen als einen im Laufe der Zeit sich allmählich gestaltenden Prozeß der Abstammung oder Umwandlung darstellt, für dessen Wiederholung auf irgend einem andern Weltkörper nicht nur keine Gewähr, sondern nicht einmal eine Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, - da ist sie eine idiographische, historische Disziplin. Schon KANT nannte, als er den Begriff der modernen Deszendenztheorie [Abstammungstheorie - wp] im voraus entwarf denjenigen welcher sich dieses "Abenteuers der Vernunft" erkühnen würde den zukünftigen "Archäologen der Natur".

Fragen wir, wie sich zu diesem entscheidenden Gegensatze unter den Spezialwissenschaften bisher die logische Theorie verhalten hat, so stoßen wir genau auf den Punkt, an welchem diese am meisten reformbedürftig bis auf den heutigen Tag ist. Ihre ganze Entwicklung zeigt die entschiedenste Bevorzugung der nomothetischen Denkformen. Das ist freilich überaus erklärlich. Da alles wissenschaftliche Forschen und Beweisen in der Form des Begriffs vonstatten geht, so bleibt für die Logik immer die Untersuchung über Wesen, Begründung und Anwendung des Allgemeinen das nächste und bedeutendste Interesse. Dazu kommt die Wirkung des historischen Verlaufs. Die griechische Philosophie ist aus naturwissenschaftlichen Anfängen, aus der Frage nach der  physis;  d. h. nach dem bleibenden Sein im Wechsel der Erscheinungen hervorgewachsen, und in einem parallelen Verlauf, der auch der causalen Vermittlung durch historische Tradition in der Renaissance nicht entbehrte, ist die moderne Philosophie zu ihrer Selbständigkeit ebenfalls an der Hand der Naturwissenschaft emporgediehen. So konnte es nicht anders sein, als daß sich die logische Reflexion in erster Linie den nomothetischen Denkformen zuwandte und dauernd ihre allgemeinen Theorien von diesen abhängig machte. Dies gilt noch immer. Unsere ganze traditionelle Lehre vom Begriff, Urteil und Schluß ist noch immer auf das aristotelische Prinzip zugeschnitten, nach welchem der generelle Satz im Mittelpunkt der logischen Untersuchung steht. Man braucht nur irgend ein Lehrbuch der Logik aufzuschlagen, um sich zu überzeugen, daß nicht nur die große Mehrzahl der Beispiele aus den mathematischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen gewählt wird, sondern daß auch solche Logiker, welche vollen Sinn für die Eigenart historischer Forschung zeigen, doch die letzten Richtpunkte ihrer Theorien auf der Seite des nomothetischen Denkens suchen. Es wäre zu wünschen, aber es sind noch sehr wenige Ansätze dazu vorhanden, daß die logische Reflexion der großen geschichtlichen Wirklichkeit, welche im historischen Denken selbst vorliegt, ebenso gerecht werde, wie sie die Formen der Naturforschung bis in das Einzelne hinein zu begreifen verstanden hat.

Einstweilen lassen Sie uns das Verhältnis zwischen nomothetischem und idiographischem Wissen etwas näher betrachten. Gemeinsam ist, wie gesagt, der Naturforschung und der Historik der Charakter der Erfahrungswissenschaft: d. h. beide haben zum Ausgangspunkte - logisch gesprochen, zu Prämissen ihrer Beweise - Erfahrungen, Tatsachen der Wahrnehmung; und auch darin stimmen sie überein, daß die eine so wenig wie die andere sich mit dem begnügen kann, was der naive Mensch so gewöhnlich zu erfahren meint. Beide bedürfen zu ihrer Grundlage einer wissenschaftlich gereinigten, kritisch geschulten und in begrifflicher Arbeit geprüften Erfahrung. In demselben Maße wie man seine Sinne sorgfältig erziehen muß, um die feinen Unterschiede in der Gestaltung nächstverwandter Lebewesen festzustellen, um mit Erfolg durch ein Mikroskop zu sehen, um mit Sicherheit die Gleichzeitigkeit eines Pendelschlages und der Einstellung einer Nadel aufzufassen, - ebenso will es mühsam gelernt sein, die Eigenart einer Handschrift zu bestimmen, den Stil eines Schriftstellers zu beobachten oder den geistigen Horizont und den Interessenkreis einer historischen Quelle zu erfassen. Das eine kann man von Natur meist so unvollkommen wie das andere: und wenn nun die Tradition der wissenschaftlichen Arbeit nach beiden Richtungen eine Fülle feiner und feinster Kunstgriffe hervorgebracht hat, welche der Jünger der Wissenschaft sich praktisch aneignet, so beruht jede solche Spezialmethode einerseits auf sachlichen Einsichten, die schon gewonnen oder wenigstens hypothetisch angenommen sind, andererseits aber auf logischen Zusammenhängen oft sehr verwickelter Art. Hier ist nun wiederum zu bemerken, daß sich bisher das Interesse der Logik weit mehr der nomothetischen als der idiographischen Tendenz zugewendet hat. Über die methodische Bedeutung von Präzisionsinstrumenten, über die Theorie des Experiments, über die Wahrscheinlichkeitsbestimmung aus mehrfachen Beobachtungen desselben Objekts und ähnliche Fragen liegen eingehende logische Untersuchungen vor: aber die parallelen Probleme der historischen Methodologie haben von Seiten der Philosophie nicht entfernt gleiche Beachtung gefunden. Es hängt dies damit zusammen, daß, wie es in der Natur der Sache liegt und wie die Geschichte bestätigt, sich philosophische und naturwissenschaftliche Begabung und Leistung sehr viel häufiger zusammenfinden, als philosophische und historische. Und doch würde es vom äußersten Interesse für die allgemeine Erkenntnislehre sein, die logischen Formen herauszuschälen, nach denen sich in der historischen Forschung die gegenseitige Kritik der Wahrnehmungen vollzieht, die "Interpolationsmaximen" der Hypothesen zu formulieren und so auch hier zu bestimmen, welchen Anteil an dem sich in allen seinen Momenten gegenseitig stützenden Gebäude der Welterkenntnis einerseits die Tatsachen und andererseits die allgemeinen Voraussetzungen haben, nach denen wir sie deuten.

Doch hier kommen schließlich alle Erfahrungswissenschaften an dem letzten Princip überein, welches in der widerspruchslosen Übereinstimmung aller auf denselben Gegenstand bezüglichen Vorstellungselemente besteht: der Unterschied zwischen Naturforschung und Geschichte beginnt erst da, wo es sich um die erkenntnismäßige Verwertung der Tatsachen handelt. Hier also sehen wir: die eine sucht Gesetze, die andere Gestalten. In der einen treibt das Denken von der Feststellung des Besonderen zur Auffassung allgemeiner Beziehungen, in der anderen wird es bei der liebevollen Ausprägung des Besonderen festgehalten. Für den Naturforscher hat das einzelne gegebene Objekt seiner Beobachtung niemals als solches wissenschaftlichen Wert, es dient ihm nur soweit, als er sich für berechtigt halten darf, es als Typus, als Spezialfall eines Gattungsbegriffs zu betrachten und diesen daraus zu entwickeln; er reflektiert darin nur auf diejenigen Merkmale, welche zur Einsicht in eine gesetzmäßige Allgemeinheit geeignet sind. Für den Historiker besteht die Aufgabe, irgend ein Gebilde der Vergangenheit in seiner ganzen individuellen Ausprägung zu ideeller Gegenwärtigkeit neu zu beleben. Er hat an demjenigen was wirklich war, eine ähnliche Aufgabe zu erfüllen wie der Künstler an demjenigen, was in seiner Phantasie ist. Darin wurzelt die Verwandtschaft des historischen Schaffens mit dem ästhetischen, und die der historischen Disziplinen mit den belles lettres [schöne Literatur - wp].

Hieraus folgt, daß in dem naturwissenschaftlichen Denken die Neigung zur Abstraktion vorwiegt, in dem historischen dagegen diejenige zur Anschaulichkeit. Diese Behauptung wird nur demjenigen unerwartet kommen, der sich gewöhnt hat, den Begriff der Anschauung in materialistischer Weise auf das psychische Aufnehmen des sinnlich Gegenwärtigen zu beschränken, und der vergessen hat, daß es Anschaulichkeit, d. h. individuelle Lebendigkeit der ideellen Gegenwart für das Auge des Geistes ganz ebenso gibt, wie für das des Leibes. Freilich ist jene materielle Auffassung heutzutage weit verbreitet und sie ist nicht ohne ernste Bedenken. Je mehr man sich gewöhnt, überall wo Vorstellungen erregt werden sollen, möglichst Vieles zum Betasten und Besehen vorzuzeigen, um so mehr setzt man durch das Übermaß des rezeptiven Anschauens die spontane Anschauungsfähigkeit der Gefahr aus, ungeübt zu verkümmern, und dann wundert man sich hinterher, wenn die sinnliche Phantasie träge und leistungsunfähig ist, sobald sie nicht leiblich tasten und sehen kann. Das gilt für die Pädagogik ebenso wie für die Kunst, insbesondere für die dramatische, in der man sich gegenwärtig alle Mühe gibt, die Augen so zu beschäftigen, daß für die innere Anschauung der dichterischen Gestalten nichts mehr übrig bleibt.

Daß aber die Stärke der Naturforschung nach der Seite der Abstraktion, diejenige der Geschichte nach der der Anschaulichkeit liegt, wird noch mehr einleuchten, wenn man ihre Forschungsergebnisse vergleicht. So fein gesponnen auch die begriffliche Arbeit sein mag, deren die historische Kritik beim Verarbeiten der Überlieferung bedarf, ihr letztes Ziel ist doch stets, aus der Masse des Stoffes die wahre Gestalt des Vergangenen zu lebensvoller Deutlichkeit herauszuarbeiten: und was sie liefert, das sind Bilder von Menschen und Menschenleben mit dem ganzen Reichthum ihrer eigenartigen Ausgestaltungen, aufbewahrt in ihrer vollen individuellen Lebendigkeit. So reden zu uns durch den Mund der Geschichte, aus der Vergessenheit zu neuem Leben erstanden, vergangene Sprachen und vergangene Völker, ihr Glauben und Gestalten, ihr Ringen nach Macht und Freiheit, ihr Dichten und Denken. Wie anders ist die Welt, welche die Naturforschung vor uns aufbaut! So anschaulich ihre Ausgangspunkte sein mögen, - ihre Erkenntnisziele sind die Theorien, in letzter Instanz mathematische Formulierungen von Gesetzen der Bewegung: sie läßt - echt platonisch - das einzelne Sinnending, das entsteht und vergeht, in wesenlosem Scheine hinter sich und strebt zur Erkenntnis der gesetzlichen Notwendigkeiten auf, die in zeitloser Unwandelbarkeit über alles Geschehen herrschen. Aus der farbigen Welt der Sinne präpariert sie ein System von Konstruktionsbegriffen heraus, in denen sie das wahre, hinter den Erscheinungen liegende Wesen der Dinge erfassen will, eine Welt von Atomen, farblos und klanglos, ohne allen Erdgeruch der Sinnesqualitäten, - der Triumph des Denkens über die Wahrnehmung. Gleichgültig gegen das Vergängliche, wirft sie ihre Anker in das ewig sich selbst gleich Bleibende; nicht das Veränderliche als solches sucht sie, sondern die unveränderliche Form der Veränderung.

Geht aber so tief der Gegensatz zwischen beiden Arten der Erfahrungswissenschaft, so begreift es sich, weshalb zwischen ihnen der Kampf um den bestimmenden Einfluß auf die allgemeine Welt- und Lebensansicht des Menschen entbrennen muß und entbrannt ist. Es fragt sich: was ist für den Gesamtzweck unserer Erkenntnis wertvoller, das Wissen um die Gesetze oder das um die Ereignisse? das Verständnis des allgemeinen zeitlosen Wesens oder der einzelnen zeitlichen Erscheinungen? Und es ist von vornherein klar, daß diese Frage nur aus einer Besinnung auf die letzten Ziele der wissenschaftlichen Arbeit entschieden werden kann.

Nur flüchtig streife ich hier die äußerliche Beurteilung nach der Utilität. Vor ihr sind beide Denkrichtungen gleichmäßig zu rechtfertigen. Das Wissen allgemeiner Gesetze hat überall den praktischen Wert, die Voraussicht künftiger Zustände und ein zweckmäßiges Eingreifen des Menschen in den Lauf der Dinge zu ermöglichen. Das gilt für die Bewegungen der Innenwelt ebenso wie für diejenigen der materiellen Außenwelt, in der letzteren namentlich gestattet die durch das nomothetische Denken erworbene Kenntnis die Herstellung derjenigen Werkzeuge durch welche die Herrschaft des Menschen über die Natur in stetig zunehmendem Masse erweitert wird. Nicht minder aber ist alle zweckvolle Tätigkeit im gemeinsamen Menschenleben auf die Erfahrungen des historischen Wissens angewiesen. Der Mensch ist, um ein antikes Wort zu variieren, das Tier, welches Geschichte hat. Sein Kulturleben ist ein von Generation zu Generation sich verdichtender historischer Zusammenhang: wer in diesen zu lebendiger Mitwirkung eintreten will, muß das Verständnis seiner Entwicklung haben. Wo dieser Faden einmal abreißt, da muß er - das hat die Geschichte selbst bewiesen - nachher mühsam wieder aufgesucht und angesponnen werden. Sollte dereinst durch irgend ein elementares Ereignis, sei es in der Außengestaltung unseres Planeten, sei es in der Innengestaltung der Menschenwelt, die heutige Kultur verschüttet werden - wir können sicher sein, daß die späteren Geschlechter nach ihren Spuren ebenso eifrig graben werden, wie wir nach denen des Altertums. Schon aus diesen Gründen muß die Menschheit ihren großen historischen Schulsack tragen, und wenn er im Laufe der Zeit immer schwerer und schwerer zu werden droht, so wird es der Zukunft an Mitteln nicht fehlen, ihn vorsichtig und ohne Schaden zu erleichtern.

Aber nicht solcher Nutzen ist es, wonach wir fragen: hier handelt es sich um den inneren Wissenswert.

Freilich auch nicht um die persönliche Befriedigung, welche der Forscher an seinem Erkennen lediglich um dessen selbst willen hat. Denn dieser subjektive Genuß des Herauskriegens, des Entdeckens und Feststellens ist schließlich bei allem Wissen in gleicher Weise vorhanden. Sein Maß wird viel weniger durch die Bedeutung des Gegenstandes, als durch die Schwierigkeit der Untersuchung bestimmt.

Zweifellos jedoch gibt es daneben objektive und doch rein theoretische Unterschiede im Erkenntniswert der Gegenstände: ihr Maß aber ist kein anderes als der Grad, in welchem sie zur Gesamterkenntnis beitragen. Das Einzelne bleibt ein Objekt müßiger Kuriosität, wenn es kein Baustein in einem allgemeineren Gefüge zu werden vermag. So ist im wissenschaftlichen Sinne schon "Tatsache" ein teleologischer Begriff. Nicht jedes beliebige Wirkliche ist eine Tatsache für die Wissenschaft, sondern nur das, woraus sie - kurz gesagt - etwas lernen kann. Das gilt vor allem für die Geschichte. Es geschieht gar Vieles, was keine historische Tatsache ist. Daß GOETHE im Jahre 1780 sich eine Hausglocke und einen Stubenschlüssel, sowie am 22. Februar ein Billetkästchen hat anfertigen lassen, ist durch eine völlig echt überlieferte Schlosserrechnung urkundlich erwiesen: es ist demnach enorm wahr und gewiß also geschehen, und doch ist es keine historische Tatsache, weder eine literaturgeschichtliche noch eine biographische. Indessen ist andererseits zu bedenken, daß es innerhalb gewisser Grenzen unmöglich ist, von vornherein zu entscheiden, ob dem Einzelnen, was sich der Beobachtung oder der Ueberlieferung darbietet, dieser Werth einer "Tatsache" zukommt oder nicht; daher es die Wissenschaft machen muß, wie GOETHE im späten Alter: einhamstern, aufspeichern, wessen sie habhaft werden kann, froh des Gedankens, nichts zu verabsäumen von dem, was sie einmal verwenden könnte, und des Vertrauens, daß die Arbeit der kommenden Geschlechter, soweit sie nicht durch die äußeren Zufälle der Überlieferung beeinträchtigt wird, wie ein großes Sieb das Brauchbare bewahren und das Nutzlose versinken lassen wird.

Aber dieser wesentliche Zweck alles Einzelwissens, sich einem großen Ganzen einzufügen, ist nun keineswegs auf die induktive Unterordnung des Besonderen unter den Gattungsbegriff oder unter das allgemeine Urteil beschränkt: er erfüllt sich ebenso da, wo das einzelne Merkmal sich als bedeutsamer Bestandteil einer lebendigen Gesamtanschauung einordnet. Jenes Haften am Gattungsmäßigen ist eine Einseitigkeit des griechischen Denkens, fortgepflanzt von den Eleaten zu PLATON, der, wie das wahre Sein so auch die wahre Erkenntnis nur im Allgemeinen fand, und von ihm bis zu unseren Tagen, wo sich SCHOPENHAUER zum Sprecher dieses Vorurteils gemacht hat, wenn er der Geschichte den Wert echter Wissenschaft absprach, weil sie stets nur das Besondere und nie das Allgemeine erfasse. Wohl ist es richtig, daß der menschliche Verstand Vieles auf einmal nur dadurch vorzustellen vermag, daß er den gemeinsamen Inhalt des zerstreuten Einzelnen auffaßt: aber je mehr er dabei zum Begriff und Gesetz strebt, umsomehr muß er das Einzelne als solches hinter sich lassen, vergessen und preisgeben. Wir sehen das da, wo man in spezifisch moderner Weise versucht "aus der Geschichte eine Naturwissenschaft zu machen", wie es die sogenannte Geschichtsphilosophie des Positivismus vorgeschlagen hat. Was bleibt bei einer solchen Induktion von Gesetzen des Volkslebens schließlich übrig? Es sind ein paar triviale Allgemeinheiten, die sich nur mit der sorgfältigen Zergliederung ihrer zahlreichen Ausnahmen entschuldigen lassen.

Dem gegenüber muß daran festgehalten werden, daß sich alles Interesse und Beurteilen, alle Wertbestimmung des Menschen auf das Einzelne und das Einmalige bezieht. Bedenken wir nur wie schnell sich unser Gefühl abstumpft, sobald sich sein Gegenstand vervielfältigt oder als ein Fall unter tausend gleichartigen erweist. "Sie ist die erste nicht" - heißt es an einer der grausamsten Stellen des Faust. In der Einmaligkeit, der Unvergleichlichkeit des Gegenstandes wurzeln alle unsere Wertgefühle. Hierauf beruht SPINOZAs Lehre von der Überwindung der Gemütsbewegungen durch die Erkenntnis: denn für ihn ist Erkenntnis Untertauchen des Besonderen ins Allgemeine, des Einmaligen ins Ewige.

Wie aber alle lebendige Wertbeurteilung des Menschen an der Einzigkeit des Objekts hängt, das erweist sich vor allem in unserer Beziehung zu den Persönlichkeiten. Ist es nicht ein unerträglicher Gedanke, daß ein geliebtes, ein verehrtes Wesen auch nur noch einmal ganz ebenso existiere? ist es nicht schreckhaft, unausdenkbar, daß von uns selbst mit dieser unserer individuellen Eigenart noch ein zweites Exemplar in der Wirklichkeit vorhanden sein sollte? Daher das Grauenhafte, das Gespenstige in der Vorstellung des Doppelgängers - auch bei noch so großer zeitlicher Entfernung. Es ist mir immer peinlich gewesen, daß ein so geschmackvolles und feinfühliges Volk wie das griechische die durch seine ganze Philosophie hindurchgehende Lehre sich hat gefallen lassen, wonach in der periodischen Wiederkehr aller Dinge auch die Persönlichkeit mit allem ihrem Tun und Leiden wiederkehren soll. Wie schlimm entwertet ist das Leben, wenn es genau so schon, wer weiß wie oft dagewesen sein und, wer weiß wie oft sich noch wiederholen soll - wie entsetzlich der Gedanke, daß ich als derselbe schon einmal dasselbe gelebt und gelitten, gestrebt und gestritten, geliebt und gehaßt, gedacht und gewollt haben soll und daß, wenn das große Weltjahr abgelaufen ist und die Zeit wiederkommt, ich dieselbe Rolle auf demselben Theater noch wieder und wieder soll abspielen müssen! Und was so vom individuellen Menschenleben gilt, das gilt erst recht von der Gesamtheit des geschichtlichen Prozesses: er hat nur Wert, wenn er einmalig ist. Dies ist das Prinzip, welches die christliche Philosophie in der Patristik siegreich gegen den Hellenismus behauptet hat. Im Mittelpunkt ihrer Weltansicht standen von vornherein der Fall und die Erlösung des Menschengeschlechts als einmalige Tatsachen. Das war die erste große und starke Empfindung für das unveräußerliche metaphysische Recht der Historik, das Vergangene in dieser seiner einmaligen unwiederholbaren Wirklichkeit für die Erinnerung der Menschheit festzuhalten.

Andererseits bedürfen nun aber die idiographischen Wissenschaften auf Schritt und Tritt der allgemeinen Sätze, welche sie in völlig korrekter Begründung nur den nomothetischen Disziplinen entlehnen können. Jede Kausalerklärung irgendeines geschichtlichen Vorganges setzt allgemeine Vorstellungen vom Verlauf der Dinge überhaupt voraus und wenn man historische Beweise auf ihre rein logische Form bringen will, so erhalten sie stets als oberste Prämissen Naturgesetze des Geschehens, insbesondere des seelischen Geschehens. Wer keine Ahnung davon hätte, wie Menschen überhaupt denken, fühlen und wollen, der würde nicht erst bei der Zusammenfassung der einzelnen Ereignisse zur Erkenntnis von Begebenheiten - er würde schon bei der kritischen Feststellung der Tatsachen scheitern. Freilich ist es dabei sehr merkwürdig, wie nachsichtig im Grunde genommen die Ansprüche der Geschichtswissenschaft an die Psychologie sind. Der notorisch äußerst unvollkommene Grad, bis zu welchem bisher die Gesetze des Seelenlebens haben formuliert werden können, hat den Historikern niemals im Wege gestanden: sie haben durch natürliche Menschenkenntnis, durch Takt und geniale Intuition gerade genug gewußt, um ihre Helden und deren Handlungen zu verstehen. Das gibt sehr zu denken und läßt es recht zweifelhaft erscheinen, ob die von den Neuesten geplante mathematisch-naturgesetzliche Fassung der elementaren psychischen Vorgänge einen nennenswerten Ertrag für unser Verständnis des wirklichen Menschenlebens liefern wird.

Trotz solcher Unzulänglichkeiten der Ausführung im Einzelnen ist hieraus klar, daß in der Gesamterkenntnis, zu welcher sich alle wissenschaftliche Arbeit zuletzt vereinigen soll, diese beiden Momente in ihrer methodischen Sonderstellung nebeneinander bleiben: den festen Rahmen unseres Weltbildes gibt jene allgemeine Gesetzmäßigkeit der Dinge ab, welche, über allen Wechsel erhaben, die ewig gleiche Wesenheit des Wirklichen zum Ausdruck bringt; und innerhalb dieses Rahmens entfaltet sich der lebendige Zusammenhang aller für das Menschentum wertvollen Einzelgestaltungen ihrer Gattungserinnerung.

Diese beiden Momente des menschlichen Wissens lassen sich nicht auf eine gemeinsame Quelle zurückführen. Wohl legt die Kausalerklärung des einzelnen Geschehens mit dessen Reduktion auf allgemeine Gesetze den Gedanken nahe, daß es in letzter Instanz möglich sein müsse, aus der allgemeinen Naturgesetzmäßigkeit der Dinge auch die historische Sondergestaltung des wirklichen Geschehens zu begreifen. So meinte LEIBNIZ, daß schließlich alle vérités de fait [Anschauungswahrheiten - wp] ihre zureichenden Gründe in den vérités éternelles [ewige Wahrheiten - wp] haben. Aber er vermochte dies nur für das göttliche Denken zu postulieren, nicht für das menschliche auszuführen.

Man kann sich dies an einem einfachen logischen Schema klar machen. In der Kausalbetrachtung nimmt jegliches Sondergeschehen die Form eines Syllogismus an, dessen Obersatz ein Naturgesetz, bzw. eine Anzahl von gesetzlichen Notwendigkeiten, dessen Untersatz eine zeitlich gegebene Bedingung oder ein Ganzes solcher Bedingungen und dessen Schlußsatz dann das wirkliche einzelne Ereignis ist. Wie aber logisch der Schlußsatz eben zwei Prämissen voraussetzt, so das Geschehen zwei Arten von Ursachen: einerseits die zeitlose Notwendigkeit, in der sich das dauernde Wesen der Dinge ausdrückt, andrerseits die besondere Bedingung, die in einem bestimmten Zeitmomente eintritt. Die Ursache einer Explosion ist in der einen - nomothetischen - Bedeutung die Natur der explosiblen Stoffe, die wir als chemisch-physikalische Gesetze aussprechen, in der anderen - idiographischen - Bedeutung eine einzelne Bewegung, ein Funke, eine Erschütterung oder Ähnliches. Erst beides zusammen verursacht und erklärt das Ereignis, aber keines von beiden ist eine Folge des anderen; ihre Verbindung ist in ihnen selbst nicht begründet. So wenig, wie der bei der syllogistischen Subsumtion angefügte Untersatz eine Folge des Obersatzes selbst ist, so wenig ist beim Geschehen die zu dem allgemeinen Wesen der Sache hinzutretende Bedingung aus diesem gesetzlichen Wesen selbst abzuleiten. Vielmehr ist diese Bedingung als ein selbst zeitliches Ereignis wiederum auf eine andere zeitliche Bedingung zurückzuführcn, aus der sie nach gesetzlicher Notwendigkeit gefolgt ist: und so fort bis in infinitum [bis ins Unendliche - wp]. Ein Anfangsglied dieser endlosen Reihe ist begrifflich nicht zu denken; und auch wenn man versucht es vorzustellen, so ist ein solcher Anfangszustand doch immer ein Neues, was zu dem allgemeinen Wesen der Dinge hinzutritt, ohne daraus zu folgen. SPINOZA hat dies durch die Unterscheidung der beiden Kausalitäten, der unendlichen und der endlichen, ausgedrückt und damit in genialer Einfachheit viele Bedenken unnötig gemacht, mit denen sich neuere Logiker über das "Problem der Vielheit der Ursachen" beunruhigt haben. In der Sprache der heutigen Wissenschaft ließe sich sagen: aus den allgemeinen Naturgesetzen folgt der gegenwärtige Weltzustand nur unter der Voraussetzung des unmittelbar vorhergehenden, dieser wieder aus dem früheren, und so fort; niemals aber folgt ein solcher bestimmter einzelner Lagerungszustand der Atome aus den allgemeinen Bewegungsgesetzen selbst. Aus keiner "Weltformel" kann die Besonderheit eines einzelnen Zeitpunktes unmittelbar entwickelt werden: es gehört dazu immer noch die Unterordnung des vorhergehenden Zustandes unter das Gesetz.

Da es somit kein in den allgemeinen Gesetzen begründetes Ende gibt, bis zu welchem die Kausalkette der Bedingungen zurückverfolgt werden könnte, so hilft uns alle Subsumtion unter jene Gesetze nicht, um das einzelne in der Zeit Gegebene bis in seine letzten Gründe hinein zu zergliedern. Darum bleibt für uns in allem historisch und individuell Erfahrenen ein Rest von Unbegreiflichkeit - etwas Unaussagbares, Undefinierbares. So widersteht das letzte und innerste Wesen der Persönlichkeit der Zergliederung durch allgemeine Kategorien, und dies Unfaßbare erscheint vor unserem Bewußtsein als das Gefühl der Ursachlosigkeit unseres Wesens, d. h. der individuellen Freiheit.

Eine Menge metaphysischer Begriffe und Probleme ist an diesem Punkte entsprungen. So unglücklich jene, so verfehlt diese sein mögen: das Motiv bleibt bestehen. Die Gesamtheit des in der Zeit Gegebenen erscheint in unableitbarer Selbständigkeit neben der allgemeinen Gesetzmäßigkeit, nach der es sich doch vollzieht. Der Inhalt des Weltgeschehens ist nicht aus seiner Form zu begreifen. Hieran sind alle Versuche gescheitert, das Besondere aus dem Allgemeinen, das "Viele" aus dem "Einen", das "Endliche" aus dem "Unendlichen", das "Dasein" aus dem "Wesen" begrifflich abzuleiten. Dies ist ein Riss, welchen die großen Systeme der philosophischen Welterklärung nur zu verdecken, aber nicht auszufüllen vermocht haben.

Das sah LEIBNIZ, als er den vérités éternelles ihren Ursprung im göttlichen Verstande, den vérités de fait den ihrigen im göttlichen Willen anwies. Das sah KANT, als er in der glücklichen aber unbegreiflichen Tatsache, daß alles in der Wahrnehmung Gegebene sich unter die Formen des Intellekts bringen und danach ordnen und verstehen läßt, eine über unser theoretisches Wissen weit hinausragende Andeutung göttlicher Zweckzusammenhänge fand.

In der Tat kann über diese Fragen kein Denken mehr Aufschluß geben. Die Philosophie vermag zu zeigen, bis wohin die Erkenntnisskraft der einzelnen Disziplinen reicht; über diese hinaus aber kann sie selbst keine gegenständliche Einsicht mehr gewinnen. Das Gesetz und das Ereignis bleiben als letzte, inkommensurable Größen unserer Weltvorstellung nebeneinander bestehen. Hier ist einer der Grenzpunkte, an denen der wissenschaftliche Gedanke nur noch die Aufgabe bestimmen, nur noch die Frage stellen kann in dem klaren Bewußtsein, daß er nie imstande sein wird, sie zu lösen.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, Rede zum Antritt des Rektorats der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg gehalten am 1. Mai 1894 in Präludien [Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie], Tübingen 1907