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LUJO BRENTANO
Über einige in der Natur des
Beobachtungsobjekts liegende Schwierigkeiten
des volkswirtschaftlichen Forschens


"Häufig sind die Personen, auf deren Aussagen der Forscher sich stützt, von Vorurteilen befangen. Diese sind oft die Folge von Erziehung, von patriotischen, Klassen-, politischen und religiösen Vorurteilen. Solche Vorurteile veranlassen die Zeugen, die Tatsachen in einem einseitigen und daher falschen Licht zu erblicken; denn man sieht dieselben Tatsachen, die man bei Angehörigen eines anderen Lagers beanstandet, nicht im eigenen Lager. Da ist z. B. eine häufige Klage die über zunehmenden Luxus bei den unteren Klassen. Die so klagen, schwelgen häufig in Genüssen, die ihren Vätern noch ganz unbekannt waren. Das nimmt man als etwas ganz Selbstverständliches hin. So z. B. wenn man beim Nachtisch eines Essens, das an Üppigkeit alles früher Gewesene weit übertrifft, über den angesichts der zunehmenden Industrialisierung Deutschlands aus physiologischen Gründen notwendig steigenden Fleischgenuß der unteren Klassen klagt; oder gar, wenn 1905 der Vorsitzende des preußischen Landesverbandes städtischer Haus- und Grundbesitzervereine es als Ausfluß des zunehmenden Luxus bezeichnet hat, daß jede Mietpartei einen eigenen Abort haben will."

Es sind viele Jahre her, da habe ich im Sozialwissenschaftlichen Studentenverein schon einmal über das heute angekündigte Thema gesprochen. Wenn ich es heute abermals wage, die Aufmerksamkeit meiner Zuhörer dafür zu erbitten, so ist der Grund nicht bloß der, daß meine heutigen studentischen Zuhörer andere sind, als damals. Der Hauptgrund ist, daß die schon damals hervorgehobenen Schwierigkeiten, welche der volkswirtschaftlichen Forschung infolge der Natur der von ihr zu beobachtenden Tatsachen entgegenstehen, sich heute in verstärktem Maße geltend machen. Daher wende ich mich auch heute nicht bloß an den Sozialwissenschaftlichen Studentenverein, sondern gleichzeit an die Volkswirtschaftliche Gesellschaft. Denn diese hat die Ehre, viele Männer, die mitten im praktischen Leben stehen, zu ihren Mitgliedern zu zählen. Ich möchte die Männer der Praxis, die so oft über den langsamen Fortschritt volkswirtschaftlicher Erkenntnis klagen, auf ein Haupthemmnis aufmerksam machen, das gerade im Verhalten der Praktiker gegenüber den Theoretikern besteht und zu dessen Behebung ein jeder von Ihnen mitwirken kann.

Lassen Sie mich vor allem das erläutern, was ich vor Augen habe, wenn ich von den besonderen Schwierigkeiten spreche, die sich der volkswirtschaftlichen Forschung infolge der Natur der von ihr zu beobachtenden Tatsachen entgegenstellen.

Auf allen Wissensgebieten, außer auf dem der Mathematik, ist die einzige und letzte Quelle unseres Wissens die Erfahrung; so auch auf dem Gebiet der Volkswirtschaftslehre. Sie ist eine Erfahrungswissenschaft.

Was aber ist unter dieser Erfahrung zu verstehen? Etwa die eines einzigen Menschen? Wenn man manche Praktiker hört, sollte man dies allerdings glauben. So oft ein Theoretiker eine Lehre vorträgt, die ihnen unbequem ist, hat er zu gewärtigen, gedruckt und in Briefen, in anonymen, wie in unterzeichneten Zuschriften zu lesen:
    "Grau, Freund, ist alle Theorie,
    Grün ist des Lebens goldener Baum."
Und zwar erlebt dies der Theoretiker nicht bloß, wenn er Sätze vorträgt, die auf dem Weg der Deduktion gewonnen sind, sondern genauso, wenn es sich um Lehren handelt, die auf anderen Erfahrungen als gerade den des betreffenden einzelnen Praktikers beruhen. Die Aufgabe des Theoretikers ist aber, nicht bloß  eine  Erfahrung und nicht nur die in  einem  Land gemachte, sondern womöglich die Gesamtheit der Erfahrungen zu berücksichtigen und aus ihnen allen seine Lehren zu ziehen. Es gibt Fragen, für welche nicht einmal die Erfahrung einer Generation ausreicht, sondern nur die angesammelte Erfahrung aller Zeitalter, wie sie uns in Aufzeichnungen entgegentritt und durch die Überlieferung zukommt.

Erfahrung kann auf allen Wissensgebieten auf zweifache Weise erworben werden. Entweder durch  passive  Beobachtung, d. h. man verzeichnet die Tatsachen, wie sie gerade vorkommen, ohne irgendwie zu versuchen, ihren Eintritt selbst herbeizuführen, ihre Häufigkeit zu beeinflussen, oder die Umstände, unter denen sie sich zeigen, zu ändern. Oder durch  aktive  Beobachtung, d. h. durch das Experiment. Man setzt Einflüsse und Faktoren, über welche wir Herrschaft haben, in Tätigkeit, ändert die Umstände, unter denen sie wirksam werden, und nimmt von den Wirkungen Kenntnis, die sich dabei zeigen.

Diese beiden Arten der Beobachtung sind wissenschaftlich von sehr ungleichem Wert.

Die passive Beobachtung ist die minder vollkommene der beiden. Wir lassen dabei die Dinge an uns herankommen, wir hören auf eine Erzählung, die uns vielleicht konfus, stückweise, in großen Zeitzwischenräumen gemacht wird, wobei unsere Aufmerksamkeit mehr oder weniger wach ist. Er nach mannigfachem Überlegen erfassen wir ihre Bedeutung; oft ist schon die Gelegenheit zu genauer Beobachtung vorbei, wenn uns die Bedeutung der Erscheinung erst voll zu Bewußtsein kommt. Und wir bedauern, daß es nun zur Beobachtung zu spät ist.

Beim Experiment dagegen unterwerfen wir die Tatsachen gewissermaßen einem Kreuzverhör. Wir können das Prüfungsergebnis  eines  Versuches mit dem eines anderen vergleichen, solange das zu Prüfende noch vor uns steht. Indem wir uns der Untersuchungsobjekt, solange es vor uns gegenwärtig ist, zu erklären suchen, sind wir imstande, eindringliche Fragen an es zu stellen, deren Beantwortung uns sofort aufzuklären vermag. Dementsprechend war der Fortschritt der Wissenschaft rasch und sicher auf allen Gebieten, auf denen das Experiment dem Forscher die genaue Beobachtung ermöglicht. Dagegen ist in jenen Zweigen der Erfahrungswissenschaft, die dem Experiment tatsächlich nicht unterworfen werden, unsere Kenntnis eine viel langsamer fortschreitende, ungewissere und unregelmäßigere.

Zu den Erfahrungswissenschaften der letzteren Art gehört auch die Volkswirtschaftslehre.

Zwar gibt es Fälle, in denen auch dem volkswirtschaftlichen Forscher die aktive Beobachtung durch Experimente möglich ist. So hat der große Eisenbahnunternehmer BRASSEY durch Experimente, die er anstellte, die Wirkungen der Erhöhungen und Herabsetzungen des Arbeitslohnes auf die Größe der Arbeitsleistung untersucht. Dasselbe tat ABBE, als er den Einfluß der Dauer der Arbeitszeit auf die Größe der Arbeitsleistung feststellte. Allein solche Fälle bilden doch nur die Ausnahme. Als Regel sieht sich der Volkswirtschaftler auf die passive Beobachtung beschränkt, d. h. die zu beobachtenden Tatsachen spiegelns sich ab, nicht weil sie der Forscher zu Beobachtungszwecken hervorruft, sondern als Handlungen der Praktier zu praktischen Zwecken. Die Folge ist, daß diese Tatsachen sich weit weniger zu wissenschaftlichen Beobachtungen eignen, als wenn sie lediglich um dieser willen durch das Experiment ins Leben gerufen worden wären. Denn im Leben treten diese Tatsachen nur selten auf als das Produkt nur einer einzigen Ursache. Meist sind sie das Ergebnis des Zusammenwirkens vieler Ursachen. Schon diese Komplikation erschwert die Feststellung des Kausalzusammenhangs. Allein das ist noch nicht die Hauptschwierigkeit. Diese ist vielmehr darin zu sehen, daß der volkswirtschaftliche Forscher jene Vorgänge, die sich im praktischen Leben abspielen, nur in den seltensten Fällen selbst unmittelbar sieht. Bei der passiven Beobachtung ist er in der überwiegend großen Mehrzahl der Fälle auf das Zeugnis anderer unmittelbarer Beobachter beschränkt. Statt selbst zu sehen, sieht er nur durch die Augen Anderer die Dinge, die er behandelt, und seine Aufgabe geht dahin, dieses Zeugnis Anderer zu sichern, kritisch zu prüfen und daraus Schlüsse zu ziehen.

Die Folgen hiervon sind äußerst nachteilig. Es kommen nämlich als Folge zu den Fehlern, denen eine jede wissenschaftliche Beobachtung ausgesetzt ist, und die in der Unvollkommenheit des beobachtenden Forschers ihren Grund haben, noch weitere Fehler, die aus der Natur des der Beobachtung zugrundeliegenden Zeugnisses Anderer entspringen.

Wie groß diese Fehler sind, muß jedem klar werden, der sich der vielen Angaben der Geschichte erinnert, die ja einen Teil der vom volkswirtschaftlichen Forscher zu berücksichtigenden Tatsachen liefert, die nur innerhalb der letzten 50 Jahre von der wissenschaftlichen Kritik als falsch erwiesen worden sind, und man braucht nur an die widersprechenden Zeugenaussagen über tatsächliche Vorgänge wie sie in einer Gerichtsverhandlung abgelegt werden, zu denken, um zu wissen, daß die Angaben über tatsächliche Vorgänge in der Gegenwart, wie sie uns gewöhnlich geboten werden, nicht zuverlässiger, sondern häufig noch weit weniger zuverlässig sind, wie die der Geschichte. Die  vornehmlichsten  Gefahren und Schwierigkeiten, welche der Forscher bezüglich der zu beobachtenden Tatsachen zu überwinden hat, sind die folgenden:

1.  Sehr häufig beschränken sich die Aussagen der Zeugen, von denen der Forscher ausgeht, nicht auf die Konstatierung von Tatsachen; meist enthalten diese Zeugenaussagen Urteile und Schlußfolgerungen.  Da besteht nun die Gefahr der Verwechslung von Aussagen, die selbst Urteile und Schlußfolgerungen enthalten, mit Angaben über beobachtete Tatsachen. Für den wissenschaftlichen Forscher aber hat nur die beobachtete Tatsache Wert. Die Schlußfolgerung daraus muß er selbst ziehen und das Urteil muß er sich selbst bilden. Verfährt er anders, so läuft er Gefahr, daß alle Momente, welche das Urteil des Zeugen beeinflussen, das Ergebnis der Untersuchung, das sich auf diese Zeugenaussage stützt, zu einem irrigen machen.

Ein Beispiel soll dies veranschaulichen. Unsere Handwerker pflegen dafür, daß das Handwerk nicht mehr den ehemals gerühmten goldenen Boden hat, die Gesetzgebung verantwortlich zu machen. Der Forscher über die Ursachen des Niedergangs des Handwerks,wo von einem solchen zu reden ist, würde völlig fehlgehen, wenn er die Handwerker über diese Ursachen befragen würde. Sie würden alle die Einführung der Gewerbefreiheit als diese Ursache beklagen. Diese Antwort enthält aber keine Angabe über Tatsachen, sondern eine Schlußfolgerung. Was ein Handwerker weiß und worüber allein man ihn daher als Zeugen gebrauchen kann, ist der Stand seines Betriebes, seit er das Handwerk betreibt. Wenn er darüber Auskunft gibt, ist es gut. Sagt er mehr, sagt er, warum es ihm schlecht oder gut ergangen ist, so enthält seine Aussage bereits Schlußfolgerungen und Urteile, und ist dem Irrtum ausgesetzt, wie gerade das Beispiel zeigt. Wir hatten vor der Einführung der Gewerbefreiheit im heutigen deutschen Reichsgebiet im Jahre 1869 deutsche Länder, in denen die entgegengesetztesten Prinzipen hinsichtlich der selbständigen Niederlassung der Handwerker herrschten, Gegenden, in denen die Gewerbefreiheit schon seit 1810 bestand, daneben solche, in denen noch die ganz alte zünftige Ordnung vorherrschte, und wiederum andere, mit Konzessionssystemen. Die Forschungen SCHMOLLERs über das deutsche Kleingewerbe aber haben gezeigt, daß in allen diesen Gebieten, gleichviel,was das in einem herrschenden Gewerberecht war, die Lage des Handwerkers die gleiche, und zwr in den großen Städten im gleichen Maß im Niedergang begriffen war. Die Ursache des Niedergangs des Handwerks, wo ein solcher stattfand, kann also unmöglich in der Veränderung der Gewerbegesetzgebung liegen: sie liegt in der Veränderung der Absatzverhältnisse. Das Handwerk ist aufgekommen in Arbeit für den lokalen Markt; wo es für einen lokalen Markt arbeiten kann, wie auf dem Land, blüht es noch heute. Es ist nur da im Niedergang, wo es infolge von Veränderungen von Technik, Absatzverhältnissen und Nachfrage die der Natur seines Betriebes entsprechenden Absatzverhältnisse nicht mehr findet.

Die Verwechslung von Schlußfolgerungen und Urteilen mit Zeugenaussagen über Tatsachen, aus denen der Forscher selbst Schlüsse ziehen soll, findet sich besonders, wenn sich der Forscher auf  sogenannte Autoritäten  stützt. Autoritäten nennt man Männer, welche sich aufgrund ihrer Erfahrungen und ihrer Studien eine Meinung gebildet haben. Solche Autoritäten sind etwas wertvolles, wenn sie ihre Studien und Erfahrungen mitteilen. Da sind sie Zeugen über Tatsachen. Wenn sie aber statt Tatsachen ihre aufgrund dieser Studien gebildeten Meinungen mitteilen, dürfen diese Meinungen nicht ohne genaue Kritik hingenommen werden. Denn diese Meinungen sind Urteile, Schlußfolgerungen, und sind nicht mehr wert - selbst die Meinungen der berühmtesten Autoritäten - als die Beweisführungen, auf denen sie beruhen. Trotzdem begegnet man häufig Ausführungen, wie der folgenden:
    "Für diese Meinung läßt sich bloß die Angabe des  A  anführen, während  B, C  und  D,  die außerdem einen größeren Namen haben, anderer Meinung sind."
Die Zahl und die Namen derjenigen, die eine Behauptung aufstellen, beweisen ansich gar nichts. es ist oft vorgekommen, daß, entgegen der Meinung noch so vieler Berühmtheiten, schließlich ein einziger Unberühmter Recht behalten hat. Daher ist es absolut unwissenschaftlich, mittels Autoritäten etwas beweisen zu wollen. Keine Autorität ist gewichtiger als das Argument, auf dem ihre Aussage beruth. Vor allem aber hat man sich zu hüten, Behauptungen sogenannter Autoritäten über Vorgänge als Beweis dieser Vorgänge anzusehen. Nur die Beweise, auf welche die "Autoritäten" für die von ihnen behaupteten Tatsachen und Vorgänge sich stützen, sind in Betracht zu ziehen.

2.  Sehr häufig entsteht ein Irrtum dadurch, daß man annimt, der Zeuge berichtet kraft eigener Anschauung, während er das, worüber er spricht, gar nicht aus eigener Anschauung kennt. 

So kennt jeder Industrielle genau nur sein eigenes Geschäft und weniger genau meist nur die übrigen Geschäfte seines Distriktes. Jeder Inhaber der letzteren ist sogar eifrig bemüht, ihm als einem Konkurrenten den Einblick zu erschweren. Wenn aber über die Lage seines Gewerbezweiges befragt, pflegt der Befragte nicht bloß über sein eigenes Geschäft zu reden; er redet allgemein und seine Aussage wird oft als allgemein gültiges Zeugnis genommen, während es doch nur für sein Geschäft oder für wenige Geschäfte seines Distriktes zutreffend ist. So z. B. als Elsaß-Lothringen ans Deutsche Reich kam, wurde die deutsche Gewerbeordnung dort zunächst nicht eingeführt. JEAN DOLLFUSS, der damals im Reichstag war, machte geltend, daß in den elsässischen Fabriken, was die deutsche Gewerbeordnung zugunsten der Arbeiter fordert, schon längt freiwillig besteht, und um den elsässischen Fabrikanten die Eingewöhnung in die neuen Verhältnisse zu erleichtern, sah man davon ab, sie einem Recht zu unterwerfen, das DOLLFUSS als materiell unnötig, wohl aber als für die Wahrung ihrer Autorität gegenüber den Arbeitern gefährlich bezeichnete. Zum Beleg dafür, daß das, was die deutsche Gewerbeordnung fordert, und sogar weit mehr bereits in den elsässischen Fabriken tatsächlich besteht, hatte sich DOLLFUSS auf die Zustände in seinem eigenen Gewerbebetrieb in Mülhausen berufen. Diese waren weltberühmt, und so gelang es ihm, zu verhindern, daß die Gewerbeordnung gleichzeitig mit der Annexion eingeführt wurde. Die Untersuchungen HERKNERs aber haben gezeigt, daß, was bei den übrigen elsässischen Fabrikanten bestand, sehr verschieden war von den Einrichtungen bei JEAN DOLLFUSS, und, nachdem nachgewiesen war, daß die den Arbeiter schützenden Bestimmungen in der enormen Mehrzahl der elsässischen Fabriken nicht minder notwendig sind wie im übrigen Deutschland, erfolgte die Einführung der deutschen Gewerbeordnung im Jahre 1889 auch in Elsaß-Lothringen. - Oder ein anderes Beispiel. Im Jahre 1897/98 lagen die englischen Maschinenfabrikanten im Streit mit ihren Arbeitern. Die englischen Maschinenbauer sind stark organisiert. Ein Teil der Fabrikanten war für ein Zerschmettern des Gewerkvereins, ein anderer nicht. Als die Zerschmetterer wegen ihrer Absichten angegriffen wurden, beriefen sie sich stets auf die bekannte Stellung der letzteren, um die Angabe zu widerlegen, und es dauerte, bis die Täuschung aufgedeckt wurde.

Oft aber haben die Leiter eines Betriebes nicht einmal eine unmittelbare Kenntnis aller Vorgänge in ihrem eigenen Geschäft. Ist dieses groß, so können sie sie gar nicht haben. Was sie wissen, wissen sie nur aufgrund des Zeugnisses untergeordneter Leiter einzelner Zweige ihres Betriebes, ihrer Beamten, Werkführer und dergleichen. Diese haben aber oft die mannigfachsten Ursachen, die Dinge anders darzustellen, als sie sind. Trotzdem reden die Leiter des Ganzen aufgrund der Berichte dieser Personen, als wüßten sie die Dinge vermöge eigener unmittelbarer Wahrnehmungen, und ihr Zeugnis gilt als Zeugnis eines unmittelbaren Beobachters. Ihre bekannte Wahrheitsliebe bekräftig dann die unwahre Aussage ihrer Untergebenen und deren Lüge wird für Wahrheit genommen. Zum Beispiel gibt ein großer Industriechef den Befehl, daß dieses oder jenes geschehen oder unterbleiben soll; seine Aufseher, Werkführer oder sonstige Beamten haben aber das entgegengesetzte Interesse; der Befehl wird nicht ausgeführt. Allein sie berichten, als ob er ausgeführt worden wäre. Nun tritt der Chef als Zeuge auf und sagt, in seinem Betrieb verhalte sich die Sache so, in Wirklichkeit aber verhält sie sich anders. So ist es z. B. in England oft vorgekommen, daß große Arbeitgeber behaupteten, in ihrem Betrieb seien keine Gewerkvereinler beschäftigt; der Chef hatte verboten, solche zu beschäftigen; allein die Unterbeamten konnten sich keine guten Arbeiter außer solchen, die zu Organisationen gehörten, verschaffen. Sie drückten also ein Auge zu, berichteten aber, als ob keine organisierten Arbeiter im Betrieb tätig wären.

Nicht minder unzuverlässig aber ist das Zeugnis der Arbeiter über Zustände in ihren Gewerben. Unendlich viele ihrer Behauptungen beruhen lediglich auf Hörensagen, weshalb wir so häufig Arbeiterzeitungen darauf hereinfallen sehen, wenn sie ohne nähere eigene Untersuchungen solche Aussagen abdrucken.

3.  Häufig wird ein Irrtum dadurch hervorgerufen, daß Zeugen bekunden, gewisse Tatsachen, Erscheinungen, Vorgänge seien erst in letzter Zeit hervorgetreten; früher seien sie niemals vorgekommen; tatsächlich aber sind die betreffenden Erscheinungen alt und nur den betreffenden Personen erst in letzter Zeit bewußt oder auffällig geworden. 

Dieser Irrtum beruth auf zweierlei: Entweder die Zeugen haben früher keine Gelegenheit oder Veranlassung gehabt, von der Tatsache Kenntnis zu nehmen. Durch irgendeine Veranlassung sind sie auf das Vorkommnis aufmerksam geworden. Nunmehr behaupten sie, es sei eine neue Erscheinung oder sie sei jetzt häufiger wie früher. Ihr Zeugnis wird dann ein Hindernis richtiger Erkenntnis. So bin ich zur Zeit, da ich meine Studien über die englischen Gewerkvereine machte, oft auf die Aussage englischer Fabrikanten gestoßen, früher hab es in ihrem Gewerbe keine Arbeiterkoalitionen gegeben; sie datierten erst seit dem Auftreten dieses oder jenes Agitators, der, weil er ihnen unbequem wurde, ihre Aufmerksamkeit erregte. Dabei fand ich, daß schon eine Generation früher der Vater und noch früher der Großvater ganz dasselbe geäußert hatten. Oder wenn man mitunter liest, die Unzufriedenheit und Abwanderung der ländlichen Arbeiter von den großen Gütern in Ostelbien datierten erst von der Agitation der Sozialdemokratie; vor deren Auftreten, sagten die Väter derer, die heute so reden, sie datiere vom Beispiel der Unbotmäßigkeit, welches das preußische Abgeordnetenhaus im Verfassungskonflikt mit der Krone dem Volk gibt. Schon JUSTUS MÖSER hat aber gegenüber der Klage über die gestiegenen Gesindelöhne darauf verwiesen, daß bereits 1608 dieselbe Klage erhoben wurde, die Zeiten sich in 160 Jahren also nicht verschlimmert hätten; und die Klage über die Abwanderung vom Land ist etwas, was so alt ist, wie die Entstehung der Städte. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Verhandlungen der Stände der verschiedenen deutschen Landesteile.

Oder aber der angeführte Irrtum beruth auf der bekannten Tatsache, wonach die Jugend alles groß, herrlich, rosig sieht, das enttäuschte Alter alles für klein, miserabel und schlechter geworden erachtet.

4.  Häufig sind die Personen, auf deren Aussagen der Forscher sich stützt, von Vorurteilen befangen.  Diese sind oft die Folge von Erziehung, von patriotischen, Klassen-, politischen und religiösen Vorurteilen. Solche Vorurteile veranlassen die Zeugen, die Tatsachen in einem einseitigen und daher falschen Licht zu erblicken; denn man sieht dieselben Tatsachen, die man bei Angehörigen eines anderen Lagers beanstandet, nicht im eigenen Lager.

Da ist z. B. eine häufige Klage die über zunehmenden Luxus bei den unteren Klassen. Die so klagen, schwelgen häufig in Genüssen, die den Vätern ganz unbekannt waren. Das nimmt man als etwas ganz Selbstverständliches hin, während es sich bei den Ersteren vielfach nur um eine gesittete Befriedigung ganz elementarer Bedürfnisse handelt. So z. B. wenn man beim Nachtisch eines Essens, das an Üppigkeit alles früher Gewesene weit übertrifft, über den angesichts der zunehmenden Industrialisierung Deutschlands aus physiologischen Gründen notwendig steigenden Fleischgenuß der unteren Klassen klagt; oder gar, wenn 1905 der Vorsitzende des preußischen Landesverbandes städtischer Haus- und Grundbesitzervereine es als Ausfluß des zunehmenden Luxus bezeichnet hat, daß jede Mietpartei einen eigenen Abort haben will. Die berichtete Tatsache erscheint infolge der durch solche Vorurteile beeinflußten Aussage des Zeugen in einem falschen Licht.

Eine andere Klage ist die über eine veränderte Haltung der Untergebenen. Das alte Treueverhältnis soll geschwunden sein. Aber man unterläßt zu sagen, daß man selbst, was die eigenen Pflichten angeht, sich auf die Basis des reinen Vertragsverhältnisses gestellt hat und absolut nicht mehr tut, als wozu man kontraktlich verpflichtet ist, also auch nicht auf mehr Anspruch erheben kann.

In welchem Maß Handlungen derselben Art verschieden beurteilt werden, je nachdem sie von Angehörigen der eigenen oder gegnerischen politischen Partei, der eigenen oder fremden Konfession begangen werden, weiß jeder, der die Zeitungen liest.

5.  Am häufigsten entstehen Irrtümer infolge der Beeinflussung der Zeugnisse, auf die man sich stützt, durch Interessen

Die Aussagen der Interessenten sind für den volkswirtschaftlichen Forscher gleichzeitig das Wichtigste und das Gefährlichste. Das Wichtigste, denn der Interessent verfügt über einen großen Teil des Materials, aufgrund dessen sich der Forscher sein Urteil zu bilden hat, allein oder doch am vollständigsten. Das Gefährlichste, denn der Interessent hat das größte Interesse, die Dinge so darzustellen, wie sie für ihn am vorteilhaftesten erscheinen. Teils stellt er sie unbewußt so dar, wie sie seinem persönlichen Vorteil am besten dienen, teils fälscht er sie auch bewußt, daß es geradezu himmelschreiend ist. Also einerseits sind seine Aussagen unentbehrlich, andererseits ist ihnen das größte Mißtrauen und die einschneidenste Kritik entgegenzusetzen. Die Erscheinung ist so alte wie die Welt. Auch hat schon vor bald 300 Jahren der Philosoph HOBBES geschrieben: Wäre es gegen die Interessen von Menschen, daß die drei Winkel eines Dreiecks zwei rechten Winkeln eines Quadrats gleich sein, so würde diese Lehre, wenn nicht angefochten, so doch durch das Verbrennen aller Bücher über Geometrie unterdrückt worden sein, so weit die Macht dessen reicht, der dadurch berührt wird.

Dasselbe habe ich bereits in einem Vortrag gesagt, den ich im Wintersemester 1910/11 vor der Münchener freien Studentenschaft gehalten habe. Daraus hat man mir dann einen Strick zu drehen gesucht, indem man darin einen klassischen Beleg meiner Unternehmerfeindlichkeit erblickt hat. Da war kein Angriff unter den zahllosen der gegen mich gerichteten, der mich mehr belustigt hätte, wie dieser. Denn warum gerade der "Unternehmerfeindlichkeit"? War das der Ausdruck eines schlechten Gewissens? Als ob nicht auch die Arbeiter Interessenten wären und von ihren Aussagen das gleiche gilt, wie von denen der Unternehmenr. Hat doch JOHN STUART MILL seinerzeit geklagt, das größte Unglück der Arbeiter sei, daß so viele unter ihnen lügen. Sehr begreiflich! Denn sie sind der schwächere Teil, und die Lüge ist zu allen Zeiten das Verteidigungsmittel der Schwachen gewesen. Seitdem mit dem Wachsen der Arbeiterorganisationen ihre Stärke zugenommen hat, ist auch ihre Wahrhaftigkeit gestiegen. Aber selbstverständlich gilt für sie dasselbe wie für die Arbeitgeber, daß ihre Aussagen der einschneidensten Kritik unterworfen werden müssen, bevor sie als Grundlage wissenschaftlicher Folgerungen benützt werden können.

Am unbrauchbarsten und unzuverlässigsten sind die Berichte von Zeitungen über volkswirtschaftliche, soziale, politische Tatsachen.

Der Grund ist leicht zu erkennen. Man sagt häufig, die Wahrheit, wenn sie auch zuerst von Wenigen vertreten wird, dringt schließlich doch durch und wird die Meinung der Welt. Und gewiß besteht eine Tendenz, daß die Meinungen der Weiseren schließlich durchdringen. Bestände diese Hoffnung nicht, so wäre alles Mühen vergeblich. Allein dieser Weg ist langsam. Es sind die gelehrten und wissenschaftlichen Untersuchungen, die ihn betreten. Sie sind nicht auf unmittelbare Erfolg angewiesen. Sie können warten.

Anders die Tagesliteratur. Ihr Erfolg ist abhängig vom Beifall des Tages. Eine Zeitung, die am Tag nicht verkauft wird, an dem sie erscheint, wird überhaupt nicht verkauft. Daher sind sie genötigt, statt den dauernden Interessen des Ganzen, den wechselnden Interessen und Vorurteilen derer zu dienen, von denen sie im Augenblick hoffen, gekauft zu werden. Folglich findet eine Berichterstattung entsprechend den Interessen und Vorurteilen der Leser statt, von denen sie abhängig sind, d. h.
    1. Berichterstattung von Falschem
    2. Unterschlagung von Wahrem.
Das Erstere zur Beeinflussung der Dummen, das Zweite zur Beeinflussung der Gescheiten.

Aber nicht weniger unzuverlässig sind die Interessenten, wenn nicht ihr journalistisches Gefolge, sondern sie selbst reden.

Unbewußt  sind sie stets von der Tendenz beeinflußt, die Dinge so zu sehen, wie dies am meisten ihren Interessen entspricht. Daher so häufig die entgegengesetzten Berichte über tatsächliche Vorgänge selbst von Augenzeugen. Es ist nicht notwendig, daß dabei bewußt gelogen wird. Verschiedene Interessenten sehen eben ein und dasselbe mit anderen Augen. Man erinnere sich nur an die häufig sich ganz widersprechenden Berichte über den Ausgang von Arbeitsstreitigkeiten. Sehr häufig behauptet jede der beiden Parteien, aus einer Arbeitseinstellung oder Aussperrung als Sieger hervorgegangen zu sein, und dies vollständig  bona fide  [in gutem Glauben - wp].

Oft aber begegnen wir auch  bewußt  falschem Zeugnis seitens der Interessenten. Die Sache ist alt, sie ist nicht etwa erst eine Folge der angeblich größeren Verworfenheit der Neuzeit. So z. B. gibt der Ökonomiehausmeister des Klosters Polling Pater OLLEGARIUS SEIDL in seiner  Oeconomica Pollingana  (1) aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts seinen Nachfolgern folgende  monita secreta  [geheime Ermahnung - wp]:
    "Primo. Das Bräuwesen soll so viel wie möglich verschwiegen bleiben. Alle ansonstigen Einkünfte an jährlichen Fesen- und Getreidegilten, Zehnten, Laudemien etc. darf das Kloster Polling, ohne üble Folgen zu befürchten, jederzeit ungescheut aufdecken, nur das dermalige Sudwesen allein ausgenommen; ansonsten könnte demselben ein perpetuierlicher Schaden wegen der Bierkomposition (Aufschlag) zugehen. Deswegen soll ein Herr Hausmeister mit der Sprache niemals redlich herausgehen und auch nicht einmal denjenigen, die er für des Klosters oder seiner Privatperson beste Freunde hält, aufrichtig anvertrauen, wieviel Gerste jährlich abgemalzt, wieviel Malz versotten, wieviel Eimer auf jede Sud erbräut und item was den Wirten an Bier abgegeben und wieviel ansonsten partikulariter verschlissen wird etc. - denn man kann niemals versichert sein, ob deren Freundschaft immer fortdauert oder ob selbe aus Unbesonnenheit von diesem Wissen keinen üblen Gebrauch machen und sich im Reden auch ohne mindeste böse Absicht nicht übereilen können. Selbst der Braumeister wußte es bei mir niemals, wieviel Scheffel Gerste von mir erkauf und von des Klosters-, deren Schwaigen, und anderen Zehnd-Stücken in das Brauhaus geliefert wurde."
Aber auch in unserer Zeit hören wir häufig falsche Angaben aus scheinbar autoritativstem Mund. So ist es ein häufiger von seiten der Arbeitgeber gegen die Arbeiterorganisationen erhobener Vorwurf, daß sie die Zucht untergraben und durch ihre maßlosen Forderungen die Konkurrenzfähigkeit der heimischen Industrie auf dem Weltmarkt untergraben usw. Am 28. Mai 1897 hat der verstorbene Freiherr von STUMM im preußischen Herrenhaus wörtlich gesagt (2):
    "Hätten die Herren Professoren und Kathedersozialisten das praktische Leben nur einigermaßen verfolgt, so würden sie wissen, daß, wenn heute die deutsche Industrie, trotz ihrer viel ungünstigeren Lage England gegenüber, seit Jahrzehnten mit der englischen Industrie in allen Weltteilen mit Erfolg konkurriert, das im wesentlichen daran liegt, daß bei uns, namentlich in der Eisen- und Kohlenindustrie, noch Disziplin herrscht während in England durch die Gewerkvereine die Disziplin vollständig abhanden gekommen ist. ... Es sind etwa vor einem Jahr englische Industrielle nach Deutschland deputiert worden, um zu untersuchen, woran der verhältnismäßig größere Auschwung der deutschen Industrie liegt, und die Herren sind alle zu demselben Ergebnis gekommen. ... Das, meine Herren, ist den Herren Kathedersozialisten natürlich vollkommen unbekannt."
Gewiß unbekannt. Schlägt man nämlich den Bericht der englischen Eisenindustriellen im Original auf, so steht darin kein Wort von dem, was er nach Herrn von STUMM besagt.

Vor allem bestand die Delegation aus 7 Arbeitgeber und 7 Arbeitern, darunter die bekanntesten Gewerkvereinsführer. Das wurde unterschlagen. Denn es hätte von vornherein selbst den stumpfesten darauf hingewiesen, daß die Angaben STUMMs unwahr sein müßten. Die Gewerkvereinsführer würden doch nicht selbst so berichtet haben, wie er angibt. Weit entfernt, dem Fehlen von Gewerkvereinen in Deutschland das Verdienst am deutschen Aufschwung zuzuschreiben, bezeichnet der Bericht als Ursache vielmehr den militärischen Drill der deutschen Arbeiter, die billigen Eisenbahntarife und die Schutzzölle.

6.  Andere Irrtümer entstehen infolge der Verteilung der zu beobachtenden Tatsachen über einen größeren Raum.  Dadurch wird es nötig, sich auf das Zeugnis von Menschen zu stützen, die weit zerstreut voneinander wohnen. Das gefährdet die Einheitlichkeit des Maßstabes, mit dem das Gemessene beurteilt wird. Das ist z. B. ein Grund, warum die in einem großen Land durch die verschiedenen Behörden aufgenommenen Tatsachen der Vergleichbarkeit sehr oft entbehren.

Mitunter kommt es sogar vor, daß der Maßstab, der zur Anwendung gelangt, während eine und dieselbe Erhebung vor sich geht, von den Behörden bewußt geändert wird; die veröffentlichten Ergebnisse einer stattgehabten Erhebung aber sehen aus, als seien sie durchaus gleichartig, was zu den allergrößten Irrtümern Anlaß gibt. Einen klassischen Beleg bietet die Heeresergänzungsstatistik und der aufgrund derselben von SERING erhobene Alarmruf, daß durch die zunehmende Industrialisierung Deutschlands die Wehrfähigkeit des Deutschen Reichs gefährdet wird. Ich habe seit Jahren immer und immer wieder darauf hingewiesen, daß aus der Heeresergänzungsstatistik diese Schlüsse nicht gezogen werden können, da der bei der Rekrutierung zur Anwendung gelangende Maßstab der Tauglichkeit wesentlich von den Rücksichten auf den Bedarf beeinflußt wird. Aber es hat alles nichts genützt. Noch immer werden die aufgrund einer völlig mangelhaften Erhebung aufgestellten Behauptungen wiederholt. [...]

7.  Eine Untersuchung führt häufig dazu, nur eine Seite einer Frage ans Licht zu stellen, oft absichtlich, oft unbeabsichtigt. 

Unbeabsichtigt:  Zum Beispiel fand 1866 in Frankreich eine Enquete statt über die Lage der Landwirtschaft. Die 18. Kommission untersuchte die Departements le Gers, la Haute Garonne, le Tarn et Garonne. Sie begab sich von Ort zu Ort und befragte die Grundeigentümer. Nur die großen kamen, nicht die kleinen. Die kleinen hatten auf dem Feld zu tun. Die Folge war: die Kommission hörte nichts anderes als Klagen: die großen Grundbesitzer des Gers klagen sämtlich über die schlimmen Wirkungen der Parzellierungen. Aber die Mitglieder der Kommission waren Männer nicht ohne Einsicht und mit einiger Geschicklichkeit brachten sie die Klagenden zu dem Geständnis, daß das, worüber sie zu klagen haben, das ist, daß die kleinen Eigentümer mehr verdienen als sie selbst und die besten Arbeiter an sich ziehen. Der Großbesitz siecht dahin und leidet, der Kleinbesitz blüht.

Ein anderes Beispiel bietet die zweitätige Debatte im preußischen Abgeordnetenhaus am 20. und 21. April 1898 über die ländliche Arbeiterfrage. Es sprachen nur ländliche Arbeitgeber, kein Arbeitervertreter; denn kein solcher ist im preußischen Abgeordnetenhaus. Die Folge war eine durchaus einseitige Behandlung.

Dasselbe ist regelmäßig bei Zolldebatten zu beobachten. Laut sind nur diejenigen, denen ihr Interesse bekannt ist, andere haben das entgegengesetzte Interesse. Aber sie wissen es nicht und sind daher still. So ist die notwendige Folge eines jeden Zolls, daß in dem Maße, in dem durch ihn die Einfuhr einer bisher aus dem Ausland bezogenen Ware eingeschränkt wird, auch die Ausfurh einer inländischen Ware, mit der die fremde Ware bisher bezahlt worden ist, aufhört. Diejenigen, welchen der Einfuhrzoll zugute kommt, sind eifrigst bemüht, daß er dekretiert wird, dagegen kann niemand wissen, welche unter den bisher vom Ausland bezogenen Waren nun unverkauft bleibt. Daher erheben ihre Erzeuger auch keinen Widerspruch. Und doch ist es weit mehr im Gesamtinteresse, daß der Absatz derjenigen Produkte keinen Einbruch erleidet, bei deren Erzeugung vom Inland der größte Gewinn gemacht wird, als daß auf deren Kosten diejenigen Erwerbszweige sich ausdehnen, die nur mittels Zuschüssen aus der Tasche anderer erhalten werden können.

Ebenso wird oft unbeabsichtigt nur die eine Seite einer Frage ins Licht gestellt, weil die Personen einer Klasse oder eines Interesses der Befragung durch den Beobachter leichter zugänglich sind als die der entgegengesetzten.

Aber oft geschieht es auch  absichtlich,  wenn bei einer Untersuchung nur die eine Seite einer Frage beachtet wird. So 1878 in der Enquete über die Eisenzölle. Es galt den Umschwung vom Freihandel zum Schutzzoll herbeizuführen. Man hat nur diejenigen vernommen, welche an der Steigerung der Eisenpreise ein Interesse hatten, die Roheisenerzeuger,  nicht  aber die weit größere Zahl der Weiterverarbeiter, welchen der Rohstoff durch den Zoll verteuert wurde. Begreiflich, daß nur Tatsachen zutage gefördert wurden, welche für die Wiedereinführung von Eisenzöllen sprachen.

Oder man erinnere sich an die Denkschrift, betreffend die Ausschreitungen bei den Arbeitskämpfen der letzten Jahre, welche in der Session 1898/99 dem deutschen Reichstag vorgelegt wurde, um die sogenannte Zuchthausvorlage zur Annahme zu bringen. Es war eine durchaus einseitige Zusammenstellung vom Standpunkt derjenigen Arbeitgeber, welche die Arbeiterorganisationen als unbequem zu unterdrücken wünschten. Die darin aufgeführten Vergehen und Verbrechen sind aber nicht nur jetzt schon durch das Strafgesetzbuch mit Strafe bedroht, sondern auch, wenn die Zuchthausvorlage Gesetz geworden wäre, wären sie nicht unter dieses gefallen, sondern nach dem Strafgesetzbuch weit härter bestraft worden. So wurden Handlungen der Arbeiter zur Begründung des Gesetzentwurfs vorgebracht, welche durch das vorgeschlagene Gesetz gar nicht getroffen worden wären. Dies geschah nur, um andere Handlungen, die ansich nicht strafwürdig und bis jetzt auch noch nicht strafbar sind, in einem schwärzeren Licht erscheinen zu lassen, um durchzusetzen, daß auch sie mit Strafe bedroht werden. Unter diesen Handlungen sind solche, deren Zweck nicht strafbar ist und bei denen auch keinerlei rechtswidrige Mittel zur Anwendung kommen. Es finden sich darunter solche, welche, wenn von Arbeitgebern begangen, straffrei sind, aber wenn von Arbeitern begangen, mit Strafe bedroht werden sollten. Von einem Organisationszwang, den die Unternehmer bei ihren Kartellen üben, war darin mit keinem Wort die Rede. 1899 aber war der Reichstag nicht bereit, aufgrund einer derart einseitigen Darstellung ein Gesetz zugunsten von Sonderinteressen zu erlassen.

Ich will nicht sagen, daß ich mit dem hier Vorgeführten die Zahl der Schwierigkeiten erschöpft hätte, welche dem volkswirtschaftlichen Forscher infolge der Natur seines Beobachtungsobjekts im Wege stehen. Aber das Vorgeführte genügt, um den, der nach nichts als nach Erkenntnis der Wahrheit strebt, zu entmutigen. Man frag, gibt es angesichts so vieler Schwierigkeiten überhaupt die Möglichkeit, zur Erkenntnis der Wahrheit auf volkswirtschaftlichem Gebiet zu gelangen?

Wollten wir die Frage verneinen, so hieße das, auf jenes allzeit Sieghafte im Menschen zu verzichten, das SOPHOKLES in dem prachtvollen Chor gepriesen hat, in dem er die Wunderkraft des Menschen besingt:
    Es findet ohne Rat ihn nie
    Das Künftige usw.
Das Mittel zur Überwindung der vorgeführten Schwierigkeiten bietet die Enquete, d. h. die systematische Befragung von Sachverständigen zur Ermittlung von Tatsachen. 

Solche Enqueten werden vorgenommen von  Privaten,  sei es einzelnen Personen, sei es Vereinen und von  öffentlichen Behörden.  Von diesen würden die letzteren an sich den Vorzug verdienen, wenn die Behörden stets von nichts anderem beseelt wären, als dem rücksichtslosen Wunsch nach Feststellung der Wahrheit; denn die von Privaten oder Vereinen vorgenommenen Enqueten leiden meist daran, daß den Befragenden die nötige Autorität fehlt, um die Befragten zur Beantwortung der Fragen zu veranlassen, und an einer hieraus hervorgehenden Lückenhaftigkeit, sowie daran, daß die Befragung und Beantwortung der Fragen als Regel schriftlich stattfinden. Allein sehr häufig ist es den Behörden, statt umd die Erkenntnis, um die Verschleierung der Wahrheit zu tun. Wir kennen als besonderen Typus die Beruhigungsenqueten. Unleugbare Mißstände sind hervorgetreten; sie haben die öffentliche Meinung erregt; man ruft laut nach Abhilfe; aber die Maßgebenden wollen nichts Ernstliches gegen die Urheber der beunruhigenden Erscheinungen tun; da verspricht man eine Enquete, gestaltet die Untersuchung so, daß nichts Erhebliches dabei herauskommen kann, läßt ihre Durchführung sich monate-, ja jahreland hinschleppen und schließlich schläft die Sache ein. Wenn die Untersuchung zu Ende ist, ist die öffentliche Meinung mit anderem beschäftigt, und der Anlaß der Untersuchung ist vergessen. Ein Muster einer solchen Enquete war die deutsche Kartell-Enquete, die über die Rüstungsindustrien verspricht ähnlich zu verlaufen.

Alle unsere deutschen Enqueten stehen hinter denen, welche in anderen Ländern vorgenommen worden sind, weit zurück, namentlich hinter den englischen. Damit hängt es zusammen, warum die wissenschaftlichen Forscher sich weit lieber mit diesen als mit den deutschen befassen. Die englischen ermöglischen regelmäßig eine große, die deutschen nur eine geringe, oft gar keine Ausbeute.

Worin besteht der wissenschaftliche Vorzug der englischen Enqueten?

Damit eine Enquete wissenschaftlich brauchbar ist, muß sie vor allem  mündlich  stattfinden. Die schriftliche Enquete ist bloß da am Platz, wo es sich darum handelt, das ziffernmäßige Vorkommen von Erscheinungen festzustellen, die ihrer Natur nach bereits bekannt sind, also bei statistischen Erhebungen. Selbst hier bietet die größere Unkontrollierbarkeit aller schriftlich gegebenen Antworten in Bezug auf ihre Richtigkeit eine Schwierigkeit, welche bei richtig veranstalteten mündlichen Enqueten fehlt. Bei allen Enqueten dagegen, bei denen es darauf ankommt, festzustellen, welche Erscheinungen überhaupt vorkommen, und in welchem ursächlichen Zusammenhang sie zueinander stehen, ist die schriftliche Befragung völlig verfehlt. Hier führt der Verlauf der Enquete erst zur Erkenntnis der Fragen, die gestellt werden müssen. Gleichzeitig nur hier die Möglichkeit, die Richtigkeit der Antworten zu prüfen und falsche Angaben sofort zu berichtigen.

Sodann ist  die Zusammensetzung der Untersuchungskommission  von besonderer Wichtigkeit. Sie darf nicht bloß aus Beamten bestehen, welche durch Instruktionen ihrer Vorgesetzten gebunden oder zumindest durch die Kenntnis des Ergebnisses, das gewünscht wird, beeinflußt werden, sondern aus Personen, welche durch ihre Interessen, Kenntnisse und durch eine Unabhängigkeit der Gesinnung zur Erörterung der zu untersuchenden Fragen besonders berufen sind. Wo entgegengesetzte Interessen in Frage stehen, ist stets eine gleich große Zahl der Vertreter der beiden in die Kommission zu ernennen, sonst wird vieles, was wichtig ist, nicht gefragt. Es ist nicht nötig, daß alle Mitglieder der Untersuchungskommission besondere Vorkenntnisse mitbringen; wenn sie nur einen hellen Kopf haben und den Mut, rücksichtslos zu fragen. Die Antworten, die sie dann erhalten, geben ihnen bald eine ausreichende Belehrung, und dann dient gerade die Voraussetzungslosigkeit, mit der sie fragen, dazu, die Dinge, die festgestellt werden sollen, ans Licht zu bringen.

Ein weiteres Haupterfordernis ist eine  Spezialisierung der Untersuchung;  sonst  multa non multum  [viele Einzelheiten aber keine Gesamtheit - wp], das Ergebnis unbrauchbar.

Ferner muß  die Untersuchung in der Hand einer Kommission möglichst zentralisiert  werden, damit die Einheitlichkeit des Maßstabs gewahrt bleibt.

Ein  Binden der Untersuchungskommission an Fragebogen  bedeutet geradezu ein Hemmnis für die Erforschung der Wahrheit. Denn erst die Untersuchung zeigt, was überhaupt zu fragen, welche Frage wichtig ist, welche nicht. Auch fragt ein Fragebogen von jedem Zeugen alles, während jeder nur in Bezug auf einige Seiten und Einzelheiten der Aufgabe ein wahrhaft klassischer Sachverständiger oder ein erfahrener Praktiker oder Interessent von ungewöhnlichem Gewicht ist. Eine rationale Untersuchung muß vielmehr darauf gerichtet sein, jeden nur im Umkreis seiner speziellen Erfahrungen, Einsichten und Interessen, innerhalb desselben aber mit erbarmungsloser Gründlichkeit auszufragen bis auf die Knochen. Auch besteht bei im voraus festgestellten Fragen geradezu die Gefahr einer Verdunkelung des Tatbestandes, indem befragte Interessenten ihre Antworten allzu gut vorbereiten können.

Die  zur Vernehmung berufenen Personen  müssen den verschiedenen Lebensstellungen, Interessen und Parteien angehören, welche an den zu untersuchenden Erscheinungen beteiligt sind. Keine Person, die zur Aufklärung etwas beizutragen vermag, ist auszuschließen; jeder, der sich meldet, um etwas Wichtiges zu sagen oder die Aussagen anderer zu berichtigen, ist zu vernehmen. Aber nicht etwa in der Weise, wie es z. B. in der deutschen Kartell-Enquete geschehen ist, daß erst einer eine wohlgesetzte Rede hält, ein anderer erwidert, und dabei das, was ihm beliebt, berücksichtigt, was ihm nicht so paßt, außer acht läßt, und darauf ein dritter folgt, der es ebenso macht. Bei derartigem kontradiktorischem Verhandeln wird nicht die Wahrheit ermittelt. Eine Enquete soll nicht ähnlich wie Parlamentsverhandlungen stattfinden, sondern in einem Kreuzverhör der verschiedenen vernommenen Zeugen, wie es in einer Gerichtsverhandlung stattfindet, bestehen. Zeugniszwang, Vereidigung des Zeugen und Garantie von Straflosigkeit bei Vergehen und Verbrechen dürften nur als Ausnahme angezeigt sein. Sie sind in der Regel überflüssig, sobald nur die Öffentlichkeit der Untersuchung, besonders gegenüber der Presse besteht; diese aber ist unerläßlich. Durch eine Veröffentlichung der Stenogramme der Zeugenaussagen wird der Einseitigkeit der Feststellungen entgegengewirkt, indem jeder, der etwas dem Vorgebrachten Entgegengesetztes auszusagen hat, veranlaßt wird, sich zu melden. Hierdurch wird es möglich, die Richtigkeit des Schlußberichts zu prüfen.

Wo die hier aufgeführten Garantien einer auf nichts als auf eine Feststellung der Wahrheit gerichteten amtlichen Enquete fehlen, verdient trotz ihrer unvermeidlichen größeren Lückenhaftigkeit die  Privatenquete  den Vorzug. Es gibt Privatenqueten die, indem sie alle in Betracht kommenden Faktoren und Parteien, die Interessenten wie die Gegeninteressenten berücksichtigten, weit Besseres als die amtlichen Enqueten geleistet haben. Ein Muster ist z. B. die 1860 von der "National Association for the Promotion of Social Science" veröffentliche Enquete über  Strikes and Trade Societies. 

Aber freilich setzt eine solche allen Ansprüchen der Wissenschaft genügende Enquete voraus, daß dem Forscher, der danach strebt, allen Seite gerecht zu werden, von den Interessenten, die allein über die sie berührenden Tatsachen vollen Aufschluß zu geben vermögen,  nicht die Auskunft verweigert wird.  Ich muß aufgrund der Erfahrungen eines langen Lebens bezeugen, daß mir von seiten der Arbeiter niemals Hindernisse bei der Feststellung sie betreffender Tatsachen entgegengestellt worden sind; nicht selten haben sie mir rückhaltlos alles Material zur Benutzung anvertraut, das sich in ihren Händen befand. Von der Unternehmerseite ist mir ein solches Vertrauen nur einmal geschenkt worden. Der im letzten Sommer in Berlin verstorbene Geheimrat Dr. GEORG von CARO hat mir 1888 alles auf den Walzwerkverband bezügliche Aktenmaterial ohne jedwede Einschränkung zur Verfügung gestellt; meine aufgrund dieses Materials veröffentlichte Abhandlung, welche in den Mitteilungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte 1889 veröffentlicht worden sind, ist niemals wegen begangener Indiskretionen angegriffen worden. Sonst ist es heute leider üblich geworden, daß die Interessenten die volkswirtschaftlichen Forscher, die sie um Material angehen, fragen, in welchem Sinne sie es bearbeiten wollen, und wenn diese die Antwort geben, in keiner vorgefaßten Absicht, sondern lediglich um die Wahrheit festzustellen, wird ihnen das Material verweigert. Mitglieder meines Seminars haben dies in einer nicht geringen Zahl von Fällen zu beklagen gehabt. Diejenigen, welche sie so trocken gesetzt haben, hatten augenscheinlich keine Ahnung, welche Gewissensprostitution sie einem Mann der Wissenschaft zumuten, indem sie ihm jede Auskunft verweigern, außer bei vorheriger Festlegung auf ein bestimmtes Ergebnis der erst vorzunehmenden Untersuchung.

Ja, man ist noch weiter gegangen. In den Verhandlungen und Berichten des Zentralverbandes deutscher Industrieller Nr. 95, April 1903, findet sich Seite 6/7 folgendes Schriftstück abgedruckt:
    An die dem Zentralverband als Mitglieder angehörigen Syndikate und Kartelle: Es ist in letzter Zeit mehrfach vorgekommen, daß jüngere Privatgelehrte unter der Angabe, über Wirtschaftskrisen, Kapitalkonzentration und ähnliche Stoffe Studien machen zu wollen, den Versuch gemacht haben, dank persönlicher Besuche und schriftlicher Anfragen in die Privatangelegenheiten der Syndikate einzudringen. Es dürfte im Interesse aller Syndikatskartelle liegen, solche Versuche abzuweisen, da die Gefahr besteht, daß solche Informationen, welche unter allen Umständen lückenhaft und daher irreführend sein müssen, gegen das Syndikatswesen ausgenutzt werden. Wir möcht daher Ihrer Erwägung anheim geben, ob Sie nicht die Einzelmitglieder Ihrer Syndikate auffordern wollen, in Zukunft keinerlei solche Auskünfte zu geben.
Wenige Seiten weiter, Seite 11/12, folgt eine weitere Mitteilung folgenden Wortlauts:
    An die deutschen Syndikate und Kartelle: Von der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften zu Frankfurt am Main ist an eine große Anzahl deutscher Kartelle und Syndikate ein Handschreiben gerichtet worden, ihre Statuten, Geschäftsbedingungen, Jahresberichte, Marktberichte und sonstige Drucksachen der Akademie für die Zukunft regelmäßig einzusenden. Da die Frankfurter Akademie ein privates Unternehmen, doch unter kathedersozialistischen und wirtschaftsmoralistischen Einflüssen steht, so ist kaum zu erwarten, daß solche Zuwendungen dort im Interesse der deutschen Industrie ausgenutzt werden, und des dürfte sich daher empfehlen, dem Verlangen des Akademie-Sekretariats nicht nachzukommen.
Ich lasse ganz außer Betracht, daß die Professoren der Nationalökonomie an der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften in Frankfurt am Main zu den schärfsten Gegnern des Kathedersozialismus gehören, die Professoren VOIGT und POHLE. Die Hauptsache ist, daß hier vom wissenschaftlichen Forscher eine Gebundenheit der Marschroute verlangt wird, die durch nichts übertroffen werden kann, was eine orthodoxe Kirche von Theologie- oder Philosophieprofessoren oder Professoren der Geschichte zu fordern pflegt.

Nicht minder verwerflich ist es, wenn dem Forscher die Vornahme einer Untersuchung unter der Bedingung gestattet wird,  daß die Veröffentlichung ihrer Ergebnisse nur nach Einholung der Genehmigung dessen, der ihre Vornahme erleichtert hat, stattfindet,  und geradezu kläglich ist es, wenn, wie vorgekommen, Vertreter der Wissenschaft die Zusicherung geben, einer solchen Verpflichtung nachkommen zu wollen.  Ne quid falsi dicere, ne quid veri non dicere, audeat scientia  lautet die Manung, die über dem Auditorium Maximum der Münchener Universität prangt.

Es war am 1. Juni 1894, da hat der verstrobene Freiherr von STUMM auf dem 38. Rheinischen Provinziallandtag davor gewarnt, den jungen Kaufleuten und Gewerbetreibenden eine neue höhere Ausbildung zu geben. Denn wenn heute schon die jungen Assessoren bzw. die jungen Juristen, die später Assessoren werden, die sozialpolitischen Lehren von ADOLF WAGNER, von BRENTANO, von SCHULZE-GÄVERNITZ in sich aufnehmen, dann sei für sie alles verloren; dann würden wir geradewegs in die Sozialdemokratie hineinsteuern. Seitdem sind fast zwanzig Jahre ins Land gegangen, und aus den fortwährenden Klagen gewisser Unternehmerkreise, wie sie uns erst wieder in einer von der Düsseldorfer Handelskammer über das Thema "Industrie, Handel und Reichstag" veröffentlichten Broschüre entgegentreten, zeigt sich, daß der Freiherr von STUMM Schule gemacht hat. Man sollte danach meinen, daß es ADOLF WAGNER, SCHULZE-GÄVERNITZ und ich, und nicht vielmehr die Interessenorganisationen seien, welche heute die wirtschaftliche Gesetzgebung im Reich beherrschen und daß daher eine noch stärkere Interessenvertretung darin wünschenswert ist. Und das alles bloß, weil selbst im heutigen Reichstag neben der bloßen Interessenvertretung darin wünschenswert ist. Und das alles bloß, weil selbst im heutigen Reichstag neben der bloßen Interessenvertretung noch Vertreter des Gesamtinteresses zu Wort kommen!

Und nun werden sie es verstehen, wenn ich mich in den einleitenden Worten zum heutigen Vortrag ganz besonders an die Männer der Praxis im Wirtschaftsleben gewendet hat. Möchte ich es ihnen verständlich gemacht haben, daß ein Verhalten der Praktiker zu den Theoretikern, wie es aus den hier mitgeteilten Zirkularen des Zentralverbandes deutscher Industrieller und aus Äußerungen anderer Interessenten, die vom gleichen Geist getragen sind, uns entgegentritt, niemals zu einem Verständnis zwischen Praxis und Wissenschaft führen kann. Alle diese Äußerungen kennen keinen anderen Standpunkt als den der rücksichtslosen Vertretung ihrer Privatinteressen. Der verdiente, aber aus dem Tempel der Wissenschaft mit Geißelhieben vertrieben zu werden, der sich je auf diesen Standpunkt stellen würde. Die Wissenschaft, wie ich es schon oft ausgedrückt habe, kennt nue  ein  Ziel: die Erkenntnis der Wahrheit. Diesem einen Ziel muß sie mit unerbittlicher Strenge alles und jedes unterordnen: das eigene Ich des Forschers mit allem seinen egoistischen Fühlen und Streben, seinen Meinungen, seinen Lieblingsideen und seinen Interessen. Kein Heiligtum darf ihr heiliger sein als die Wahrheit. In alles muß sie eindringen, um ihr zu dienen. Vor keiner Prüfung und Zergliederung darf sie zurückschrecken; und rücksichtslos hat sie auszusprechen, was die Prüfung ergeben, ohne Rücksicht auf Vorteil oder Nachteil, ohne Gier nach Lob und ohne Furcht vor Tadel. Das, was diejenigen, die dem nachkommen, aufrecht erhält, ist die Gewißheit, daß so übermächtig diejenigen scheinen mögen, die um ihrer Privatinteressen willen diejenigen zu ersticken suchen, welche nichts anderes suchen als die Wahrheit, der schließliche Sieg doch dieser gehören wird.
LITERATUR Lujo Brentano, Über einige in der Natur des Beobachtungsobjekts liegende Schwierigkeiten des volkswirtschaftlichen Forschens, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 38, Tübingen 1914
    Anmerkungen
    1) Siehe HARTUNG PEETZ, Der Haushalt des Klosters Polling im 18. Jahrhundert, im Jahrbuch für Münchener Geschichte 1890, Bd. IV, Seite 359.
    2) Vgl. HERKNER, in Bd. 76 der Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Seite 336-338.