tb-1 J. VolkeltH. HelmholtzC. GöringE. Laas    
 
HERMANN COHEN
Kants Theorie der Erfahrung
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"Woher in aller Welt kommen uns diese Ideen mit ihrem großen Anspruch? Nicht welcher Weber oder Tischler sie uns leihe; noch auch welcher Gott sie einpflanze, fragen wir, vielmehr, woher und wie sie immer entstehen mögen: welches Recht haben wir uns auf sie zu berufen, und welche Gewähr bieten sie uns von ihrer unerschütterlichen Wahrheit?"


Vorrede zur ersten Auflage

Im vorliegenden Buch habe ich unternommen, die Kantische Aprioritätslehre von Neuem zu begründen. Die Überzeugung von der Wahrheit derselben ging mir nicht unvermittelt aus dem Studium der Kantischen Werke auf; sondern sie bildete und befestigte sich im Kampf gegen die Angriffe, welche jene erfahren hatte. Wie der größte Teil der Jüngeren, welche der Philosophie obliegen, war auch ich in der Meinung aufgewachsen, daß KANT überwunden, - historisch geworden sei. Als mir daher der Gedanke kam, daß jene Angriffe KANT nicht treffen, wurde derselbe zunächst von einem Glauben an das Ansehen der Zeitgenossen niedergehalten. Je mehr ich jedoch in die Ansichten, aus welchen jene verwerfenden Urteile erfolgten, so weit es mir gegeben war, mich vertiefte, desto beharrlicher blieb jener Zweifel. Und doch schien es mir unglaublich, daß KANT, von dem Alle ausgehen wollen, anders, im Grunde und Wesen anders verstanden werden könnte, als die stimmführenden Männer vom Fach ihn lehren und deuten. Nun gestehe ich zwar dankbar, daß diese Autoritäten-Instanz erheblich geschwächt wurde durch die Tatsache, daß sogar unter den Empiristen von gebietender Seite das Recht KANTs hochgehalten wird; und ich glaube, die Zeit sei nicht fern, in der man es HELMHOLTZ insgeheim danken wird, daß er oftmals und nachdrücklich auf KANT hingewiesen hat. Aber auch diese ermutigende Wahrnehmungt hätte mich nicht zu einem sicheren und freien Urteil gebracht. Denn bei der ausschließend systematischen Behandlung des erkenntnistheoretischen Problems kann nicht leicht darüber volle Gewißheit werden, wie weit der nach der Seite des Idealismus oder des Realismus  entwickelte  KANT Recht behalte, wie weit der historisch gegebene.

Mir aber lag es daran, den historischen KANT wieder darzustellen, ihn in seiner eigenen Gestalt, so weit sie mir faßbar wurde, seinen Widersachern gegenüber zu behaupten. Bei dieser Kärrnerarbeit, der ich froh war, gewahrte ich nun je laänger je deutlicher, daß die Widerleger den urkundlich vorhandenen KANT sich nicht zu eigen gemacht hatten: daß ihre Auffassung durch schlichte Anführungen widerlegt werden könne. Ich sah, wie systematischer Gegensatz und historischer Irrtum wechselweise einander bedingten. Aud diesem methodischen Weg, durch die Verbindung der systematischen und der historischen Aufgabe, habe ich mich vom Zweifel ander Richtigkeit meines Unternehmens endlich befreit.

Wer auch nur mit der äußeren Tagesgeschichte der philosophischen Wissenschaft bekannt ist, wird diese Lösung des Zweifels nicht etwa unerhörter finden, als den Zweifel selbst. Denn ein für das Urteil Mancher noch nicht erledigter Streit hat es zum Leidwesen Aller, denen - wenn de Kantische Ausdruck gestattet ist - Philosophie am Herzen liegt, bloßgestellt, wie es um die historische Kenntnis der Kantischen Philosophie in Deutschland bestellt ist. Berühmte Forscher bezichtigen einander der Unwissenheit in Bezug auf die wichtigsten und die gemeinsten Sätze des Kantischen Systems. Die Fundamentallehre aller künftigen Metaphysik ist in jenem Streit in Frage gestellt worden. Worin? In Bezug auf ihren wissenschaftlichen Wert? Das ist die Meinung. Aber der Streit hat sich so weit von seinem Ausgang entfernt, daß er diesen seinen Schwerpunkt verloren hat, und sich vielmehr um die Frage nach dem Sinn und - ein Jeder liest ja  seinen  KANT - nach dem Tatbestand der Lehre dreht. Wer auch nur von fern jener Kontroverse gefolgte ist, muß das bemerkt haben. Der Streit war entsprungen aus einer neuen Kritik des wissenschaftlichen Wertes der Kantischen Lehre; und er ist ausgelaufen in die Rezension der geschichtlichen Darstellung jener Lehre.

Dieser Ausgang des Streites war die Folge von der Art der Führung desselben. Die eine Partei erklärte selbst, nur als Geschichtsschreiber, nicht als "Advokat" KANTs Rede zu stehen. Aber die historische Frage, welche in jenem Streit allein ausgetragen werden sollte, ist nicht abzutrennen von der systematischen Angelegenheit, in der seine Quelle liegt. Die Lösung einer jeden von diesen beiden zusammengehörigen Aufgaben ist bedingt durch die vereinigte Behandlung beider. Um KANT nach seinem Wortlaut zu verstehen, ist es unumgänglich, die voneinander verschiedenen Auffassungen, welche derselbe möglich gemacht hat, auf ihren Wert für die Theorie der Erkenntnis eigens zu prüfen: die systematische Parteinahme ist unvermeidlich. Denn es sind nicht die äußeren Tatsachen von Worten, welche festgestellt werden sollen, sondern die Zusammenhänge geschlossener Gedanken, deren Sinn die historische Forschung gegenüber von Auffassungen und Deutungen zu erhellen hat, welche nicht mindern aus der gesamten Weltansicht der Urteilenden fließen. Man kann kein Urteil über KANT abgeben, ohne in jeder Zeile zu verraten, welche Welt man im eigenen Kopf trägt. Das Verständnis einer Kritik über KANT erheischt [erfordert - wp] deshalb das Verständnis der Philosophie des Kritikers, welche als der geheime Urheber nicht bloß jener Kritik,  sondern ebensosehr jener scheinbar objektiv-historischen Auffassung  im Auge zu behalten ist.

Dieser Umstand macht die Metakritik einerseits zu einer schweren Pflicht, andererseits aber, wenn eine andere Bedingung hinzutritt, zu einer leichten Sache. Es ist eine schwere Pflicht, der Metakritik über das ganze Gefüge der gegnerischen Ansichten Ausdehnung zu geben, weil die einzelne Meinung nur aus dem verborgenen Hang am System verständlich werde; und es setzt den polemischen Stil mancherlei Gefahren aus. Aber die Aufgabe wird eben dadurch auch erleichtert. Wenn nämlich die gegnerische Ansicht nur in sich selbst gründlich ist, so enthält die aus ihr hervorgegangene Kritik entweder eine gründliche Wahrheit, oder einen gründlichen - Irrtum, einen Irrum, den es sich lohnt zu ergründen. Hat man einmal den Kernpunkt einer solchen Kritik getroffen, so ist alles Andere mitgetroffen. Und hat die Kritik in jenem Hauptpunkt geirrt, so ist es ihr Verdienst, daß sie auch im Einzelnen fehlging. So wird durch die Verbindung beider Interessen die Metakritik allmählich leicht und gewinnt Bestätigung.

Endlich aber darf eine Erwägung nicht verschwiegen bleiben, welche mich bei dieser ganzen Arbeit beruhigt und gehoben hat: sie wird auch dem Leser ein günstiges Vorurteil für die Sache, welche hier vertreten wird, erwecken.

Durch die Wiederaufrichtung der Kantischen Autorität würde den philosophischen Studien eine unabsehliche Förderung bereitet werden. KANT hat zwar selbst gesagt, daß es in der Philosophie keinen klassischen Autor gebe. Aber durch eine solche Bemerkung wird nicht abgeleugnet, daß der Philosophie aus der genauen Bearbeitung ihrer Geschichte unentbehrlicher Nutzen erwachse: einmal für die Richtung der Probleme; dann aber auch für die Ausrüstung des Denkens. es ist nur halb wahr, daß in der Philosophie ein Jeder von vorn anfangen müsse. Indessen ist die heilsame Reaktion, welche in Fragen der alten Philosophie die konstruktive Anmaßung gebändigt hat, für KANT bisher unterblieben. Sonst behutsame Forscher haben es nicht verschmäht, ihr kritisches Geschäft an KANT in einer Weise zu betreiben, daß es in allem Ernst fraglich werden mußte, worin denn die in den beschreibenden Paragraphen Denkergröße des Mannes bestehen mag. Dieses Verfahren hat seinen guten Grund: man hatte sich mit KANT abzufinden und konnte nicht mit ihm fertig werden. Aber solche Beispiele, in der "objektiven" Geschichtsdarstellung von den Besseren gegeben, müssen beim Anfänger Flüchtigkeit im Denken erzeugen. Wenn KANT so offenliegende Fehler begangen hat, so lohnt es nicht der Mühe, ihn gründlich und mit Hingabe durchzuarbeiten. Ohne volle Hingabe aber läßt sich kein Geist begreifen, dem man nicht gleicht. Wenn daher der Philosophie, wie es heutzutage Viele aussprechen, nur durch KANT wieder aufgeholfen werden kann, so tut vor allem die Einsicht Not, daß dieser ein  Genius  ist. Dann wird alles kluge Besserwissen füglich schweigen, die eigene Weisheit sich gedulden, bis man sich mit Ernst und Eifer durch die schwierigen Sätze hindurchgedacht hat, bis man das Kantische Gebäude vom Einzelnen zum Ganzen und abwärts sicher durchschreiten kann.

Die dem ARISTOTELES zugewendete verdienstvolle Arbeit hat reiche Ausbeute gebracht: sollte KANT, mit philologischer Genauigkeit behandelt, geringeren Ertrag erwarten lassen?

Aber der Gewinn an Erkenntnis und Schärfung scheint mir nicht das Höchste zu sein, was der Wissenschaft aus einer von den herrschenden Ansichten abweichenden Auffassung der Kantischen Lehre ersprießen würde. Die sittliche Reinheit des "alten ehrlichen Kant" hat unter jenen Ansichten bedenklich gelitten. Ich rede nicht von den frevelhaften Verdächtigungen, die dieser mit peinlichster Sorgfalt jede Nebenbedeutung eines jeden Ausdrucks bedenkende Schriftsteller, sogar von Solchen erfahren hat, welche seiner Spur zu folgen vorgaben. Aber auch unter den unbefangeneren Darstellungen mußte die Konsequenz des Denkers fraglich bleiben. Demgegenüber hat es mir eine große Befriedigung bereitet, durch Vergleichen der in geändertem Ausdruck oft wiederkehrenden Gedanken fast in jeder Änderung, besonders auch in den kleinsten Abweichungen, welche die zweite (1) Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft enthält, Sinn zu finden. Diese Beobachtungen, bei denen ich eine dem ästhetischen Genuß vergleichbare Freude empfunden habe, stärken das Vertrauen zur moralischen Kraft derjenigen Exemplare, in denen wir unsere Gattung ehren. Und dieser Erfolg ist kein geringer.

Möge es also vereinten Bestrebungen gelingen, Entstellungen und Verdunkelungen gegenüber, welche bereits bei Lebzeiten KANTs aufgetaucht und unter vereinzeltem Widerspruch angewachsen sind, diesen Heros des Deutschen Geistes in seiner Größe als Denker und in seiner Würde als Charakter dem Bewußtsein der Zeitgenossen zu erschließen, und sein Werk für eine fernere, reinere Fruchtbarkeit frei zu machen.





Vorrede zur zweiten Auflage

Die Vorrede einer zweiten Auflage hat nicht allein von dieser, sondern von deren Verhältnis zur ersten zu berichten. Obwohl nun dieses Verhältnis schwerlich allein von der subjektiven Entwicklung des Verfassers bestimmt ist, so beabsichtige ich dennoch nicht über die Stellung des Publikums zur ersten Auflage dieses Buches zu reden, sondern über mein eigenes Verhalten derselben, welches sich in dieser neuen Bearbeitung darstellt.

Nahezu solange, als der ersten Auflage der Vertrieb gefristet war, habe ich selbst gebraucht, sie mir fremd zu machen, um sie zu verbessern. Diese Verbesserung mußte in systematischer und in historischer Hinsicht angestrebt werden, und diese beiden Rücksichten mußten verbunden wirken, wie die Vorrede zur ersten Auflage solches gefordert hat.

Die systematische Verbesserung mußte auf dem Gebiet der Erfahrungslehre versucht, zugleich abe auch nach den Grenzen der Ethik gerichtet werden. Es war demgemäß die Ideenlehre in die Erfahrungslehre aufzunehmen, und ich habe auch Grund von "Kants Begründung der Ethik" (1877) eine neue Darstellung der Ideenlehre hier unternommen, mit Ausschluß freilich der Ethik, aber im Hinblick auf sie und in latenter Vergleichung mit ihr.

Die Bearbeitung und Rehabilitierung des der Erfahrungslehre angehörigen Teils der Ideenlehre war ferner dadurch bedingt, daß die Quintessenz der synthetischen Grundsätze, in deren Darstellung die erste Auflage besonders mangelhaft geblieben war, zu entsprechender Bestimmtheit entwickelt wurde. Der oberste Grundsatz der Apperzeption mußte demgemäß an die Spitze der Rekonstruktion gestellt werden, wodurch die Ableitung der Motive des Systems strenger werden konnte, da die Einheit des Bewußtseins als Einheit der Grundsätze geltend gemacht, und jede Divergenz nach der psychologischen Seite des persönlichen Bewußtseins ausgeschlossen wurde.

Aber auch die Gliederung der Grundsätze konnte durchsichtiger werden, nachdem es gelungen war, als Kern derselben den Grundsatz der intensiven Größe zu entdecken. Denn auf dem Verhältnis zur intensiven beruth die extensive Größe, also der erste mathematische Grundsatz und mit ihm das Raum- und Zeit-Problem; ferner aber auch der Grundsatz der Kausalität, welche letztere in intensiven Größen ihre Erzeugung bewirkt; und endlich auch der modale Grundsatz der Wirklichkeit; denn diese will dasjenige legitimieren, was die Empfindung anmeldet. So schienen alle Arten der Grundsätze in diesem ihren Schwerpunkt zu haben, und so konnten auch die Elemente der Grundsätze, Raum und Zeit wie die Kategorien, aus demselben ein neues Licht empfangen.

Eine Folge dieser Ansicht war die Überzeugung: daß von der genauen Ausarbeitung und konsequenten Durchführung dieses zentralen Grundsatzes das Schicksal der Lehre abhängt. Auch jene gewaltigen, aber verirrten Bestrebungen der unmittelbaren Nachfolger von FICHTE bis HEGEL, wie nicht minder bis HERBART dürften aus diesem Problem verständlich werden, an dem sie alle Anstoß nehmen und zu dem sie Fühlung suchen. Durch das Schicksal der spekulativen Romantik erschien daher unsere Tendenz beleuchtet: in der neuen Begründung dieses Gedankens die Rechtfertigung des kritischen Idealismus von Neuem zu versuchen. Der Streit der Worte über die Standpunkte, über die Annahme von affizierenden und dergleichen Dingen kann doch vielleicht zum endlichen Einschlafen kommen, wenn im Werkzeug der intensiven Größe, welche Anschauung und Empfindung, das will sagen Mathematik und Physik verbindet, der Idealismus als der methodische Erzeuger der Wissenschaft begriffen wir, dem alle anderen Gesichtspunkte dienend nur sich beigesellen.

Die Einsicht von der Bedeutung dieses Grundsatzes hat jedoch nicht allein vorwärts den geschichtlichen Blick geleitet, sondern vornehmlich die Entwicklung der modernen Probleme geordnet, indem sie in den Klassikern der Renaissance und der deutschen Aufklärung KANTs echte Vorläufer aufsuchte. Auch in dieser Hinsicht war der Grundsatz der Antizipationen leitend. Denn im Begriff des Infinitesimalen werden die "neuen Wissenschaften" begründet, die NEWTON und LEIBNIZ zum System gestalten. Um diesen Gedanken lebendig zu machen, ist die Schrift "Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte" (1883) voraufgeschickt worden, um in der breiteren geschichtlichen Darlegung die historische Fundamentierung vorzubereiten, welche hier in der Einleitung entworfen ist. Zugleich aber war jene Arbeit als ein "Kapitel zur Grundlegung der Erkenntniskritik" abgefaßt, um die Ausbildung einzuführen, welche der Kantischen Lehre in unserem Nachdenken gegeben wird.

Über diese Ausführungen der Kantischen Motive und ihre innerliche Verbindung mit der historischen Wiedererweckung des kritischen Systems versuche ich hier nicht in methodologischen Auseinandersetzungen von Neuem mich zu rechtfertigen; sondern vertraue auf das Buch und das ernste Studium, dem ich dasselbe empfehle. Denn es ist nicht als ein Handbuch zum Nachschlagen, was der Verfasser über diesen oder jenen Punkt der Kantischen Schriften sage, gedacht, sondern als ein Lehrbuch für Studierende. Und im Studium der Philosophie kommt es nicht auf die Anzahl der Jahre, kaum auf die Menge sogenannter philosophischer Kenntnisse an. Des Anspruchs soll ein jeder philosophischer Schriftsteller sich befleissigen: daß seine Gedanken daraufhin geprüft werden, ob sie in systematischer Ordnung verfaßt sind, - denn darin allein liegt der Wert philosophischer Gedanken - also auch: daß sein Buch als ein Lehrgebäude studiert werde. Diesen Anspruch soll nicht minder aber der erheben, welcher ein System als solches zu rekonstruieren vorgibt.

Indem ich diese neue Auflage dem Andenken eines Mannes widme, welcher der ersten und ihrem Verfasser eine in jedem Sinne ermutigende Teilnahme bewiesen hat, gebe ich damit doch nicht allein dem Gefühl persönlicher Dankbarkeit Ausdruck, sondern ich fasse und halte fest in diesem Gedenken die Zuversicht: daß nach allen wissenschaftlichen, sittlichen und sozialen Gärungen der Geist, der uns groß gemacht hat, wieder unter uns lebendig werden muß. Aus dieser historischen Ansicht ist diese Arbeit entstanden, und aus derselben richtet sie die Mahnung an die Jugend: "Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen."




Einleitung

1. Die sachlichen und die historischen Voraussetzungen

Das Studium KANTs erfordert die Kenntnis seiner Voraussetzungen. Von diesen sind zwei Arten zu unterscheiden: die sachlichen und die historischen. Die sachlichen Voraussetzungen bestehem im Inhalt und der Geltungsart derjenigen Wissenschaften, auf welche die Philosophie KANTs sich bezieht. Die historischen dagegen im Streit der philosophischen Schulen, in welchen KANT eingreift.

Die sachlichen Voraussetzungen scheinen unfaßbar zu sein, so groß ist ihr Inhalt und so reich ist ihre eigene Geschichte; sie lassen sich jedoch in dem  einen  Namen NEWTONs zusammenfassen und bestimmen: in dessen Schriften KANT als Jüngling bereits eingeführt wurde, und mit denen er bis in das höchste Alter seiner schriftstellerischen Tätigkeit in vertrautester Auseinandersetzung verblieben ist. In diesen Beziehungen KANTs auf die Wissenschaft NEWTONs wird die präzise Fassung jener Voraussetzungen dadurch ermöglicht, daß es sich in denselben nicht sowohl um spezielle Probleme und Ergebnisse der Forschung, als vielmehr um Fragen der Methode handelt. In den systematischen Untersuchungen KANTs sind es überhaupt nicht die einzelnen Dinge und Vorgänge, noch auch selbst die einzelnen Kräfte und Gesetze der Natur, mit deren Ermittlung und Würdigung die vorkritischen Studien KANTs zumeist beschäftigt waren, sondern vorwiegend ist es die Art der Forschung, der Grad der Gewißheit, die methodische Eigentümlichkeit des Geltungswertes in diesem Wissen, welche das philosophische Problem ausmachen: die Natur als Wissenschaft.

Die Art dieser Voraussetzung ist daher bündiger zu bestimmen, weil die nahezu zweihundert Jahre, welche seit dem Erscheinen der  Philosophiae naturalis principia mathematica  verflossen sind, eine gewisse dunkle Übereinstimmung herbeigeführt haben bezüglich dessen, was diese Wissenschaft als Wissenschaft auszeichnet. Man macht doch einen methodischen Unterschied zwischen Mathematik und Ethik, Naturwissenschaft und Geschichte. Die Beziehung KANTs zur Wissenschaft als diejenige zu NEWTON aufgefaßt, so inhaltsreich sie sein muß, ist somit doch definiert, und stellt die Möglichkeit in Aussicht, wenn nicht ausgemessen, so doch in den Hauptrichtungen überschaut werden zu können. Anders steht es mit der anderen Voraussetzung.

In den geschichtlichen Voraussetzungen sind wiederum zwei Arten zu unterscheiden. Die eine Art betrifft die Anknüpfungen, welche KANT beabsichtigter Weise an Vorgänger und Zeitgenossen gemacht hat. hier gilt es die Gedanken und die Ausdrücke nach dieser persönlichen Beziehung des Schriftstellers zu verstehen. Diese Art der historischen Voraussetzung bildet die philologische Seite der Interpretations-Aufgabe, über deren unersetzlichen Wert kein Streit sein kann, zumindest zu beachten ist. Man kann KANTs Darstellung seiner Lehre von Raum und Zeit nicht verstehen, wenn man glaubt, KANT habe diese Begriffe in die Philosophie eingeführt.

Schwieriger aber ist das Verhältnis der anderen Art historischer Voraussetzung zu bestimmen, ja zu bezeichnen. Und doch besteht in dieser anderen Art des historischen Zusammenhangs überall vornehmlich und eigentlich das, was wir Geschichte nennen, sowohl das Dasein in ihr, wie das Begreifen dieser Ordnungen.

Nicht das nennen wir einen geschichtlichen Zusammenhang sei es eines Individuums, sei es eines Volkes: worin es mit geringer oder großer Kraft in begrenzter Absicht sich betätigt, sichtbar an den fernen oder nahen Nachbar in die Kette greifend. Diese Kurve gibt etwa das abstrakte Bild einer isolierten Lebensführung; nicht aber die Beschreibung eines geschichtlichen Daseins.

Das geschichtliche Dasein einer Person fällt keineswegs zusammen mit ihrem persönlichen Tun und Wollen. Das geschichtliche Begreifen erschleicht daher das Prinzip: daß jegliches Individuum in einem gewaltigeren Sinn einer - geschichtlichen - Ordnung angehöre, als den es selbst einzusehen vermag. Nur dann verstehen wir geschichtlich eine Erscheinung, wenn wir sie in demjenigen Zusammenhang begreifen, welcher ihr selbst verborgen bleiben muß. Diese Art der geschichtlichen Voraussetzungen bildet das ideale Ganze, und ihre Feststellung die ideale Aufgabe der Geschichte: die Ermittlung desjenigen Zusammenhangs, den die Einzel-Erscheinung als solche, auch die mächtigste, nur widerspiegelt, den sie selbst jedoch in bewußter Reflexion nicht darzutun vermag. Die Geschichte, wie und so sehr sie für die Einzelforschung den geistig-sittlichen Mikrokosmos voraussetzt, beruth doch im Ganzen auf dem Prinzip des  mundus intelligibilis  [die Welt des Denkbaren - wp], des Reichs der Geister und Zwecke, dem der mächtigste Selbstzweck sich als Mittel einordnet.

Enthalten wir uns der Ausführung dieses Gedankens für den Begriff der Weltgeschichte, um sogleich die Anwendung auf unsere Aufgabe zu machen.


2. Kants Verhältnis zu seinen Vorgängern

KANT hat viele seiner Vorgänger und Genossen und zwar wiederholt genannt; und außerdem liegen die Beziehungen in den Problemen und Ausführungen zum großen Teil offen vor. Aber keineswegs lassen sich die geschichtlichen Voraussetzungen KANTs aus diesen Daten erschöpfen, noch richtig beleuchten. Viele Umstände haben zusammengewirkt, um die wahren Voraussetzungen zu verschieben. Zunächst war es Rücksicht auf den Zeitgeschmack, auf die beliebten Schriftsteller, ferner ein bei so großartiger Darstellungskraft rührendes Verlangen nach populärer Leichtigkeit, und endlich Dankbarkeit für die empfangenen Anregungen, welche KANT bewogen haben mögen, nach der englischen Seite hin seine Anhängigkeit kräftiger zu betonen, als es der Sache nach richtig erscheinen dürfte. Zudem waren jene englischen Schriftsteller die weltmännisch gebildeten Köpfe mit weitem Blick und ausgebreiteten Kulturinteressen, sowie als Protestanten in den Glaubensfragen freier, und persönlich von religiöser Ehrlichkeit. So konnte auch ihr Stil bieder und individuell werden.

Unter den Landsleuten dagegen weiß er nur MENDELSSOHN neben HUME zu stellen, um in der köstlichen Bewußtlosigkeit des Genius dessen Eleganz zu bewundern. Von wissenschaftlichen Köpfen utner den deutschen Fachphilosophen schätzt er kaum einen, ausgenommen LAMBERT. Mit den Übrigen hat er schon vor seiner Reife gebrochen, und die er nach 1781 überhaupt erst oder näher kennenzulernen hatte, waren mit ihren Leistungen am wenigsten dazu angetan, seinen vaterländischen Stolz in dieser Richtung zu wecken: die langweiligen Nachtreter erschienen dabei nicht als die schlimmsten; die "Vornehmen" vielmehr mit den "Genieschwüngen" stachen ebensosehr gegen die deutsche Gründlichkeit als gegen die englische Ehrlichkeit ab. LEIBNIZ selbst aber, von dem damals auch extensiv weit weniger bekannt war, als nunmehr allmählich uns übermittelt wird, sah KANT zu sehr im Lichte WOLFFs und der wolffischen Leibnizianer. Es ist unter diesen Umständen positiv anzuerkennen, daß KANT sich redlich bemüht hat, dem großen Vorgänger die Gunst der "milderen" Deutung zuzuwenden. Aber der große unmittelbare Vorfahre, der mit seinem System der Harmonie die nicht durchaus unzweideutige Fähigkeit verband, allen Standpunkten in Philosophie, Politik und Religion sich selbst zu harmonisieren, dieser "berühmte Herr von Leibniz" mochte sich ihm weniger als der bahnbrechende Lehrer, denn als der nachwirkende Gegner fühlbar machen, den er daher wohl kaum mit hinlänglicher historischer Gerechtigkeit zu würdigen vermochte.

Zu den Franzosen vollends konnte er sich am wenigsten hingezogen fühlen. Nur der Genfer Bürger erschien ihm naturwahr und chiliastisch zugleich. Der Weltruhm VOLTAIRE ging nur an seinem Humor nicht spurlos vorüber. Und der Materialismus überhaupt, so sehr er ihm als Gärungselement fruchtete, war seiner Seele zuwider. Die großen Denker hingegen, vor allem DESCARTES und dann auch MALEBRANCHE konnten ihn innerlich nicht ansprechen. Diese souveräne Verquickung von Materialismus und Spiritualismus, diese bei aller anschaulichen Lebhaftigkeit gewundene Schreibart mit dem pflichtschuldigen Abschluß eines jeden Kapitels: daß sie sich natürlich den heiligen Wahrheiten der katholischen Kirche unterwürfen; dieses Säkularisieren der Glaubenssätze, dieses unfreie Ausnutzen der scholastischen Weisheiten mußte dem Helden der Aufklärung, dem "Lehrer im Ideal" widerstreben.

Endlich liebt unser KANT von der Schule her seine römischen Dichter und weiß sie auswendig. Aber die Griechen mit ihren autochthonen Schätzen sollten erst seine Schüler uns ausgraben. Nun hat er zwar seinen Zusammenhang mit PLATON in vielen und wichtigen Äußerungen selbst hervorgehoben (2), wie er in der Ideenlehre an ihn sich anschloß und selbst die Grundfrage der Kritik schon bei PLATON wiederfinden wollte. Auch in der entsprechenden Würdigung des ARISTOTELES zeigt sich die kongeniale Sympathie mit dem "Mathematiker" PLATON kann es bei jenen Anknüpfungen sein Bewenden haben; noch ist der geschichtliche Zusammenhang mit DESCARTES durch die wenigen Anführungen KANTs bezeichnet; noch auch ist die Beziehung zu LEIBNIZ durch die allgemeine Reaktion gegen den Sensualismus erschöpft. Sowohl zu PLATON, wie bestimmter noch zu DESCARTES, wie ganz deutlich und intim zu LEIBNIZ walten Beziehungen bei KANT, durch deren lebhafte Vergegenwärtigung das Verständnis desselben bedingt ist. Und die Erörterung dieser Beziehungen betrifft die andere Art der geschichtlichen Voraussetzungen. Denn es kann hierbei nicht darauf ankommen und beschränkt bleiben, was KANT etwa von PLATON oder von DESCARTES oder selbst von LEIBNIZ gelesen und gedacht habe; dieser philologische Teil der Interpretation steht für sich, und darf in keiner Weise, von keinem anderen Interesse beeinträchtigt, geschweige denn verdunkelt werden. Aber er reicht eben nicht aus für das volle und wahrhafte geschichtliche Verständnis.

KANT geschichtlich verstehen, heißt nicht nur, zu sammeln und zu sichten, was und wie er in seiner persönlichen Entwicklung geworden sei, was er auf seinem Bildungsgang in sich aufgenommen und umgeschaffen habe. Dies soll man feststellen; aber das Andere darüber nicht lassen: wie KANT in demjenigen Zusammenhang dasteht, welchen wir anders im Auge haben müssen, als er selbst. Sofern wir die Geschichte der Philosophie nicht als philologische Literaturgeschichte ansehen, sondern als das Ideal einer Erkenntnis, welches die Philosophie selber mit vollzieht, so stehen wir geschichtlich KANT gegenüber auf einem höheren Standpunkt, als er selbst stand; denn seine Schöpfung ist unsere Bildung. Ihm mußte seine Philosophie bei aller Überzeugungstreue als die zufällige Wirklichkeit seiner Arbeit dünken; uns dagegen erscheint sie im Licht ihrer Wahrheit, sofern wir sie als ein fremdes Erzeugnis nachprüfen. Und indem wir in diesem Nachdenken die Fäden erkennen, die jene Werke mit denen anderer Geister verknüpfen, so leuchtet uns der wissenschaftlich-geschichtliche Zusammenhang ein, den keine literarische Notiz offenbaren kann.

Die Menschen verabreden sich bekanntlich nicht, in ungefähr gemeinen psychologischen und moralischen Sonderbarkeiten ihr Völkerleben zu vollführen. Und doch sucht der Historiker jene Gemeinschaft, sowohl die, welche uns alle bändigt, wie nicht minder die allzeit treibende, hebende. So auch gehört KANT mit PLATON, mit DESCARTES und LEIBNIZ, nicht bloß mit LOCKE und HUME jenem idealen geschichtlichen Zusammenhang an, in welchem jeder Akteur nichtsdestoweniger wie eine Drahtpuppe gelten muß. Nicht im Wurf des Gedankens liegt der Fehler Hegels, sondern in der Bestimmung desselben, und demgemäß in der Ausführung der Methode. Nicht von der mythischen Macht der philosophischen Idee werden die geschichtlichen Figuren geschoben, sondern nach unserem von unserer Philosophie bedingten Ideal geschichtlicher Erkenntnis derselben wird alles Einzelne einer Gesamtheit eingeordnet, die nichtsdestoweniger im Einzelnen zu ermitteln ist. Daher müssen zwar vor allem die Individuen selbst als selbständig und bewußt agierende Personen beschrieben und beleuchtet werden. Aber wenn alle Quellen gründlich durchforscht, alle angezeigten Verbindungen sorgsam geschlossen und alle Nebenwege umsichtig durchgegangen sind, - dann ist dennoch der geschichtliche Zusammenhang so lange nicht hergestellt, bis jenes ideale, in unserem Bild der Philosophie beruhende Ganze der Geschichte derselben durchsichtig geworden ist.

Eine so umfassende Bedeutung hat das Individuum als ein geschichtliches, welches als solches durchaus  sub specie aeterni  [im Licht der Ewigkeit - wp] zu betrachten ist. Und wer möchte in einem anderen Sinn den Gedanken eines oder vieler Menschen zur Aufgabe der eigenen Forschung machen! Immer herrscht dabei die Annahme: daß in einem solchen Individuum sich der Geist der Zeiten spiegle. Also ist auch die Entwicklung des Individuums in einem geschichtlichen Stil nachzubilden. Wenn es als eine philosophische Aufgabe, nicht als eine literarisch-biographische gefaßt wird, die Entwicklungsgeschichte KANTs zu rekonstruieren, so müssen wir durch dieselbe in philosophische Einsicht gefördert werden, nicht nur an psychologisch-historischer Kenntnis.

Dazu ist dann vor allem unumgänglich: daß der Entwicklungshistoriker das genaueste und deutlichste Verständnis von der reifen Gestalt besitze und bekunde, von welcher er die Entwicklung verfolgt. Die Entwicklungsgeschichte ist stets und lediglich eine analytische Aufgabe. Scheinbar naives Aufsuchen der Verbindungsstücke und glückliches Probieren, ob sie passen, ist ein ganz eitles Unterfangen. Die Entwicklungsgeschichte des Organismus setzt ein hohes Stadium der Anatomie voraus, das sie alsdann erhöhen kann. Aber die Entwicklungsgeschichte kann der deskriptiven Anatomie nicht voraufgehen.

Weit weniger noch ist eine solche perverse Methode in der Geschichte des Geistes statthaft: Ist doch die Kenntnis von den Knochen immerhin weit fester und tiefer als die vom Grund unserer Wahrheiten. Auch genügt hier keine Nomenklatur. Was kann es fördern, wenn ich z. B. erfahren soll, daß anno 1769 Magister KANT den Gedanken der Antinomie erfaßt habe: die Bedeutund der Antinomie will ich vor allem festgestellt wissen als eines Gliedes im Kantischen System. Denn nur als solches kann sie mich auch entwicklungsgeschichtlich interessieren sollen. In der systematischen Gliederung aber ist vielleicht bei aller Ähnlichkeit die Antinomie dennoch etwas ganz und durchaus anderes, als was sie bei ZENO, bei HUME und - beim Magister KANT war.

Daher hat alles engere sogenannte entwicklungsgeschichtliche Verfahren nur sekundären, bedingten und ansich gar nicht ungefährlichen, vielmehr der Kontrolle bedürftigen Wert. Diese Kontrolle ist nach zwei Seiten zu richten, die zusammenlaufen: einmal muß überall Rechenschaft gegeben werden von der organischen Bedeutung des jeweiligen entwicklungsgeschichtlichen Moments, und sodann muß für die Erforschung des letzteren selbst der wahrhaft geschichtliche Zusammenhang überall die eigentliche Vermittlung bilden. (3)

Wenn anders KANT im geschichtlichen Sinne als Individuum dasteht, so werden wir uns auch die Kenntnis der zufälligen persönlichen Moment in seinem Lebensgang nur dadurch geschichtlich verständlich machen, daß wir auch sie in diejenige Entwicklung einordnen, welcher IMMANUEL KANT im Reich der Geister angehört. Und so führt uns die Betrachtung der historischen Voraussetzungen KANTs auf seinen Zusammenhang zunächst mit PLATON.


3. Platons Begründung der Erkenntniskritik

Denn charakteristisch ist bei KANT vor allem die Richtung der philosophischen Untersuchung auf die Mathematik, und diese Richtung ist von PLATON angebahnt. Mögen pythagoreische Denker vor ihm mit der Mathematik spekuliert haben: PLATONs originale Eigentümlichkeit ist es, die Mathematik selbst zum Problem und Objekt der Philosophie gemacht zu haben. PLATO untersucht, auf welche Art des Seins die mathematische Forschung sich beziehe und welche Art des Wissens sie erzeuge. Somit erkennt und vollzieht er die Verbindung zwischen dem Naturtrieb der Erzeugung mathematischer Gedanken und dem Interesse an der Frage: was all unser Wissen wert und nütze sei.

Die faustische Frage bewegte seit HERAKLIT die naive Griechenwelt. Und es war zuvörderst die sinnliche Empfindung und Wahrnehmung (aisthesis), welche dieser sentimentalen Reflexion zum Opfer fiel. Die Sinne wurden als "schlechte Zeugen ertappt und - verworfen.

Denn es kam in und mit dieser Kritik der Empfindung eine neue Art und Weise auf, mit den Dingen, die das Seiende (onta) hießen, Bekanntschaft zu machen: das Denken (noesis). Schon bei HERAKLIT nämlich empfing der  logos  logischen Nebengeschmack, gemäß dem selbstgenügsamen Interesse, mit welchem sich HERAKLIT der Reflexion über das Denken der Dinge hingab und nicht schlechthin bei der Aufnahme und Beobachtung der Dinge stehen blieb. Es hatte sich bereits gezeigt, daß Empfindung und Wahrnehmung nicht ausreichen: so wurde das Denken der Dinge zum eigenen Gegenstand der Reflexion. War aber einmal das Denken zum Vorwurf gemacht, so mußte sich alsbald herausstellen, daß die positiven Eröffnungen HERAKLITs sich in Widersprüchen ergingen: das neue Denken mußte zu einem neuen Sein leiten.

Dieses neue Sein bereit die Eleaten vor; aber Andere erst führten es herbei. Die Eleaten entwickeln in ihrem neuen Begriff des Denkens die Möglichkeit zu einem neuen Sein, welches sie jedoch nicht selbst erschauen. Ihr Sein ist noch immer ausschließlich das Sein des Kosmos; nur das Denken von den Dingen dieser Welt hat sich gereinigt. Die  onta  dürfen nicht mehr als fließende gedacht werden; jenes Werden HERAKLITs kann nicht als Lösung gelten: es ist selbst ein Rätsel.

Und wer sind nun die Anderen, welche das neue Sein selbst herbeiführen? Es sind zwei Arten von Urheber zu unterscheiden, wie auch zwei Arten des neuen Seins.

Die Einen gehören der Pythagoreischen Sekte an; und ferner sind es Epigonen der Eleaten, welche sich, wie vor allem DEMOKRIT, in der Pflege der Mathematik mit den Pythagoreern verbinden. Denn das mathematische Sein sit die eine Art des neuen Seins. Die Dinge, welche der Mathematiker erfindet und entdeckt, werden zwar in den Sand gezeichnet und an Saiten gemessen; aber sie können darum doch nicht schlechthin als sinnliche Dinge gelten. Nicht bloß waren sie vorher nicht in der Welt der Dinge zu gewahren, sondern auch nachdem sie erfunden waren, können sie, so wie sie sind, nicht im sinnlichen Sein abgebildet werden: im Denken sind sie entstanden und im Denken allein haben sie Bestand. Die mathematischen Zahlen und Gestalten sind die erste Art des neuen, des gedachten Seins, des Seins im Denken (ousia = noeton).

An dieser Art des Seins hat PLATO bekanntlich nicht nur den philosophischen Eros, sondern den wissenschaftlichen überhaupt ermuntert. Aber er blieb bei den schönen Gestalten und all den schönen  mathemata  nicht stehen; sondern folgte, ein kühnerer ALKIBIADES, der Spur, welche SOKRATES zur anderen Art des neuen Seins bahnte. Außer den Gebilden des mathmatischen Denkens galt es Dinge zu erfinden, wenn das Dämonion nicht irre wies: so entstanden die sittlichen Dinge, und machten sich alsbald als die vornehmste und wichtigste Art, des geistigen Seins geltend. Die Bäume und die Flüsse konnten den SOKRATES nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt.

Und mehr noch als zum mathematischen Sein war zum Guten und Gerechten die schärfste Ausbildung des Denkens nötig. Dort war doch zum Entwerfen in den sinnlichen Dingen wenigstens Veranlassung geboten; und die nachträgliche Probe konnte an ihnen angestellt werden. Die Steine erinnern doch wenigstens an das Gleiche. Und die Umläufe des Himmels offenbaren die Verhältnisse unserer Zahlen. Das Sittliche dagegen wird eigentlich nur im Schönen sinnbildlich geschaut; es selbst in seiner ganzen Macht und Würde zu erblicken, sind die sterblichen Augen nicht gerüstet. Daher stellt das Sein der sittlichen Begriffe die neue, nicht sinnliche Art der Dinge prägnanter dar.

Auch diese eminente Art des geistigen Seins ist von PLATON gepflegt und in der Idee des Guten ausgebildet worden. Und weil seine Philosophie beide Arten des geistigen Seins umfaßte und vertrat, konnte er die rechte Stellung beider zur Sinnlichkeit und dadurch beider zueinander treffen. Das mathematische Denken als ein Teil und eine Art des Ideen-Denkens (dianoia) und das sittliche Denken in der Idee des Guten als der Gipfel der Dialektik (megiston mathema), stellten den vollen Umfang des Wissens dar, und ließen ihn in ihren Merkmalen, zunächst negativ im Unterschied von der Wahrnehmung, den Inhalt des Begriffs der Wissenschaft (episteme) gewinnen.

Wenn aber die richtigen Merkmale für den Begriff des Wissens gefunden werden sollten, so durfte es nicht dabei verbleiben, das Denken von der Wahrnehmung zu trennen. Schon in der Sophistik war für das Körnchen Wahrheit gesorgt, daß die Empfindung doch auch ihren unverächtlichen Anteil am Wissen um das Sein der Dinge habe. Freilich gibt nicht allein die Empfindung dem Denken die erforderliche Nahrung; aber daß ohne allen Zusammenhang mit der Sinnlichkeit das Denken nimmermehr gedeihen könne, diese Wendung mag immerhin PROTAGORAS, dem der Gedanke jedoch keineswegs eigentümlich ist, dem Platonischen Idealismus gegeben haben. Mit dieser teilweisen Anerkennung der Sinnlichkeit aber fängt der Idealismus erst an fruchtbar zu werden, selbst für das ethische Problem, zuvörderst und unmittelbar für die Fassung des Begriffs der Wissenschaft. Denn die Wissenschaft ist die Lehre von den Körpern, und an Körper und Empfindung scheint somit das Licht der Wissenschaft verhaftet.

Es ist der wahrhafte Anfang der Geschichte der Erkenntniskritik und es bleibt der fundamentalste Gedanke in aller Entwicklung derselben: der Platonische Satz von der Unterscheidung der Wahrnehmungen. Die eine Art der Wahrnehmung nämlich "ruft nicht die Wissenschaft zur Betrachtung herbei", die andere hingegen "fordert auf alle Weise die Vernunft zum Untersuchen auf". (4) Die letztere Art, die die "Epikrise" des Denkens herausfordert, nennt PLATO den "Zug zum Sein" (olkon epi ten ousian) oder den "Paraklet des mathematischen Denkens" (parakletika tes dianoias). Ein solches "Weckmittel" (egertikon) der Vernunft enthält der Teil und die Art der Wahrnehmung, welche Zahlen zu denken veranlaßt, und ebenso die, welche die geometrischen Gestalten erkennbar macht. Denn beide sind "Abwendungsmittel" vom Sinnlichen und "führen zur Schau des Seienden" (tou agogon kai metastreptikon epi ten tou ontos thean). Sie werden aber beide aus der Wahrnehmung hergeleitet, in der Wahrnehmung selbst liegt ihre Veranlassung. Innerhalb der Wahrnehmung selbst teilen sich die Wege, von denen der eine zum Denken, zur Vernunft, zur Wissenschaft führt.

Das ist der entscheidende Anfang des systematischen Philosophierens, der PLATON mit KANT verbindet: daß der Unterschied von Sinnlichkeit und Vernunft, von Empfindung und Denken nicht in den unvermittelten Ursprung eines höheren Vermöges gesetzt werde, sondern allein in den Unterschied des Beitrages für den Gehalt und Wert der Erkenntnis. Nicht darüber ist zu streiten, ob der Geist von einem höheren Auswärts her in den Menschen gelange, sondern was er im Unterschied von der Sinnlichkeit bedeute und für die Wissenschaft leiste.

Was ist denn damit geholfen, wenn wir eines vornehmeren Ursprungs unserer Vernunft versichert sein können? Mit den Schlacken der Sinnlichkeit bleiben wir doch behaftet. Auch in der allgemeinen Frage der Anthropologie würde man sich nicht darüber erhitzen, daß der Mensch nur ja nicht in irgendeiner indirekten Abfolge von organischen Geschöpfen, sondern von unorganisierter Materie abstamme, - wenn nicht der letztere Stammbaum den außernatürlichen Schöpfer dringlicher anriefe. So meint man auch in der Heterogenität von Sinnlichkeit und Vernunft, wie bei ARISTOTELES, daß der Geist von Außenher (thyraten) als ein Teil des göttlichen Geistes in den Menschen eintrete. Darum soll das Denken keine naturgemäße und korrekte Verbindung mit der Empfindung haben.

Von allen Seiten, insbesondere aber durch seine ethischen Interessen sah sich PLATO bewogen, die Eigenartigkeit und unvermischbare Selbständigkeit des Denkens zu behaupten und durchzuführen: daß man nur ja nicht Wissenschaft und Vorstellung (doxa) gleichsetze, vielmehr das wahrhafte Sein der Idee dem phänomenalen Sein der Dinge entgegenstelle, also auch Vernunft und Sinnlichkeit unterscheide. Umso höher aber ist es zu veranschlagen, daß PLATO, indem er diesen Sokratischen Gedanken durchführte, dennoch zugleich das Ferment der Sophistik annahm und aufsog: daß Vernunft und Sinnlichkeit doch immer blutsverwandt bleiben; daß mithin die Unterscheidung nicht zu einer gänzlichen Abtrennung verleiten dürfe, bei welcher nur die Rhetorik, nicht der Wahrheitseifer gewinnen würde.

Es gibt eine Art der Wahrnehmung, die das Denken herbeiruft. Dieser mathematische Teil der Wahrnehmung vereinigt Vernunft und Sinnlichkeit. Dieser Satz bildet den Eingang zur Ideenlehre. An einer der wichtigeren Stellen in der Darlegung der Ideen spricht es PLATO als ein Zugeständnis aus, das kaum ausdrücklich gemacht werden brauche: daß die mathematischen Ideen, wie die des Gleichen, doch nur durch die Wahrnehmung veranlaßt sein können. "Aber auch das freilich geben wir zu, daß wir eben dieses nirgend anderswoher inne geworden sind, noch es möglich ist, dessen inne zu werden, als aus Veranlassung des Sehens oder Berührens oder irgendeiner anderen Wahrnehmung" (5). Die Veranlassung bietet die Sinnlichkeit; aber was sie veranlaßt, wird ein Anderes, als sie ist. Und den Eigenwert dieses Andern herauszustellen und auszuprägen, das wird damit zur Aufgabe der Ideenforschung.

Wenn wir daher in PLATON den Urheber der Erkenntniskritik erblicken, so ist das zu allernächst in dem Sinne zu verstehen, daß er die Frage nach dem Verhältnis von Sinnlichkeit und Denken in das richtige Geleis bringt. Der Unterschied von Sinnlichkeit und Denken ist nach der Verschiedenheit des Beitrags zu bestimmen, welchen beide zu Wissenschaft und Wahrheit leisten; nicht aber nach ihrem psychologischen Ursprung im menschlichen Seelenwesen. Diese letztere Unterscheidung hätte günstigenfalls nur sekundären Wert, und ist überhaupt nur der verhüllte Ausdruck eines anderen Gedankens. Denn wer wollte im letzten Grund und ihrer selbst willen für die Wahrheit einstehen, daß nicht auch das Auge sonnenhaft, sondern die Ideen allein den ureigenen und unvermittelten Schatz des Geistes bilden? Indem man diese genealogische Verschiedenheit betont, meint man daher die Abhängigkeit allen menschlichen Wissens von einem Grund anderer Art zu vertreten.

Diese Tendenz mag sittliches Interesse haben: der Kritik der Erkenntnis als Erkenntnis ist sie fernliegend, wenn nicht widerstreitend. Und sofern das sittliche Problem mit dem der Erkenntnis überhaupt zusammenhängend gedacht wird, wäre jener Gedanke sogar der Ethik schädlich. Diese letztere Frage mag hier auf sich beruhen. Aber daß der Standesunterschied von Vernunft und Sinnlichkeit der Erkenntniskritik nicht zugute komme, daß er zumindest derselben ein fremder Gesichtspunkt sei, das muß klar eingesehen werden. Auf dieser Einsicht beruth aller Fortgang in der Entwicklung des erkenntniskritischen Problems. Nur was eine sogenannte Erkenntnisquelle als solche für die Erklärung des Wertes der Erkenntnis leisten könne, darf mich interessieren; nicht der anthropologische Nebengedanke, woher sie komme oder etwa entspringe. Denn wenn ich selbst den Ursprung festellen könnte, so hätte ich doch nichts über die Art des Einflusses ausgemacht, den sie auf die Erkenntnis zu üben vermag.

Weil aber PLATO den erkenntniskritischen Gesichtspunkt ergriff, weil er in der Sinnlichkeit selbst den "Paraklet des Denkens" erkannte, so gelang es ihm, die verschiedenen Beiträge, welche die verschiedenen Arten des geistigen Vermögens zum Ganzen der Wissenschaft liefern, zu kennzeichnen und damit den Begriff der Wissenschaft zu bestimmen. In der Beantwortung der Frage: Was ist Wissenschaft? (ti estin episteme?) entwirft PLATO die Idee des Wissens, und bestimmt er das Verhältnis von Denken und Sinnlichkeit.

In dieser Bestimmung des Begriffs der Wissenschaft aber bezieht sich PLATO auf die Wissenschaft der Mathematik. Die mythologisch eingekleideten Wendungen sowohl wie nicht minder die streng lehrhaften knüpfen an mathematische Fragen an, und zeigen, wie wir in mathematischen Begriffe den Stammbesitz unseres Denkens zu erkennen haben. Sowohl die "Wiedererinnerung", wie das die Ideen schaffende "Schauen" wird an mathematischen Beispielen dargetan. Wie sehr also das mathematische Denken durch den mathematischen Teil der Wahrnehmung veranlaßt wird, so wird doch zugleich das mathematische Denken als eine wichtige Art des Ideen-Denkens ausgezeichnet. Wie das Schöne und Gute, hat auch das Große und das Gleiche den Charakter der Idee.

Indessen nicht nur schlechthin als eine Idee in der Reihe der andern werden die mathematischen Begriffe aufgeführt, sondern als in der Mitte stehend (metaxy) zwischen den Ideen und den Dingen werden die  mathematika  unterschieden. Damit ist ein geradezu moderner Zug der Erkenntniskritik gestreift, der die frappanteste Verwandtschaft PLATONs mit KANT unverkennbar macht. "Die Geometrie ist die Erkenntnis des beständig Seienden." (6) Damit ist zumindest dies ausgesprochen: daß um das wahrhafte Sein der Sinnendinge zu erforschen, man der Schau desjenigen Ewigen sich hingeben müsse, welches die Geometrie enthülle. Und deshalb sollte ihm kein Ungeometrischer in die Akademie eintreten.

Diese Beziehung seiner Dialektik auf die Mathematik hatte außer der Ablehnung des psychologischen Unterschiedes von Sinnlichkeit und Denken zwei weitere Folgen für seine Philosophie. Die eine derselben betrifft den Geltungswert der Idee; die andere den der Dinge.

Mit einem der von ihm für die Geometrie erfundenen analytischen Methode entlehnten Namen hat er die Idee selbst als Grundlage, als Hypothesis bezeichnet. Somit hat er sein letztes Wort, den höchsten Ausdruck für seine Wahrheit mit einem Terminus bezeichnet, der nur erfunden sein kann, um er erkenntniskritischen Frage Genüge zu leisten.

Denn man frägt doch zu allererst und läßt sich im philosophischen Drang von dieser Frage nicht abwendig machen: Woher in aller Welt kommen uns diese Ideen mit ihrem großen Anspruch? Nicht welcher Weber oder Tischler sie uns leihe; noch auch welcher Gott sie einpflanze, fragen wir, vielmehr, woher und wie sie immer entstehen mögen: welches Recht haben wir uns auf sie zu berufen, und welche Gewähr bieten sie uns von ihrer unerschütterlichen Wahrheit?

Auf eine solche Frage, welche schon die Alten ärgerte - den Menschen sehe isch, die Menschheit nicht - verantwortet sich die Idee der Hypothesis, als die "Sicherheit der Hypothesis". Nicht eine etwaige Vermutung ist die Idee, sondern eine Grundlage, welche, wie in der Geometrie, zu Ergebnissen führt, die nichtsdestoweniger in der Hypothesis allein gesichert sind. Die Hypothesis begreift also in sich die Axiome.

So lehrt die Mathematik die fruchtbringende Gewißheit kennen, die im selbstgewählten Ausgang, in der selbstgelegten Grundlage für ein wissenschaftliches Denken geborgen ist. So lehrt die Mathematik die Anwendung machen für alle Erkenntnis: daß wir allein und lediglich von selbstbestimmten Voraussetzungen, von deutlich abgesteckten Grundlagen aus zu sicherem Wissen, zu Gewißheit und Wissenschaft zu gelangen erwarten dürfen.

Und was folgt aus dieser Einsicht für das Sein und den Wert der Dinge? Es kann nicht mehr statthaft sein, diese als den Sinnen angehörig zu verwerfen, als werdend oder als nichtseiend mit HERAKLIT und den Eleaten zu stigmatisieren: wenn anders sie doch den Anlaß zum mathematischen Denken bieten, wenn anders sie also auf das wahrhafte Sein in ihrem sinnlichen Dasein hinweisen.

Man nehme sie nur, diese Sinnendinge, für das, als was sie sich in der Mathematik brauchbar und nützlich machen. Alle Sinnendinge, selbst die Himmelskörper sind Beispiele (paradigmata) für das mathematische Denken, so daß sie in der Nachahmung der geometrischen Zeichnung zu Bildern (eikones) werden. Die Dinge sind gerade oder ungerade, sofern sie uns als Bilder dienen, in denen wir die Ideen des Geraden oder Ungeraden zeichnen, an die jene Dinge uns gemahnen.

Nicht schlechthin Phantasmata sind also die Dinge, sondern als Phaenomena sind sie nützliche Bilder und Beispiele, sofern sie uns zur Erforschung der Dinge als "Wecker des Denkens" reizen und in den mathematische Abbildungen anleiten. Dies ist objektiv in PLATONs Idealismus der fruchtbare Ertrag seines erkenntniskritischen Philosophierens. Nicht Schein sind die Dinge, und nicht Wahrheit; sondern Anregungen, aber solche unverächtliche und unumgängliche zum Anbau der Wissenschaft, zur Erkenntnis des Seienden. Aber freilich liegt dieses Seiende seinem Grund nach ausschließlich im Denken, wie die Wissenschaft ausschließlich in der Vernunft. Und so war bei diesem Gegensatz der Termini dafür gesorgt, daß der göttliche Plato, der den Anfang der systematischen Philosophie bildet, nicht zugleich ihr Ende herbeiführt. Je mehr er zumal von Seiten der Ethik bewogen wurde, die Lauterkeit des Denkens von der Zweideutigkeit der Sinne abzuscheiden, desto intensiver blieb sein Blick auf die Vernunft gerichtet und auf die Vollendung der Ideenlehre, die nur in ihr erreichbar war. Vor den Ideen des Geraden und des Gleichen konnten die Dinge noch als Bilder im Sinne der mathematischen Beispiele gelten. Vor der Idee des Guten dagegen erblassen sie zu Ab- und Nachbildern jenes größten Mathema, jener umfassenden Idee, die, eine höhere Sonne, alles Sichtbare und alles Denkbare entstehen läßt und erkennbar macht. Der sittliche Zweck allen Seins wird nunmehr zum Paradigma in der verwandelten Bedeutung des Urbilds allen Daseins und allen Denkens. (7)

Mit dieser Gipfelung des Platonischen Idealismus war jedoch zugleich das Übergewicht des Vernunft-Denkens über alle sinnliche Wahrnehmung stabil gemacht. Der Schwerpunkt war gänzlich in das Denken gelegt; und daß die Sinne auch an ihrem Teil mitzuwirken haben, dieser Ausgangsgedanke PLATONs trat zurück, mußte gegen das ethische Interesse, gegen die Dringlichkeit, mit welcher dasselbe vor allem anderen Menschenwitz zu vertreten war, zurückweichen. In dieser Einseitigkeit der Platonische Darstellung, und in der Halbheit, mit welcher in dieser Hinsicht der Platonische Idealismus in die literarische Erscheinung trat, liegt sein Mangel: liegt zunächst das geschichtliche Recht des ARISTOTELES.
LITERATUR - Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 1885
    Anmerkungen
    1) Wir zitieren nach der Ausgabe von ROSENKRANZ und SCHUBERT, die "Kritik der reinen Vernunft jedoch nach HARTENSTEIN, Separatausgabe, Leipzig 1868; durch die Seitenzahl ohne weitere Angabe wird dieses Werk angeführt.*
    *) Anmerkung der zweiten Auflage: Die "Kritik der reinen Vernunft" zitieren wir jetzt in der 2. Ausgabe von KEHRBACH.
    2) Vgl u. a. WW. I. 567, 623f, 632, 636
    3) In diesem Sinne habeb ich "Die systematischen Begriffe in Kants vorkritischen Schriften" (1873) den Versuch gemacht, einige Hauptbegriffe in ihrer Entwicklung zu beleuchten, nicht um bezüglich der Reihenfolge der drei Abhandlungen vom Jahre 1763 eine "Entdeckung" zu machen, sondern der methodischen Grundsätze wegen, welche dort Seite 3 - 5 entwickelt sind.
    4) Republ. VII, Seite 523f; vgl. meine Abhandlung "Platons Ideenlehre und die Mathematik", 1878, Seite 16f.
    5) PLATON, Phaedo, Seite 75
    6) PLATON, Rep. VII, Seite 555
    7) Vgl. COHEN, Platons Ideenlehre und die Mathematik, Seite 22f