ra-2ra-2Victor CousinNicolas MalebranchePierre BayleCarl Grube    
 
LEOPOLD KATSCHER
Hippolyte Taine
- eine biographische Skizze-

"In der Regel gilt es als ausgemacht, daß der Kritiker nichts anderes tun kann, als eine eigene Meinung aussprechen. Er tut seine Pflicht, wenn er seinen Gegenstand sorgfältig studiert und ihn maßvoll und unparteiisch behandelt; mehr verlangt man von ihm nicht, kann man von ihm nicht verlangen. Jeder Kritiker urteilt nach seinen Verhältnissen, seinen Erfahrungen, seinem Bildungsgrad, seiner Phantasie, seinen Vorurteilen, Erwartungen und Sympathien; jede einzelne Kritik bleibt daher unter allen Umständen ein individueller Meinungsausdruck. Erscheint eine Kritik einer Mehrheit von Menschen richtig und wahr, so wird sie adoptiert; notwendigerseis aber ist sie nicht kompetent, den Wert oder Unwert der besprochenen Sache festzustellen. Ganz andere Ansichten über Kritik hat Taine. Er hält es für möglich, in die Kritik Gewißheit zu bringen, er will die Kritik, wie etwa die Physik oder Mathematik, mit der Bestimmtheit wissenschaftlicher Formeln ausstatten, will sie mit unumstößlichen Dogmen versehen. Er stellt sich das Ziel: die Kritik soll nicht mehr unverläßlich, ihre Resultate sollen nicht mehr schwankend sein."

HIPPOLYTE ADOLPHE TAINE, einer der bedeutendsten Schrifsteller der Jetztzeit - als solcher nennt er sich unabänderlich nur H. TAINE -, wurde am 21. April 1828 zu Vouziers, einem Städtchen zwischen der Champagne und den Ardennen, geboren. Seine Familie gehört zur Geistesaristokratie Frankreichs; alle waren hochgebildet und überdies sehr wohlhabend, wenn auch nicht reich. Einige der Verwandten waren Volksvertreter, der Großvater Subpräfekt. Der Vater, ein sehr gelehrter Advokat, unterrichtete seinen Sohn in der lateinischen, ein Onkel, der lange in Amerika gelebt hatte, in der englischen Sprache. Alles Englische hat TAINE von jeher angezogen, und schon als Knabe machte er es zu seinem Hauptvergnügen, Bücher in der Zunge SHAKESPEAREs zu lesen. Während den jungen Leuten die Lektüre französischer Romane verboten war, gestattet man ihnen, fremdsprachige Werke ohne Unterschied des Inhalts zu lesen, und man war froh, wenn sich ein Jüngling herbeiließ, sich auf diese Art in einer fremden Sprache auszubilden. Unser HENRI bevorzugte die Lektüre der Novellen britischer Klassiker und legte so frühzeitig den Grund zu seiner nachmaligen tiefen Kenntnis der englischen Literatur, der er seinen guten Ruf zum großen Teil zu verdanken hat.

Erst 13 Jahre zählt der hoffnungsvolle Knabe, als ihm der Vater starb. Ein Jahr darauf brachte ihn seine Mutter nach Paris, wo sie ihn anfänglich als Pensionäre in einer trefflichen Privatschule unterbrachte. Schon nachweiteren 12 Monaten kam er aufs Collége de Bourbon (später Collége Bonaparte, jetzt Lycée de Condorcet), stets unter der zärtlichsten Sorgfalt und Überwachung seitens seiner braven Mutter. Im Collége ragte TAINE an geistiger Reife, an Fleiß und an Erfolgen als Erster hervor. Im Jahre 1847 erhielt er den ersten Preis für einen lateinischen Essay über Rhetorik, 1848 zwei Preise für philosophische Aufsätze. Diese Errungenschaften öffneten ihm die Pforten der sogenannten Normalschule, eine Art Seminar, in dem die Zöglinge zu Universitätsprofessoren ausgebildet werden. Übrigens wird dieses höhere Vorbereitungsstudium von vielen nur als Etappe zu einer literarischen Laufbahn benutzt. Mehrere berühmt gewordene Schrifsteller waren TAINEs Kollegen in der Normalschule: EDMOND ABOUT, PRÉVOST-PARABOL, J. J. WEISS, FRANCISQUE SARCEY (Der Herausgebener der "Vie parisienne"): alle waren gleich TAINE, nur kurze Zeit Professoren und haben bald für immer das Gebiet der Literatur und Journalistik betreten.

Drei Jahre blieb der junge TAINE auf der Normalschule. Die Unterrichtsmethode daselbst war wohl geeignet, die intellektuelle Tätigkeit seiner Schüler zu fördern und anzuregen. dazu kam noch, daß unser Held eine wunderbare Gabe hatte, in einer Woche mehr zu studieren als die andern in einem Monat. die auf diese Art gewonnene Zeit benutzte er, um seinen Lieblingsstudien, Philosophie und Theologie, ganz besonders zu obliegen. Er las alle bemerkenswerten Autoren auf beiden Gebieten und besprach die ihm dabei entgegentretenden Fragen ganz offen mit seinen Kollegen. Er liebte es, diese zu examinieren und in ihren Geist und ihre Ideen einzudringen. Die Diskussionen wurden mit der größten Freiheit geführt, alles wurde dem Prüfstein der Vernunft unterworfen und nach den Forderungen der Logik erledigt. Die Schule war ein permanentes Debattierhaus, und die Professoren begünstigten den unbeschränktesten Ausdruck jeder individuellen Ansicht. Dadurch sogen diese jungen Leute ein starkes geistiges Unabhängigkeitsgefühl ein, und es ist daher nicht zum Verwundern, wenn sie wenig geeignet waren, geistigen Druck zu ertragen. Die Zeiten, die ihrer harrten, waren der Gedankenfreiheit leider nicht günstig, denn der dritte NAPOLEON hatte sein Ziel mit Hilfe des Klerus erreicht und mußte diesem den versprochenen Lohn geben.

TAINE war einer der ersten, die von der neuen Ordnung der Dinge zu leiden hatten. Wer bei einer gewissen Prüfung ein den zur Herrschaft gelangten Mächten genehmes politisches und religiöses Hauptbekenntnis ablegte, erhielt eine leichte und einträgliche Stelle. TAINE wurde verworfen, weil man fand, daß seine philosophische Richtung "irrige" und "schädliche" Tendenzen verfolgt. Aber GUIZOT und SAINT-MARC GIRADIN, die sich für den talentvollen Normalschüler lebhaft interessiert hatten, nahmen sich seiner an und trachteten, ihm wenigstens eine geringere Stelle zu verschaffen. Es gelang ihnen auch; um jedoch zu zeigen, wie ungern man selbst den Bitten solcher Fürsprecher willfährt, ließ man TAINEs Wunsch, seiner Mutter zu Liebe nach Norden gesandt zu werden, unberücksichtigt und schickte ihn nach Süden, nach Toulon. Schon nach vier Monaten versetzte man ihn nach Nevers, wo er ebenfalls nur vier Monate bleiben durfte, um sodann nach Poitiers versetzt zu werden. Sein Gehalt war ganz außerordentlich mager, aber er wußte sich durch strenge Sparsamkeit durchzubringen. Seine freie Zeit verwendete er auf die Fortsetzung seiner philosophischen Studien, besonders auf HEGEL. Die Behörden behielten ihn als verdächtig im Auge, und hier und da fehlte es nicht an Verleumdungen. Besonderen Anstoß erregte es, daß er sich weigerte,, dem Kaplan Folge zu leisten, der von ihm verlangte, zu Ehren des Bischofs entweder eine lateinische Ode oder eine französische Dythyrambe zu dichten. Diese unehrbietige Weigerung wurde als Bestätigung der gegen den mißliebigen Lehrer erhobenen Beschuldigungen betrachtet und zog ihm einen Tadelsbrief des Unterrichtsministers zu, worin ihm für den Fall eines nochmaligen Verstoßes mit sofortiger Entlassung gedroht wurde. Er begann sich unbehaglich zu fühlen, und als er einige Monate nachher von der Regierung ein Dekret mit der Ernennung zum Lehrer an einer Kinderschule in Besancon erhielt, nahm er sich diesen allzu verständlichen Wink zu Herzen. Er fand es angezeigt, einen Kampf aufzugeben, indem er jedenfalls nur den kürzeren hätte ziehen können. Auf sein eigenes Ansuchen wurde er seiner Stelle enthoben. Nach Paris zurückgekehrt, erhielt er sofort eine vorteilhafte Professur an einer bedeutenden Privatschule. Aber selbst das wollte man nicht dulden, und kaum hatte TAINE seine einschlägige Tätigkeit begonnen, so wurde ein Ukas [Verordnung - wp] erlassen, in welchem für Mitglieder des Universitäts-"Stabes" das Verbot ausgesprochen war, an Privatschulen Unterricht zu erteilen. Um nun seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und um seine Feder ganz unabhängig von der Willkür der öffentlichen Gewalt führen zu können, verlegte sich der vielgeplagte Mann auf das "Stundengeben" in Häusern. Dabei erweiterte er den Kreis seiner eigenen Kenntnis durch den Besuch von Vorlesungen an der Ecole de Médecine, der Sorbonne und am Naturhistorischen Museum.

Im Jahre 1853 promovierte TAINE als  docteur en lettres.  Bei dieser Gelegenheit schrieb er zwei Abhandlungen, eine lateinische: "De personis Platonicis", und eine französische: "Les fables de Lafontaines". Erstere war eine gewöhnliche akademische These, die zweite das gerade Gegenteil davon. In diesem Essay über den großen Fabeldichter brachte er neue kritische Doktrinen vor, stellte ein kühnes Paradoxon auf und illustrierte es mit Beispielen aus LAFONTAINE. Daß jeder Mensch mit gewissen, seinem Geschlecht eigenen Tendenzen geboren wird, welche seine Gedanken und Handlungen leiten; daß alle Ideen und Taten eines Menschen, ob gut oder schlecht, auf diese angeborenen Tendenzen zurückzuführen sind, wie ein Fluß auf seine Quellen: das sind die Meinungen, die TAINE seit seinem Debut immer und überall vorgebracht, verfochten und, seiner Ansicht nach, festgestellt hat.

Festgestellt! Ja, das ist des Pudels Kern. In der Regel gilt es als ausgemacht, daß der Kritiker nichts anderes tun kann, als eine eigene Meinung aussprechen. Er tut seine Pflicht, wenn er seinen Gegenstand sorgfältig studiert und ihn maßvoll und unparteiisch behandelt; mehr verlangt man von ihm nicht, kann man von ihm nicht verlangen. Jeder Kritiker urteilt nach seinen Verhältnissen, seinen Erfahrungen, seinem Bildungsgrad, seiner Phantasie, seinen Vorurteilen, Erwartungen und Sympathien; jede einzelne Kritik bleibt daher unter allen Umständen ein individueller Meinungsausdruck. Erscheint eine Kritik einer Mehrheit von Menschen richtig und wahr, so wird sie adoptiert; notwendigerseis aber ist sie nicht kompetent, den Wert oder Unwert der besprochenen Sache festzustellen. Ganz andere Ansichten über Kritik hat TAINE. Er hält es für möglich, in die Kritik Gewißheit zu bringen, er will die Kritik, wie etwa die Physik oder Mathematik, mit der Bestimmtheit wissenschaftlicher Formeln ausstatten, will sie mit unumstößlichen Dogmen versehen. Er stellt sich das Ziel: die Kritik soll nicht mehr unverläßlich, ihre Resultate sollen nicht mehr schwankend sein. Im Alter von 25 Jahren springt er, eine moderne PALLAS, in die Literatur, fertig ausgerüstet mit einem eigenen kritischen System, einer eigenen Philosophie und - last, but not least - einem eigenen Stil. Alles, was er im Verlauf von zwei Dezennien hinterher ausführlicher entwickelte, findet sich bereits in der Erstlingsschrift über LAFONTAINE vor. Die Neuheit der Doktrinen, sowie der frische, kräftige, lebhafte Stil des jungen Doktors verschafften ihm im Großen Publikum viele Freunde; die Broschüre wurde so günstig aufgenommen, daß bald eine neue Auflage erscheinen mußte. "Wer wagt, gewinnt", ist ein wahres Sprichwort.

Bald sollte TAINE Gelegenheit haben, wieder von sich hören zu lassen und seine Lehren aufs neue anzuwenden. Im Jahre 1854 schrieb die Französische Akademie einen Preis aus für den besten Essay über LIVIUS. Das Leben dieses Historikers sollte erzählt, die Umstände, unter denen, und die Grundsätze, nach welchen er Geschichte schrieb, sollten erörtert, und der Platz, den er unter den Historikern einnimmt, bestimmt werden. Von den eingereichten Abhandlungen wurde zwar keine des Preises würdig befunden, doch erkannte man die TAINE'sche als die beste an. Nur hatte man daran auszusetzen, daß sie "Mangel an Ernst und an Bewunderung für den glänzenden Namen und das Genie des imposanten Mannes, den er zu kritiseren hat" verrät. TAINE arbeitete seine Schrift um, reichte sie nochmals ein und erhielt nun den Preis. VILLEMAIN, der Referent des Preisrichterkomitees. lobte das Werk außerordentlich, obwohl er mit dem Inhalt desselben gar nicht übereinstimmte, und sagte am Schluß seines Berichts: "Wir dürfen TAINE zu diesem schönen Debut auf dem Gebiet der klassischen Wissenschaften gratulieren und können nur wünschen, bei allen unseren Preisausschreibungen ähnliche Bewerber zu finden und in unseren Schulen solche Lehrer zu haben", eine sarkastische Anspielung, welche den ehrwürdigen Unsterblichen ein sanftes Lächeln entlockte.

Der glückliche Autor veröffentliche seinen Preisessay mit einer Vorrede, die einige Akademiemitglieder unangenehm überraschte und sie wünschen ließ, ihre Lobsprüche und Auszeichnungen zurücknehmen zu können. TAINE bot nämlich darin weitere Konsequenzen seiner neuen Lehren. Mit SPINOZA betonte er, das Verhältnis des Menschen zur Natur sei nicht das eines Staates im Staat, sondern das eines Teils eines Ganzen; das innere Wesen des Menschen sei wie die äußere Welt Gesetzen unterworfen; ein herrschendes Prinzip regle die Gedanken und treibe die menschliche Maschine unwiderstehlich und unvermeidlich an. Mit  einem  Wort, unser Mann betrachtet den Menschen als "wandelndes Theorem". Natürlich warf man ihm vor, er leugne die Freiheit des Willens und sei Fatalist. Auch wies man nicht mit Unrecht auf die notwendige Ungleichheit der von zwei so verschiedenen Namen wie LIVIUS und SPINOZA vertretenen Ideen hin, und darauf, wie paradox es sei, die Schriften des römischen Historikers als Belege zu den philosophischen Spekulationen des holländischen Juden anzuführen. Aber Paradoxe sind eben TAINEs Element, und überdies fand das Lesepublikum an dem Buch großen Gefallen. Wenn dasselbe auch kaum Proselyten machte, so verschaffte es dem Verfasser wenigstens Bewunderer.

Das Bestreben, die Kritik zur unanfechtbaren Wissenschaft zu machen, war im Essay über LIVIUS ebensowenig von Erfolg gekrönt, wie in dem über LAFONTAINE. Trotz emsiger und sorgfältiger Anwendung der demonstrativen Methode bleibt die Kritik umstoßbar und individuell. Dadurch, daß man "weil" und "daher" sagt, kann eine Sache wohl erleichtert und weniger unververläßlich gemacht, aber noch nicht bewiesen werden. Vorläufig resultiert aus TAINEs kritischem Vorgang nur eine Reihe von Paradoxen und Verallgemeinerungen, die zwar immer höchst geschickt ausgeführt sind und einen Ernst und einen Wahrheitsdurst zeigen, denen man jedenfalls die höchste Anerkennung zollen muß, die aber leider nicht immer richtig sind. Durch eines solche geniale Verallgemeinerung erhöhte TAINE LAFONTAINEs poetisches Genie und eine ebensolche dient ihm dazu, das historische Genie des LIVIUS herabzusetzen. Er sucht darzutun, dieser sei mehr ein großer Redner, als ein großer Geschichtsschreiber. Er sei kein guter Historiker, weil er die Feder als Redner führt; er sei ein "oratorischer Historiker" und sowohl die Schönheiten als auch die Fehler seiner Geschichtsschreibung rührten vom überwiegend rhetorischen Wesen seines Geistes her. Natürlich ist das Prinzip, auf dem diese Beurteilung des LIVIUS beruth, falsch, denn MONTESQUIEU, MACAULAY, GIBBON u. a. waren unbeschadet ihrer ganz vortrefflichen Rednergabe durchaus keine schlechten Historiker.

Eine hartnäckige Kehlenkrankheit zwang TAINE in den Pyrenäenbädern Heilung zu suchen. Auf kurze Zeit verlor er sogar die Stimme. Die Kur nahm zwei Jahre in Anspruch. Während dieser Zeit war SPENSERs "Feenkönigin" sein Lieblingsbuch, eine Dichtung, die außer ihm vielleicht kein Franzose gelesen hat, und die - vergleiche KLOPSTOCKs "Messias" und das deutsche Publikum - selbst in England sehr wenige lesen. Auf diese Art wird das hohe Lob erklärlich, welches TAINE später in seiner "Geschichte der englischen Literatur" dem großen elisabethanischen Poeten spendete. Der Aufenthalt in den Bergen lieferte unserem Patienten Stoff genug zum Schreiben. Das Resultat war ein Buch mit dem Titel "Die Reise in den Pyrenäen". Darin wird ihm reichlich Gelegenheit geboten, sein kritisches System auf neue Gebiete anzuwenden: auf die Art zu reisen. Sein Kollege ABOUT hat auch ganz wertvolle Werke über seine Reisen geschrieben, aber die beiden haben sehr verschiedene Weisen, sich die Dinge zu betrachten. Der Verfasser des "Arbeiter-ABC" bekümmert sich mehr um administrative Sachen, um Organisationen, um Steuern, Beleuchtung, Pflasterung, kurz: um die moderne Zivilisation. TAINE dagegen faßt mehr die geistige und künstlerische Seite der Gegenstände ins Auge; er sieht alles mit dem Blick des gelehrten Kritikers; er vergleicht Gegenwart und Vergangenheit und liebt eine schöne, malerische Szenerie. Um nicht zu trocken zu werden und nicht allzu weit vom jeweiligen Thema abzuschweifen, verleiht er seinen Ansichten nicht die dozierende Form, sondern führt Personen ein, denen er dieselben in den Mund legt, und andere, welche Opposition machen; wer Recht behält, hinter dem steck natürlich der Schreiber. "Monsieur Paul" behält natürlich immer recht; Monsieur Paul ist also offenbar mit Monsieur TAINE identisch. Daher läßt sich folgende Charakteristik PAULs als Selbstschilderung des Autors bezeichnen:
    "Ein kühner Reisender, ein exzentrischer Malereiliebhaber, der niemandem glaubt als sich selbst. Ein an Paradoxen fruchtbarer, heftiger Räsonneur mit extremen Meinungen. Sein Haupt ist stets in Gärung mit irgendeiner neuen Idee, die ihn verfolgt. Bei jeder Gelegenheit sucht er die Wahrheit. Gewöhnlich ist den den Anderen um hundert Meilen im Geist voraus. Er läßt sich mit Vergnügen widersprechen, mit noch größerem aber widerspricht er selbst. Hie und da führt ihn sein streitbares, abenteuerliches Naturell irre. In seinem Egoismus betrachtet er die Welt als eine Puppenausstellung, in der er der einzige Zuschauer ist."
Der Stil in diesem Reisewerk TAINEs, wie in seinen übrigen, ist nicht monoton und oberflächlich wie in der großen Mehrzahl von Reiseschilderungen. Es läßt sich nicht leugnen, daß fast alle gebildeten Franzosen elegant und deutlich schreiben; aber von TAINE muß man sagen, daß er ganz besonders gut schreibt. Wo ander in Bombast verfallen, wird er eloquent. Dabei denkt er auch tiefer als die meisten seiner Landsleute und ist für äußere Eindrücke höchst empfänglich; er malt die Bergszenerie sehr lebhaft und gibt feine Bilder der Volkssitten und des Touristenlebens. Über Botanik, Geologie usw. wird gerade soviel gesagt, daß es dem Laien recht und dem Fachmann billig ist, es belehrt jenen, ohne diesen zu langweilen. Die "Reise in den Pyrenäen" wurde so populär, daß DORÉ sich später bewogen fand, eine Prachtausgabe dieses Werkes mit seinen herrlichen Jllustrationen zu schmücken.

Zunächst kam die Schrift "Die französischen Philosophen des 19. Jahrhunderts", eine witzige, wirksame, geschickte Analyse der "offiziellen Philosophie", ein Angriff auf jenen rhetorischen Spiritualismus, der in den Augen der Behörden den Vorteil hatte, dem Klerus keinen Anstoß zu geben, und in den Augen der Denker den Nachteil, daß er über die Schwierigkeiten, die er zu erklären und zu beseitigen vorgab, leicht hinwegging oder ihnen gänzlich auswicht. TAINE wählte sich fünf Männer zur Zielscheibe: LAROMIGUIÉRE, ROYER-COLLARD, MAINE de BIRAN, JOUFFROY und VICTOR COUSIN. Warum gerade diese? Wahrschein weil er an ihnen am meisten auszusetzen hat. er läßt nichts unversucht, sie lächerlich zu machen, und dadurch findet er Mittel, ein philosophisches Buch aus einem trockenen in ein amüsantes zu verwandeln. Übrigens sind wir weit entfernt, den gesamten Inhalt des Buches unterschreiben zu wollen. Besonders schlecht fährt COUSIN, der als Marktschreier bezeichnet und in fünf langen Kapitelns tüchtig durchgehechelt wird. Dieses starke Stück TAINE'scher Polemik erregte großes Aufsehen; COUSINs Gegner klatschten Beifall und selbst seine Freunde ergötzten sich insgeheim, während sie offen verdammten. Der berühmte Mann empfand, wenn man RAE Glauben schenken darf, von diesem Moment an eine mehr als bloß wissenschaftliche Antipathie gegen seinen jungen Angreifer. Am Schluß des Bandes - derselbe war ursprünglich fortsetzungsweise in der "Revue de l'instruction publique" erschienen - gibt der Verfasser eine Skizze seiner eigenen Methode, philosophische Untersuchungen anzustellen; dies tut er wieder in der Form eines Dialogs zwischen "Peter" und "Paul".

Im Jahre 1861 ging TAINE nach England, um das Land, für welches er von jeher eine große Vorliebe hatte, von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen und seine Studien über die englische Literatur im berühmten Lesezimmer des British Museum fortzusetzen. er verkehrte mit CARLYLE, DICKENS, THACKERAY, TENNYSON und JOHN STUART MILL. Während seines langen Aufenthalts im Inselreich schrieb er "Notes sur l'Angleterre", die zuerst als Briefe im "Temps", dann als Buch erschienen und, im ganzen genommen, ein treffliches Bild des äußeren und noch mehr des inneren sozialen, politischen und häuslichen Lebens JOHN BULLs darbieten. TAINE ist diesem sehr sympathisch, ohne ihm zu schmeicheln, und rügt, was er für rügenswert hält, offenherzig, ohne jemals unhöflich zu werden. Leider ist das Buch reich an unbedachten Verallgemeinerungen infolge unvollkommener Erfassung von Tatsachen. Oft kommt es einem vor, als sei dem Schreiber dieser "Notes" der Spruch "Keine Regel ohne Ausnahme" unbekannt, denn nur zu oft erklärt er die Ausnahme für die Regel, nimmt Dinge für ausgemacht an, die es nicht sind, basiert Theorien auf ungenügende Daten, schenkt unwissenden Auskunftgebern zu leicht Glauben und läßt sich von momentanen Eindrücken verleiten, irrigen Auffassungen Raum zu geben. Oft wird man an jenen Reisenden erinnert, der in einem französischen Hotel ein rothaariges Stubenmädchen sah und dann berichtete, alle Französinnen hätten rotes Haar, oder an jenen andern, der, weil er auf einer Landstraße ein paar Wanderzigeuner Nägel machen sah, erklärte, die Bewohner des Landes führen ein Nomadenleben und ernähren sich von der Quincaillerie-Erzeugung [Eisenwaren - wp]. Ein paar Beispiele werden am Platz sein, welche zugleich zeigen, daß sich selbst hinter den Irrtümern zuweilen der scharfsinnigste Denker verbirgt. Die Trunksucht des Engländers schreibt TAINE dem schlechten Klima, dem unfreundlichen Himmel zu, während doch dasselbe Laster in demselben Grad in Kanada, Australien und den Vereinigten Staaten von Nordamerika vorherrscht. Als ein Zeichen dafür, daß die Familienväter eine hohe Autorität ausüben, führt TAINE an, daß die Kinder ihren Vater vertraulich "governor" nennen. Dieses Wort ist aber keineswegs hochenglisch und wird von den gebildeten Klassen auch nicht benutzt, sondern es gehört dem niedrigen Londoner "Cockney-Dialekt" an und hat mit väterlichem Respekt gar nichts zu schaffen. Dies war dem Verfasser der "Notes" freilich unbekannt, er hätte es aber leicht erfahren können. Äußerst komist ist folgender Lapsus. In einem Kapitel über das britische Parlament sagt TAINE, daß Doktoren der Medizin deshalb nicht zu  Peers  gemacht [geadelt - wp] werden, weil "kein Mann, der seine Hand nach Guineen ausstreckt, würdig ist, im Kreis des Reichsadels zu sitzen". Sollte unser Kritiker nicht wissen, daß Rechtsanwälte, und solche sitzen im Oberhaus, Guineen in noch größerem Maße als die Ärzte nicht nur annehmen, sondern sogar verlangen? Und je mehr Guineen so ein Advokat einnimmt, desto bessere Aussicht hat er, Peer zu werden. Und wo bleibt ROTHSCHILD?!

Derlei kleine Fehler haben nur den Nachteil, den uneingeweihten Leser leicht irrezuführen; am Ende aber sind sie doch so geringfügig, daß sie den Ruf des Autors als eines Musterreisenden, feinen Beobachters und kunstvollen Erzählers nicht beeinträchtigen können. Die "Notes" fanden in England die denkbar günstigste Aufnahme, und TAINE wurde als das Ideal des "intelligent foreigner" - dies ist ein geflügeltes Wort und wird auf Ausländer angewendet, welche die englischen Zustände mit Intelligenz und Unparteilichkeit behandeln - bezeichnet.

Dabei blieb der kosmopolitische französische Schriftsteller nicht stehen. Im Jahre 1863 ließ er die ersten drei Bände seines bedeutendsten Werkes, der "Geschichte der englischen Literatur", erscheinen; der vierte Band folgte ein Jahr später unter dem Titel "Die Zeitgenossen" nach, und enthält Monographien über MACAULAY, DICKENS, CARLYLE, MILL, THACKERAY und TENNYSON, welche sechs er als Hauptvertreter ihrer verschiedenen Literaturgattungen annimmt, um an ihnen seinen Gegenstand auf das feinste zu beleuchten. Dieses Werk übertrifft an Gedankenfülle, Glanz der Schreibart und Verläßlichkeit jede andere Geschichte der englischen Literatur. Die Engländer betrachten TAINEs Buch in jeder Hinsicht als das beste, das ein Ausländer bisher über ihre edle Literatur geschrieben hat. Dasselbe ist frei von den Unrichtigkeiten, denen man bei CHATEAUBRIAND, GUIZOT, VILLEMAIN und RÉMUSAT begegnet; das Streben nach Unbefangenheit und Akkuratesse und die tiefe Kenntnis der behandelten Gegenstände sind so auffallend und von Erfolg gekrönt, daß selbst die schwer zu belehrenden Söhne ALBIONs sich von diesem "Frenchman" gern belehren lassen. Das Werk machte Epoche und erhöhte den Ruhm seines Verfassers um ein Bedeutendes. Auch in Frankreich fand es einen solchen Anklang, daß ein Komitee der Akademie es dieser Körperschaft aus freien Stücken zwecks Zuerkennung eines Spezialpreises von 4000 Francs empfahl. In der Plenarsitzung beantragte jedoch der Bischof von Orléans die Ablehnung des Komitee-Vorschlags; er sagte,, das Buch sei irreligiöse und unmoralisch, der Autor habe die Freiheit des Willens geleugnet, Fatalismus gepredigt, die Kirchenväter gering geschätzt, das englische Gebetbuch nachdrücklich gelobt und anempfohlen. Mit  einem  Wort: Monsieur DUPANLOUP erklärte Monsieur TAINE für einen Ketzer in religiösen und einen Skeptiker in philosophischen Dingen. VICTOR COUSIN ergriff diese günstige Gelegenheit, um seinerseits zu zeigen, wie gänzlich er sich mit der Kirche ausgesöhnt hatte, und um andererseits an seinem Angreifer Rache zu üben. Er tat es, indem er dem Bischof vollständig zustimmte. Diesen beiden hervorragenden Sprechern, welche TAINEs Werk offenbar wirklich gelesen hatten, schenkte natürlich ein Auditorium, welches dasselbe von sich  nicht  sagen konnte, vollen Glauben. Sie drangen durch, und jene Versammlung, die es ein Jahr vorher abgelehnt hatte, LITTRÉ in ihre Mitte aufzunehmen, verweigerte TAINE den ihm zugedachten Preis. Seither hat die Akademie ihren Geist und ihre Zusammensetzung wesentlich geändert. Weder COUSIN noch DUPANLOUP sitzen heute noch auf den Kurulischen Stühlen [Amtsstuhl des Magistraten als Herrschaftszeichen im alten Rom - wp]; dagegen ist LITTRÉ eine Zierde dieser gelehrten Korporation, und sogar DUMAS hat in dieselbe Eingang gefunden. Man irrt wohl nicht, wenn man prophezeit, daß der Tag nicht fern ist, an dem sich auch TAINE die Pforten des Palais am Quai Conti öffnen werden.

Nach der Vollendung der "Geschichte der englischen Literatur" machten sich bei TAINE die üblen Folgen der Überarbeitung geltend. er wurde von totaler geistiger Lähmung befallen. Ziemlich lange war er außerstande,, zu studieren, zu schreiben, seine Gedanken zu konzentrieren; selbst das Lesen einer Zeitung ging über sein Vermögen. Erst infolge einer geraume Zeit währenden, gänzlichen Enthaltsamkeit von jedweder geistigen Anstrengung genas er dauernd. Seither schrieb er eine lange Reihe von Aufsätzen für die "Revue des deux Mondes", die "Revue de l'instruction publique", das "Journal des Débats" usw.; die meisten sind dann in Buchform erschienen und, wie überhaupt fast alle Werke TAINEs, ins Englische übersetzt worden. Besondere Beachtung verdienen die Werke über Reisen, über Kunst und Philosophie, z. B. "Italien" (2 Bde.), "Philosophie der Kunst", "Der Verstand", "Das Ideale in der Kunst", "Philosophie der Kunst in Holland", "Philosophie der Kunst in Italien". Überall erkennt man den gelehrten, feinen, lebhaften und ehrgeizigen Kritiker. Alles ist voller Anregungen zum Nachdenken, alles trägt den Stempel der Originalität deutlich an sich. TAINE braucht nicht nachzusagen, was andere schon gesagt haben; er denkt stets selbst. Nie schreibt er ohne besonderen Zweck in den Tag hinein. Immer sagt er, was er für wahr hält, und nicht, was die Leute gern hören - das will in Frankreich etwas heißen.

In zwei Punkten zeigt TAINE überall eine Ähnlichkeit mit HEGEL, dessen Schriften er sorgfältig studiert hat: Übereilung im Schlußziehen und dann Unerschrockenheit im Aufstellen und Geist im Aufrechterhalten der außerordentlichsten Behauptungen. Der Stil TAINEs ist klar, knapp, wirksam, seine Methode kühn, neu, frappant, der Form nach analytisch, der Tat nach freilich stark hypothetisch, wie wir gesehen haben. Seine Urteile sind in der REgel mit einem so großen Streben nach Richtigkeit und mit einem solchen Aufwand von Beweisen gebildet, daß man sie beachten muß, wenn man auch nicht immer der Ansicht ist, daß sie wirklich so richtig sind, wie sie sein wollen.

Als 1871 die Universität von Oxford den Ehrentitel auf DÖLLINGER übertrug, verlieh sie denselben gleichzeitig auch an TAINE. Dieser ist seit einigen Jahren Professor der Literatur an der Militärschule von Saint-Cyr und der Kunst und Ästhetik an der Pariser Akademie der schönen Künste.

Das neueste Werk TAINEs, mit dessen erstem Band wir es gegenwärtig zu tun haben, heißt "Les origines de la France contemporaine" und soll in drei Bänden die französische Gesellschaft vor, während und nach der Großen Revolution behandeln, und zwar von einem originellen Standpunkt aus. Wenn wir den bisher vorliegenden ersten Band aufschlagen, bemerken wir auf den ersten Blick, daß zwischen der Art, wie CARLYLE, TOCQUEVILLE, von SYBEL, LOUIS BLANC, MICHELET, THIERS und MIGNET derlei Themata ausführten, und der Art, wie TAINE dies tut, große Unterschiede bestehen. Unser Mann versucht es kein einzigesmal, "Ehrenrettungen" vorzunehmen, ungerecht Erniedrigte zu rehabilitieren oder unverdienterweise Verehrte zu entlarven, sondern betrachtet seinen Gegenstand wie jemand, dem Tatsachen mehr gelten, als Theorien. Es ist ihm mehr darum zu tun, die Ursachen der Ereignisse zu ergründen, ihre Verbindung mit anderen Ereignissen zu untersuchen und die daraus resultierenden Folgen klarzulegen, als sich an eine Partei zu klammern. Viele geschichtsschreibende Philosophen waren parteiisch; TAINE ist dagegen ein unparteiischer philosophischer Historiker.

TAINE betitelt das vorliegende Buch im Original "L'ancien régime"; der zweite Band wird "La Revolution" heißen. TOCQUEVILLE hat gewissenhafte Quellenforschungen angestellt und lieferte viele sehr beachtenswerte Beiträge zum richtigen Verständnis des modernen Frankreich. Seine Leistung wird von der TAINE'schen jedoch weit übertroffen. Was TOCQUEVILLE als trockene Fakta bietet, wird bei TAINE zur lebendigen Wirklichkeit und die Zusätze, die unser Autor als das Resultat seiner eigenen Dokumentenstudien in den Archiven gibt, verleihen einer schon oft behandelten Sache die Frische der Neuheit. Auch hier finden wir all die glänzenden Vorzüge wieder, die wir an TAINEs übrigen Arbeiten bewundern: kräftigen Stil, schöne Sprache, Fleiß und Gründlichkeit. Einen speziellen Reiz gewinnt das neue Buch noch dadurch, daß wir darin das Dogmatisieren aufgrund ungenügender Daten, das Schwelgen in Paradoxen, das Ausgeben geistvoller Hypothesen für fundamentale Wahrheiten fast gänzlich vermissen. TAINE scheint andere Pfade wandeln zu wollen; ob es ihm damit auch ernst ist, werden die weiteren Bände der "Origines de la France contemporaine" lehren.
LITERATUR Hippolyte Taine, Zur Entstehung des modernen Frankreich Leipzig 1877