tb-1ra-2DefinitionGegenstand der ErkenntnisReininger - Wertphilosophie     
 
HEINRICH RICKERT
Vom System der Werte

"Das Kulturgut Wissenschaft, d. h. das Suchen nach Wahrheit um der Wahrheit willen, ist im europäischen Geistesleben erst verhältnismäßig spät entstanden und wird sogar jetzt in seinem Wesen von Philosophen noch nicht begriffen - wie der Versuch zeigt, den Wahrheitswert  pragmatisch  auf den  Nutzen  zu gründen."

"Ich mißtraue alle Systematikern und gehen ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit." Die in diesen Worten NIETZSCHEs zum Ausdruck kommende Abneigung gegen ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der philosophischen Erkenntnis ist wohl vielen Denkern unserer Zeit aus der Seele gesprochen, wenn auch gewiß nicht alle sich die etwas philiströse Begründung zu eigen machen wollen, die der moralfanatische "Immoralist" ihr gegeben hat. Man wird vielmehr wissenschaftliche Beweise anführen. Ein System ist etwas Fertiges, zu Ende Gekommenes, Letztes. Deswegen muß es falsch sein, denn wenn wir uns mit dem Erkennen nicht spezialwissenschaftlich auf Teile der Welt beschränken, sondern philosophisch auf das Ganze gehen, dann stehen wir vor einem Material, das seinem Wesen nach unerschöpflich ist und mit dem wir niemals zu Ende kommen können. Nur wo das Denken arm und dürftig wird, läßt es sich zu etwas Letztem zusammenschließen. Systeme der Philosophie paßten daher für die Zeit der jugendlichen Wissenschaft, als die Menschen noch wenig wußten. Heute müssen wir zufrieden sein, wenn es uns gelingt, den Reichtum des Lebens von möglichst vielen verschiedenen Seiten zu sehen und zum Vorletzten zu gelangen. Ja, weil sich die Philosophie, wie alle menschliche Kultur, ständig weiter entwickelt, enthält die Idee eines Systems, das abgeschlossen sein soll, geradezu einen Widersinn. Nur der bewußte Verzicht darauf bewahrt uns jene Geistesfreiheit, die für einen Erkenntnisfortschritt unentbehrlich ist. Mit jedem Versuch, ein Ende zu machen, verdammen wir uns selbst zum Stillstand. Nicht ein Mangel an Rechtschaffenheit also ist der Wille zum System, wohl aber das Zeichen eines engen Geistes.

So ungefähr lassen sich die weitverbreiteten Ansichten unserer Zeit formulieren und man kann nicht sagen, daß sie nur Falsches enthalten. Eine gewisse Art von philosophischer Systematik, die heute noch nicht ausgestorben ist, wird durch sie empfindlich getroffen. Stellt die Philosophie sich die Aufgabe, das Seiende kennen zu lernen und doch nicht Spezialwissenschaft zu werden, will sie also als "hypothetische" Allgemeinwissenschaft gewissermaßen mit einem Schlag das erreichen, was für die Gesamtheit der Einzeldisziplinen ein in der Ferne liegendes Ziel ist: die abgeschlossene Erkenntnis der Wirklichkeitstotalität, dann wird sie gegen die angedeuteten Einwürfe wehrlos. Wir dürfen nicht hoffen, eines Tages das Ganze unseres Wissens mit dem Ganzen der Welt restlos zur Deckung zu bringen. Hier bleiben wir immer beim Vorletzten.

Aber auch wo die Philosophie das Seiende den Spezialwissenschaften, die jetzt alle seine Teile für sich in Anspruch nehmen, zur Erforschung überläßt und sich darauf beschränkt, eine "Weltanschauung" von der Art zu geben, wie sie immer ihr letztes Ziel gewesen ist, d. h. wo sie es unternimmt, den  Sinn  des menschlichen Lebens auf Grund einer Lehre von den gültigen  Werten  zu deuten, scheint sie doch mit Rücksicht auf den Abschluß der Wertlehre nicht in einer prinzipiell günstigeren Lage zu sein. Das Material, auf das sie dann angewiesen ist, sträubt sich ebenfalls gegen die Fesseln einer fertigen Systematik. Mögen wir noch so fest davon überzeugt sein, daß Werte unabhängig von uns gelten und unserem Dasein "objektiven" Sinn verleihen, so sind sie doch unserer Erkenntnis nur soweit zugänglich, als sie an wirklichen Gütern haften und diese stellen sich uns stets als das Produkt einer geschichtlichen Entwicklung dar. Alles Geschichtliche aber hat seinem Wesen nach etwas Unabgeschlossenes. Wie die Zukunft aussieht, kann niemand wissen. Das allein ist sicher, daß sie bisher immer Neues gebracht hat. BEN AKIBA hat unrecht. Sein Standpunkt ist der des Greises, welcher das ihm Unbekannte nicht mehr zu sehen vermag. Alles, was geschieht, ist noch niemals gewesen. Daher können wir nicht sicher sein, wieweit Güter sich entwickeln werden, an denen unbekannte Werte haften und welche neuen Probleme sich aus ihnen für die Philosophie als Wertwissenschaft und damit auch für die Weltanschauungslehre ergeben. Ist doch z. B. das Kulturgut Wissenschaft, d. h. das Suchen nach Wahrheit um der Wahrheit willen, im europäischen Geistesleben erst verhältnismäßig spät entstanden und wird sogar jetzt in seinem Wesen von Philosophen noch nicht begriffen, wie der Versuch zeigt, den Wahrheitswert "pragmatisch" auf den "Nutzen" zu gründen. Weshalb also soll nicht schon der nächste Tag etwas bringen, das geeignet ist, jedes Wertsystem, welches wir heute schaffen, morgen wieder umzustoßen?


I. Das offene System

Derartige Überlegungen sind nicht ohne weiteres abzuweisen. Mit Rücksicht auf sie wird die Philosophie es in der Tat vermeiden, ihre Gedanken in jeder Hinsicht fertig zu machen. Aber zwingt dieser Umstand sie zu einem Verzicht auf jede Systematik? Läßt sich nicht Weite und Unbefangenheit des Blickes auch mit einem Willen zum System vereinen? Muß mit anderen Worten ein System immer so geschlossen werden, daß darin kein Platz mehr für das Neue bleibt? Es besteht kein Grund, der die Philosophie hindern könnte, systematisch zu verfahren, wenn sie dabei das anstrebt, was man ein  offenes  System nennen kann.

Doch was heißt das? Soll ein Gedankengebilde in derselben Hinsicht systematisch und zugleich offen sein? Das ergäbe einen Widerspruch. Aber so ist es auch nicht gemeint. Die Offenheit bezieht sich vielmehr lediglich auf die Notwendigkeit, der Unabgeschlossenheit des geschichtlichen Kulturlebens gerecht zu werden, und die eigentliche Systematik kann auf Faktoren beruhen, die alle Geschichte überragen, ohne deshalb mit ihr in Konflikt zu kommen. Damit haben wir wenigstens ein Problem gewonnen und wollen nun zusehen, auf welchem Weg seine Lösung eventuell zu erreichen ist.

Vorher jedoch muß klar werden, daß es sich hier in Wahrheit um ein notwendiges Problem handelt. Man könnte nämlich glauben, es lasse sich auch allein mit Hilfe des historischen Materials trotz seiner Unabgeschlossenheit sehr wohl ein System der Werte aufstellen, das für eine Deutung des Lebenssinnes ausreicht. Man braucht nur die vorhandenen Kulturgüter in eine Anzahl von Gruppen zu bringen, die sich nach den an ihnen haftenden Werten prinzipiell voneinander unterscheiden und so zu ordnen, wie jede andere Wissenschaft ihren Stoff. Ja, bei einem Blick auf die Geschichte der Wertphilosophie seit KANT scheint es, als habe sich eine Gliederung der Werte, in denen die Probleme der Philosophie stecken, so weit bereits herausgebildet, daß sogar allgemeine Übereinstimmung wenigstens darüber herrscht, welches die Hauptgruppen sind. KANT behandelt vier Wertarten, die logischen, die ästhetischen, die ethischen und die religiösen und durch die Einteilung in wissenschaftliches, künstlerisches, sittliches und religiöses oder "metaphysisches" Leben darf, wenn man diese Begriffe nur weit genug faßt, das geschichtliche Gebiet der Kultur, aus dem die philosophischen Probleme erwachsen, als abgeschlossen gelten. Bisher wenigstens ist man im Prinzip nicht weiter gekommen. Auch die umfassendste Philosophie der Werte, die in unseren Tagen versucht ist, die MÜNSTERBERGs, überschreitet diese Vierteilung nicht. Danach bliebe nur noch die systematische Ordnung innerhalb der Hauptgruppen problematisch und die hierbei entstehenden Fragen müssen sich ebenfalls im Anschluß an den geschichtlichen Stoff beantworten lassen. Mehr als das aber darf man nicht verlangen. Freilich, eine System für alle Zeiten erreicht die Philosophie auf diesem Weg nicht. Doch sobald man sie nur richtig als Weltanschauungslehre versteht, hat sie völlig genug getan, wenn sie ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Über die früheren Versuche, mehr zu leisten, ist die Entwicklung stets hinweggegangen. Sie starben in dem Augenblick, in dem sie fertig wurden und sind auf dem Friedhof der Geschichte beigesetzt. Wozu diese Gräber um noch eines vermehren? Je ausschließlicher wir das System an der lebendigen Gegenwart orientieren, um so sicherer dürfen wir sein, daß es lebendig bleibt. Stellen wir im Entwicklungsgang der Wissenschaft mit unserem Denken dann auch nur eine Stufe dar, so verbindet uns doch gerade dieser Umstand mit der Zukunft. Sie wird da weiter arbeiten, wo wir aufhören mußten und so  unser  Werk fortsetzen. Können wir nicht in einem bewußten Verzicht auf Abgeschlossenheit unsere Stärke suchen?

In gewissem Sinne trifft das zu und vollends ist es richtig, daß die Philosophie an den historisch gegebenen Kulturgütern zuerst die Werte zu finden hat, um sie dann zu ordnen. Aber hierdurch ist das Problem ihrer Systematik noch nicht gelöst. Alles kommt nämlich darauf an, was wir unter "Ordnung" verstehen. Die Zusammenstellung, die wir System nennen, darf nicht bloße Nebeneinanderstellung sein. Sonst kommen wir zu einer "summa" im Sinne einer Enzyklopädie und damit in bedenkliche Nähe eines philosophischen Konversationslexikons. In der Ordnung muß vielmehr ein  Prinzip  stecken. Können wir dieses der Geschichte entnehmen?

Selbst wenn wir uns auf eine Klassifikation des gegebenen Materials beschränken, werden wir doch  Vollständigkeit  anstreben und schon damit tun wir einen Schritt ins Übergeschichtliche. Wir suchen Einteilungen, deren Glieder einander ausschließen, so daß alles, was in die eine Gruppe nicht hineinpaßt, notwendig in die andere gehört. Es sind, um das sogleich an Beispielen zu erläutern, alle Güter entweder Personen oder nicht Personen, also "Sachen" und unser Verhalten zu ihnen ist entweder als Aktivität oder nicht als Aktivität und dann als "Kontemplation" zu bestimmen. Gelingt es, ein System zu bilden, das auf lauter solchen Alternativen aufgebaut ist - und dann allein ordnen wird das Gegebene vollständig - so erhalten wir nicht nur einen Überblick über die an den vorhandenen Kulturgütern haftenden Werte, sondern wir dürfen auch hoffen, neu auftauchende Produkte der geschichtlichen Entwicklung darin unterzubringen, denn wir vermögen, um wieder an die Beispiele zu denken, nicht einzusehen, wie Güter entstehen sollen, die weder Personen noch Sachen sind und denen gegenüber wir uns weder aktiv noch kontemplativ verhalten. Schon das zeigt, wie in jedem System sich übergeschichtliche Faktoren finden und wie sie sich mit den geschichtlichen so verbinden lassen, daß ein offenes System entsteht.

Doch auch wenn wir uns eine noch so vollständige Klassifikation der Werte aufgestellt denken, so kann sie uns nicht befriedigen, sobald wir an die Aufgabe der Philosophie erinnern, eine Weltanschauung zu geben. In ihr muß der Sinn unseres Lebens einheitlich gedeutet, d. h. seine Mannigfaltigkeit auf ein Zentrum bezogen sein, das alles zusammenhält und das Prinzip dieser Einheit darf auch im Wertsystem nicht fehlen, welches der Deutung zugrunde liegen soll. Danach aber werden wir in einer Klassifikation, die nur vollständig ist, vergeblich suchen. Es fehlt in ihr die Ordnung, welche den Werten als Werten mit Rücksicht auf ihre Geltung zukommt, d. h. sie ist noch nicht als Stufenfolge oder Rangordnung zu verstehen. Gerade die Möglichkeit aber, die Werte gegeneinander abzuschätzen, brauchen wir, wenn von einheitlicher Deutung unseres Lebenssinnes die Rede sein soll. Deshalb hat die Philosophie das an den vorhandenen Kulturgütern zu findende Material noch in anderer Weise in ein übergeschichtliches System aufzunehmen. Sie muß die niemals aus dem bloß Geschichtlichen zu beseitigende Zufälligkeit mit einer Notwendigkeit der Rangordnung verknüpfen und zwar so, daß auch in den dadurch entstehenden geschlossenen Wertzusammenhängen noch Platz für die Unabgeschlossenheit des geschichtlichen Lebens bleibt. Hierdurch tritt die Schwierigkeit, die im Begriff eines offenen Systems steckt, erst ganz zutage.

Ist sie lösbar? Wir erinnern uns zunächst an eine schon oft angestellte allgemeine Betrachtung. Die Not der Systematik entsteht daraus, daß der Stoff, an dem allein die Werte zu finden sind, in unaufhörlicher Entwicklung begriffen ist. Durch den Entwicklungsgedanken scheint alles unsicher und schwankend zu werden. Und doch hat seine Anwendung eine unverrückbare Grenze, wie leicht einzusehen ist, wenn wir daran denken, daß alles sich entwickeln kann mit Ausnahme der Entwicklung selbst. Was als Voraussetzung  jeder  Entwicklung zu gelten hat, ist der Entwicklung entzogen und zeigt daher auch einen übergeschichtlichen Charakter. Diesen schlichten Gedanken, den den  absoluten  Evolutionismus aufhebt, wenden wir auf die Entwicklung der Wertphilosophie an. Mag sie sich mit der geschichtlichen Kulturlage inhaltlich dauernd verändern, so muß doch das, was zu ihren formalen Voraussetzungen gehört, dem Strom der Entwicklung entzogen sein. Dazu aber sind erstens irgendwelche Werte zu rechnen, die gelten, zweitens irgendwelche wirklichen Güter, an denen die unwirklichen gültigen Werte haften und drittens auch Subjekte, die wertend zu Werten und Gütern Stellung nehmen, denn nur für sie kann eine Weltanschauung als Deutung eines Lebenssinnes bestehen. Insofern wir mit dem Kreis dieser inhaltlich unbestimmten Begriffe aus der geschichtlichen Entwicklung der Wertphilosophie herausgehoben sind, dürfen wir den Versuch wagen, mit ihrer Hilfe auch formale Begriffe von Stufen der Wertverwirklichung zu bilden, deren Werte für die Subjekte, die zu ihnen Stellung nehmen, in einer bestimmten Rangordnung stehen. Diese würde dann durch eine weitere Entwicklung von neuen Kulturgütern nicht wieder umgestoßen werden, weil sie ja nur auf dem beruht, was zu  allen  Werten und Gütern, die von Subjekten gewertet werden, notwendig gehört. Haben wir so überhistorische Wertzusammenhänge gewonnen, dann können wir sie wieder mit dem inhaltlich erfüllten geschichtlichen Leben in Verbindung bringen und falls es uns gelungen ist, für die darin faktisch vorhandenen Kulturgüter eine Ordnung mit Hilfe einer vollständigen Klassifikation herzustellen, mußt sich schließlich aus der Kombination beider Ordnungen ein System bilden lassen, in dem einerseits die verschiedenen Wertarten auch mit Rücksicht auf ihren Inhalt im einheitlichen Zusammenhang einer Stufenfolge stehen und in dem andererseits doch Platz für die unabgeschlossene Fülle der geschichtlichen Kulturgüter bleibt.

Damit haben wir nicht nur das Problem eines offenen Systems der Werte, sondern auch die Richtung, in der seine Lösung zu suchen ist, klar gestellt. Wollen wir jedoch wissen, was es eventuelle für eine Deutung des Lebenssinnes zu leisten vermag, so dürfen wir hierbei nicht stehen bleiben, sondern müssen auch seinen Gehalt wenigstens andeuten. Wir leiten daher zuerst die übergeschichtliche Rangordnung der Werte schematisch ab, bestimmen hierauf die Haupteinteilungsprinzipien für eine vollständige Klassifikation der Kulturgüter und zeigen endlich, welches System entsteht, wenn wir die Wertstufen mit der geordneten Wertmannigfaltigkeit des geschichtlichen Lebens in Verbindung bringen. Daraus wird sich dann im Prinzip auch erkennen lassen, in welchem Sinn die Philosophie eine einheitliche Weltanschauung zu geben vermag. Doch beschränken wir uns hier auf das Wertsystem, das nur die Basis für die Weltanschauung, nicht schon diese selbst enthält.


II. Die Stufen der Voll-Endung

Es ist wichtig, hervorzuheben, daß es sich in der Wertphilosophie vor allem umd die Werte selbst in ihrer  Geltung  handelt, man sich also nicht auf die Wirklichkeiten beschränken darf, die mit Werten verknüpft sind. Andererseits ist es aber nicht möglich, bei dem Versuch einer systematischen Ordnung die Güter und die Wertungen zu ignorieren. Abgesehen davon, daß nur an Gütern Werte aufgefunden werden können, wird auch das Verhalten des Subjekts von Wichtigkeit, sobald es sich um die Stufenfolge der Werte handelt, da der Sinn des Lebens, der auf ihrer Rangordnung beruht, immer Sinn für ein Subjekt ist. Die Stufenfolge muß von vornherein als eine für das Subjekt bestehende und gültige verstanden werden. Daher gehen wir vom wertenden Verhalten aus, um das Prinzip für sie festzustellen. Das ist unbedenklich, solange wir an der begrifflichen Scheidung von Wertung, Gut und Wert festhalten und nicht meinen, es löse sich die Geltung des Wertes in das psychische Stellungnehmen zu ihm auf. Wir fragen überhaupt nur nach dem "Sinn", den den Wertungen mit Rücksicht auf Werte innewohnt, nicht nach ihrem wertindifferenten psychischen  Sein  und da dieser Sinn in seiner Verschiedenheit allein durch die Verschiedenheit der Werte bestimmt wird, so muß das Prinzip der Stufenbildung, das am Verhalten des Subjekts zutage tritt, auch für die Stufen der Güter und Werte selbst maßgebend werden.

Jedes Subjekt, das Werte in Gütern verwirklicht, setzt sich ein Ziel und das Streben danach wird ihm nur dann sinnvoll erscheinen, wenn es sein Ziel entweder erreicht oder sich der Erreichung annähert. Es richtet sich mit anderen Worten auf ein  Ende  des Strebens und seine Tendenz ist, das Streben, soweit es auf dieses bestimmte Ende geht, überflüssig zu machen. Haben wir das Ende erreicht, so ist es auch mit dem Streben "zu Ende". Zugleich aber wird es nur dann erreicht scheinen, wenn es ein  volles  Ende genannt werden kann, d. h. wenn in ihm keine Lücke bleibt, die zu neuem Streben in derselben Richtung führt und deshalb wollen wir die Tendenz, die jedes sinnvolle, auf Wertverwirklichung gerichtete Verhalten hat, ganz allgemein als Tendenz zur  Voll-Endung  bezeichnen. Das Wort ist dabei in seiner eigentlichen Bedeutung zu nehmen, an die wir beim Sprechen nicht immer denken und die wir daher durch die Schreibweise hervorheben. Diese Tendenz muß, insofern sie zum Wesen der Wertverwirklichung überhaupt gehört, für jede Rangordnung der Werte maßgebend sein und kann daher zu den formalen Faktoren gerechnet werden, die mehr als bloß geschichtliche Bedeutung besitzen.

Aus ihr allein ergibt sich noch nichts, was für die Aufstellung von Stufen brauchbar wäre. Wir bringen sie daher mit anderen Begriffen in Verbindung, die ebenfalls mehr als geschichtlich sind. Zu jeder Wertverwirklichung gehört ein Inhalt, an den durch eine "Form" Werte herangebracht sind oder der wertvoll gestaltet werden soll und ihn können wir als ein  Ganzes  denken, das aus  Teilen  besteht. Nehmen wir nun an, das Ganze sei unübersehbar in der Weise, daß es beliebig oder un-endlich viele Teile hat und bringen wir den Gegensatz eines  un-endlichen  Ganzen und seiner  endlichen  Teile in Zusammenhang mit der Voll-Endungs-Tendenz, so ergeben sich mehrere Arten der Wertverwirklichung in Gütern, an denen prinzipiell verschiedene Werte haften. Richtet die Vollendungstendenz sich auf das unerschöpfliche Ganze des Materials, dann kann ein endliches Subjekt mit der Formung nie zu Ende kommen. Die Ziele, die erreicht werden, dürfen dann nur als Stufen in einem Entwicklungsgang gelten. Wir erhalten so ein Gebiet von Gütern, das wir als das der  un-endlichen Totalität  bezeichnen wollen, wobei aber Un-Endlichkeit nur negativ als Unfertigkeit oder Endlosigkeit zu nehmen ist, also im Gegensatz zur Voll-Endlichkeit steht. Ferner kann sich die Voll-Endungstendenz auf einen endlichen Teil des Materials beschränken, um ihn allein zu formen. Dann liegt dem Erreichen des Endes nichts im Weg und damit haben wir ein neues Gebiet von Gütern gewonnen, das sich als das der  voll-endlichen Partikularität  charakterisieren läßt. Schließlich ist noch ein drittes Gebiet wenigstens möglich, wenn es auch vielleicht ganz problematisch erscheint. Es stellt die Synthese der beiden ersten Gebiete dar und wir können es das der  voll-endlichen Totalität  nennen. In ihm haben wir das letzte Ziel, das sich ein Streben nach Wertverwirklichung zu setzen vermag. Zugleich ist damit die Zahl der Gebiete von Gütern erschöpft, an denen unter diesem Gesichtspunkt notwendige Werte haften. Es bleibt zwar noch eine vierte Kombination, die der un-endlichen oder unvollendeten Partikularität übrig, aber die Objekte, die zu ihr gehören, lassen sich aus der Voll-Endungstendenz nicht als Güter verstehen, denn es handelt sich bei ihnen weder um das Erreichen eines vollen Endes noch um eine Annäherung daran und die Werte, die sich eventuell zeigen, bleiben daher, wenn man hier überhaupt von Werten reden will, immer zufällig.

Denken wir daran, daß jedes Streben nach Wertverwirklichung und Voll-Endung in der  Zeit  verläuft, so können wir die drei Gebiete noch in anderer Weise charakterisieren. Da die Güter der un-endlichen Totalität nur Stufen in einem Fortschrittsprozeß sind, so ist ihre Vollendungsbedeutung stets auf die Zukunft angewiesen, d. h. ihr Wert beruth gerade darauf, daß sie Vorstufen für etwas sind, das später sein wird. Sie mögen daher auch  Zukunftsgüter  heißen. Im Gegensatz dazu kommt es in der Sphäre der Partikularität schon in der Gegenwart zur Voll-Endung. Die Güter heben sich gewissemaßen aus der Entwicklungsreihe heraus, um in ihrem momentanen zeitlichen Sein zu ruhen und können daher  Gegenwartsgüter  genannt werden. Schließlich hat auch die dritte Sphäre ein bestimmtes Verhältnis zur Zeit. Doch liegen ihre Güter, da das Material un-endlich ist, also in keiner Zeit ganz geformt werden kann, weder in der Zukunft, noch in der Gegenwart und sind daher nur als zeitlos zu denken. Wir wollen sie  Ewigkeitsgüter  nennen, ohne damit irgendetwas über ihre Existenz auszusagen. Die Güter des zeitlichen, irdischen, sinnlichen oder "immanenten" Lebens werden stets entweder Zukunfts- oder Gegenwartsgüter sein, während wir die Ewigkeitsgüter, wenn wir solche annehmen wollen, ins Übersinnliche oder "Transzendente" zu verweisen haben. Auch mit Rücksicht auf diese Gesichtspunkte ist die Einteilung vollständig. Alle Güter müssen entweder Güter des immanenten Lebens sein oder im Transzendenten liegen und die zeitlichen Güter können nur Güter der Zukunft oder der Gegenwart sein, denn die Vergangenheit vermag mit Rücksicht auf die Vollendungs-Tendenz keine Rolle als Schauplatz einer Wertverwirklichung zu spielen. Insofern haben wir auch hier ein übergeschichtliches Prinzip der Einteilung gewonnen, wie ein offenes System es braucht.

Selbstverständlich sagen die Begriffe der drei Wertstufen uns für die inhaltliche Deutung unseres Lebenssinnes noch nichts. Aber sie sollen leer oder formal sein, um über allen geschichtlich bedingten Inhalt hinauszuragen. Darauf allein kommt es an, daß sie uns die Möglichkeit geben, mit ihnen nicht nur eine vollständige Ordnung, sondern auch eine Rangordnung der Werte zustande zu bringen und das ist erreicht. Betrachten wir zunächst die beiden ersten Stufen gesondert, so stehen ihre Werte in einem klaren Verhältnis zueinander. Wo das höchste Ziel gesteckt ist, die Formung der Totalität, da müssen wir als zeitliche Wesen die Voll-Endung stets in die Zukunft verschieben, also mit einer Stufe im Prozeß zufrieden sein, die Vorstufe ist. Soll dagegen die Voll-Endlichkeit in der Gegenwart erreicht werden, so haben wir auf das Ganze zu verzichten und uns auf einen Teil zu beschränken. Beide Gebiete zeigen also sowohl einen Vorzug, als auch einen Mangel und sind daher zunächst einander nebenzuordnen. Das dritte Wertgebiet der voll-endlichen Totalität dagegen vereinigt die Vorzüge der beiden ersten Stufen miteinander und läßt die Mängel verschwinden. In ihm ist demnach auch das höchste Gut zu finden, das wir zu denken vermögen und es fällt zugleich von ihm neues Licht auf das Verhältnis der beiden ersten Stufen zueinander. Die Beschränkung auf Partikularität kann nämlich, solange dieses Gebiet nur für sich betrachtet wird, als ein absoluter Mangel erscheinen: es hängt an der bloßen Gegenwartsvollendung in der Zeit der Fluch der Endlichkeit. Im Vergleich dazu verleiht die Möglichkeit einer Annäherung an die voll-endliche Totalität den Zukunftsgütern von vornherein die höhere Würde. Sollte es jedoch gelingen, auch die voll-endliche Partikularität mit der voll-endlichen Totalität in eine notwendige Beziehung zu setzen und die Gegenwart in der Ewigkeit zu verankern, was nur von der Weltanschauungslehre, nicht vom System der Werte entschieden werden kann, dann würde die voll-endliche Partikularität von der transzendenten Welt her eine Weihe erhalten, die sie mit Rücksicht auf die Voll-Endungs-Tendenz sogar  über  die un-endliche Totalität der Zukunftsgüter stellt, da es in dieser Sphäre ja über das Streben nach dem Ganzen nie hinauskommt, also ein volles Ende in keiner Weise erreicht wird.

Diese formalen Wertverhältnisse weiter zu erörtern, ist nicht nötig, denn nur das war zu zeigen, daß hier überhaupt Prinzipien für eine Rangordnung zu finden sind. Ihre Fruchtbarkeit kann erst klar werden, wenn wir sie ausdrücklich mit dem inhaltlich bestimmten Leben in Verbindung bringen. Daher kehren wir zur schon einmal angedeuteten Möglichkeit zurück, innerhalb der geschichtlichen Kultur mit Hilfe von Einteilungsprinzipien, die auf einer Alternative beruhen, eine vollständige Klassifikation der Güter herzustellen.


III. Kontemplation und Aktivität, Sache der Person

Auch diese Ordnung wird übergeschichtlich sein müssen und daher nur auf das Rücksicht nehmen, was sich an allen Kulturgütern überhaupt findet. Damit ist uns der Ausgangspunkt gegeben. Von jedem Kulturmenschen können wir sagen, daß er als Persönlichkeit im Zusammenhang mit anderen Persönlichkeiten, also in einem sozialen Zusammenhang lebt und in irgendeiner Weise darin tätig ist. Kurz, es handelt sich im geschichtlichen Leben erstens um  Persönlichkeiten,  zweitens um deren  soziale Zusammenhänge,  drittens um ihre  Aktivität  und zugleich sehen wir, daß diese drei Begriffe notwendig miteinander verknüpft sind. Jede persönliche Tätigkeit bezieht sich, wenn auch vielleicht auf langen Umwegen über Unpersönliches, schließlich auf eine Persönlichkeit. Diese kann freilich eventuell nur die eigene sein, aber auch dann muß von einem sozialen Moment gesprochen werden, denn jeder Mensch lebt in einem sozialen Zusammenhang und ist daher sozial tätig zu nennen, selbst wenn seine Aktivität einen antisozialen Charakter trägt. Dem Sozialen in diesem weitesten Sinn des Wortes ist das Asoziale, nicht das Antisoziale gegenüber zu stellen. Damit rechtfertigt es sich, daß wir die Kulturgüter zu einer Gruppe zusammenfassen, deren Werte an aktiven sozialen Persönlichkeiten haften.

Ebenso aber ist klar, daß in diese Gruppe nicht alle Kulturgüter eingehen. Wie schon angedeutet, gibt es außer dem aktiven Verhalten noch ein  kontemplatives,  dessen Sinn darin besteht, nicht mehr "praktisch" auf die Welt einzuwirken, sondern sie lediglich zum Objekt der Betrachtung zu machen. Die Gliederung ist vollständig, da hier nur das sinnvolle, auf Wertverwirklichung gerichtete Verhalten in Frage kommt und dieses immer entweder als Aktivität oder als Kontemplation zu charakterisieren ist. Damit sind andere, ebenfalls alternative Gegensätze aufs engste verknüpft. Das kontemplative Verhalten kann sich freilich auf alle Erlebnisinhalte beziehen. Trotzdem werden ihm gegenüber die Gegenstände, auf die es sich richtet, einen anderen Charakter annehmen, als ihn im sozialen Leben die aktiven Persönlichkeiten zeigen. Was wir  nur  kontemplativ betrachten, ist für uns nicht mehr "Persönlichkeit" in dem Sinne, in dem wir es selbst sind und in dem ein anderer Mensch uns beim Handeln gegenübersteht. Auch die Person wird vielmehr für die Kontemplation zur  Sache  und hebt sich damit zugleich aus den sozialen Zusammenhängen heraus, in denen wir uns handelnd mit anderen Persönlichkeiten befinden. Insofern sind die Güter der Kontemplation als  asozial  zu bezeichnen, so daß die zweite Hauptgruppe, die wir gewinnen, durch die notwendig zusammengehörigen Begriffe der Kontemplation, der Unpersönlichkeit oder Sachlichkeit und des asozialen Moments bestimmt ist. Dadurch sind die Güter wieder erschöpfend eingeteilt, denn es läßt sich nicht einsehen, wie ein Gut weder eine Person, noch eine Sache, weder sozial noch asozial sein sollte.

Daß diese Gliederung, auch abgesehen von ihrer Vollständigkeit, für die Philosophie von Bedeutung ist, bedarf keines Beweises. Die Einteilung in "theoretische" und "praktische" Philosophie, die im Gegensatz von Kontemplation und Aktivität auftritt, ist alt und ebenso ist man gewöhnt, die Gegenstände in Sachen und Personen zu gliedern. Dadurch, daß wir einen notwendigen Zusammenhang zwischen diesen beiden Einteilungsprinzipien annehmen, zeigt sich aber noch etwas Anderes, das Beispiele leicht klar machen. Die ästhetischen und die logischen Werte haften unter den angegebenen Voraussetzungen beide an Sachen und sind daher in eine Gruppe zusammenzufassen, während die ethischen Werte in die andere Gruppe gehören, da sie sich nur an Personen finden oder höchstens von Personen aus auf Sachen übertragbar sind. Ferner werden wir uns der Kunst und Wissenschaft gegenüber kontemplativ, den Personen gegenüber jedoch, wenigstens soweit sie ethisch sind, stets in irgendeiner Weise aktiv verhalten. Diese Zusammenfassung der logischen und ästhetischen Werte und ihre Trennung von den ethischen, denen gegenüber sie etwas Gemeinsames haben, führt uns nicht nur über die bloße Nebeneinanderstellung, wie sie vielfach üblich ist, hinaus zu einer übergeschichtlichen, für alle Zeiten gültigen Ordnung, sondern sie muß auch für die Deutung eines einheitlichen Lebenssinnes wichtig werden.

Endlich lassen sich noch andere, ebenfalls viel verwendete philosophische Begriffe mit dieser Gliederung in Verbindung bringen und es sei wenigstens auf einen Gegensatz noch hingewiesen, der für die Gestaltung des Systems entscheidend ist. Die Kontemplation richtet sich in ihrem Wesen nach auf alle denkbaren Erlebnisinhalte. Damit ist der Begriff der Totalität, auf den sie angewendet werden kann, notwendig als unerschöpfliche oder un-endliche Mannigfaltigkeit bestimmt und daraus folgt, daß die Kontemplation nach Vereinheitlichung im Sinne einer Vereinfachung streben wird, um zum Ende zu kommen. Insofern können wir von einer  monistischen  Voll-Endungs-Tendenz sprechen. Denken wir dagegen daran, daß das aktive Verhalten sich auf Personen bezieht, so bestimmt sich nicht nur der Begriff der Totalität anders, sondern es darf auch von einer monistischen Tendenz wie beim kontemplativen Verhalten nicht mehr die Rede sein. Das Universum, auf das sich die Aktivität richtet, ist die Totalität der Persönlichkeiten, mit denen wir in sozialen Zusammenhängen stehen und wo Personen als Güter in Frage kommen, sind sie immer in ihrer individuellen Verschiedenheit und Vielheit zu berücksichtigen. Deshalb muß das Streben nach Wertverwirklichung auf aktivem, sozialem und persönlichem Gebiet einen  pluralistischen  Charakter tragen. Daß es sich auch beim Begriffspaar Monismus oder Pluralismus, ebenso, wie bei den anderen Einteilungsprinzipien um eine Alternative handelt, ist selbstverständlich und somit ist durchweg eine Gliederung der Güter gegeben, deren Prinzipien nicht in den Strom der geschichtlichen Entwicklung des Kulturlebens zu ziehen sind.

Nach weiteren derartigen Einteilungsgründen fragen wir hier nicht. Schon die angegebenen genügen für unseren Zweck. Es läßt sich mit ihnen die Wirklichkeit der geschichtlichen Kulturgüter soweit in ein System bringen, daß es möglich ist, dessen Hauptgruppen mit der Wertordnung nach den drei Vollendungsstufen in Verbindung zu setzen und dann zu sehen, wie dadurch ein System von sechs Gebieten entsteht, in dem einerseits die vorhandenen Güter so untergebracht sind, daß ihre Werte eine Rang- oder Stufenordnung zeigen und in dem andererseits zugleich noch Platz für die Werte der Kultur bleibt, die uns eventuell eine weitere geschichtliche Entwicklung zu Bewußtsein bringen kann.


IV. Die sechs Wertgebiete

1. Um sogleich festen Boden unter den Füßen zu haben, nehmen wir unseren Standpunkt auf einem besonderen Gebiet der geschichtlichen Kultur. Das dürfen wir, ohne uns dadurch den Vorwurf der unsystematischen Willkür zuzuziehen. Die Philosophie soll, soweit das möglich ist, wissenschaftlich sein. Wir haben uns daher von vornherein auf den Boden der  Wissenschaft  zu stellen. Fragen wir, auf welchem Gebiet wir uns dann nach den angegebenen Einteilungsprinzipien befinden, so ist zunächst klar, daß das wissenschaftliche Verhalten zur Kontemplation gehört, daß Wissenschaft keine Person, sondern eine Sache ist und daß sie zu den asozialen Gütern zählt, denn so groß ihre Bedeutung für das soziale Leben sein mag, so kann doch der Eigenwert, der an ihr haftet, die Wahrheit, in seiner Reinheit nicht als sozial gelten. Ist etwas wahr, so bleibt es wahr ohne Rücksicht darauf, ob es eine Gemeinschaft gibt, während ethische Güter wie Ehe, Familie, Staat usw. nicht einmal begrifflich vom sozialen Leben loszulösen sind und auch ihre Werte daher als soziale Werte bezeichnet werden müssen. Ebenso ist klar, in welche Gruppe von Gütern die Wissenschaft gehört, wenn wir die Einteilung nach den drei Voll-Endungsstufen in Betracht ziehen. Sie richtet sich auf alles, was Inhalt unseres Erlebens werden kann und sucht es zu erkennen. Damit steht sie vor einem unerschöpflichen Material, dem gegenüber ihre monistische Tendenz niemals zum vollen Ende kommen kann. Sie ist also in das Gebiet der un-endlichen Totalität zu verweisen und den Zukunftsgütern zuzurechnen, bei denen alles Erreichte als Vorstufe für ein noch nicht Erreichtes, immer zu Erstrebendes zu gelten hat. Es bleibt in ihr bei einer niemals zu überwindenden Spannung, bei der Unruhe einer endlos weitertreibenden Frage, auf die es nur vorläufige Antworten gibt.

Dieser Mangel an Voll-Endung kommt in charakteristischer Weise, um das wenigstens anzudeuten, auch in ihren logischen Grundlagen zum Ausdruck. Ihrer monistischen Tendenz stehen zwei Dualismen entgegen, die zu ihrem Wesen gehören und auf theoretischem Gebiet niemals zur Einheit zu bringen sind: die Gegensätze von  Form  und  Inhalt  und von  Subjekt  und  Objekt.  Zwar gibt erst die Verbindung der Form mit dem Stoff einen theoretischen "Gegenstand", aber jede wissenschaftliche Einsicht, an der Wahrheit haftet, nimmt notwendig die Gestalt eines Urteils an, das die Zusammen gehörigkeit  von Form und Inhalt bejaht und darin liegt zugleich eine Zweiheit, da Stoff und Form, gerade um als zusammengehörig bejaht zu werden, als getrennt gedacht werden müssen. Der "Begriff" zeigt Einheit lediglich scheinbar, denn er enthält Wahrheit nur, soweit er seinem Sinn nach einem Urteil logisch äquivalent gesetzt werden kann, also ebenfalls die Zusammengehörigkeit von Form und Inhalt zum Ausdruck bringt. So wenig, wie diese Spannung läßt sich der Dualismus von Subjekt und Objekt in der Wissenschaft jemals aufheben. Es muß das Subjekt stets einem von ihm unabhängigen Objekt gegenüberstehen, wenn es überhaupt "objektiv" erkennen soll. So kommt die theoretische Kontemplation auch in dieser Hinsicht niemals zu einem vollen Ende, sondern bleibt vom Material, das sie zu erfassen strebt, in eigenartiger Weise entfernt.

Die Frage, ob außer der Wissenschaft noch andere Gebilde vorhanden oder denkbar sind, die zu dieser kontemplativen, unpersönlichen und asozialen Seite der un-endlichen Totalität oder der Zukunftsgüter gehören, mag hier unerörtert bleiben. Es kam nur darauf an, das wissenschaftliche Leben dem System einzuordnen und es als geschichtlich gegebenes  Beispiel  der ersten Voll-Endungsstufe zu verstehen. Lediglich als Beispiele haben auch im folgenden die Kulturgüter zu gelten, die wir bei der weiteren Entwicklung des Systems heranziehen.

2. Zunächst ist zu zeigen, was auf den kontemplativen Seite über die urteilende Wissenschaft hinaustreibt. Soll es zur Voll-Endung kommen, so muß jede Spannung aufgehoben werden. Doch beschränken wir uns vorläufig auf das Verhältnis von Form und Inhalt. Es läßt sich ein Gegenstand der Kontemplation denken, dessen Bestandteile nicht einmals als zusammengehörig voneinander getrennt sind. Ja, wenn wir uns einem Objekt gegenüber nicht urteilend, sondern anschauend verhalten, dann wissen wir gar nichts davon, daß es aus Form und Inhalt besteht. Lediglich für die theoretische Reflexion darüber ist der Dualismus vorhanden. Das anschauende Subjekt "erlebt" unmittelbar eine Einheit und gerade in ihr liegt der Wert. Jede Problematik, jede Unruhe der Frage, sogar die Bejahung der Zusammengehörigkeit ist geschwunden. So kommen wir zu Gütern, die andere als logische Werte zeigen und ihrer Realisierung steht keine Schwierigkeit entgegen, wenn die Kontemplation auf eine Bemächtigung der Totalität verzichtet. Dafür erreicht sie voll-endliche Partikularität.

Suchen wir nach einem Beispiel im Kulturleben, so finden wir die Werke der  Kunst.  Auch dieses Gut gehört, wie die Wissenschaft, so wichtig es bisweilen für das soziale Leben der Personen werden mag, nicht nur in die kontemplative, sondern auch in die unpersönliche und asoziale Sphäre, aber es weist nicht über sich in die Zukunft hinaus. Es hat seine volle Bedeutung für den gegenwärtigen Moment. Ja, für viele wird das, was wir unter  Voll-Endung  verstehen, geradezu mit dem ästhetischen Wert identisch sein. Die künstlerische Form faßt ein Stück des Erlebnisinhaltes so zusammen, daß sie es aus der Verbindung mit der übrigen Welt und damit aus jeder fortschreitenden Entwicklung herauslöst. So ruht das Kunstwerk in sich als voll-endeter Teil. "Ausgestoßen hat es jeden Zeugen menschlicher Bedürftigkeit."

Man wende nicht ein, das ästhetische  Urteil  bejahe die Zusammengehörigkeit von Form und Inhalt. Urteile sind immer theoretisch. "Ästhetische Urteile" gibt es streng genommen nicht. Was man so nennt, ist ein theoretisches Urteil über ästhetischen Wert. In ihm treten freilich Form und Inhalt auseinander, aber damit haben wir eben die Sphäre der ästhetischen Kontemplation verlassen. Theoretisch betrachtet nimm auch der ästhetische Wert die Gestalt der "Norm" an und führt Spannung mit sich. Der ästhetische Zustand selbst jedoch kennt dieses Sollen nicht. Die Norm gilt, aber sie schweigt. So können wir zunächst die logischen und die künstlerischen Werte auseinanderhalten und systematisch ordnen. Beide gehören in die Sphäre der Kontemplation, Unpersönlichen und Asozialen, aber die einen haften an un-endlicher Totalität, die andern an voll-endlicher Partikularität.

3. Damit ist jedoch diese Reihe nicht abgeschlossen. Es ensteht die Frage, ob auch ihre dritte Stufe geeignet ist, Gebilde der geschichtlichen Kultur zu charakterisieren. In der Kunst war der Dualismus von Form und Inhalt überwunden, aber es bleibt noch der von Subjekt und Objekt, denn nur, wenn wir uns ein Kunstwerk als Objekt gegenüberstellen, haben wir zu ihm ein rein ästhetisches Verhältnis. Dieser Gegensatz stört die partikulare Voll-Endung nicht, weil es nur auf das Objekt ankommt und das Subjekt sozusagen vergessen wird. Soll jedoch auf der höchsten Stufe der Kontemplation die Totalität erfaßt werden, so muß Einheit in jeder Hinsicht vorhanden sein, also auch das endliche Subjekt im All-Einen aufgehen.

Bisweilen glaubt die Wissenschaft, zu dieser  Voll-Endung  vorzudringen, wenn sie lehrt, daß sich nur der Intuitionbergson2.html, nicht dem Verstand, das Wesen der Welt erschließe, doch bleibt eine derartige "Welt-Anschauung" als Erkenntnis problematisch. Wichtiger für unseren Zusammenhang ist die geschichtliche Tatsache einer Art von  Religion  und zwar kann als Beispiel die konsequente Mystik, etwa der Buddhismus, dienen. Hier wird der Anspruch erhoben, daß die Welt in ihrer Totalität kontemplativ erfaßt sei, so daß auch das Subjekt restlos im All verschwindet. Jeder Dualismus ist aufgehoben. Alles ist der eine Gott. Im  Pantheismus  findet nicht nur der Monismus seine Voll-Endung, sondern auch der unpersönliche und asoziale Charakter der Werte kommt auf diesem Gebiet der voll-endlichen Totalität zum reinsten Ausdruck. Das Indviduum ist nichts. Die Gemeinschaft der Individuen zeigt keine Beziehung des Einen zu einem anderen mehr. Ich bin Du, du bist Ich. Alle Vielheit und damit auch jedes soziale Moment, das mindestens zwei Personen voraussetzt, geht im All-Einen unter. Die "Welt" wird verneint. Gott allein ist Alles.

Damit sind die drei prinzipiell voneinander verschiedenen Arten der Kontemplation, die das geschichtliche Kulturleben zeigt, nebst den entsprechenden Gütern und Werten als Stufen im System untergebracht. Alles andere ist, soweit nicht persönliche, soziale und aktive Momente hineinspielen, die wir hier zu ignorieren haben, als Mischform der drei genannten Typen zu verstehen. Ja, diese Ordnung der logischen, ästhetischen und mystischen Werte nimmt nicht nur das faktisch vorhandene kontemplative, unpersönliche und asoziale Leben auf, sondern bietet zugleich eine Gewähr dafür, daß auch seine späteren Arten, die eventuell die weitere Kulturentwicklung bringt, wenigstens soweit notwendige Werte daran haften, hineinpassen werden, denn wir vernögen nicht einzusehen, wie es noch ein Gebiet geben sollte, das unter dem Gesichtspunkt der Voll-Endungs-Tendenz von den drei angeführten in der Weise verschieden ist, wie diese voneinander. Wir können daher diese Seite verlassen und uns den persönlichen, sozialen Gütern der Aktivität zuwenden. Freilich werden nicht alle Philosophen anerkennen, daß es wahrhaft gültige Werte auch hier gibt. Weil das Wesen der Philosophie Kontemplation ist, glaubt man oft, daß der philosophische Sinn des Lebens nur in der Kontemplation selbst gefunden werden könne. Der konsequente Mystiker wird sogar nur seine Art der Kontemplation gelten lassen und daher lediglich den Ewigkeitsgütern Wert zuerkenen oder in Wissenschaft und Kunst höchstens Vorstufen auf dem Weg sehen, der zum "Schauen" des all-einen Gottes führt. Mit solcher Stellungnahme zu besonderen Werten haben wir es hier jedoch nicht zu tun. Das ist Sache der Weltanschauung. Wir suchen ein möglichst vollständiges System der Werte und müssen daher auch die aktive, persönliche und soziale Sphäre mit ihrem pluralistischen Prinzip unbefangen anerkennen, um der Weltanschauungslehre die breiteste Basis zu geben.

4. Bei der Frage, ob sich hier ebenfalls für die drei Stufen der Voll-Endung Beispiele im geschichtlichen Leben finden lassen, gehen wir von den Werten aus, die allein noch übrig zu bleiben scheinen, wenn wir an die Vierteilung der Kultur in wissenschaftliches, künstlerisches, sittliches und religiöses Leben denken. Die ethischen Güter haben bisher keinen Platz gefunden. In welches Gebiet gehören sie? Der Begriff des  sittlichen Lebens  ist nicht so leicht zu bestimmen, wie der der Wissenschaft und der Kunst oder der mystischen und pantheistischen Religion. Das allein wird man allgemein zugeben, daß ethische Güter Personen sind und ebenso dürfen wir uns auf ihre Aktivität beschränken, da wir voraussetzen wollen, daß ethisches Leben nicht Kontemplation ist. Wir reden von der Ethik nur, soweit sie als "praktische" Philosophie den handelnden Menschen zu ihrem Gegenstand macht. Was aber verleiht der aktiven Persönlichkeit den spezifisch ethischen Charakter? Mit dieser Frage kommen wir zu einer Fülle von Problemen, die hier nicht zu lösen sind. Wollen wir trotzdem den sittlichen Werten ihre Stelle im System geben, so müssen wir zunächst ein Gebiet herausgreifen, das jedenfalls in die ethische Sphäre fällt: den pflichtbewußten Willen der den "Gesetz" freiwillig gehorchenden, "autonomen" Persönlichkeit. Vielleicht ist der so entstehende Begriff zu eng. Doch jedenfalls haben wir damit ein Reich abgesteckt, das es im Kulturleben faktisch gibt und an dem Werte haften, die in unser System einzuordnen sind.

Trotzdem dürfen wir hierbei nicht stehen bleiben. Der Wertbegriff, den wir so gewinnen, ist, obwohl er zu eng erscheinen kann, in anderer Hinsicht zu weit. Als Pflicht kann die Realisierung  jedes  Gutes auftreten, d. h. auch der wissenschaftliche und der künstlerische Mensch gehorcht freiwillig der Norm und hat einen autonomen Willen, wenn er die Wahrheit um der Wahrheit, die Schönheit um der Schönheit willen sucht, ein Umstand, der von Bedeutung für die Weltanschauungslehre ist, hier jedoch nicht weiter verfolgt werden soll. Nur den spezifisch ethischen Willen müssen wir näher bestimmen. Bisher haben wir von Persönlichkeit und Aktivität gesprochen, das soziale Moment jedoch ignoriert. Deshalb schien der Begriff der Autonomie zu weit: der freie Wille kann sich auch auf die asozialen Güter des unpersönlichen, kontemplativen Lebens beziehen. Verstehen wir dagegen Sittlichkeit als soziale Sittlichkeit, d. h. denken wir daran, daß das Pflichtbewußtsein nicht allein auf die Verwirklichung von Werten überhaupt, sondern auf Realisierung autonomer Persönlichkeiten im sozialen Leben gerichtet ist, dann kommen wir zu einem neuen Gebiet von Gütern und Werten, das sich scharf gegen die bisher genannten abgrenzt. Ihm ist seine Stellung im System anzuweisen.

Ubi homines sunt, modi sunt. [Da, wo Menschen zusammenleben, bildet sich auch die Art und Weise ihrer Gesellschaft aus. - wp] In jedem Zusammenhang von aktiven Persönlichkeiten bildet sich etwas heraus, was wir als "Sitte" bezeichnen, d. h. es werden gewisse Formen des Lebens jedem Mitglied der Gesellschaft zugemutet. Durch sie ist das Individuum sozial gebunden. Solange es sich nur um ihre instinktive Befolgung handelt, haben sie für uns noch kein Interesse. Nimmt jedoch der Mensch mit Bewußtsein zu seinen Sitten Stellung, so daß er die einen ausdrücklich billigt, die anderen verwirft, stellt er sich also selbständig der Gesellschaft gegenüber, um "frei" über seine Gebundenheit zu entscheiden, dann entsteht "Sittlichkeit" als autonome Anerkennung des Pflichtgemäßen im sozialen Leben. Sie ist eine Willensbeschaffenheit, aus der Handlungen hervorgehen, die für das Zusammenleben der Menschen von Bedeutung sind und sie kann selbstverständlich auch einen antisozialen Charakter tragen, ohne darum weniger sozial zu sein. Immer ist das Gut, an dem die ethischen Werte in diesem Sinne haften, die Persönlichkeit selbst, wie sie in den sozialen Zusammenhängen steht und der Wert, der sie zum Gut macht, ist die Freiheit innerhalb der Gesellschaft oder die soziale Autonomie. Doch handelt es sich selbstverständlich bei den ethischen Gütern nicht nur um die einzelnen Persönlichkeiten, sondern ebenso auch um die Gemeinschaften. Das ganz soziale Leben muß unter den Gesichtspunkt gestaltet werden, daß es die freien, autonomen Persönlichkeiten zu fördern hat und von hier aus sind dann Verbände wie Ehe, Familie, Staat, Nation, Kulturmenschheit usw. in ihrer ethischen Bedeutung zu verstehen. Die Werte, die an diesen Gütern haften, wollen wir für den Fall, daß jemand unseren Begriff des Ethischen zu eng findet, die  sozialethischen  nennen. Jedenfalls ist so ein Gebiet für unsere Zwecke genügend abgegrenzt. Die sozialethische Tendenz geht dahin, daß überall, im privaten und im öffentlichen Leben, freie Persönlichkeiten sich herausbilden, Individuen, die in der Mannigfaltigkeit ihrer Handlungen durch autonomen Willen bestimmt sind. Es haben daher auch die sozialen Institutionen des sexuellen, wirtschaftlichen, rechtlichen, politischen, nationalen Lebens sich so zu gestalten, daß sie den Personen Autonomie gestatten oder, so mannigfaltig ihr Inhalt auch sein mag, durch die Form der persönlichen Freiheit zu Gütern werden.

Die Frage, die wir im Interesse des Systems zu stellen haben, ist die: kann es auf dem sozialethischen Gebiet zur Voll-Endung kommen? Man sieht leicht ein: das Streben nach Totalität steht ihr auch hier entgegen. Zwar handelt es sich nicht um das Ganze des Erlebnisinhaltes, das geformt werden soll, wie bei der theoretischen Kontemplation, aber das ethisch differente Universum ist ebenfalls unerschöpflich. Nach dem pluralistischen Prinzip der Persönlichkeits-Voll-endung ist jeder Mensch in seiner Individualität und Besonderheit gleich wichtig in bezug auf die Sittlichkeit. Selbst wenn wir annehmen wollten, es vermöge das einzelne Individuum absolut autonom zu werden, so wäre das für die allgemeine ethische Voll-endungs-tendenz nicht entscheidend. Es kommt auf den sozialen Zusammenhang der Persönlichkeiten an und in ihm werden, um nur das Eine hervorzuheben, stets neue Menschen geboren, die alle zur Autonomie zu erziehen sind. Immer neue Kombinationen entstehen, die neue Schwierigkeiten mit Rücksicht auf die soziale Freiheit schaffen. Die Gesamtheit der einzelnen Persönlichkeiten und ebenso die Fülle der sozialen Institutionen werden daher nie in dem Sinne ethisch voll-endet sein, daß sie jedem Individuum die soziale Autonomie garantieren, die seiner Besonderheit entspricht. Ein Ausgleich der Spannung zwischen Sein und Sollen ist hier nicht zu erreichen. Deshalb stellen diese Güter sich wie die Wissenschaft als Zukunftsgüter dar und gehören zur un-endlichen Totalität.

Ja, wir können, ebenso wie im Theoretischen, die Spannung im Wesen der Sache selbst aufzeigen. Ist das zentrale ethische Gut die pflichtbewußte Persönlichkeit, so  soll  aus ihm das Sollen gar nicht schwinden. Ohne Anerkennung einer Norm gibt es keine Freiheit meehr im Sinne der Autonomie, als auch keine soziale Sittlichkeit. Mit dem sozialethischen Gut ist der Mangel an Voll-endung durch einen in ihm steckenden Antagonismus notwendig verknüpft. Alles soll sittlich sein und doch sind wir nur so lange sittlich, als die Freiheit noch nicht in jeder Hinsicht erreicht ist. Von einem  Sollen des Sollens  wird dieses Gebiet der un-endlichen Totalität auf der aktiven, persönlichen und sozialen Seite der Güter beherrscht.

5. Damit ist nicht nur das sozialethische Leben mit seinen Werten systematisch eingeordnet, sondern zugleich ergibt sich: die Voll-Endungs-Tendenz treibt auch über diese Sphäre hinaus. Selbstverständlich wird das Ethische hierdurch ebensowenig herabgesetzt, wie das Theoretische durch seine Einordnung in die Zukunftsgüter. Der Gedanke der rastlos vorwärtschreitenden un-endlichen Entwicklung zur Totalität hat vielmehr in beiden Fällen seine unantastbare Größe. Darum brauchen wir jedoch seine Grenze nicht zu übersehen und sie muß aufs deutlichste zutage treten, sobald wir daran denken, daß alles  persönliche  Leben nur in der Gegenwart wirklich lebendig ist und daher durch den dauernden Hinweis auf die Zukunft in seinem innersten Wesen problematisch zu werden droht. Es ist immer nur für etwas anderes da und dieses andere kann ebenfalls niemals so realisiert werden, daß es zum in sich selbst ruhenden Leben gedeiht. Solange nur die Arbeit an überpersönlichen Gütern in Betracht kommt, mag das Bewußtsein uns erheben, daß wir uns ganz und gar in den Dienst der Zukunft stellen. Handelt es sich aber um die Persönlichkeit selbst, dann wird der Gedanke, daß in ihrem Dasein alles nur Vorstufe ist, unerträglich. In einem noch ganz anderen Sinn als auf der kontemplativen Seite ergibt sich daher die Notwendigkeit eines Gebietes, in dem es wirklich zu einem vollen Ende kommt und indem auch das gegenwärtige Leben des aktiven, sozialen Menschen seine Bedeutung für sich erhält. Damit sind wir wieder bei einer neuen Stufe der Voll-endung angelangt.

Fragen wir jedoch nach dem Namen, den sie führen soll, so läßt uns die Philosophie, wie sie sich bisher entwickelt hat, hier im Stich. Freilich ist schon oft gesagt worden, daß der Begriff des pflichtbewußten Willens den Sinn unseres Lebens nicht befriedigend zu deuten vermöge. Doch mit Unrecht hat man deswegen die Ethik angeklagt. Man sollte die Autonomie als ihren Zentralbegriff unangetastet lassen und dafür umso entschiedener die Frage stellen, ob es möglich ist, mit ethischen Werten allein bei der Deutung des persönlichen und aktiven Daseins auszukommen. Auch darauf darf man sich nicht beschränken, ästhetische oder mystische Werte mit heranzuziehen, da diese in der unpersönlichen und kontemplativen Sphäre liegen. Man muß vielmehr einsehen, daß es Güter und Werte gibt, die in die üblichen philosophischen Schemata nicht passen. Selbstverständlich kann man alles, was zum aktiven und persönlichen Leben gehört, "ethisch"  nennen,  aber zweckmäßig ist das nicht, denn dann bezeichnet man mit einem Wort zwei Arten von Werten, die ebenso verschieden sind, wie die theoretischen und die ästhetischen. Begrifflich müssen wir jedenfalls die Güter des persönlichen Gegenwartslebens von den sozialethischen Zukunftsgütern scheiden. Sie heben sich als voll-endliche Partikularität wie ruhende Inseln aus dem Strom der endlosen Kulturentwicklung heraus, ohne darum zu Kunstwerken zu werden oder schon ins Transzendente, Zeitlose zu weisen. Das umgrenzt sie scharf und schützt sie vor Verwechslung.

Aber haben wir vielleicht nicht nur den Prinzipien unseres Systems zuliebe ein Gebiet konstruiert, dem keine Wirklichkeit entspricht? Die Antwort hierauf ist mit derh hier notwendigen Kürze nicht leicht zu geben. Es bietet sich zwar eine große Mannigfaltigkeit von Tatsachen dar, die unter den Begriff des voll-endeten persönlichen Gegenwartslebens fallen, aber sie lassen sich gerade wegen ihrer Fülle nur schwer einheitlich kennzeichnen. Einen Versuch dazu dürfen wir an dieser Stelle, wo allein die Vollständigkeit des Wertsystems in Frage steht, nicht unternehmen. Wir beschränken uns daher auf einige Beispiele, die dartun sollen, daß es hier überhaupt Probleme gibt.

Sehen wir auf das Soziale im engeren Sinne, so können wir an die vielen Beziehungen denken, die sich innerhalb der Familie entfalten. Gewiß werden die Verhältnisse von Mann und Frau, von Eltern und Kindern auch durch Pflichten geregelt und stehen im Dienst sozialethischer Freiheit. Aber dürfen wir das Familienleben  nur  unter diesem Gesichtspunkt würdigen? Was eine Mutter bedeutet und was sie ihrem Kind sein kann, das werden wir dann niemals ganz verstehen. Mütterlichkeit ist ein Wert, der nicht allein für die zukünftige Entwicklung wichtig ist. Die soziale Bindung, an der er haftet, trägt vielmehr ganz den Charakter seines sich genügenden, in sich ruhenden Gegenwartslebens. Und genau dasselbe gilt von all den Verhältnissen, die wir mit den Namen der Liebe, der Güte, der Freundschaft, der Geselligkeit bezeichnen, jenen sozialen Gütern, die im privaten und intimen Leben eine so große Rolle spielen. Welche Mannigfaltigkeit entsteht da, je nachdem es sich im "Hause" oder außerhalb um die Beziehungen von Menschen verschiedenen oder gleichen Geschlechts, von Erwachsenen zu Erwachsenen, von Kindern zu Kindern oder von Erwachsenen zu Kindern handelt. Das alles erfüllt ganz den lebendigen Moment, das bedarf keiner Einordnung in eine Reihe, um bedeutsam zu werden, und gerade darin steckt ein großer Teil vom Sinn unseres persönlichen, aktiven, sozialen Daseins. Ferner gewinnt in dieser Sphäre auch das antisoziale Verhalten eminente Bedeutung. Wir meiden jede "Gesellschaft", um "zu uns selbst zu kommen" und wir können dann wirklich ganz allein sein in Sehnsucht und Erfüllung oder allein mit der Natur, um "in ihre tiefe Brust, wie in den Busen einer Freundin, zu schauen". Auch dabei entfaltet sich ein großer Reichtum der Güter, je nachdem wir in der Heimat oder in der Fremde in Beziehung treten zur Lebendigkeit der Tiere und Pflanzen oder zur "toten" Natur, etwa beim Anblick des Sternenhimmels, wenn das Ich sich "kosmisch" erweitert. Jeder kennt solche Stunden der Einsamkeit mit ihrem in sich gegründeten Wert. Können wir ihre Bedeutung in eines der üblichen Schemata pressen? Vielleicht spielen religiöse Momente in sie hinein, aber das erschöpft ihr Wesen nicht. Ebensowenig wird es gelingen, den Sinn, der an umfassenderen sozialen Komplexen haftet, restlos auf die bisher genannten Werte zurückzuführen. So ist die Nation zwar gewiß ein sozialethisches Gut, insofern sie in Verbindung mit dem politischen Leben steht, reicht zugleich aber in ihrer Bedeutung weit über den Staat hinaus. Die Kollektiv-Persönlichkeiten der Völker sind, wie die einzelnen Individualitäten, Güter, die sich nicht als bloße Stufen einordnen lassen in den geschichtlichen Entwicklungsgang.

Freilich, es ist nicht leicht, zu sagen, worauf das beruht. Wenn wir betonen, daß individuelles persönliches Leben der verschiedensten Art seinen besonderen "Stil", seine in sich ruhende "Melodie", seinen unvergleichlichen "Rhythmus" offenbare, daß es dadurch sein Dasein voll rechtfertige und jede Frage nach einem "wozu" abweise, so meinen wir zwar oft das, was hier in Betracht kommt, aber wir greifen dann nach Bildern aus der ästhetischen Sphäre, um die Vollendung in der Gegenwart zu charakterisieren und gerade das dürfen wir in diesem Zusammenhang nicht, denn so gewiß die beiden Stufen der voll-endlichen Partikularität verwandte Züge aufweisen, z. B. darin, daß ihre Normen schweigen und nur für die theoretische Reflexion als Sollen ins Bewußtsein treten, ebenso notwendig ist es, die Formen des Lebens, das wir jetzt im Auge haben, streng von allen ästhetischen Formen zu scheiden. Sonst kommen wir zur "schönen Seele" oder zu verwandten Begriffen eines kontemplativen Ästhetentums und gerade vor der Verwechslung hiermit haben wir uns am sorgfältigsten zu hüten. Nicht mit einer sachlichen Harmonie, bei welcher die Betrachtung verweilt und die uns vom gesellschaftlichen Wollen und Handeln ablöst, sondern allein mit Werten des persönlichen, aktiven und sozialen Daseins haben wir es zu tun, wenn wir das voll-endete Gegenwartsleben als ein besonderes Gebiet abgrenzen. Eher als irgendwo anders könnten wir von "Lebenswerten" sprechen, um diese voll-endliche Partikularität zu kennzeichnen, doch dürfen wir nie vergessen, daß das Leben als bloßes Leben wertindifferent ist, der Ausdruck Lebenswert also besser vermieden wird.

Trotzdem kann schon jetzt klar sein, daß sich die an der vollendeten Gegenwart des persönlichen Daseins haftenden Werte bei der Deutung unseres Lebenssinnes nicht entbehren lassen und daher mit Recht auch im System ihre Stelle suchen. Wenn die Philosophie sie bisher fast ganz vernachlässigt oder mit anderen Werten verwechselt hat, so gibt es dafür mehrere Gründe. Zum Teil handelt es sich in dieser Sphäre um unscheinbare, alltägliche, triviale Dinge. Ihre Werte sind so selbstverständlich, daß sie nicht auffallen. Sie spielen zwar quantitativ in jedem Menschenleben, manche an jedem Tag, eine große Rolle, aber vielleicht hält man sie gerade deswegen nicht für würdig, Gegenstand philosophischer Untersuchung zu sein. Wissenschaft, Kunst, Religion, das sind sozusagen "große" Angelegenheiten und auch die Probleme der Sittlichkeit drängen sich jedem auf, da die Pflicht mit ihrem "du sollst" uns mahnend den Ernst des Lebens zeigt. Der partikularen persönlichen Gegenwartsvollendung mit ihrer schlichten Stille scheint die Größe, ja zum Teil der Ernst zu fehlen. Haben nicht wenigstens einige der genannten Güter erwas allzu Gewöhnliches, Durchschnittliches? Die Philosophie soll uns über den Alltag erheben. Mit Recht hält sie sich von der bloßen Gegenwartsvollendung fern.

So kann man wohl meinen, aber trotzdem ist es verkehrt, sich bei dem Versuch einer wahrhaft umfassenden Weltanschauung auf das zu beschränken, was den Sinn des Daseins von Heiligen, sittlichen Heroen, kriegerischen Helden, Genies der Wissenschaft und der Kunst, kurz von Ausnahmemenschen bestimmt. Auch der Durchschnittsmensch wendet sich an die Philosophie und sie darf das nicht unbeachtet lassen, wodurch der quantitativen Ausdehnung nach in vielen Fällen sogar hauptsächlich der Sinn des Lebens erfüllt wird.

Was es vielleicht schwer macht, das zu erkennen und was ebenfalls dazu beiträgt, daß man oft die angegebenen Güter in ihrer Eigenart übersieht, beruth auf einem Umstand, der für das ganze Gebiet des persönlichen, aktiven, sozialen Lebens von Bedeutung ist. Wir können von einem Prinzp der  Personal-Union  reden. Auf der kontemplativen, unpersönlichen und asozialen Seite sind die verschiedenen Werte nicht nur begrifflich zu trennen, sondern sie haften auch an faktisch verschiedenen Gütern. Die Wirklichkeit, mit der sich logischer Sinn verknüpft, ist selten zugleich Träger ästhetischer Werte. Anders steht es es hier. Die verschiedenen Werarten sind an derselben Person zu finden. Dieser Umstand hebt jedoch die Notwendigkeit ihrer begrifflichen Trennung nicht auf. Im Gegenteil, wollen wir zur Klarheit über den Sinn unseres Lebens kommen, so müssen wir gerade das am strengsten scheiden, was faktisch immer miteinander verbunden ist, damit wir die Verschiedenheit nicht übersehen. Erst dann lassen sich auch die Konflikte in ihrer Bedeutung würdigen, die zwischen den verschiedenen Wertgebieten des persönlichen Lebens entstehen können und die besonders zwischen den ethischen Pflichten und den Gütern des voll-endeten Gegenwartslebens nicht ausbleiben werden.

Doch, es ist nicht möglich, alle Fragen, die sich hier aufdrängen, weiter zu verfolgen. Nur daß überhaupt ein eigenartiges Wertgebiet vorliegt, sollte gezeigt werden. Um seine prinzipielle Wichtigkeit hervortreten zu lassen, weisen wir schließlich noch auf einen Punkt hin, der in gewisser Hinsicht schon über die reinen Gegenwartsgüter hinausführt und insofern von Bedeutung auch für die Gliederung des Systems ist. Zweifellos wird der persönliche Sinn des einen Menschenlebens mehr durch Zukunftsgüter und die endlose Arbeit an ihnen, der Sinn des anderen mehr durch Gegenwartsgüter und ihre Vollendung bestimmt und für den unbefangenen Blick muß mit Rücksicht hierauf auch ein Unterschied der Geschlechter zutage treten. Gewiß sind an jeden Menschen, an die Frau, wie an den Mann, sozialethische Forderungen zu stellen. Aber man wird doch nicht verkennen, daß trotz aller Ausnahmen das Wesen des Mannes im allgemeinen mehr auf Zukunftsarbeit zumal im öffentlichen Leben, das Wesen der Frau mehr auf Arbeit am Gegenwartsleben angelegt ist, wie es in Stille und Intimität abläuft. Nur ein einseitig moralischer Entwicklungs- und Fortschrittsfanatismus kann deswegen die Frauen geringer werten. Hat man die Gegenwartsgüter aus der Voll-Endungstendenz in ihrer prinzipiellen Bedeutung als das verstanden, was für ein in sich gegründetes Menschenleben nicht entbehrt werden kann, so ergibt sich die Möglichkeit, gerade der weiblichen Eigenart eine ebenso hohe Stellung im Gesamtsinn des Daseins anzuweisen wie der männlichen, obwohl sich nicht leugnen läßt, daß die Arbeit für die sich geschichtlich entwickelnde öffentliche Kultur hauptsächlich von Männern getan wird. "Weiblichkeit", ist, wo wenig sie als Sollen zu Bewußtsein zu kommen braucht, wenn das Leben ihre Form trägt, ein ganz besonders wichtiger Wert auf dem Gebiet der persönlichen Gegenwartsgüter. Dies darf mit den oft gemachten Unterscheidungen, daß die Frau mehr durch das, was sie "ist", der Mann mehr durch das, was er "tut", Bedeutung habe, daß die Frau der Natur näher stehe, als der Mann, mehr Zustandswesen, weniger Leistungswesen, mehr subjektiv, weniger objektiv sei, usw. usw., nicht verwechselt werden. Auch bei der persönlichen Voll-endung in der Gegenwart handelt es sich um Leistungen, um Aktivität, ja um objektive "Kulturarbeit" wenigstens in dem Sinne, daß sie über alle bloße Natur weit hinausführt, aber freilich um eine Aktivität und eine Kulturarbeit von ganz besonderer Art, um Leistungen, die eben nicht nur Stufen in der historischen Entwicklung sind, sondern alle Geschichte überragend in sich zum vollen Ende kommen.

Von hier aus dürfen wir vielleicht hoffen, auch die Bedeutung der Geschlechtsliebe für den Sinn des Lebens zu würdigen und ihre Stelle im System der Güter zu bestimmen. An ihr haftet ein eigener Vollendungswert. Selbstverständlich steht dabei nicht der natürliche Trieb in Frage, denn der ist wie alles bloß Natürliche wertindifferent. Auch um Bedeutung der Liebe für die Fortpflanzung handelt es sich nicht, denn unter diesem Gesichtspunkt wird sie zum Mittel für Zwecke herabgesetzt und kann nie in ihrem Eigenwert als Gegenwartsgut verstanden werden. Ebenso ist ganz von ihrer sozial-ethischen Bedeutung abzusehen, also nicht etwa ihre Beziehung zur Form der Ehe zu erörtern und auch die religiöse Weihe, die ihr vielleicht zukommt, hat hier beiseite zu bleiben. Nur die individualisierte persönliche Liebesbeziehung selbst, wie sie in sich gegründet ist, soll gedeutet werden und hierfür wird das Verhältnis von endloser Zukunftsarbeit und Gegenwartsvollendung wichtig. Gehören nämlich beide zu unserem sinnvollen Dasein und stellt jede für isoliert betrachtet eine Einseitigkeit dar, dann muß der ofz zu seinem Schmerz fast ganz auf unvollendbare Zusammenarbeit angewiesene Mann die denkbar innigste sinnlich-geistige Lebensgemeinschaft mit einer Frau, die in der Gegenwart sich und ihr Tun zu vollenden vermag, wie die Voll-endung seines eigenen Daseins empfinden, ohne daß er sein Streben nach un-endlicher Totalität aufzugeben braucht und umgekehrt vermag die Frau, die ihr endliches Gegenwartsleben vielleicht als Enge fühlt, in der Liebe zum Mann und seinem Werk eine befreiende Zukunftsperspektive zu gewinnen, ohne daß sie dabei den voll-endeten Gegenwartscharakter ihres Wesens einbüßt. Auf diesem Wege, der hier nur flüchtig angedeutet werden kann, würden wir auch die Bedeutung des oft ausgesprochenen Wortes verstehen, daß erst Mann und Frau zusammen den "vollen" Menschen ausmachen und begreifen, daß das Ideal der "Menschlichkeit" sich gerade nicht auf das bei Mann und Frau Gleiche richtet, als ob Männlichkeit und Weiblichkeit bloße "Hüllen" des Menschen wären, sondern daß Voll-endung in der Vereinigung des wesentlich Verschiedenen und durch seine Verschiedenheit aufeinandern Angewiesenen zu suchen ist. Insofern in den Beziehungen der Geschlechter, die auf dieser Basis ruhen, eine Synthese der beiden ersten Stufen persönlicher Werte vorliegt, hätte das Prinzip der  Liebe  als höchster Wert des voll-endeten persönlichen Gegenwartslebens zu gelten.

6. Zugleich führt der Gedanke an Synthese uns weiter. Wie auf der kontemplativen Seite so eröffnet sich auch hier der Ausblick auf eine dritte Stufe, welche die Vorzüge der beiden ersten ohne ihre Mängel enthält und es ist von vornherein klar, daß die "irdische" Liebe sie trotz der Verbindung von Gegenwart und Zukunft noch nicht zum Ausdruck bringt. Es haftet an ihr die Endlichkeit der Partikularität und deshalb erscheint sie, wenn wir an die Rangordnung der Voll-endungsstufen denken, so lange problematisch, bis es gelungen ist, sie mit dem höchsten Gut und seinem absoluten Wert in Beziehung zu setzen. So muß es vollends mit den anderen Gütern des vollendeten Gegenwartslebens der Personen stehen: es fehlt ihnen die notwendige Verbindung mit dem Ganzen des persönlichen Universums. Hierdurch kommen wir zum Problem der voll-endlichen Totalität auf dieser Seite des Wertsystems. Wie haben wir den Abschluß der persönlichen Reihe zu denken? Das ist die letzte Frage, die wir noch stellen müssen.

Ein Vergleich mit den Stufen der Kontemplation wird uns die Antwort geben. Dort drang die monistische Voll-endungs-tendenz zuuerst über den theoretischen Dualismus von Form und Inhalt, dann über den von Subjekt und Objekt zum All-Einen vor. Auch hier hat die voll-endliche Partikularität die Spannung des autonomen ethischen Sollens gelöst, aber die Vielheit des individuellen Lebens konnte dadurch nur gesteigert werden. Jeder Einzelne findet partikulare Voll-endung in seiner  besonderen  Art. Wir sind im Gebiet des Pluralismus und müssen darin bleiben. Deshalb darf auch auf der höchsten Stufe die voll-endliche Totalität sich nicht so zuu dem einen "Ganzen" gestalten, daß sie die Fülle des persönlichen Lebens aufhebt wie die Gottheit des Pantheismus. Es zeigt vielmehr die letzte Stufe hier notwendig zwei Seiten. Erstens kann das Subjekt so wenig im Objekt untergehen, daß vielmehr ein Ideal absoluter  Subjekts-Voll-endung zu bilden ist: an die Stelle des Pantheismus tritt der Glaube an einen persönlichen Gott. Außerdem aber muß neben ihm die Vielheit der einzelnen Personen oder "Seelen" voll erhalten bleiben. Zum zweitenmal im System kommen wir damit zur  Religion  und das ist notwendig, denn früher klnnten wir nur den Pantheismus unterbringen. Jetzt finden auch andere religiöse Werte ihren Platz. Neigte der Glaube als Abschluß der kontemplativen, unpersönlichen und asozialen Reihe mit monistischer Tendenz notwendig zur Weltverneinung, so darf es sich hier, wo das persönliche Leben der vielen Individuen sich voll-enden soll, nur um Bejahung der Fülle persönlicher und sozialer Aktivität handeln. Jedenfalls treten hier Gott und "Welt" auseinander und müssen auch bei noch so enger Verbindung getrennt bleiben. Die Beziehung zur Gottheit als der voll-endlichen Total-Persönlichkeit befreit das endliche Dasein der Subjekte zwar von Unvollkommenheiten, kann es aber nicht etwa mystisch vernichten. Im Gegenteil, durch persönliche Anteilnahme am persönlichen Transzendenten und Ewigen, das wir lieben und von dem wir uns geliebt glauben dürfen, haben wir unser persönliches Leben in seiner individuellen  Fülle  zu erhöhen. So allein kommt die pluralistische Tendenz zum Abschluß. Diese Religion stützt und befestigt das Leben in Gegenwart und Zukunft, indem sie ihm einen Wert gibt, den es aus eigener partikularer Kraft nicht aufzubringen vermag. Es wird das Ewige in das Zeitliche, das Göttliche in das Menschliche, das Absolute in das Relative, das Voll-endliche in das Endlose und Endliche, die Totalität der Person in die Partikularität hineintragen und so auch dem noch Sinn verleihen, was unter den bisherigen Gesichtspunkten als unvollendet oder geradezu als sinnwidrig im persönlichen Leben erscheinen konnte.

Hierdurch muß das Prinzip klar sein. Selbstverständlich kann es in einer Weltanschauung nicht zwei religiöse Wertarten geben. Wir breiten hier die verschiedenen Werte in systematischer Anordnung möglichst vollständig aus und das Problem, wie das religiöse Leben sich einheitlich deuten läßt, kümmert uns in diesem Zusammenhang nicht. Vollends fragen wir in keiner Weise nach der "Wahrheit" der einen oder der anderen Religion, sondern konstatieren nur die Tatsache, daß der persönliche Gott des  Theismus  und die Fülle aktiver Seelen in unserem Schema ebenso ihren Platz haben, wie der Pantheismus auf der Seite des kontemplativen Lebens. Der voll-endlichen Totalität des Objektes, die wir dort fanden, muß hier die voll-endliche Totalität des Subjekts entsprechen und während dort alles persönlich-individuelle, aktive und soziale LEben in der Arm-Seligkeit des Monismus unterging, wird hier pluralistisch sein Reichtum im Ewigen verankert. Als Persönlichkeiten haben alle Einzelnen zur persönlichen Gottheit ein persönliches Verhältnis und verbinden so ihre individuelle Partikularität mit der voll-endlichen Totalität. Als Individuen sind sie tätig am "Reiche Gottes auf Erden" und können dadurch mahr als endliche Individuen werden. Schließlich zeigt sich auch das soziale Moment über alles Vergängliche hinaus gesteigert. Tritt doch die Gottheit in dieser Religion der Fülle jedem Ich als ein besonderes Du gegenüber, mit dem es sich in innigster Gemeinschaft weiß. Die göttliche Liebe nimmt die irdische in sich auf und gibt ihr die höchste Weihe. In jeder Hinsicht, in persönlicher, aktiver und sozialer, kann der Gläubige hoffen, vom Fluch der Endlichkeit erlöst zu werden.

Das mag zur Charakterisierung dieses Gebietes genügen, das ebenso wie die letzte Stufe der Kontemplation einen religiösen Charakter trägt, aber trotzdem Werte von prinzipiell anderer Art umfaßt. Fragen wir schließlich nach seinem Verhältnis zum wirklichen Kulturleben, so findet sich unter den geschichtlichen Religionen wohl keine, die sich mit diesem Ideal persönlicher Voll-endung restlos deckt. Doch das ist für unseren systematischen Zusammenhang nicht von Bedeutung. Es genügt, daß einige der wichtigsten Züge, die wir schematisch ableiten konnten, auch im faktisch vorhandenen religiösen Leben, z. B. im Christentum, ihre Ausprägung gefunden haben. Ja, überall, wo man an einen persönlichen Gott glaubt, neben dem die Vielheit der individuellen Seelen ihre Selbständigkeit behält, tritt der entscheidende Gegensatz zum Monismus und Pantheismus zutage. Im übrigen sind die historischen Religionen als Gebilde zu verstehen, in denen die Elemente aus beiden Typen sich zusammenfinden. Es wird z. B. die christliche Mystik als eine Mischform zu begreifen sein, die Persönlichkeitswerte der sozialen Aktivität mit pantheistischen Idealen der asozialen Kontemplation verbindet. Doch kommt es nirgends darauf an, das geschichtliche Kulturleben mit seinen Nuancen und Abstufungen einzugliedern, sondern es galt nur, die Güter nach der prinzipiellen Verschiedenheit der an ihnen haftenden Werte zu ordnen.


V. Wissenschaft und Weltanschauung

Daher können wir die Ausführungen über das System jetzt schließen. Die sechs Hauptgattungen der Werte, die mit dem Anspruch auf Geltung auftreten, also Probleme der Philosophie enthalten, sind untergebracht. Nicht nur Logik, Ethik, Ästhetik und zwei Arten von Religionsphilosophie haben wir als notwendige philosophische Disziplinen verstanden, sondern auch ein bisher noch nicht existierender Teil, die Philosophie des voll-endeten persönlichen Gegenwartslebens, ergibt sich als Forderung. Ebenso müssen neue Güter, die eventuell die Zukunft entwickeln wird, ihren Platz finden können. Insofern ist das System offen und doch zugleich ein System. Vor allem haben wir nicht eine bloße Nebeneinanderstellung, sondern eine Rangordnung in je drei Stufen gewonnen, so daß es im Prinzip möglich wird, nach dem einheitlichen Sinn unseres Daseins zu fragen.

Andererseits ist jedoch ebenso entschieden hervorzuheben: über die  Lösung  der Weltanschauungsprobleme sagt uns dieses System der Werte noch nichts. Unter Rangordnung war immer nur ein  formales  Verhältnis zu verstehen. Welches von den Gütern als höchstes oder zentrales zu gelten, von welchem Gebiet aus man zu einer einer Einheit der Weltanschauung vorzudringen hat und welche inhaltlich bestimmte Stufenfolge der Werte entsteht, das bleibt in jeder Hinsicht unentschieden. Besitzt die persönliche oder sachliche Reihe den Primat? Gibt der Monismus oder der Pluralismus die Wahrheit? Haben wir die "Welt" zu verneinen oder zu bejahen? Man darf nicht einmal behaupten, daß entweder in der letzten Stufe der Kontemplation oder in der letzten Stufe der Aktivität die absoluten Werte liegen müssen, denn vielleicht stehen beide gleichwertig nebeneinander oder man kann auch das ganze Gebiet der voll-endlichen Totalität als ein transzendentes für problematisch erklären. Lehnt man dementsprechend sowohl den Theismus als auch den Pantheismus ab, dann bleibt es vollends zweifelhaft, wie die Zukunfts- und Gegenwartsgüter auf der persönlichen und unpersönlichen Seite sich zueinander verhalten, ob man eine mehr an der Wissenschaft oder an der Kunst, mehr an Sittlichkeit oder an der voll-endeten persönlichen Gegenwart orientierte Weltanschauung zu bilden hat. Gilt ein logischer oder ein ästhetischer, ein ethischer oder ein "erotischer" Idealismus, wie man ihn nach dem höchsten Prinzip der persönlichen Gegenwartsgüter nennen könnte oder ist vielleicht jeder dieser Standpunkte einseitig und ungenügende? Alles das erscheint vorläufig noch gleich möglich und wir denken nicht daran, eine Entscheidung an dieser Stelle anzudeuten. Ja, nicht einmal das steht fest, ob die Philosophie als reine Wissenschaft auf diese Fragen überhaupt eine Antwort zu geben vermag. Eventuell muß sie sich damit begnügen, aufgrund des Wertsystems die verschiedenen möglichen Formen einer in sich konsequenten Deutung des Lebenssinnes zu entwickeln, um es dem einzelnen Individuum zu überlassen, die Weltanschauung zu wählen, die am besten zu seiner persönlichen überwissenschaftlichen Eigenart paßt. Jedenfalls betrifft das alles nicht mehr das Wertsystem selbst und bleibt daher hier dahingestellt.

Wohl aber müssen wir ein anderes Problem erörtern, das den Charakter der Philosophie als Wissenschaft betrifft. Nehmen wir einmal an, es sei gelungen, all die angedeuteten Fragen in einer umfassenden Weltanschauung zu beantworten, so wird gerade dann noch eine Frage entstehen, die sich auf das System der Güter bezieht. Die Weltanschauungslehre hat nämlich darin bisher noch keine Stelle gefunden. Die Philosophie muß schließlich auch sich selbst einordnen. Sie will freilich Wissenschaft sein und scheint also in das erste Wertgebiet zu gehören, aber man kann aus unseren Ausführungen den Schluß ziehen, daß sie dann bei der angegebenen formalen Ordnund der Werte stehen zu bleiben habe. Die Gründe dafür liegen nahe. Eine einheitliche und inhaltliche Deutung des Lebenssinnes trägt nicht mehr den Charakter eines offenen Systems, denn dieses beruhte darauf, daß die Wertgebiete  nur  formal bestimmt waren.  Erfüllen  wir die Schemata irgendwie, um eine Weltanschauung zu erhalten, so wird das System geschlossen. Damit kommen wir wieder zu dem Problem zurück, von dem wir ausgegangen sind und die Schwierigkeit ist sogar vergrößert. Wir erkannten die Wissenschaft als Zukunftsgut. Eine geschlossene Weltanschauung auf wissenschaftlicher Basis erscheint also ganz fragwürdig. Ja, man kann noch weiter gehen. Geschlossenheit bedeutet in unserer Sprache so viel wie Voll-endlichkeit, deshalb  muß  die Weltanschauungslehre in eine andere Sphäre als die Wissenschaft fallen. Selbstverständlich bleibt sie Kontemplation. Die Tatsache der vielen Systeme, die es faktisch gib, wird jedoch den Gedanken an voll-endliche Totalität nicht leicht aufkommen lassen und demnach müssen die Weltanschauungen, als Gebilde voll-endlicher Partikularität, den  Kunstwerken  gleichen. Das hat man denn auch vielfach geglaubt und unser Wertsystem macht den Grund dafür verständlich.

Trotzdem ist die Philosophie, auch als geschlossenes System, nicht Kunst. Sie bleibt vielmehr ganz und gar, d. h. nicht nur in ihrer Grundlage, Wissenschaft und gerade unsere Ordnung der Güter kann das zeigen. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Wertgebiete  mehr  umfassen, als die bisher für sie angeführten Beispiele und daher nicht ohne weiteres nach ihnen zu nennen sind. Dann läßt sich der Begriff der Wissenschaft erweitern. Das früher Gesagte paßt auf die Gesamtheit der Spezialwissenschaften und bleibt für sie auch gültig: die Erkenntnis der Wirklichkeitstotalität ist ein in der Ferne liegendes Ziel. Jene bisweilen geforderte "hypothetische" Metaphysik, die den Einzeldisziplinen voraneilen soll, um das fertig zu machen, womit die fachwissenschaftliche Untersuchung noch nicht zustande gekommen ist, erscheint als ein gänzlich problematisches Unternehmen. Aber um  Wirklichkeitserkenntnis handelt es sich ja in der Philosophie als Weltanschauungslehre nicht. Sie will den Sinn des Lebens deuten, darunter auch den Sinn der Wirklichkeitserkenntnis und gerade an dieser besonderen Aufgabe kann das allgemeine Prinzip klar werden, wodurch sie sich in bezug auf die Abgeschlossenheit von Einzelwissenschaften unterscheidet. Als Logik reflektiert sie notwendig auf die  letzten  Ziele der Theorie. So tritt sie an die Stelle der Metaphysik und bei etwas Vorläufigem kann sie  nirgends  stehen bleiben, wenn sie über den  Sinn  des Lebens Klarheit erstrebt, am wenigstens beim Versuch einer einheitlichen Deutung des Gesamtsinnes, den das Dasein der Menschen hat. Daraus verstehen wir: die Spezialwissenschaften können immer auf die Zukunft warten, die Philosophie dagegen muß ein  Ende  machen wollen, auf die Gefahr hin, daß es nur ein partikulares Ende ist. Insbesondere eine Philosophie der Voll-endung geht notwendig auf Voll-endlichkeit aus. Aber dieser Umstand bringt sie nur in einen Gegensatz zu den  Sonderdisziplinen und hebt ihren  wissenschaftlichen  Charakter nicht auf. Sie ist nicht allein kontemplativ, sondern zeigt, so lange sie die Form von Urteilen und Begriffen hat, auch ein theoretisches Gepräge und ist also Wissenschaft zu nennen. Niemand hat das Recht, das Verfahren der Einzel-Forschung für das einzige wissenschaftliche zu erklären.

An der Trennung von Weltanschauungslehre und Wissenschaft ist demnach nur das Eine richtig: die Philosophie, die notwendig nach letzten Zielen fragt, beraubt sich dadurch in einem gewissen Sinn der Teilnahme an der endlosen Entwicklungsreihe, d. h. sie verzichtet auf un-endliche Totalität und nimmt, um die für sie unentbehrliche Voll-endlichkeit zu erreichen, mit Partikularität vorlieb, weil sie einsieht, daß das Wesen der theoretischen Kontemplation wegen der Unerschöpflichkeit oder Un-endlichkeit des Materials für das endliche zeitliche Individuum, das Wissenschaft treibt, die Verknüpfung von Voll-endlichkeit mit Totalität im höchsten Sinne ausschließt. Sie kann daher auch als die wissenschaftliche Tätigkeit definiert werden, die darauf ausgeht, im Strom der rastlos vorwärtsstrebenden Entwicklung einen Ruhepunkt zu finden und die stille steht, um die Bedeutung des bisher Erreichten für den Lebenssinn zu Bewußtsein zu bringen. Allerdings, es gehört dazu ein Mut zur Wahrheit, der zugleich ein Irrtum ist und es verbindet sich damit außerdem eine freiwillige Beschränkung, ein Entsagen mit Rücksicht auf die Zukunft. Doch beides, Mut und Entsagung, sind dadurch gerechtfertigt, daß die theoretische Kontemplation, wenn sie sich ihre höchsten Ziele steckt und nach dem Ende fragt, solche Ruhepunkte der Vollendung braucht.

Aber setzt der Verzicht auf un-endliche Totalität die Weltanschauungslehre als Wissenschaft nicht herab? In keiner Weise, denn ihre Partikularität und Entsagung ist von eigener Art. Sie schließt nämlich die Einreihung in den Entwicklungsgang des Zukunftsgutes Wissenschaft nicht etwa aus. Ja, man kann geradezu sagen, es liegt im Wesen der Philosophie als Weltanschauungslehre, daß sie sich in geschlossenen Systemen, also in Formen voll-endlicher Partikularität doch endlos weiter entwickelt. Der Blick auf ihre Geschichte, der jeden definitiven Abschluß fragwürdig erscheinen läßt und zur Resignation zwingt, kann trotzdem zugleich dem Systematiker Mut machen. Die Vergangenheit der Weltanschauungslehre gleicht nicht einem Friedhof mit lauter Gräbern, wie es zuerst schien. Freilich das, was die philosophischen Systeme früherer Zeiten an Wirklichkeitserkenntnis enthalten, ist zum großen Teil veraltet und hat meist nur noch ein "historisches" Interesse. Aber gerade die Denker, die nach dem Sinn des Lebens gefragt und ihn in einem abgeschlossenen System zum Ausdruck gebracht haben, sind, wenn man sie richtig zu verstehen weiß, nichts weniger als tot. Manche von ihnen leben heute wie am ersten Tag und das um so mehr, je entschiedener sie nach den  letzten  Zielen des menschlichen Daseins gesucht, je mehr sie sich also bemüht haben, ihr System "fertig" zu machen. Gerade die Endlichkeit ihrer Partikularität, die als ihre Sterblichkeit erscheinen kann, hat ihnen die Unsterblichkeit gesichert. Sie  konnten  ein Ende machen, das war ihre Größe. Deshalb ragen sie hoch empor über die Fluten des endlosen Geschehens und leuchten aus dem Dunkel der Vergangenheit zu uns herüber.

Hiermit tritt die eigentümliche wissenschaftliche Form der Weltanschauungslehre erst in das richtige Licht. Die voll-endliche Partikularität des geschlossenen Systems wird schließlich doch in den Dienst der un-endlichen Totalität gestellt und nimmt dadurch auch an ihrer Würde teil. Es kommt der Philosoph freilich in eine besondere Lage. Er weiß, die Entwicklung wird über das System, das er jetzt aufrichtet, früher oder später hinwegschreiten. Aber er will nun einmal festhalten, was er im Moment besitzt, damit es nicht im Entwicklungsstrom verloren geht und er hat dazu ein Recht, wenn er von der Überzeugung geleitet ist, daß er umfassender und einheitlicher denkt, als seine Vorfahren. Er ist, um mit FICHTE zu reden, in ihre Ernte gekommen und baut sich ein "Haus", um darin zu wohnen. Einmal müssen wir als zeitliche Wesen ja doch  alle  ein Ende machen. Wagen wir es auch in der Wissenschaft und treiben wir Philosophie im Vertrauen, daß die voll-endete Frucht unseres individuellen und partikularen Bemühens zugleich eine notwendige Stufe ist im un-endlichen Ganzen des überindividuellen Fortschrittsprozesses. Dann stehen wir, um wieder an unser Wertsystem zu erinnern, zwischen un-endlicher Totalität und voll-endlicher Partikularität, zwischen Zukunftsgut und Gegenwartsgut in der Mitte und es ist nicht einzusehen, warum es dort nicht einen Platz für die Wissenschaft geben soll, die mehr sein will, als Spezialforschung.

Die Bestimmung dieses Platzes ist systematisch um so bedeutungsvoller, als sich auch auf der persönlichen, aktiven und sozialen Seite ein Mittelgut zwischen der ersten und zweiten Stufe der Voll-endung ergab und nun erst das System sich ganz symmetrisch aufbaut. Dort war es die aktive, persönliche Liebe des Mannes zur Frau, in der das Zukunftswesen an der voll-endeten Gegenwart teil hatte und so im Weiterstreben zur partikularen  Voll-endung  kam. Hier ist es die kontemplative, unpersönliche Liebe, zum Wissen, die  philosophia  nach der eigentlichen Bedeutung des Wortes, welche Gegenwartsvollendung mit Zukunftsperspektive vereint. Der philosophische Eros als Sehnsucht nach Voll-endung mag sich Erfüllung nicht nehmen lassen. Er will nicht beim  Un-endlichen  bleiben, trotz der Überzeugung, daß das  Reden  vom Voll-endlichen nur ein "Stammeln" sein wird. Indem auf diese Weise die Philosophie sich selbst in ihrer wissenschaftlichen Eigenart begreift, fügt sie den Schlußstein in das Gebäude des Wertsystems und rundet es in formaler Hinsicht so ab, daß sie auf seiner Basis hoffen darf, zu einer Weltanschauung zu kommen, die einheitlich und zugleich umfassend ist. In diesem "Willen zum System" steckt vielleicht eine große Unbescheidenheit, aber im Rech der theoretischen Kontemplation gelten keine "moralische" Maßstäbe.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Vom System der Werte, Logos (Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur), Bd. IV, Heft 3, Tübingen 1913