ra-3von WieserBöhm-BawerkI. KornfeldR. StammlerW. DiltheyO. Liebmann   
 
EDUARD SPRANGER
Lebensformen
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I. Methodologische Vorbemerkungen
II. Die idealen Grundtypen
III. Die Mischung der Typen
IV. Ethische Folgerungen

"Wo Macht und Zweckgemeinschaft sich miteinander verbinden, entsteht das  Recht. Wir können dabei vom  sittlichen Inhalt des Rechts in der Abstraktion noch ganz absehen. Rechtsbildung ist der Form nach schon überall da vorhanden, wo gemeinsam gewollte oder anerkannte Zwecke eine  verpflichtende Kraft erhalten, die auch durch einen äußeren Zwang geltend gemacht wird. Wo nur  einer, und wäre er der weiseste, eine Gesetzgebung oktroyiert, da ist allein  Macht,  kein Recht. Wo nur viele in einem  Gesamtwillen einig sind, da ist wohl Gesellschaft und Zweckgemeinschaft, und vielleicht auch Sitte und Sittlichkeit, aber noch kein Recht; denn nichts garantiert die Verwirklichung des gemeinsamen Bezirkes von Wollungen. Erst wo eine Zweckgemeinschaft durch Macht gestützt wird, beginnt die Rechtsbildung. Noch heute ist in jedem Rechtssatz, Rechtsakt und Rechtsspruch diese Doppelheit der Faktoren deutlich bemerkbar."


III.
Die Mischung der Typen und ihre
Bedeutung für das Verstehen

Eine Aufzählung wird selten vollständig sein können; eine  Einteilung  muß es sein. Es ist daher die Frage, ob die sechs Grundformen der Lebensgestaltung, die wir aufgestellt haben, wirklich das Ganze Gebiet erschöpfen. Und "erschöpfen" wieder kann nur bedeuten, daß jede mögliche konkrete Lebensform vermöge eines an ihr erkennbaren Grundprinzips unter einen der bezeichneten Fälle gehört, oder umgekehrt, daß es kein "Prinzip" der Lebensgestaltung gibt, das nicht unter einen der sechs Grundtypen gehört.

Sollte dies der Fall sein, so müssen sich die fehlenden Lebensformen - und es fehlen in der Tat noch viele - auf die Hauptformen zurückführen lassen, und zwar in der Weise, daß Zwischenformen angenommen werden, die nicht nur auf ein, sondern auf mehrere Prinzipien zurückzuführen sind. Wir wollen diese Erscheinung zunächst als etwas Objektives am Kulturzusammenhang darstellen, sodann aber das  Verfahren  erörtern, durch welches das Subjekt solche konkreten Fälle beurteilt und versteht. Die Reihenfolge: von der Erkenntnisform zum Sachverhalt wird hier also bewußt umgekehrt.

1. Das innige Zusammenwachsen von zwei oder mehr Lebensgebieten erzeugt unter Umständen neue geistige Erscheinungen, die selbst wieder ein Lebensgebiet bedeuten. So entsteht z. B. aus dem Zusammenwirken von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik die  Technik aus einer Verflechtung von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik das  Unterrichts- und Bildungswesen,  aus der Verbindung von Wirtschaft und Kunst das  Kunstgewerbe  im weitesten Sinn. Wo sich die Religion in Gesellschaft und Organisation auswirkt, entsteht die  Kirche,  wo sie sich mit Kunst und Wirtschaft verbindet, der äußere  Kultus,  und wo sie sich mit der Wissenschaft amalgamiert, erwächst je nach dem Vorwalten des religiösen oder des wissenschaftlichen Momentes die Dogmatik oder die Metaphysik; an der letzteren mag freilich auch das ästhetische Bedürfnis nach Linie, Form, Totalität und Architektonik oft Anteil haben. Unter all diesen Verschmelzungen aber ist nun die wichtigste und festeste die des sozialen Momentes und des Machtfaktors. Wir hatten das Soziale im Sinne einer Zweckgemeinschaft definiert; wo nun Macht und Zweckgemeinschaft sich miteinander verbinden, entsteht (natürlich begrifflich, nicht historisch betrachtet) das  Recht Wir können dabei vom "sittlichen" Inhalt des Rechts in der Abstraktion noch ganz absehen. Rechtsbildung ist der Form nach schon überall da vorhanden, wo gemeinsam gewollte oder anerkannte Zwecke eine  verpflichtende  Kraft erhalten, die auch durch einen äußeren Zwang geltend gemacht wird. Wo nur einer, und wäre er der weiseste, eine Gesetzgebung oktroyiert, da ist allein Macht, kein Recht. Wo nur viele in einem "Gesamtwillen" einig sind, da ist wohl Gesellschaft und Zweckgemeinschaft, und vielleicht auch Sitte und Sittlichkeit, aber noch kein Recht; denn nichts garantiert die Verwirklichung des gemeinsamen Bezirkes von Wollungen. Erst wo eine (immer partielle) Zweckgemeinschaft durch Macht gestützt wird, beginnt die Rechtsbildung. Noch heute ist in jedem Rechtssatz, Rechtsakt und Rechtsspruch diese Doppelheit der Faktoren deutlich bemerkbar: ein allgemeiner Satz liegt parat, der das soziale Verhalten regeln soll; der Staat bringt seinen Gehalt zur Durchführung. Aber dieser Staat und dieser Satz selbst sind keineswegs in ihrer verpflichtenden Kraft innerlich unangefochten, sondern was sie zuletzt allem revolutionären Widerspruch gegenüber stützt, ist die  Macht und diese ist umso stärker, je mehr sie von einem allgemein gewollten Zweckgehalt erfüllt und getragen ist.

Dieses umfassende Problemgebiet hier weiter zu verfolgen, ist umso weniger mögliche, als das Recht nicht ausschließlich vom psychologischen, sondern auch von einem normativ-ethischen Standpunkt behandelt werden muß. Erst wenn hierüber Bestimmungen getroffen wären, könnte nun auch die deskriptive Frage nach der  Rechtlichkeit  als Lebensform wieder aufgenommen werden. Damit ist natürlich nicht die bloße Rechtsgemäßheit des Verhaltens gemeint, auch nicht die berufsmäßige Beschäftigung mit dem Recht (die sehr oft die Lebensform des Machtwillens erzeugt) sondern allein diejenige Natur, die vom Willen zum Recht, vom Ethos der Gerechtigkeit, entscheidend bestimmt ist. Dieser Typus gehört also zu den ethischen Lebensformen, die wir erst im nächsten Abschnitt streifen können; denn von einem Ethischen oder Nicht-Ethischen des Verhaltens war bisher im allgemeinen noch nicht die Rede. Es läßt sich aber aus diesen Andeutungen voraussehen, daß das Ethische für sich allein keine Lebensform gründet, sondern daß es nur zu den bereits erörterten hinzukommen und ihnen eine besondere Färbung verleihen wird. Denn wenn auch alle Lebensformen teleologisch sind, so ist deshalb noch nicht alles Teleologische ethisch in einem spezifischen Sinn.

Aber noch nach anderen Richtungen hin wird man die Einteilung nicht vollständig finden. Daß wir den Menschen mit einem vorwiegend körperlichen Lebensgefühl, sei es der leidenschaftliche Esser und Trinker oder der Sportsmann, ausgeschieden haben, rechtfertigt sich schon dadurch, daß das  bloß  Körperliche nicht zu Bewußtsein kommt, sondern daß es immer durch eine psychische Gestalt hindurchgehen muß: also etwa den Phantasiegenu, der physisch bedingt ist, oder das Machtgefühl, das ein gesunder Körper verleiht. In der Tat haben wir hier selbständige physische Lebensformen vor uns, die wir aber deshalb fortgelassen haben, weil wir eine  geistes wissenschaftliche Untersuchung vorhatten, also dies alles nur zu berücksichtigen brauchten, wenn es seine Wirkungen in den geistigen Habitus hineinerstreckt. Oft freilich hat es den Anschein, als ob ein großer Teil der Menschen im 20. Jahrhundert, geteilt zwischen den Leibesübungen und dem Nervenkitzel der Rennen, Wettfahrten und Rekorde, in die geistige Atmosphäre überhaupt nicht mehr hineinreicht.

Sodann hat die moderne differentielle Psychologie ebenfalls Wege zur Feststellung der individuellen Unterschiede eingeschlagen. Jedoch kann diese Psychologie für unsere Probleme nur subsidiär [unterstützend - wp] in Betracht kommen. Denn sie beschäftigt sich, sofern sie über ihre Methoden klar ist, ausschließlich mit der funktionellen Individualität, d. h. also mit den individuellen Unterschieden elementarer oder relativ elementarer seelischer Teilprozesse. Sie untersucht die Vorstellungstypen, die Gedächtnis-, Aufmerksamkeits-, Gefühls- und Reaktionstypen und wagt sich mit den Intelligenzprüfungen schon teilweise über die psychologische Grenze, die ihr gezogen ist, hinaus. Denn Intelligenz ist ein vulgärpsychologischer Begriff, in dem sich objektive Leistung und subjektive Anlage ungesondert verschlingen. Für geisteswissenschaftliche Probleme kommen diese psychologischen Typen nur indirekt in Betracht, etwa in dem Sinn, wie der Vorstellungstypus eines Phantasiemenschen von Interesse ist, ohne daß er doch das phantasievolle Totalverhalten der betreffenden Natur zu erklären imstande wäre. Natürlich ist für den Maler das Auge  das  Organ, aber nicht, weil er schärfer sieht, sondern weil seine Seele in seinem Auge liegt. Es handelt sich für uns um geistige Totalstrukturen, nicht um isolierte psychische Funktionen.

Nun aber haben wir geistiges Leben immer nur in einer historischen Entwicklung. Folglich müßte die geisteswissenschaftliche Typenbildung auch die Unterschiede der historischen Stufen berücksichtigen. Religion, Staat, Wissenschaft und Kunst erfahren in der kulturellen Entwicklung so tiefgehende Umbildungen, daß gerade solche Abstraktionen wie  Staat  oder  Religion  den freien, reinen Blick gefährden und dazu führen,  unsere  Staatsanschauungen in frühere Zeiten hineinzutragen, ferne primitive Religionsbildungen nach unserem hochentwickelten Standpunkt unwissenschaftlich zu beurteilen. Diesem Einwand gegenüber ist hier nun ein wichtiger Sachverhalt zu konstatieren: Es besteht keineswegs die Absicht, den historischen Verlauf durch die Neuerrichtung solcher Begriffskonstruktionen, wie natürliche Religion, Naturrecht und natürliche Wissenschaft überhaupt, zu vergewaltigen. Wer je von einem geschichtlichen Bewußtsein berührt worden ist, müßte darin die höchste wissenschaftliche Gefahr erblicken. Andererseits aber ist es seit langem ein unerfülltes Desiderat [Wunschobjekt - wp] der Wissenschaft zu bestimmen, was uns denn das Recht gibt, etwa den Totemismus zur Religion zu rechnen, und die Geschlechterverfassung zu den primitiven Staats- und Sozialbildungen, in der Mythologie schon Anfänge der Wissenschaft zu ahnen und bei den rohesten Australnegern einen Anflug von "Kunst" zu finden. Diese unbewußte begriffliche Zusammenordnung der verschiedensten Entwicklungsstufen ist nur dann berechtigt, wenn für dieses Verfahren Gesichtspunkte leitend sind, die auch ausgesprochen werden können. Mit anderen Worten: die teleologischen Prinzipien mußten bestimmt werden, die die Wissenschaft zur Wissenschaft, die Kunst zur Kunst, die Religion zur Religion machen, sodaß im allgemeinen Einigkeit über die Grenzen dieser Geistesgebiet herrscht und Verwechslungen ausgeschlossen sind. Diese Aufgabe ist bisher noch nicht geleistet. Wo sie in Angriff genommen wurde, ist immer zu viel von der  Inhaltlichkeit  der einzelnen Gebiete in die Definition aufgenommen worden und damit eine besondere historische Stufe verabsolutiert worden. Im Vorangehenden haben wir  versucht,  nur die äußerste formale Struktur der einzelnen Gebiete zu bestimmen, sodaß Raum genug für die historischen Wandlungen der Vergangenheit und Zukunft blieb. Was aber aufgenommen wurde, das ist dann für das betreffende Gebiet  konstitutiv. 

Und von diesem Ergebnis aus wird man verstehen, weshalb wir den spezifischen Prinzipien der einzelnen Geistesgebiete in der versuchten Isolierung und Abstraktion  kategoriale Bedeutung  zulegten. Nicht als ob die Formen des geisteswissenschaftlichen Erkennens das geistige Leben in seiner Struktur aus dem Nichts erzeugen würden. Diesen Standpunkt lehne ich schroff ab. Sondern in dem Leben selbst sind erzeugende, teleologische Prinzipien wirksam, die nachträglich in ihrer verschiedenen Funktions- und Formungsweise begrifflich aufgefaßt werden, obwohl sie selbst nicht erkenntnismäßiger Art sind, sondern nur in Erkenntnisformen transponiert werden: die geisteswissenschaftliche Erkenntnis bleibt eben von den Grundrelationen des Lebens durchwirkt. Die auf solche Art herausgearbeiteten Grundformen aber werden nun auch zu leitenden Gesichtspunkten des Urteils. Ein Vorgang wird "politisch", weil er nur verstanden werden kann, indem man das entsprechende spezifische Zweckprinzip (IV) bei der Beurteilung zugrunde legt, er wird religiös, insofern sich die konstituierenden Motive der Religiosität (VI) zu seiner Verständlichmachung mit Erfolg anwenden lassen.

Man erkennt hieraus, daß die Absicht meiner Typenbildung mit den Typen von Kulturzeitaltern, die LAMPRECHT aufgestellt hat, nicht zusammenfallen.  Seine  Typen bedeuten Begriffe von sich regelmäßig wiederholenden Zeitreihen; sie haben natürlich zunächst auch nur den Wert der Abstraktion, und die Wirklichkeit in Raum und Zeit wird sich mit dieser Begriffsbildung niemals rein decken. Die von LAMPRECHT gestellte Aufgabe besteht durchaus zu Recht. Jedoch bedeutet es eine unbewiesene Voraussetzung, aß in einem  Kulturzeitalter  alle Kulturgebiete parallele Entwicklungsstufen zeigen, daß z. B. Kunst, Staat und Religion zugleich konventionell oder individualistisch oder subjektivistisch sein müssen. Abgesehen davon, daß diese allgemeinen Abstempelungen von sehr verschiedenen Geistesgebieten hergenommen sind und bald ästhetische, bald soziologische Kategorien bedeuten, glaube ich durch den Überblick über die Struktur der individuellen Lebensformen gezeigt zu haben, daß keinesfalls ein Parallelitätsverhältnis zwischen den einzelnen Geistesgebieten stattfindet, sondern im Gegenteil ein teleologisches Über- und Unterordnungsverhältnis, bis zu dem Grad, daß  ein  Lebensgebiet beinahe ganz ausfallen kann, weil ein ihm innerlich Heterogenes zu ungewöhnlicher Stärke der Zweckfunktion entwickelt ist. Eine wirklich stark ästhetische Zeit wird niemals zugleich politisch sehr hoch entwickelt sein können. Der religiöse Strom quillt nicht in theoretischen Zeitaltern. Nun gleichen sich zwar diese Einseitigkeiten dadurch aus, daß in jedem Kulturzeitalter sehr verschiedene Schichten und Gruppen der Gesellschaft nach sehr verschiedenen Richtigungen hin tätig sind. Und gewiß wird aus diese Zusammenwirken irgendein typisches Totalbild entstehen, das man etwa als Konventionalismus oder Individualismus bezeichnen mag. Für das "Verständnis" der Zeit ist aber damit noch nichts geleistet. Vielmehr bedarf es nun erst einer Analyse der besonderen Formen sozialer Schichtung und teleologischer Verlagerung, der entscheidenden Individualitäten, der historischen Nachwirkungen, und das alles bedeutet eine solche Verschlingung der einzelnen Kulturgebiete, daß alle historische Arbeit in der Aufdeckung der  besonderen Struktur  besteht, die zu einer bestimmten Zeit in Erscheinung tritt. Diese Struktur aber ohne weiteres als Parallelität der Kulturgebiete im grundlegenden Typus vorauszusetzen, ist eine irreführende Konstruktion, die zuviel vom Begriff und zu wenig an historischer Konkretheit in sich enthält.

2. Damit finden wir uns wieder auf das Verstehen als die höchste wissenschaftliche Angelegenheit der Geschichte zurückgewiesen; und wenn auch unsere Typenbildung nicht nur der Geschichte  dienen  will, sondern ein selbständiges Stück geisteswissenschaftlicher Psychologie bedeutet, so wollen wir doch auf ihre Leistung im Dienst des historischen Verstehens noch kurz eingehen.

Das Ziel des Verstehens ist immer die Auffassung eines Konkreten in Raum und Zeit. Das ist nicht etwa ein auszeichnendes Merkmal der Geschichte; sondern auch Naturerscheinungen sind, sofern sie in Raum und Zeit sind, immer konkret (d. h. einzigartig, individuell). Begriffliches existiert weder hier noch dort, sondern hat nur eine ideale Existenz im Denken. Die Beziehung des Begrifflichen auf das Konkrete ist seit den Tagen PLATOs ein vielverhandeltes erkenntnistheoretisches Problem. Wir fragen hier nicht nach dem "Ob" dieser Möglichkeit (was wir vielmehr als eine im Lebensbewußtsein enthaltene Tatsache hinnehmen), sondern nach dem "Wie". Nun ist offenbar der Erkenntnisprozeß des Verstehens ein Vorgang, der ein viel höheres Maß an Konkretisierung in sich enthält, als es für die Zwecke des Naturerkennens und Naturbeherrschens im allgemeinen erforderlich ist. Insofern wir vorausgesetzt haben, daß das wissenschaftliche Verstehen keine bloß unmittelbare Intuition des einzelnen Falles ist, sondern seinen Umweg über das Allgemeine nimmt und nehmen muß, dürfen wir sagen, daß dieses  Problem der Konkretisierung  des Verstehens eigentlich das Hauptproblem ist, mit dem wir es hier zu tun haben.

Die entwickelten sechs Grundtypen sind mit keinem konkreten Fall kongruent. Wohl aber leisten sie heuristische und erste bestimmende Dienste. Wenn es gilt, eine Individualität zu beurteilen, deren Lebensschicksale und Lebensäußerungen uns im allgemeinen gegeben sind, so vollzieht sich in kaum bewußt werdender Schnelligkeit der Vorgang, daß wir aus unserem Lebensbewußtsein die reinen Typen hervortreten und gleichsam als Maßstäbe am Gegebenen entlang gleiten lassen. Bisweilen scheint diese Leistung überflüssig: die Menschen werden uns schon von der Geschichte selbst als Herrscher, Künstler, Gelehrte usw. abgestempelt dargeboten. Aber diese Einreihung ist roh. FRIEDRICH WILHELM IV. war ein Phantasiemensch auch auf dem Thron, BEBEL war ein Machtmensch trotz seines Sozialismus, viele moderne Geistliche sind Gelehrte und alte und neue Päpste Herrschernaturen.

Immerhin wird diese erste Bestimmung nur bei besonders komplizierten Naturen Schwierigkeiten verursachen, also bei Menschen wie SOKRATES, PLATO, AUGUSTINUS, ROUSSEAU, NIETZSCHE. Aber im allgemeinen ist die erste Einordnung bald vollzogen. Damit aber ist zugleich die  Erwartung  gegeben, daß die innere Verfassung einer solchen Natur dem allgemeinen Strukturschema des betreffenden Typus entsprechen wird. In den seltensten Fällen ist diese rohe Deduktion verifizierbar. Aber gerade an  den  Punkten, wo sich Bild und Schema nicht decken, wird nun das Schema für die Erkenntnis wertvoll und lehrreich. Denn aufgrund der Voraussetzung vom  notwendigen inneren  Strukturzusammenhang alles Geistigen, ohne die es kein geisteswissenschaftliches Erkennen gäbe, erweckt jede solche Inkongruenz die Frage nach der Art und Ursache der Abweichung. Die  Art  wird sich leicht bestimmen lassen, insofern die herausfallenden Züge auf einen anderen Typus hinweisen. Bildlich wird man hier von einer Mischung sprechen. Aber der  Grund  solcher Abweichungen führt in letzte Geheimnisse hinab. Bisweilen wird man dann die Kategorie der Substantialität anwenden und das Atypische auf eine ursprüngliche geistige Richtung zurückführen, sozusagen auf das individuelle Formprinzip, die Entelechie [sein Ziel in sich selbst zu haben - wp] jedes einzelnen Menschen. Oder man wird die Kategorie der Kausalität anwenden und äußere Bedingungen, Einflüsse des psychophysischen Milieus als richtunggebende Faktoren der Variation ansehen. Das Milieu aber ist ja in seinem geistigen Teil nichts anderes als der totale Kulturzusammenhang, den man früher objektiven Geist genannt hat, und in den jeder einzelne mit seinen Zweckbeziehungen eingelagert ist.

Damit ist aber das Problem doch nur äußerlich erfaßt. Wir haben schon früher behauptet,  jeder  Mensch habe notwendig an  jedem  dieser Zwecke Anteil. Er könnte geistig und physisch nicht leben, wenn eine der bezeichneten Seiten ganz in ihm fehlen würde, mag sie bisweilen unter der Herrschaft einer starken Einseitigkeit auch so rudimentär geworden sein, wie etwa der soziale Geist beim Wucherer und Halsabschneider.  Wir müssen also eine Totalität der Lebensbeziehungen in jedem als Anlage voraussetzen.  Und diese Voraussetzung allein erklärt ja, daß wir imstande sind, ganz heterogene Lebensformen aus unserem eigenen Lebensbewußtsein zu deuten: Auch der Auffassende enthält  dynamei  alles Menschliche in sich; selbst der Stubengelehrte vermag den Pfaden der hohen Politiker und der schwungvollen Künstler in einem gewissen Grad zu folgen. Die Frage ist also eigentlich nicht, warum im gegebenen Fall neben einer Hauptrichtung noch eine andere  empor gewachsen ist; sondern umgekehrt: warum von der Totalität der Lebensbeziehungen nur ein oder zwei Seiten wirklich zur Entfaltung gekommen sind. Dies ist es, was die  Methodik des Verstehens  bestimmt: sie ist immer eine  Interpretation aus dem Ganzen,  nicht nur in dem Sinne, daß sie alles Gegebene in seiner vielverflochtenen Wirksamkeit berücksichtigt, sondern in dem, daß das Fehlende und Rudimentärgewordene für sie ebenso lehrreich ist, wie das hoch Entfaltete. Daß LUTHER  keinen  politischen Sinn besaß, ist schließlich doch nur das Urteil einer groben Geschichtsschreibung. Daß aber seine politische Haltung sich  so und so  gestalten mußte, so unpolitisch in einem teleologischen Sinn, das wirft erst ein volles Licht darauf, was LUTHER war und wie die ihn bestimmenden Zeitfaktoren auf ihn wirkten. Daraus ergeben sich zwei wichtige Sätze für die Methodik der historischen Geisteswissenschaft:

1. Der Charakter einer Person ist in Wahrheit nie der Erklärungsgrund ihres Verhaltens, sondern er ist das in einen kurzen wissenschaftlichen Ausdruck zusammengefaßte  Resultat  der wissenschaftlichen Analyse. Oder anders ausgedrückt: Der Charakter ist immer nur die aufgrund leitender Gesichtspunkte erfolgende  Determination  des Allgemeinmenschlichen in einer unter bestimmten inneren und äußeren Bedingungen stehenden Persönlichkeit. Dasselbe gilt vom sogenannten "Charakter" einer ganzen Zeit. Ist nun dieses wissenschaftliche Ergebnis einmal gewonnen, so kann es umgekehrt benutzt werden, um daraus deduktiv neue Züge abzuleiten. Diese  Deduktion  spielt bei allen reichen historischen Geistern eine ganz unvermeidliche Rolle. Der Historiker, der bereits über eine Schulung verfügt, vermag mit einiger Sicherheit aufgrund des allgemeingeistigen Strukturzusammenhangs zu sagen, was in einer Zeit oder in einer Seele nebeneinander Raum hatte und was sich ausschließen mußte.

2. Kein Vorgang des historisch-geistigen Lebens kann isoliert verstanden werden; sondern jeder ist in seinem Maß, seiner Bedeutung und seiner Qualität durchaus abhängig von einem geistigen Totalzusammenhang, in dem er auftritt. Die Totalität ist das erste; Teile gibt es nicht, wohl aber "Momente", die an der Totalität gesetzt sind und vor ihr aus verstanden werden. Die Totalität selbst aber wäre unübersehbar und völlig anarchisch, wenn nicht die bezeichneten Strukturzusammenhänge, die a priori aus dem totalen Lebensbewußtsein konstruierbar sind, konkretisiert durch das vorgefundene historische Material, bestimmte Richtlinien und Ordnungskategorien abgäben, die ungefähr dieselbe Bedeutung haben, wie das geschlossene System von Kräften und das darauf angewandte Experiment der Naturwissenschaft. Nur mit dem Unterschied, daß das geschlossene System für die Geisteswissenschaft im allgemeinen im lebendigen Kulturbewußtsein des erfahrenen Historikers gegeben ist, während der Experimentator es mit vieler Vorsicht und mühsamen Denkoperationen erst herstellen muß. Der Historiker weiß, daß er nicht diesen oder jenen geistigen Zug nuancieren kann, ohne daß sich zahlreiche geistige Rückwirkungen zugleich einstellen. Er vollzieht also sein Experiment rein im Geiste, probend, vergleichend, nuancierend, während der Naturwissenschaftler konkrete Veränderungen in der Natur selbst anbringen muß. Aber logisch betrachtet, ist das Verfahren so prinzipiell verschieden, wie vielfach behauptet worden ist. -

Bei all diesen geistigen Experimenten spielen nun die leitenden Kategorien, die wir aufgestellt haben, eine maßgebende Rolle. Einige Beispiele sollen dies erläutern.

1. SPINOZA, der Metaphysiker, scheint zunächst rein unter den Typus des theoretischen Menschen zu fallen. Seine Erkenntnisformen sind die geometrische Demonstration, d. h. deduktive Folgerungen aus klaren und einfachen Definitionen und Axiomen. Bliebe SPINOZA rein innerhalb dieses Typus, so müßte die rationale Demonstration das Ein und Alles seines Weltbildes bedeuten. Plötzlich aber, oder vielmehr von der ersten Definition an vorbereitet, durchbricht diesen Gang ein Trieb nach Ruhe der Seele, der mit der rationalen Demonstration nichts mehr zu tun hat, sondern einen höheren Zusammenhang über diesem mechanischen System statuiert. Und nun wird es höchst zweifelhaft, ob in diesem Geist nicht von vornherein die religiöse Struktur überwog und die wissenschaftliche Tendenz nicht nur eine Hilfskonstruktion für diesen letzten Zweck bedeutete. Beim Pantheisten SHAFTESBURY wird man von vornherein nicht an die Herrschaft theoretischer Interessen denken. In ihm überwiegt jene Phantasiebeziehung, die lustvoll empfundene Einheit, Ordnung, Schönheit ins Universum hineinprojiziert und aus dem ästhetischen Typus geboren ist.

2. Der Sozialismus ruht auf einer wirtschaftlichen Theorie. Sie ist aber an ihm trotzdem nicht das letzte, sondern, wie schon der Name sagt, der vom Christentum zur höchsten Kraft entfaltete soziale Geist, und bei anderen seiner Vertreter der Machtgedanke, der die Kraft der  Masse  zu einer neuen politischen Macht organisiert. "Der Sozialismus ist bloß ein Agitationsmittel des Individualismus, sagt  Nietzsche;  der Anarchismus ein Agitationsmittel des Sozialismus."

3. Der Jesuit scheint seinem Namen nach Gottesmann und Träger des Evangeliums der Liebe. In Wahrheit ist ihm alles nur Mittel zur Macht über die Seelen, seine Religion wie seine Liebe wie seine Unduldsamkeit ist ein Stück Politik.

4. Manche Mitglieder des Protestantenvereins glauben der Religiosität zu dienen. In Wahrheit erfüllt sie ein rein theoretisches Interesse der Erkenntnis und der spekulative Drang nach einem abgeschlossenen wissenschaftlichen Weltbild.

5. Es gibt Gelehrte und Künstler, in denen Wissenschaft und Kunst nur Mittel sind zur Steigerung ihres Ansehens und ihres Einflusses.

6. ROUSSEAU glaubt die Menschen mit der glühenden Liebe des Helfenwollens zu umfassen; und doch wird  jede  Betätigung seines Daseins ihm nur Stoff seiner empfänglichen Phantasie. So meint mancher Erzieher, dem Zögling zu leben, während er im Grunde nur sich selbst am ästhetischen Reiz der jugendlichen Seele berauscht.

7. HOBBES baut ein festgefügtes theoretisches Gebäude. Aber was es zusammenhält, ist nicht die Konsequenz des logischen Denkens, sondern der Machtwille, der das ganze krönt.

8. Irgendjemand begründete eine politische Partei mit einem ausgeführten Programm der Staatsreform. Die Tragik seines Lebens ist, daß er den Machtgedanken niemals erfaßt hat und nur einem Ideal der Volksbeglückung nachjagt, das auf diesem Weg nicht Realität zu werden vermag.

9. Frauen glauben zu lieben; zu später erfahren sie selbst, daß sie von einem Phantasiebild befangen waren, für das der Erwählte nur einen zufälligen Stützpunkt darbieten mußte.

10. AVENARIUS und MACH übertragen das ökonomische Prinzip bewußt auf das Erkennen; sie erfassen damit ein richtiges Teilmoment, verunstalten aber durch seine einseitige Übertreibung das ganze Erkenntnisgebiet. -

Die lehrreichen und interessanten Vorgänge des Verstehens liegen also überall da, wo zwei oder mehr Typen sich in einer Seele kreuzen (7). Da es nun aber logisch nicht denkbar ist, daß einer etwas zu gleicher Zeit  ist  und  nicht  ist, so beruth dieser Eindruck entweder darauf, daß der Typus von vornherein irrig gewählt war, oder darauf, daß wirklich zwei oder mehr Seelen in einer Brust wohnen, die abwechselnd zur Herrschaft gelangen. Denn das wirkliche geistige Leben ist immer Totalität und enthält nur gewisse Richtungstendenzen in sich, die bald rein, bald nebeneinander in Erscheinung treten.


IV. Ethische Folgerungen

Als Hauptmangel unserer Einteilung mag manchem erschienen sein, daß wir das Sittliche nicht als ein besonderes Lebensgebiet aufgestellt haben, wie es heute in der Regel geschieht. Jedoch ruht dies auf wohlerwogenen Gründen, die zum Schluß noch skizziert werden müssen, wennschon die daraus folgenden Fragen nicht im ganzen Umfang behandelt werden können.

Was sollte "das Gute" sein jenseits aller theoretischen und wirtschaftlichen, aller sozialen und politischen Verhältnisse? Das Ethische als solches hat kein besonderes Lebens- und Zweckgebiet neben den bisher aufgeführten. Dies mag auch KANT vorgeschwebt haben, als er en sittlichen Wert der Handlungen ganz von ihrem Erfolg loslöste, ja selbst von der Erfolgsvorstellung, und ihn ausschließlich in die Motivation verlegte, obwohl doch diese losgelöst von allen Erfolgsvorstellungen gar nicht zu denken ist. Wenn nun kein spezifischer Zweck genannt werden kann, der immer und überall sittlich ist, so bleibt nichts anderes übrig, als anzunehmen, daß das Verhalten den bisher aufgestellten Zweckgebieten gegenüber bald als sittlich, bald als unsittlich zu bezeichnen ist. Das Ethische wäre dann also unseren sechs Lebensgebieten nicht koordiniert, sondern ginge durch sie alle hindurch in der Weise, daß in jedem von ihnen ein besonderes Verhalten als sittlich auszuzeichnen wäre, ein anderes aber als unsittlich.

Es ist bereits gesagt worden, daß jeder Einzelne, durch die sechs Lebensgebiete repräsentierte Zweck in der Totalität der Kultur und des Einzeldaseins eine unentbehrliche Funktion übt, daß also die  völlige  Ausschaltung einer Seite sogleich kulturzerstörend wirken müßte, wie sie im Einzelleben nicht ohne Schaden fehlen könnte. Jeder Zweck ist also unentbehrlich; es fragt sich nur, in welchem Maß und Umfang er zur Geltung kommen darf.

Denken wir uns wiederum alle Kulturgebiete isoliert, und zwar so, daß der spezifische Zwecke eines jeden in dieser Isolierung als der höchste, und daß das betreffende Gebiet in seiner spezifischen Vollkommenheit realisiert gedacht wird, so steht dem Gedanken nichts entgegen, die Setzung eines jeden dieser Zwecke und der durch ihn bedingten Mittel als eine  Teil sittlichkeit von vollem Recht anzusehen. Auf dem Gebiet der Wissenschaft gibt es dann kein höheres Gesetz und keine verpflichtendere Moral als die  Wahrheit In der Wirtschaft herrscht der  Nutzen in der Gesellschaft das Gesetz der höchsten  Liebe,  in der Politik das Gesetz der  Macht in der Kunst das Gesetz der Schönheit und in der Religion die Kraft der  Weltüberwindung (Erlösung). Es ist nicht einzusehen, warum ein Mensch, der in  einem  dieser Gebiete ausschließlich lebte, nicht das entsprechende Gesetz zu seiner einzigen und höchsten Richtschnur machen sollte. In der Tat entsprechen diesen Teilgebieten die einseitigen Formen der ethischen Theorie, so wie wir früher einseitige Lebensformen aus ihnen konstruiert haben. Sie sind Versuche, von  einem  ethischen Zweckmoment aus das Ganze zu konstruieren. Wenn unsere Einteilung ein Fundament in der Sache hat, so müssen nunmehr die einseitigen, konstruktiven Formen der Ethik alle zutrage treten.

Wo die  Wissenschaft  als höchster Zweck des Lebens gedacht wird, findet sich in der Regel auch eine intellektualistische Moral. Ihre konsequente Form wäre die, daß alle Tugenden und Pflichten auf die der Wahrhaftigkeit zurückgeführt werden. Einen Versuch in dieser Richtung hat KOPPELMANN unternommen. In der Regel aber wird die eingesehene Wahrheit selbst als Hauptwert gesetzt, und zwar in der Form, daß man der  Einsicht  in das wahre höchste Gut des Lebens, dem  Wissen  um die Tugend, schon die Kraft zuschreibt, dieses Gut und diesen Wert im Menschen selbst zu erzeugen. "Niemand tut freiwillig Unrecht" bedeutet für SOKRATES: "Niemand, der um das Gute weiß, tut dann das Böse." PLATO ist den durch das Problembewußtsein des SOKRATES eröffneten Weg zu Ende gegangen. Auch in der Stoa steckt noch viel von diesem Intellektualismus: wer die Natur kennt, weiß, was dem Menschen von Natur gut ist. Der  Weise  ist der Tugendhafte.

Wo die Motive der  Wirtschaft  das Muster der höchsten Lebensangelegenheiten abgeben - und in der Tat sind sie ja Bedingungen des nackten Lebens selbst -, ergibt sich die utilitarische Form der Ethik: das höchste Gut ist der Nutzen; alle Tugenden bilden nur ein System von Mitteln, das zuletzt individuelle Befriedigung erzeugen soll. Der Epikureismus ist ursprünglich von hier ausgegangen. Aber der Utilitarismus und niedere Eudämonismus ist ein Typus der Ethik, der niemals ganz ausstirbt.

Von der  Gemeinschaft  der Menschen und dem Füreinanderwirken geht eine andere einseitige Form der Ethik aus, der Altruismus. Selbstlosigkeit und Menschenliebe erscheinen hier als höchstes Gebot. Erst mit dem Christentum hat dieser Typus seine weltbewegende Kraft erlangt, so daß er geradezu mit  der  Ethik verwechselt wird. Selbstlos und sittlich gelten unter dem Einfluß dieser Moral einfach als identisch.

Daß dies nicht selbstverständlich ist, beweist die Existens einer  Ethik der Macht.  Die Entfaltung der höchsten Kraft ist für sie der höchste Wert. Alle aristokratischen Formen der Ethik gehören hierher. Doch erscheint sie in zwei nicht immer verbundenen Formen: einmal als Ethik der Innenkraft, der Persönlichkeit, in der alles kultiviert werden soll, was sie zu heben vermag: also Wissen, Genuß, Edelmut; und sodann als herrschaftliche Ethik: Überlegenheit des Stärkeren, Vornehmgeborenen, Edleren über die Masse. - Erst NIETZSCHE hat diesen Typus, der in PLATO, in der Prädestinationslehre, in der Renaissance, der Romantik und der modernen Politik vorbereitet ist, gegenüber der sozialen Moral des Christentums durch eine Umwertung aller Werte zum höchsten Prinzip erhoben: "Ich lehre das Nein zu allem, was schwach macht, was erschöpft. - Ich lehre das Ja zu allem, was stärkt, was Kraft aufspeichert, was das Gefühl der Kraft rechtfertigt." (Werke XV, Seite 180) Er nennt sich selbst einen Immoralisten und alle großen Menschen Verbrecher, weil er es liebt, seine Terminologie aus den kontrastierenden Richtungen zu nehmen, die er bekämpft (so auch in der Erkenntnistheorie). Aber nicht nur der Kontrast und die persönliche "Vornehmheit" erzeugen NIETZSCHEs Moral, sondern sein Wille zur Macht ruht auch, was man vielfach übersehen hat, auf den Anschauungen der großen Politik. Er ist der Mensch von 1870,  desselben  Jahres, das als Gegenpol das demokratische Reichstagswahlrecht schuf. Unter seinen Vorbereitern nennt er "die höheren Europäer, Vorläufer der großen Politik", und seinen Standpunkt selbst den "Macchiavellismus der Macht".

Aus dem  Phantasiegebiet  stammt die ästhetische Ethik, die im Genuß der allgemeinen Schönheit und in ihrer Nachbildung durch die innere Harmonie das Ziel des Menschen erblickt. Auch hier ist PLATO Vorläufer; SHAFTESBURY aber und der deutsche Neuhumanismus sind Vollender dieser Lehre von der ästhetischen Humanität (8). Alle Vollkommenheit des Menschen ist seine innere Form und Schönheit.

Die  religiös  bedingte Ethik schließlich erzeugt das Ideal der  Askese,  der Selbstverneinung und des Verzichts um höherer Güter willen, die im Zusammenhang des Hier und Jetzt nur geahnt und nicht realisiert werden können. Auch dies klingt in PLATOs universalem Geist an, wenn er die Seele nackt sehen will und ihr Schicksal in höhere Welten hinein wieder und wieder verfolgt. Das Mönchtum aller Zeiten und Religionen zeigt, welche Kraft dieser ethischen Lebensform innewohnt.

Jedes dieser Ziele wurzelt im Zusammenhang des geistigen Lebens. Isoliert genommen besteht jedes von ihnen  summo naturae jure [Abschluß der Naturrechte - wp], denn jedes geht aus einem echten Grundtrieb der menschlichen Natur hervor. Es ist ein transzendenter Gedanke, aber eine Ethik, wie sie aus der  Totalität  unseres Lebensbewußtseins notwendigt folgt: dieses in  Faust  gärende Ideal des höchsten Wissens, höchsten Reichtums, grenzenloser Liebe und grenzenloser Macht, vollendeter Schönheit und doch zugleicht innerster Unabhängigkeit von jedem Einzelgut der Welt, weil es nur endlich und vergänglich ist!

Dies wäre die  Ethik ansich,  ein Traum, der in uns allen lebt, der aber an den Schranken unserer Endlichkeit zerschellt. Denn alle diese Ziele lassen sich vermöge der Konstitution der Welt nicht in  einem  Leben koordinieren. Die bezeichneten Zwecksysteme können nicht in ihrer  Maximal entfaltung zu einer Gesamtleistung im einzelnen Menschen verbunden werden. Damit treten wir nun erst in die konkrete Ethik ein. Sie erwächst daraus, daß in der wirklichen Lebensgestaltung diese Zwecke einander so stark konträr sind, daß sie sich Abbruch tun  müssen.  Der Konflikt der Ziele ist in der Ethik kein seltener und gelegentlicher Fall, er ist vielmehr in jedem Moment gegeben und ruft erst das ethische Problem hervor: die Ethik ist teils die Lehre von der  gebotenen Lebenserweiterung  zum inneren Reichtum und zur Universalität, teils die Lehre von der  gebotenen Lebenseinschränktung,  zur geschlossenen sittlichen Lebensform. Oder dasselbe in einen Satz zusammengezogen: sie ist die  Lehre vom kompossiblen Maximum der Lebenswerte Seit was du  kannst,  aber sei es  ganz! 

Der Beweis für diese Behauptungen liegt in der Tatsache, daß die einseitigen Formen der Ethik sich gegenseitig einschränken. Sie sind eben ideale Abstraktionen, wie unsere Lebensformen selbst. Am deutlichsten ist dies bei dem Gegensatz, der zwischen der Moral des individuellen Vorteils und der der Liebe besteht. Beide Systeme haben sich daher zu einem Kompromißsystem verschmolzen, das beiden Forderungen gerecht werden will: es ergibt sich als ethisches Prinzip die Verbindung der individuellen und der sozialen Wohlfahrt, wie sie etwa durch BENTHAM oder die biologisch begründeten Moralsysteme vertreten ist. SHAFTESBURY verbindet mit diesen beiden ethischen Disziplinen noch das dritte: die ästhetische Sittenlehre. Ebenso lehrreich ist der Kampf NIETZSCHEs gegen die Herdenmoral des Christentums, gegen die Mitleidslehre, die er selbst gelegentlich mit Moral überhaupt gleichsetzt. Seine neue Ethik der Macht ist selbst nur eine höchste einseitige Abstraktion: auch in sie treten doch zuletzt Edelmut und Milde als Forderungen an den mächtigen, vornehmen und großen Menschen mit ein. Der Machttrieb allein würde jede Gewalttat und jedes Verbrechen rechtfertigen.  Ansich  ist er gut; aber als Lebensform eines wirklichen Menschen muß er sich mit anderen Zweckzusammenhängen vertragen und paaren. Ebenso nach allen anderen Seiten: Absolute Wahrhaftigkeit ist mit den Zwecken der Liebe so wenig verträglich wie ein Maximum von schöner Lebensgestaltung Raum läßt für ein Leben mit anderen. Umgekehrt ist es ethisch falsch, daß Selbstlosigkeit in jeder Form und unter allen Umständen einen ethischen Wert bedeutet. Mit diesem Prinzip kann man alles Leben der Menschen überhaupt vernichten. Und die verzichtete Askese wird unsittlich, sobald sie alle Zwecke menschlichen Daseins gleichgültig hinter sich läußt und  nur  dem Ewigen leben will.

Es ist von allerhöchster Wichtigkeit, sich diesen Befund völlig klar zu machen. Er erleuchtet mit einem Schlag, was man jahrhundertelang wegzudeuteln und wegzuleugnen versucht hat, nämlich  die in der Struktur des Lebens selbst enthaltenen ethischen Antinomien.  Es ist nicht des  Menschen  schuld, sondern es liegt in der Dialektik der Lebensgesetzlichkeit, daß er immer wieder vor Kollisionen der Zweckbestimmung gestellt werden wird, aus denen er das Herz, das von einem Ideal totaler, ungebrochener Lebensentfaltung geschwellt ist, nicht völlig rein zurückbringt. Wie oft kreuzt sich die wirtschaftliche Notwendigkeit mit den Wünschen der Liebe, wie oft der Wille zur Wahrheit mit der Förderung fremden Lebens, wie oft die ästhetische innere Harmonie mit der Realistik des Daseins in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft! Diese Gegensätze sind da, und an ihnen entzündet sich die Tragik unseres Lebens; denn das Leben ist durch und durch tragisch.

Aber zugleich entsteht damit nun eine Sittlichkeit im engeren Sinne. So wie wir im vorigen Abschnitt von einem Totalbewußtsein in einem jeden ausgingen, so müssen wir auch einen  totalen Lebensdrang  in jedem annehmen. Aber was diesen ansich guten und echten Drang nach ungehemmter Entfaltung eindämmt, was aus diesem faustischen Trieb ein Sichbescheiden und Sichbeschränken macht, das ist zum Hauptbegriff der Ethik geworden:  die Pflicht! 

Es ist daher nicht bei den einseitigen und abstrakten Formen der Ethik geblieben. Jede vielmehr hat sich mit den angrenzenden Lebensgebieten auseinandergesetzt und typische Koordinationen und Subordinationen von Zwecken als sittlich gestempelt. Da finden wir etwa, daß die Liebe allem vorangeht, daß sie aber nicht zur Vernachlässigung des eigenen Lebens führen darf; und nun wird versucht, hier allgemeine Bestimmungen über das Maß der erlaubten oder gebotenen Selbstaufopferung zu geben. Oder wir hören, daß man zwar Gott über alle Dinge lieben muß, aber zugleich doch "um Gottes willen" seine wirtschaftliche Pflicht zu erfüllen hat und im Fall der Gefährdung einer solchen oder ähnlicher Güter allenfalls auch die Macht sprechen lassen darf. Mit diesen und ähnlichen Auseinandersetzungen verliert sich die Ethik ins Kasuistische [Fallbezogenheit - wp] und historisch-individuell Bedingte. Nur daß dieses Eingehen auf konkrete Verhältnisse für das Leben immer noch immer nicht weit genug reicht. Denn alle diese untergeordneten Maximen bleiben zu allgemein, als daß sie die höchst singuläre Konstellation, mit der ein einzelner Mensch gerade jetzt und gerade hier der Zweckverwebung des Lebens eingeordnet ist, erschöpfen könnte. Deshalb gelten Pflichten wie alle allgemeinen Sätze überall und nirgends: denn es ist niemals der Fall rein realisiert, auf den das allgemeine Sittengebot paßt. Alle Weisheit der Welt darüber, wie und wem und wann man etwas tun soll, hat ihre Grenze an der unvergleichlichen Individualität der sittlichen Situation, um die es sich gerade handelt.

Was die Pflicht gebietet, läßt sich also allgemein nicht bestimmen; sie setzt gar keine besonderen Zwecke neben den schon vorhandenen, sondern sie bedeutet nur diejenige Wahl oder Richtungsgebung innerhalb des schon zweckbestimmten Bewußtseins, die als spezifisch sittlich zu bezeichnen ist. Insofern kann man sagen, die Pflicht ist etwas  Formales;  sie setzt keine  neuen  Zwecke, sondern ist nur eine spezifische Wertbeurteilung der bereits vorhandenen.

Sie ist aber auch etwas höchst  Individualisiertes Dies folgt schon aus unserer Lehre von den Lebensformen: wenn es wirklich verschiedene geistige Typen von Menschen gibt, so muß sich offenbar auch das, was für sie Pflicht ist, gemäß diesen Typen verschieben. Und wenn wir ferner bedenken, daß jeder dieser Typen sich zu jeder Zeit in einer höchst individuellen, so nicht wiederkehrenden Situation befindet, so verschwindet jede formulierbare Allgemeingültigkeit der Pflicht, abgesehen von rohen äußerlichen Regeln der Sitte und des Verkehrs. Nennen wir die ganz besondere Verlagerung von Zweckeinrichtungen in Bezug auf ihre ethische Bedeutung den  individuellen Bestand des Gewissens so kann Pflicht nur noch heißen, daß es in einer solchen singulären Situation neben der Mechanik der Triebe noch etwas gibt, was eine bestimmte Richtung des Verhaltens vorschreibt, und zwar mit einer Notwendigkeit und Verbindlichkeit, die durch die Einzigartigkeit der Situation keineswegs herabgemindert wird.

Solange die Individualisierung der Lebensformen in einer Gruppe noch nicht weit fortgeschritten ist, regelt dieses pflichtmäßige Verhalten in autoritativer Form die Sitte, in der sich die Erfahrung von Generationen über das Pflichtmäßig-Sittliche abgelagert hat. Ist aber die Situation ganz individuell und innerlich differenziert, so vermag die Sitte ihren Inhalt nicht mehr auszuschöpfen. Dann ist vielmehr das Pflichterlebnis rein innerlich und wächst aus dem Grund des Erlebniskomplexes selbst als sein unvermeidliches Begleitphänomen hervor. Nach dem Woher dieses Regulators zu fragen, hat keinen Sinn. Denn aus einem übergeordneten Zweck des Lebens (zu dem er Mittel wäree) kann er nicht abgeleitet werden: er ist die Bejahung eines schwächer oder stärker schon vorhandenen Triebes und die Verneinung der mit ihm konkurrierenden. Will man ins Metaphysische zurückgehen, so bedeutet die Pflicht den höchsten Regulator des geistigen Lebens, in dem normativ die tausendfach individualisierte Bahn zum höchsten Kulturwert zum Ausdruck gelangt und zugleich die Art, wie der einzelne zur einseitigen Mitwirkung an diesem Wert, der über ihm ist, verpflichtet wird. Die individuelle Forderung der Pflicht quillt aus dem totalen geistigen Lebensgrund, der in jedem wirkt, wenn er in ihm auch nur einseitig differenziert zum Ausdruck gelangt. Aber das Gesetz lebt in allem, und es ist das, was die Vereinzelung wieder aufhebt und sie in den objektiven Strom des geistigen Lebens wieder zurückführt. Die Pflicht wird also in jedem Moment eindeutig  erlebt,  aber sie ist nicht von der  Wissenschaft  für jeden Moment eindeutig zu formulieren.

Natürlich hindert nichts, Pflichten ganz allgemein mit Namen aufzuzählen. Die einseitigen Pflichten der Wahrhaftigkeit, der Selbsterhaltung, der Liebe, der Energie, der harmonischen Daseinsgestaltung und der Weltüberwindung (Gottergebung) folgen aus der isolierten Setzung der Lebensgebiete. Sofern nun aber keiner von diesen Grundtrieben sich ungeregelt auswirken darf, gibt es innerhalb jedes Lebensgebietes wieder ein sittliches und ein unsittliches Verhalten. Die Pflicht erscheint dann als relative Einschränkung dieser Lebensgebiete: Statt Wahrhaftigkeit wird Schonung, statt Selbsterhaltung wird Mäßigung, statt Liebe Ernst, statt Energie Gehorsam, statt Machtentfaltung Gerechtigkeit und Hilfe, statt beglückender Harmonie realistisches Tun und statt Weltverachtung Arbeit an der Welt gefordert.

Darin liegt die eigentümliche sittliche Dialektik des Lebens, daß aus der Totalität des Lebensbewußtseins ein totaler Drang nach Kraftentfaltung folgt, daß aber jedes einzelne Lebensgebiet in seiner restlosen Entfaltung, sofern es sich selbst ausschließlich setzen will, sogleich unsittlich wird. Die Erkenntnis ist etwas Sittliches; und doch wäre ein Leben, das sich  nur  unter ihr Gesetz stellt, unsittlich. Die Liebe kann tief unsittlich sein, und vor allem der religiöse Trieb, wo er sich loslöst von der Basis des Lebens und rein in ein selbstsüchtiges Jenseits flieht,  kann  den Gipfel der Unsittlichkeit bedeuten.

Sollen wir nun daraus folgern, daß der  Kompromißcharakter  wesentlich zum Ethischen gehört? In der Tat tragen viele ethische Lebensformen diesen Grundzug: die stoische, die epikureische, der Aristotelismus, selbst PLATO steuern zwischen Extremen vorsichtig hindurch. Und doch sind selbst dies ethischen Richtungen noch zu metaphysisch. Die wissenschaftliche Ethik der Zukunft wird noch viel stärker ins Konkrete und Positive hinabsteigen müssen. Sie wird irgendwie an die typischen Lebensformen wie an die typischen Kulturformen anknüpfen müssen. Der kantische Gedanke der "Pflicht" enthält doch nur die Idee einer Wissenschaft, noch nicht diese Wissenschaft selbst.

An der Pforte dieser Wissenschaft, in die wir selbst freilich nicht mehr eintreten können, steht die Frage nach dem Rangverhältnis der menschlichen Werte und Zwecke. Sollen wir annehmen, daß ihre Hauptgattungen, die sich in Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft, Staat, Kunst, Religion darstellen, koordiniert sind? daß ihre Rangierung nur Sache der individuellen Lebensform ist? Oder liegt in diesen Zwecken ein für alle gültiges Rangverhältnis, so daß etwa die Wirtschaft und die Wissenschaft immer nur Mittel, ein anderes aber immer nur Endzweck sein könnte?

Wir wagen es nicht, diese große Frage hier endgültig zu beantworten. Vielleicht ist es nur ein persönliches Bekenntnis, mit dem wir schließen. Daß die Wissenschaft und die Kunst Selbstzwecke sind, ist uns immer wieder versichert worden. Sie haben ihr eigenes Strukturgesetz und ihre eigene leitende Idee. Aber ist das nicht selbst eine wissenschaftliche Konstruktion? Müssen dann nicht wirtschaftliche Arbeit und Liebe ebenso Selbstzweck sein, da sie doch aus dem Ganzen auch nicht ausfallen können? Sittlichkeit aber ist immer eine konkrete  Lebensform,  d. h. in ihr wirken alle Zwecke organisch zusammen. Es ist daher z. B. sittlich unmöglich, daß ein konkretes Leben nichts als das höchste Ziel der Wissenschaft enthält oder nichts als Kunst. Diese Lebensformen wären  psychologisch  denkbar. Es kann Menschen geben, für die alles andere Mittel wird für ihre Forschung, für ihr Kunstschaffen, für ihre Macht. Diesen Weg durch die Psychologie haben wir unbefangen zurückgelegt. Aber jetzt lautet die Frage anders. Jetzt dreht es sich um den  Wert,  den diese möglichen individuellen Gestaltungen haben. Jetzt reden wir nicht nur von den psychologischen Lebensformen, sondern von den sittlichen, d. h. von denen, die den höchsten Wert haben.

Und wenn wir das sittliche Formgesetz vorhin als den inneren Regulatur des Lebens bezeichneten, so muß sich die Normgemäßheit des Verhaltens auch irgendwie im Lebensbewußtsein ankündigen, durch ein Erlebnis, das die Koinzidenz einer individuellen Lebensform mit dem, was sie (und gerade sie) sein kann und soll, ausdrückt.

Hier schließt sich nun unsere Argumentation in eine letzte Einheit zusammen: Wir haben als Voraussetzung für die Interpretation der Lebensformen und ihrer Abwandlungen ein totales Lebensbewußtsein als psychologische Anlage genommen, das, latent in jedem individuellen Geist ruhend, dieses Verstehen fremder individueller Strukturen erst möglich macht. Wir haben als Voraussetzung aller ethischen Einschränkung einen totalen Lebensdrang in jedem Individuum angenommen, der ansich berechtigt ist, aber, weil er nur in einer individuellen Struktur zur Funktion gelangt, sich zu einer individuellen sittlichen Lebensform einschränken muß. Der Drang nach höchstem Leben bleibt trotzdem lebendig. Trotz aller Schranken von Erkenntnis, Glück, Liebe, Macht und seelischem Genuß strebt er nach Befriedigung. Nur ein Zustand der Erfüllung kann dieser inneren Lebensbewegung ein Ziel setzen. Der höchste Wert muß also derjenige sein, in dem dieses unruhevolle Streben zum Stillstand kommt. In seiner Absolutheit genommen ist dieser Zustand transzendent, eine uns unerreichbare metaphysische Wesenheit. Aber in seiner individuellen Andeutung muß er in jedem ebenso erreichbar sein, wie das grenzenlose Streben in ihm individualisiert ist. Es muß also für jede sittliche Lebensform einen letzten geistigen Frieden geben, der das Zusammenfallen der inneren Verfassung mit der höchsten Bestimmung zum Ausdruck bringt.

Einen solchen Zustand inneren Friedens aber haben wir bereits innerhalb des religiösen Typus kennengelernt. Und da es keinen doppelten Frieden und keine doppelte Beseligung geben kann, einmal als sittliches und ein anderes Mal als religiöses Phänomen, so wird wohl in diesem höchsten Frieden das Religiöse und Ethische zusammenfallen. Wahre Vollendung der Religion ist nicht möglich ohne Sittlichkeit; die Religiosität, die abseits vom Sittlichen erwächst, ist ein Irrlicht. Nur wenn die höhere religiöse Ordnung, von der wir sprachen, zusammenfällt mit der sittlichen Weltordnung, haben wir Religion im vollen Sinne. Damit ist der höchste Bezugspunkt allen Lebens angedeutet: Es gibt keinen höheren und feineren Regulator als den Frieden der Seele, der aus Reinheit und Erhebung erwächst und in dem alle einzelnen Motive des Daseins harmonisch ausklingen.

Indem aber nun die Religion das Sittliche zu ihrer Vollendung voraussetzt, setzt sie zugleich das ganze Leben als  das kompossible  Maximum der Lebenswerte, als ein auf sie Bezogenes und von ihr aus Reguliertes voraus.  Diese  Religion fordert nicht die Verneinung der übrigen Lebensinhalte, sondern nur ihre höchste Entfaltung in den Grenzen des Sittlichen. Jeder  soll  sein, was er sein  kann.  Der weiteste Umfang des Lebens muß in seiner Lebensform gebunden sein. Ich habe in früheren Schriften dieses kompossible Maximum der Lebensweite als  Humanität  bezeichnet. Unsere Lehre von den Lebensformen hat zunächst psychologisch gezeigt, welche  individuellen  Beziehungspunkte diese lebensbejahende Humanität haben kann, da ja der schlechthin universale Mensch nur eine Idee ist, die die Wirklichkeit nirgends zuläßt. Nunmehr sehen wir den  höchsten  Beziehungspunkt in der sittlich-religiösen Beseligung des Totalbewußtseins. Darin liegt die höchste Lebensform: mit einem weiten, reinen Blick alle Möglichkeiten des Daseins zu kennen und zu umfassen, sie auf ein durch Anlage und Kulturumgebung bestimmtes Lebenszentrum zu beziehen und dieses Ganze zuletzt zu regeln an einem Einheits- und Ewigkeitserlebnis, das alle Inhalte des Daseins unter das Licht eines höheren, sinnvollen, zu den Werten des Menschenlebens sich  positiv  verhaltenden Zusammenhangs stellt. In diesen Grenzen ist noch Raum für unzählige Formen der Lebensgestaltung; aber sie alle sind nur Klänge der einen großen Lebensymphonie. Das Unsittliche ist, um im Bild zu bleiben, das schlechthin Disharmonische; das Leiden das relativ Disharmonische, das sich aber in den Sequenzen des ganzen persönlichen Lebens zu einer harmonischen Totalwirkung aufhebt. -

Es geht eine Sehnsucht nach "Glück" durch die Menschen. Schon dieser niedere Trieb findet nie und nimmer in einer  einseitigen  Lebensform seine Erfüllung. Alle Einseitigkeit, so kräftig sie auch ist, macht unglücklich. Deshalb ist schon die niedere Lebensgestaltung bestrebt, an zwei Daseinsformen zugleich teilzuhaben, weil dies allein innerlich frei macht. WILHELM von HUMBOLDT besaß neben dem Politischen die Einsamkeit seiner gelehrten Selbstbildung. BISMARCK lebte neben dem großen weltgestaltenden Dasein eine naive Religion. Jeder Geschäftsmann findet in seiner Familie die von der Natur geforderte zweite Welt. Neben der angespannten Arbeitsteilung der Gegenwart wächst immer mächtiger das befreiende Reich der Phantasie empor, mag sie sich auch der Natur oder der Kunst zuwenden. Schon diese Zweiheit der instinktiven Lebensgestaltung wächst heraus aus dem wogenden Untergrund des Lebens, der immer wieder bis an die Oberfläche emporwallt und uns schmerzlich mahnt, daß wir diese Welt nur mit begrenzten Organen in uns saugen und gestalten. Der wogende Untergrund unseres Lebens von der Jugend bis zum Alter ist die große Sehnsucht, die trotz aller Gestaltung in Wissenschaft, Kunst und Menschenwelt niemals ihr Genüge findet. Diese Sehnsucht aber, zu einer ewigen Melodie des Lebens geworden, ist Religion. Denn nur wer in der Sehnsucht  lebt,  besitzt auch ihre Erfüllung. Das ist der hellste Glanz, der über dem Dunkel der ewigen Rätsel strahlt, daß aus denselben Quellen der Innerlichkeit, die uns ruhelos und unbefriedigt machen, auch jene sonnige Seligkeit emporströmt, die uns mit den letzten Tiefen der Wirklichkeit in eine ahnungsvolle Beziehung von innigster Verwandtschaft setzt:  panta theia, anthropina panta. [Alles ist göttlich und alles ist menschlich. - wp]
LITERATUR - Eduard Spranger, Lebensformen, Festschrift für Alois Riehl, Halle a. d. Saale 1914
    Anmerkungen
    7) Die bekannten DILTHEYschen Weltanschauungstypen: Positivismus, Idealismus der Freiheit und objektiver Idealismus lassen sich, wie man sieht, noch weiter zerlegen. Der erste gehört dem theoretischen Typus an; der dritte mag bald vom ästhetischen, bald von einem religiösen aus zu verstehen sein. Der Idealismus der Freiheit schließlich ist eine mit dem Machttypus verwandte ethisch-religiöse Lebensform. Die Typen lassen sich also nicht völlig koordinieren.
    8) Vgl. mein Buch "Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee", Berlin 1909