von WieserBöhm-BawerkNietzscheI. KornfeldR. StammlerW. DiltheyO. Liebmann | ||||
Lebensformen [3/4]
II. Die idealen Grundtypen [Fortsetzung] 4. Der Machtmensch A. Wir haben versucht, das soziale Gebiet unter Ausschaltung all der Erscheinungen zu umschreiben, die durch das herrschlaftliche Moment erzeugt werden, obwohl es kaum einen Ausschnitt der Gesellschaft gibt, der von ihm nicht schon beeinflußt wäre. Daß es aber tatsächlich etwas Selbständiges bedeutet, geht schon daraus hervor, daß es im Laufe der Entwicklung ein Kulturgebilde aus sich herausgetrieben hat, das mit der Gesellschaft keineswegs zusammenfällt, den Staat. In ihm haben wir den Machtfaktor in seiner sichtbarsten und ausgeprägtesten Gestalt, insofern alle zufällige Verteilung der Kräfte innerhalb der Gesellschaft der Idee nach durch die im Staat konzentrierte Macht überboten und gelenkt werden soll. Deshalb hat das konstruktive Naturrecht mit gutem Grund den Gesellschaftsvertrag und den Herrschaftsvertrag im allgemeinen voneinander gesondert. Die Erscheinung, daß Menschen auf Menschen einen Einfluß durch Zwang ausüben, ist jedoch auch jenseits und unterhalb dieser summa potestas [totale Macht - wp] des Staates allenthalben zu beobachten und die "Souveränität" des Staates ist ja selbst nur das Produkt einer bestimmten historischen Entwicklung. Wir reden also im Folgenden nicht ausschließlich von der politischen Macht, sondern von der Macht unter Menschen überhaupt, die durch höchst mannigfache Mittel ausgeübt werden kann. Wir benutzen aber den Staat als Anknüpfungspunkt, weil er das zu untersuchende Problem gleichsam in großer Schrift zeigt. Demnach sehen wir das wesentliche Merkmal des Staates im Machtfaktor, nicht im Rechtsfaktor, auf den wir später kommen werden. Die politische Macht kann auf verschiedene Weise entstanden sein: durch physische Überlegenheit, durch die Umkleidung mit besonderen überirdischen Kräften, die Glauben finden, durch kriegerische Gewalt, durch geistige Beherrschung, durch Reichtum an materiellem Besitz und nicht zuletzt durch eine lange fortgesetzte Tradition, die zur "Macht der Gewohnheit" geworden ist. Das Symptom dafür aber, daß irgendeine dieser Überlegenheiten tatsächlich vorhanden ist, liegt immer in der Kraft, bestimmte Handlungsweise zu erzwingen, sei es physisch, sei es durch eine entscheidende Motivsetzung oder durch eine einfache Suggestion. Deshalb wird das ganze Gebiet der Machtverhältnisse, sowohl des Staates im Großen wie aller staatsähnlichen Gebilde und untergeordneten "Organisationen" durch das Moment der Willensbildung zu definieren sein. Darin, daß ein Wille die Kraft besitzt, seine Ziele einem anderen Willen durch irgendwelche Mittel aufzunötigen, liegt der allgemeine Grundzug des hier in Rede stehenden Kulturgebietes; darin bestimmt sich seine wesentliche Struktur. Wir wollen daher das Machtsystem definieren:
C. Der Typus des Machtmenschen erscheint nicht nur auf den Höhen der Menschheit. Vielmehr breitet sich ein weitverzweigtes Netz von Herrschaftsbeziehungen von der Spitze bis in die untersten Schichten der Gesellschaft, und zwar teilweise nach dem Gesetz der Nachahmung, so daß das oberste Regime von all den kleinen und kleinsten Regenten bis in die Hütten hinab in seiner Art und Färbung nachgebildet wird. Alles Herrschen aber setzt ein Dienen voraus, sodaß wir wiederum den Gegensatz von Aktivität und Passivität verwirklicht fänden. Der Herr und der Diener sind zwei korrelate Lebensformen. Wir lassen hier noch keine ethischen Obertöne mitschwingen. Immerhin ist schon psychologisch ein Unterschied zwischen der Sklavenseele, die überhaupt nur in einem Abhängigkeitsverhältnis zu leben vermag, und dem treuen Lehnsmann, der aus ethischen Motiven gehorcht und die Treue über den Tod hinaus bewahrt. Darin liegt eine Anerkennung dieser ganzen Lebensform, eine Anerkennung der Notwendigkeit von Machtträgern, die heute selten geworden ist, aber früher das Leben weithin beherrscht hat. Und da das Gehorchen nach oben meist wieder mit einem Gebieten nach unten verbunden ist, so strömt die Macht wie aus einer einheitlichen Quelle bis in die letzten und kleinsten Verzweigungen des Systems. Sofern Menschen sich mit ihren Hauptenergien diesem System einordnen, gehören sie der allgemeinen Lebensform des Machtmenschen an, wenn sie auch teilweise die Rollen von Dienenden, Ausführenden und Beamten zu spielen haben. Aber über wen man herrscht, das bestimmt nun die wichtigsten Schattierungen. Auch hier kann natürlich nicht die Fülle möglicher Regierungsformen und Herschaftsverhältnisse eingeteilt werden. Dies ist Aufgabe der Politik als Wissenschaft, die mit der Soziologie nicht identisch ist, wennschon sie viele Gegenstände mit ihr gemeinsam hat. Aber ein Unterschied ist grundlegend: wir haben die Macht als ein Willensverhältnis definiert. Nun ist der Wille in sich selbst nicht einheitlich; oder wie man das psychologisch schlecht ausgedrückt hat: der Wille gebietet sich selbst. Daher gibt es eine Macht über sich selbst, die Selbstbeherrschung, ehe es eine Macht über andere gibt. Wir meinen hier Selbstbeherrschung nicht in dem Sinne, wie man das Wort von einem ethischen Standpunkt her versteht, sondern Selbstbeherrschung im Sinne der Energie, die alle Kräfte des Körpers und des Geistes parat hält, sei es zum Guten, sei es zum Bösen. Ohne diese innere Vorbedingung kann eigentlich niemand dauernd und weithin herrschen. Die Anlage zur Macht geht also bis in das physische Leben zurück; der Körper kann schwächlich sein, aber die Nerven müssen dem Willen, der Körper den Nerven gehorchen; sonst kann ein Wille auch keinen andern beeinflussen. Alle großen Machthaber hatten zunächst sich in der Gewalt, nicht immer ihre Leidenschaften, wohl aber ihre Kräfte; andere Naturen haben die Macht immer nur widerruflich zu Lehen getragen, solange die echten Machtmenschen es für gut fanden, sie ihnen zu überlassen. Alles Heldentum also beginnt in der Seele und dem Körper selbst, ehe es andere unterwirft. Was aber die Macht über andere betrifft, so bedingt es natürlich zahllose Schattierungen des Machttypus, ob man über Freie herrscht oder über Sklaven, ob über geistig Hochstehende oder Idioten, über ein Volk oder über einige. Demgemäß differenzieren sich dann auch die Mittel der Macht. Da ist zunächst der Krieger, dessen Macht aus den besonderen Bedingungen des militärischen Lebens seine Farbe empfängt, von den primitiven Stammeshäuptlingen über die germanischen Herzöge bis zu den modernen Feldherrn und Schlachtendenkern. Selbst WALLENSTEINs Wachtmeister hat noch etwas von diesem Pathos in sich, und manche Zeitgenossen tragen die Lebensform des Unteroffiziers bis in die bürgerlichen Verhältnisse hinaus. Andere herrschen durch geistliche Mittel: die Hierarchie der römischen Kirche hat die Lebensform des herrschenden Priesters am höchsten ausgebildet, die lutherische Kirche hat dies zum Teil geerbt, zumindest in der Form eines auffallenden Machtanspruchs, wenn auch ohne die Machtmittel. Nahe verwandt damit ist die geistige Herrschaft: Diplomaten erreichen oft mehr als siegreiche Feldherren. Klugheit und Lebensgewandtheit geben in allen Verhältnissen Macht. Das moderne Beamtentum ist der Idee nach (wie schon PLATO gewollt hat) eine Aristokratie des Geistes. Wieder andere herrschen durch das Ansehen oder durch das Recht, das eine lange Tradition ihnen gegeben hat; mit solchen Menschen wird der Machtanspruch schon geboren, sie sonnen sich ein Leben lang in einem ererbten Glanz. Doch soll von der Macht, die das Recht verleiht, hier nicht die Rede sein, weil sie abgeleitet ist. Dazu kommen die kleinen Mittel: List, Geschenke, Distanzhalten, brutale Gewalt bis zu Verbrechen; künstlerische, gesellschaftliche oder körperliche Vorzüge begründen oft schon Machtwirkungen, zumal in erotischen Verhältnissen. Der Rechthaberische und der Eitle berauschen sich zumindest am Schein der Größe. Die alte Frage "Wer regiert denn?" verfolgt die Fäden dieser Machtbeziehungen in ihren oft seltsamen Verschlingungen. Deshalb gibt es Machtmenschen von den kleinsten Kreisen bis zu den Weltherrschern. Der Familientyrann ist ein bekannter Lustspieltypus. Der Standeshochmut ist im Bourgeois gentilhomme [der Bürger als Edelmann - wp] klassisch gezeichnet. Den Kirchturmspolitikern entsprechen die Kirchturmsregenten. Nationalstolz und Rassenstolz füllen manches Leben aus. Alle Beamten, wenn sie es mit ganzer Seele sind, fühlen sich in ihrem Kreis absolut. Selbst Universitätsprofessoren sollen Machtgelüste nicht fremd sein. Der Redner ist eine uralte, von der Antike bewußt gepflegte Form des Machttypus. Die Beichte und die Schlüsselgewalt lenken die Seelen. Selbst der Portier eines Hauses ist Herrscher über die Tür. Und jeder wacht mit Eifersucht darüber, daß man ihm seine Kreise nicht stört. Den Thron umgibt ein ausgeklügeltes System von Formen, die die Macht geradezu heiligen. Den einzelnen Verfassungsformen entspricht nicht nur ein besonderes Ethos, sondern auch eine besondere Spannung und Stimmung des Machtsystems. Schon PLATO und ARISTOTELES haben diese mannigfachen Typen mit unerreichter Meisterschaft gezeichnet. Der Demagoge, der auf die égalité [Gleichheit - wp] schwört, ist vielleicht am leidenschaftlichsten von Machtgelüsten erfüllt. Überall aber wächst mit der Zahl des Kraftbewußtseins, und die Entscheidung der bloßen Masse ist unter manchen Verhältnissen die letzte Instanz. Eine eigenartige Veränderung der Bewußtseinsstruktur beobachtet man überall da, wo der Einzelne sich mit Gleichgestimmten zu einer gemeinsamen Aktion zusammenschließt; es ist, als ob die Summe des Machtgefühls sich dann auf die einzelnen in einem Verhältnis verteilt, das dem arithmetischen nicht entfernt angemessen ist. Und doch ist wieder das ganz Persönliche, etwa der Einfluß der Frau auf den Man, eine geheime Machtquelle, die bisweilen stärker ist als die Menge. Ein Widerspiel des Machttypus in dem bei früheren Lebensformen gefundenen Sinne scheint es nicht zu geben. Natürlich ist der Verzicht auf Macht denkbar, teils im Sinne der willigen Unterordnung, teils aus heterogenen Motiven. Der Religiöse ist gegen die irdische Macht vielfach gleichgültig, wie es das Christentum in seiner Urgestalt und auch später noch gelegentlich zeigt. Ebenso mag der Gelehrte oder der soziale Mensch um seiner ihm höheren Zwecke willen auf jeden Einfluß, jedes Ansehen verzichten. Aber daß jemand die Macht aufgibt eben um der Macht willen, dieser Vorgang ist nur in einem Fall gegeben, nämlich in der Rechtsbildung. [recmac] Das konstruktive Naturrecht hat wiederum diese Entäußerung von "Rechten der Natur" zugunsten eines höheren Schutzes abstrakt richtig dargestellt. Man könnte also den Willen zum Recht als den sich selbst beschränkenden Machtwillen auffassen, der auf partielle und willkürliche Macht verzichtet, um eine umfassende souveräne Gewalt mit höheren und sittlichen Inhalten herzustellen. Wir werden auf diesen Fall noch kurz zurückkommen. Unter diesem Gesichtspunkt also ist der Rechtsmensch derjenige, der sich der Gewalt freiwillig entäußert, eben um der Macht im höchsten Sinne willen. Es ist deshalb kein Zufall, daß das Naturrecht in seiner Entwicklung von der Theorie des Machtstaates zu der des Rechtsstaates immer stärker auf die Theorie der absoluten Gleichheit hinausgekommen ist. Wer die Gleichheit ernsthaft behauptet, eliminiert damit die Macht. In Wahrheit aber wollen diese und alle heutigen Gleichheitsapostel durch die scheinbare Gleichheit nur eine andere Machtverteilung bewirken. Deshalb steht auch neben der égalité nicht zufällig die liberté, die Negierung fremder und die Setzung eigener Macht. Die Gleichheitsfanatiker sind also nur scheinbar die Gegner aller Macht; prüft man sie schärfer, so sind sie revolutionär und lehren eine neue Macht anbeten, in der Regel ihre eigene. A. Wir nähern uns demjenigen Gebiet, das die reichste Mannigfaltigkeit von Lebensformen erzeugt, sodaß es schwer sein dürfte, sie auf ein einheitliches typisches Prinzip zurückzuführen. Schon der Begriff der Phantasie scheint verschwommen, unbestimmt, und im Gegensatz zu den bisher leitenden Begriffen nur von psychologischer Bedeutung. Im letzteren Sinne aber können wir die Phantasie natürlich nicht auffassen, sonst hätten wir die seelischen Funktionen überhaupt zum Einteilungsprinzip machen müssen. Wir werden also auch die Phantasie als ein in das objektive Leben verflochtenes und von seinen Inhalten selbst erfülltes Gebilde auffassen müssen, und zwar als eine die ganze Inhaltlichkeit des Lebens in besonderer Weise umgestaltende Funktion (2). Wiederum zeigt uns das korrelate objektive Kulturgebiet ihre Leistung in vergrößerten Zügen. Denn die Kunst ist eine Umgestaltung der in einem Lebenszusammenhang naiv erfahrenen Realität nach besonderen Gesetzen, die von denen etwa der Wirtschaft oder von den Formgesetzen wissenschaftlichen Erkennens erheblich verschieden sind. Vor allem werden wir typisierend, im Gegensatz zum realen Genuß, den die austauschbaren wirtschaftlichen Güter gewähren, von einem spezifisch seelischen Genuß reden müssen, den das Ästhetische erzeugt. Irgendeine Form des Genusses oder - mit Vorsicht gesagt - der Lust werden wir dem Phantasiesystem zuschreiben müssen. Die Abgrenzung gegen das Wirtschaftliche ist seit langen Zeiten durch die Bestimmung "interesseloses Wohlgefallen" gegeben. Aber auch sonst werden wir mit PLATOs Dialog "Philebos" von dem Satz auszugehen haben, daß es Arten der Lust gibt. Die Phantasie bildet nun die Wirklichkeit um:
2. indem sie dieses Spiel auf die so über den Zwang der Realität erhobene Realität und das Bedeutsame genußvoll erfahrende Gefühlswelt des Subjekts bezieht.
B. Schon aus diesem Grund muß ein tiefer Gegensatz bestehen zwischen dem Phantasiemenschen und dem theoretischen Menschen. Auch die Wissenschaft ist interesselos, aber in einem anderen Sinn: sie läßt den Gegenstand als solchen mit voller Objektivität zu seinem Recht kommen und projiziert ihn deshalb auf die Ebenen der Beschreibung, Begriffs- und Gesetzesbildung, bis zur Berechnung und mathematischen Symbolisierung. Die Objektivität des Künstlers ist eine andere: sie ist Objektivität der Bedeutung, bringt also zugleich die Gesetzlichkeit des Gemütsverlaufes zum Ausdruck: auf diese kommt es ihr an. Und selbst die realistische Kunst wird dadurch von der wissenschaftlichen Betrachtung geschieden, daß sie ihren Gegenstand durch die gefühlsbestimmte Phantasie hindurchgehen läßt; als ein anderer kehrt er aus ihr zurück: "nie wird die Kunst die Wirklichkeit erreichen", wenn sie auch die "Bedeutsamkeit" der Gegenstände viel reiner, gesetzlicher und also in diesem ästhetischen Sinn wahrer herausgestaltet. Von Natur aus besteht eine Abneigung zwischen dem Theoretiker und dem phantasiebegabten Menschen. Die Armut des Begriffs, verglichen mit der Sinnlichkeit und dem Gefühlsreichtum der Phantasie, ist der ständige Vorwurf des Künstlers gegen den Gelehrten. Ihre Auffassungen von der Natur z. B. verhalten sich wie "Tagesansicht und Nachtansicht" (3) [fechner]. Von Mischformen darf hier noch nicht die Rede sein, wenngleich sie der Analyse das interessanteste Problem bieten. - Ebenso steht es mit der Wirtschaft: sie ist auf das Brauchbare, in seiner Unmittelbarkeit zu Genießende gerichtet; sie ist insofern an der wirklichen Existenz des Gegenstandes interessiert und kann von den gemalten Früchten nicht satt werden. Die Phantasie berauscht sich auch an einem gedachten Reichtum. Der phantastische Typus ist für die ökonomischen Aufgaben erfahrungsgemäß wenig geeignet. Zur Gesellschaft hat der Phantasiemensch positivere Beziehungen. Zwar lebt er zunächst in seiner Innerlichkeit. Insofern er aber den Trieb hat, seine Innerlichkeit auszusprechen, bedarf er des Echos in anderen, sucht sie in seine Bahnen hineinzuziehen und lauscht auf die Äußerung verwandter Seelenstimmungen. Die Phantasie kann schon als Erlebnisform aus der Einsamkeit heraustreten und eine Art Werbekraft entfalten; der Beifall, der ihren Schöpfungen gezollt wird, ist eine neue Quelle des Genusses. Diese innere Tendenz, die gewiß auf einer verborgenen geistigen Gleichgesetzlichkeit beruhen muß, erzeugt zwar auch eine Art Allgemeingültigkeit; aber sie ist keine theoretische und begriffliche. Überdies regt die Gemeinschaft unter Umständen die Phantasie an, kann sie aber auch ausschalten. Zum Politischen hat der in der Phantasie lebende Mensch keine unmittelbare Beziehung. Aber wenn er sich innerlich sehr reich und mächtig fühlt, so wird diese Kraft auch andere in ihren Bann ziehen. Der Künstler vor allem ähnelt in seinem Anspruch auf Schätzung und Geltung bisweilen dem Machtmenschen. Seine Herrschaft ist eine Macht über das Innere, und sie kann zu großem Tun begeistern, Völker in Bewegung setzen. Aber dies alles fällt in eine andere Region: es steht nicht unmittelbar auf dem realen Boden der Wirklichkeit, sondern wirkt nur, sofern es die anderen zuvor in seine Sphäre gehoben hat. Das schnelle Verrauchen solcher Bewegungen ist ein Zeichen ihres andersartigen Ursprungs. Die Phantasie steht schließlich in innerster Verwandtschaft mit den Kräften, die die Religiosität erzeugen. Aber auch hier bleibt der Unterschied des Realitätscharakters: Die Religion will das Allerrealste, den letzten Sinn des Lebens selber, eine höhere Ordnung, zum Erlebnis bringen. Die Phantasie kann dahin führen, sie kann jene Erlösungsstimmung vorbereiten, die die Religion gibt, und kann ihr selbst zum Verwechseln ähnlich sehen. Aber sie selbst ist noch nicht Religion, eben weil sie so frei ist und an sich keinen Verzicht fordert. Man kann Künstler sein und ganz religiös; man kann fromm sein und der Kunst die tiefsten Symbole entlehnen. Nur gehört zum Wesen der Religion die Überzeugung, daß der echte Sinn aller Geheimnisse in ihr sich löst, während die Kunst sich begnügen muß, die Seele durch einen erhebende sinnvollen Schein zeitweilig über das gegebene Dasein emporzuführen. Deshalb kann der Phantasiemensch tief religiös sein, aber auch tief irreligiös. Auch in den Religionen finden wir zwar Ausschweifungen der Phantasie; aber ihr Sinn und ihre Motive sind ganz andere: sie sind immer getragen von dem Glauben, in ihnen höhere Wirklichkeiten zu erfassen. Die Kunst hingegen und das reine Phantasiespiel bekennen ganz ehrlich, nur den Gehalt und die Sehnsucht der Seele auszusprechen. Sie führen zu Erhebungen der Seele, von denen aber noch immer zweifelhaft ist, ob sie durch tiefere Zusammenhänge des Weltlaufs selbst gerechtfertigt werden. Der bloß ästhetische Enthusiasmus wird immer enttäuscht; der religiöse lebt in der Gewißheit seines Gegenstandes. Das ist ein grundlegender Strukturunterschied, der zur Klarheit erhoben werden muß, auch wenn die konkreten Bildungen ihn vielfach verwischen sollten, da ja der Geist in seinen Wurzeln nur einer ist. C. Proteus ist der Urvater des Phantasietypus. Es wird nicht leicht sein, diese vielgestaltigen Schattierungen in unserem weitmaschigen Netz von Begriffen einzufangen. Zunächst scheint sich ein prinzipieller und viel tieferer Gegensatz als bisher mit Bezug auf den Unterschied der Rezeptivität und Spontaneität aufzutun. Der Genießende und der Schaffende scheinen durch eine Welt getrennt, wie der Träumer und der Gestaltungskräftige Pole bedeuten. Der Unterschied ist in Wahrheit nicht so prinzipiell, sondern er ist gradueller Art. In allem Phantasieleben mischt sich Rezeptivität und Produktivität. Aber das Produktive überwiegt, eben weil die Aufsetzung der Gefühlslichter auf das gleichmäßige Grau der Wirklichkeit immer schon im Keim ein aktives Verhalten darstellt. Wo sich diese Art produktiven Erlebens wieder losringt aus dem dunklen Schoß der Innerlichkeit, da entsteht der Künstler. Aber dieses Produzieren nach außen ist in hohem Maße von der Beherrschung der entsprechenden Technik (z. B. der Materialbehandlung) abhängig. Es ist mancher in seinem Inneren ein Künstler, ohne es nach außen werden zu können. KARL PHILIPP MORITZ hat die Tragik eines solchen Mißverhältnisses aus seinen eigenen Erfahrungen meisterhaft geschildert. Der ganze Gegensatz wird sich zurückführen lassen auf Unterschiede in der Kraft der Phantasie und auf Unterschiede in der Formgebung: denn das objektive Kunstwerk, das anderen eine bestimmte Phantasierichtung ansuggerieren soll, muß natürlich eine Fülle von (zum Teil historisch erarbeiteten) Mitteln anwenden, die das freie, kontinuierliche Verhalten der bloßen Phantasieformung des Lebenden und Genießenden gänzlich entbehren kann. Was für die "Lebensformen" wichtig ist, liegt jedoch nicht so sehr auf dem Feld der Formgebung, der Technik und des Stiles, als vielmehr in der Art des Sehens (4), des Erlebens und im rein innerlichen Gesetz der Phantasiestruktion. Trotzdem wollen wir im folgenden den Menschen, der mit der Phantasie erlebt, und den Menschen, der aus dieser erlebenden Phantasie heraus gestaltet, gesondert behandeln, nur daß der letztere, der Künstler, ganz kurz erörtert werden kann weil auf diesem Gebiet umfassendere und eindringendere Vorarbeiten vorliegen, als diese programmatische Skizze zu leisten vermag. a) In welcher Welt man lebt, das ist eigentlich bestimmend für den ganzen Menschen. Nun lebt aber niemand in der nackten Realität, die in ihren Grundlinien schon vor der wissenschaftlichen Arbeit bestimmt ist und die die Theorie wie einen ewigen Rohbau aufzurichten bestrebt ist, sondern er verputzt dieses Gebäude und dekoriert es von innen und stattet es verschwenderisch aus mit der Welt seiner Gefühle, so daß dann die angeblich einheitliche Welt so viele Gesichter erhält, wie Menschen sie bewohnen. Manche dieser Bewohner können sich täglich in die Fenster sehen und kennen sich genau, andere treffen sich nicht einmal auf den Treppen, weil sie nicht denselben Aufgang haben. Aber Straße, Keller und Boden sind gemeinsam, was nur zu Zeiten ins Bewußtsein tritt. Ohne Bild gesprochen; es macht einen tiefen Unterschied unter den Menschen, um welche Inhaltlichkeiten der im Umriß gegebenen Welt sich ihre stärksten Gefühle konzentrieren; sodann aber werden wir nach Art und Stil dieser Gefühle, schließlich nach ihrem Umfang zu fragen haben. Es ist eine der merkwürdigsten Lebensformen, und sie tritt in zahllosen Spielarten auf, die das eigene Ich mit Gefühlen von Wonne und Wehmut so stark umlagert, daß die ganze Welt ihr immer in Beziehung auf dieses Ich, diese Monade erscheinen muß. Diese Richtung der Phantasie nennen wir die egozentrische; sie mag sich erstrecken vom bloßen Gefühlsegoisten bis zur höchst persönlichen Eigennatur. Alles erscheint hier durch ein subjektives Medium gesehen. Diese Menschen sind voll von Empfindlichkeiten, aber auch von stillen Quellen der Freude, voll von Vorurteilen, aber auch von eigenen Ansichten, voll von eigener innerer Problematik, aber anderen meist überlegen, weil sie zu allem ein Analogon in sich finden. Kurz: problematische Naturen. Verbindet sich nun damit eine verklärende Kraft des Gedächtnisses, so entsteht der Romantiker, der alles nur im Nachhall wehmütig genießt: man könnte ihn auch den Heimatmenschen nennen, weil er sich von seinem seelischen Wurzelboden schwer löst und tief darunter leidet, daß er alles so überlebt. Hat er einen pessimistischen Hang, so klingt ihm überall eine Stimme entgegen: "Nur wo du nicht bist, da ist das Glück." Andere freilich mit stärkerer enthusiastischer Kraft berauschen sich an immer erneutem Selbstgenuß. Aber wer könnte diesen Typus ausschöpfen und all die Gefühlsbeleuchtungen schildern, in denen der egozentrische Mensch sich selbst zu sehen vermag, dieses furioso und eroico, dieses Sentimentale und Tränenvolle, dieses Heitere und Lebenskräftige in seinen zahllosen Graden und Mischungen? - Ganz anders nun der Mensch, der alle seine Gefühle auf die Natur bezieht. In ihm ist mehr Konstanz; aber seine Objektivität ist nur scheinbar. Denn die Natur selbst ist fühllos, ein Meer von Stoff, und sie gibt uns nur den Sinn zurück, den wir in sie hineintragen. Ist also der Mensch in sich selbst schwankend, so klingt ihm jetzt das Himmelhochjauchzend, dann das Zutodebetrübt aus ihrem Reich entgegen. Ist er ein Mensch von innerer Harmonie, von Gleichmaß der organischen Entwicklung, so wird ihm auch die Natur ein von ewigen Gesetzen durchwaltetes Spiel von Kräften, die sich die goldenen Eimer reichen. Was dieses Universum zusammenhält, ist keineswegs sein eigener Zusammenhang - denn wer hätte ihn ergründet? - es ist vielmehr der Effekt der inneren Gefühlssequenzen, in denen eine Einheit liegt, wie in den Sätzen einer Symphonie. Der Naturschwärmer also ist nicht, wie er sich selbst gelegentlich überreden will, ein theoretischer Typus, sondern ein Phantasiemensch, der die Farben seiner Innerlichkeit über diese stille Seite der Welt ausgießt und sie von ihr zurückstrahlen läßt. - Denn wer den dritten Weg geht, und seine Gefühle um das Leben der Menschen herumlagert, der muß auf manchen Wechsel gefaßt sein. Darin aber mag gerade das Auszeichnende seiner Lebensform liegen: der Gesellschaftsmensch (nicht der soziale, sondern der Salonmensch) findet den höchsten Reiz in dieser Bindung und Lösung mit anderen Menschen, die eigens dazu gekommen sind, sich ebenfalls in einer bestimmten Gefühlsbetonung zu zeigen. Wer gekommen ist, in der Geselligkeit Seele zu suchen, wird immer ungesättigt davon gehen; aber wer das Spiel der Gefühle mitspielend genießt, wird sich immer angeregt finden. Es gibt freilich auch eine tiefere Form der Phantasiebeschäftigng mit dem Menschen: dieses Wesen selbst, in seiner Vielgestaltigkeit, ist immer interessant, wo man es auch packt. Das Anschauen fremden Lebens - man rede sich nicht ein, daß es schon Liebe ist - gewährt den höchsten Genuß. So überschaut der romantisch gestimmte Historiker, der nicht bloß Wissenschaftler ist, den unübersehbaren Zug der Völker; so lebt man Lebensschicksale mit und gestaltet sie zu Biographien; so sitzt man vor der ganzen Bühne der Welt und berauscht sich am wogenden Bild der Gestalten, von dem wir auf diesen Blättern einen dürftigen Abglanz zu geben bestrebt sind. Es ist derselbe Trieb, der die Romanleser und die leidenschaftlichen Theaterbesucher erzeugt, sofern sie nur der Mode folgen. Sie sind genauso viel wert, wie die Romane und die Schauspiele, die sie lieben. Aus solchem Holz werden die Anempfinder geschnitzt, die gern bei jedem zu Gast sind, aber kein eigenes Haus führen. Sie sind ganz und gar Echo fremder Lebensformen geworden. Aber dieses Schauspiel hat eines Tages ein Ende, denn es ist nur theatrum in theatro, und es gehört zur inneren Dialektik der Phantasiemenschen, daß ihnen die schmerzliche Kollision mit der unverkleideten Realität, und käme sie noch so spät, nicht erspart bleibt. An dieser Stelle werden wir auch den Erotiker einzuordnen haben, von dem schon in einem früheren Zusammenhang die Rede war. Darin liegt seine eigentümliche Lebensform, daß er alle wertverleihenden Gefühle an den Gegenstand seiner Liebe anheftet: diese Konzentration des Phantasielebens vermag unter Umständen zu einer genialen Steigerung der geistigen Zeugungskraft führen. Denn nichts Großes ist ohne Liebe geboren. Oft aber ist es nur ein ewiger Wechsel der Stimmungen und Neigungen, der Flirt, das Ernstloseste der Welt. Diese drei Typen, die etwa durch die Worte Selbstgenuß, Naturgenuß und Menschengenuß angedeutet werden könnten, werden nun mannigfach variiert durch all die Nuancen, die innerhalb der Gefühlszone überhaupt liegen, zwischen Lust und Unlust, Freude und Schmerz, Spannung und Lösung, Erhebung und Enttäuschung. Auch diese Momente können habituelle Schattierungen der Lebensform begründen. Aber es soll hier nicht von ihnen die Rede sein, sondern überhaupt nur vom Grad des Gefühls und der dadurch bedingten Distanz des Phantasietypus von der (wie wir annehmen wollen: stabilen) Realität. Da ist zunächst der einfache Genießer, der den Dingen nicht mehr an Gefühlsgehalt abgewinnt, als in ihnen selbst sozusagen essentielle enthalten ist. Für Gaumen und Magen, für Auge und Ohr ist die Welt an unmittelbar Erfreulichem reich. Darin zu leben ist die Kunst der schlichten Genußnaturen, auch wenn sie nur Feiertags dazu kommen sollten, ihre Lebensform zu betätigen. Der sublimierte Genießer ist ihm nahe verwandt, nur daß er die Quellen des Genusses aufsucht und verdoppelt. Ganz anders der Träumer: er kostet real erlebte Genüsse oder erdachte Freuden immer wieder von Neuem durch, gleichsam ein Wiederkäuer auf seelischem Gebiet. Deshalb lebt er schon nicht mehr in der Realität, sondern in einer selbstgeschaffenen, selbstgesponnenen Welt, in die er ungern Eintritt gestattet, wie die Kinder unglücklich sind, wenn die Gefährten aus der Phantasierolle des Spiels fallen. Repitition, Reduplikation [Wiederholung, Wiederverdoppelung - wp] der Gefühle; alles scheidet aus, was zu dieser Gefühlswelt keine Beziehung hat; alles tritt hinein, was sie zu nähren fähig ist: das Abendrot, ein Volkslied, das erste Veilchen, Gedenken schöner Stunden, Luftschlösser der Zukunft, Freundesauge, Ruhm, das Glück im Winkel usw. Endlich der Schwärmer: er überfliegt die Wirklichkeit und ist mit einem Minimum realer Stützen seines Enthusiasmus zufrieden. Gegenden, Menschen, Zeiten, Werke idealisiert er mit einer glühenden Kraft, die aus dem Sturm und Drang seiner Seele quillt, und bald erhebt sich aus dem Flachland der Wirklichkeit ein Gebirge mit Riesenhäuptern und Gletschern und Frinen, von Abendsonnengluten umflossen. Aller Enthusiasmus freilich schlägt zeitweise notwendig in sein Gegenteil um: deshalb gehört zu Sturm und Drand das Werthertum, und beides endet gern in der (bisweilen affektierten) stoischen Resignation. (5) Das führt uns auf die Frage nach dem Umfang der Phantasiekraft. Manche Lebensformen werden nur periodisch von der Phantasie emporgehoben: Wir reden dann von Stimmungsmenschen. Andere haben ein bleibendes Temperament, das zum Teil auf physiologische Anlagen zurückgehen mag. Diese Typen sind der Psychologie von allen Lebensformen am frühesten aufgefallen. Aber bloße Temperamente, das muß hier gesagt werden, sind noch keine Lebensformen. Sie werden es erst dadurch, daß sie sich in einer spezifischen Form der Inhaltlichkeit des Lebens bemächtigen, daß also das Leben [rickert] durch das jeweilige Temperament gesehen wird. Dadurch kommen wir zu denen, die den goldenen oder fahlen Schimmer ihrer Phantasie über das ganze Leben und seine Inhalte ausbreiten: sie haben eine auf ihrer besonderen Gefühlsmischung ruhende Weltanschauung. Die Abstempelung in *Optimisten und *Pessimisten ist ebenso alt wie roh. Aber so viele Arten des Optimismus es auch geben mag, alle beruhen doch darauf, daß die lebensbejahenden Gefühle sich des Bildes der Wirklichkeit bemächtigen und ihm ein Relief geben, das das Heitere und Erfreuliche hervortreten läßt. Dahin gehören die Leberecht-Hühnchen-Naturen, ferner die Humoristen, Parodisten und - nach dem anderen Pol zuneigend - die Satiriker des Lebens. Die ästhetischen Enthusiasten wie SHAFTESBURY, die wohltuenden Theodicetiker, die aus einer reinen Seele in die Welt schauen, und die schlimmen Theodicetiker, die aus einem glücklichen Temperament eine Religion zu machen wagen, reihen sich an. Die Pessimisten umgekehrt bieten das eigenartige Bild eines wollüstigen Schmerzes. Denn auch ihr Pessimismus ist ihnen eine Quelle des Phantasiegenusses, und fast eine größere, da sie, am Kontrast des eigentlichen Lebenstriebes genährt, tiefer durch den Busen strömt. Manche leben in düsteren Bildern der Zukunft, die einen ständigen Schatten auf den Tag des Daseins werfen; wer aber weissagt ihnen ihre Zukunft als die antizipierende Phantasie? (6) b) Wollen wir nun auch den Zug der Künstler an uns vorübergleiten lassen, so müßten wir zunächst die genannten Typen wiederholen. Denn alle diese Erlebnisformen können auch Grundlagen ästhetischen Gestaltens werden. Ferner müßten wir sie analysieren nach demjenigen Sinnesorgan bzw. Medium, das für sie die nächste Beziehung zu ihrem Gefühlsleben hat. Beim Musiker ist es das Ohr, beim Maler das Auge; andere kleiden ihre Gesichte und ihre Erlebnisformen in das Gewand der Sprache; wieder andere, wie die Architekten, knüpfen an die technischen Mittel an, die besonderen Zwecken des Lebens dienen. Auch die Künstler lassen sich einteilen nach ihrer Distanz von der Wirklichkeit: der Realist grenzt nahe an die Auffassungsart der Wissenschaft; seine Psychologie z. B. dringt forschend ohne Verklärung in das menschliche Herz ein. Der Idealist gibt eine höhere Formung, deren Gesetze weniger dem rohen Ablauf der Realität entnommen sind, als der reinen Gesetzlichkeit, die aus dem Denken selber stammt und die daher eine höhere Katharsis [Reinigung - wp] der Gefühle bewirkt. Er verklärt aber auch, indem er Menschen und Dinge nicht nur zeigt, wie sie sind, sondern so, wie sie sein können oder gar sein sollen. Der Symbolist endlich geht von höchsten, dunkel geahnten Zusammenhängen aus, denen gegenüber die gegebene Wirklichkeit nur zum notgedrungenen Ausdrucksmittel wird. Und auch die Kunst hat ihren Umfang: der eine hebt den Stimmungsgehalt eines begrenzten Ausschnittes heraus: der Lyriker im weitesten Sinne. Der andere gestaltet die Bedeutung zusammenhängender Schicksale und Begebenheiten: sei es als Epiker oder Dramatiker, während ein letzter am begrenzten Kunstwerk eine ganze Weltanschauung lebendig werden läßt: der Weltanschauungskünstler. Selten aber verfügt ein Schaffender über alle Register zugleich; sondern seine Lebensform ist bestimmt durch den Grad von Totalität, den seine Phantasie erreicht hat. Je menschlicher und universaler er sich selbst gestimmt hat, umso mehr wird er auch den Bedeutungsgehalt des Einzelnen unter der Beleuchtung des Ganzen sehen. Doch wir müssen dieses uferlose Thema hier an den Pforten der Ästhetik bereits abbrechen. Zum Schluß noch ein Blick auf den phantasielosen Menschen! Wir kennen schon Lebensformen, die aufgrund ihrer inneren Struktur der Phantasie feind sein müssen: der strenge Theoretiker, der ökonomische Realist haben für ein subjektiv auf Gefühle bezogenes Spiel der Seelenkräfte keinen Raum in sich. Pedant kann man sein aus sehr ernsten Motiven und um höherer Ziele willen; daß es aber auch Feinde der Kunst geben kann, die innerlich der Kunst sehr nahe stehen, das müßte allein PLATOs Beispiel beweisen. Und zwar zeigt sich hier nun wieder der alte Zusammenhang: die höchste Anforderung an die Kunst führt zur Verwerfung aller niederen Kunst. PLATO hat eine grandiose Phantasie. Aber er will sie nur wirken lassen, um das Höchste, Letzte und Ganze der Lebensbedeutung in ihr zum Ausdruck zu bringen. Die Sehnsucht der Seele nach dem Wahren und dem Guten, die für ihn beide Male in der letzten metaphysischen Wesenhaftigkeit zusammenfallen, findet bei PLATO ihre Sprache in den unvergleichlichen Mythen und Bildern, die das Bewußtsein der Menschen für Jahrhunderte beherrscht haben. Nur diesen höchsten Beziehungspunkt aller Bedeutungsgefühle soll die Phantasie zu ihrem Ziel machen. Deshalb verbannt er die Dichter, wie später ähnlich ROUSSEAU gegen VOLTAIREs Plan geeifert hat, in Genf ein Theater zu errichten, und wie TOLSTOI, der große Künstler, selbst im reinsten künstlerischen Ausdruck der Leidenschaften Gefahren sah, weil Leidenschaften in jeder Form den Menschen auf sein Ego zurückwerfen. Aber schon dieser Name zeigt, daß auch PLATO nicht hierhergehört: Denn was sie mit ihrer mächtigen Phantasie erstrebten, ist zuletzt religiös, und muß aus einer anderen Struktur begriffen werden, der wir uns nunmehr zuwenden. A. Wenn ich das Resultat inneren Erlebens und Denkens hier niederlege, so erwarte man nicht, daß ich alle Motive und Zusammenhänge entwickeln könnte. Nur die Frage, was wir denn meinen, wenn wir eine Gruppe höchst verschiedenartiger Erscheinungen "religiös" nennen, fordert hier eine kurze und allgemeinste Antwort. Die Fülle der Definitionen von Religion wird vielleicht durch eine weitere vermehrt, die nur dies zu ihrer Rechtfertigung anführen kann, daß sie sich einer zusammenhängenden Reflexion über die Seiten des geistigen Lebens eingliedert. Wir verfuhren allgemein nach der Methode, von der objektiven Gestalt der einzelnen Geistesgebiet zurückzugehen auf ihr beherrschendes Strukturprinzip. Nun liegt es in der teleologischen Art aller geisteswissenschaftlichen Begriffsbildung, daß wir allenthalben von der höchsten Ausprägung ausgehen, die wir kennen. Es liegt also unvermeidlich ein Bekenntnis dahinter. Das ist kein Mangel, sondern eine Kraft: geistiges Leben wird eben nur durch geistiges Leben selbst erfaßt. Wenn nun die höchste Form der Religion, die wir kennen, Erlösungsreligion ist, so liegt es nahe, das Moment der Erlösung auch schon für unentwickeltere und mit Heterogenem verlagerte Stufen als das eigentlich Treibende anzusehen. Was bedeutet aber Erlösung? Der Name bedeutet zunächst etwas das Gefühlsleben Betreffendes an. Erlösung ist restlose befriedigung der tiefsten Lebenssehnsucht, die im Glücksstreben nur ihre partiellen und niederen Vorstufen hat. Diese innere Bewußtseinsverfassung entwickelt sich selbstverständlich an der gegebenen Welt, an ihren Inhaltlichkeiten. Aber wie sie nicht aus ihr entstanden sein kann, so wird sie auch durch den gegebenen, erfahrenen und erkannten Zusammenhang nicht befriedigt. Deshalb wächst aus diesem totalen Lebensbewußtsein ein neuer Zusammenhang hervor. Dieser höhere Zusammenhang, der in jener Organisation des Lebensbewußtseins seine subjektive Wurzel hat, ist rein geistiger Art. Alles, was der Erfahrungswelt angehört, dient ihr nur als Symbol, um diesen geistigen übergreifenden Zusammenhang auszudrücken. Und die Ordnung, in die alles gestellt wird, ist nicht mehr die empirische Ordnung, sondern wie schon die Kunst neue Beziehungspunkte hat, so erst recht die Religion. Die Kunst begnügt sich mit der Erhebung in der Phantasie; man kehrt aus ihr in die Wirklichkeit des Hier und Jetzt zurück. Der Religion ist eigen das Hinausstreben über Raum und Zeit, die von ihr gleichsam nur als Formen erscheinen, an digion ist eigen das Hinausstreben über Raum und Zeit, die von ihr gleichsam nur als Formen erscheinen, an denen der Geist wächst. Sie gründet eine neue höhere Ordnung der Dinge, deren Wirkung erfahren wird eben am Geistigen unseres Lebens: an der restlosen Einfügung aller Qualen und allen Sehnens in den Frieden der Erlösung, das Einssein des Geistes. Das so entstehende Bewußtsein ist keine Erkenntnis und auch keine bloße Phantasiebeziehung: es fühlt sich keiner Realität im theoretischen Sinne gegenüber, sondern einer Objektivität, deren subjektive Garantie allein in der gewirkten Kraft und Ruhe der ganzen Seele liegt. Dreierlei also ist der Religion wesentlich: entstanden an der räumlich-zeitlichen Wirklichkeit, aber diese Wirklichkeit überwunden in dem Bewußtsein eines höheren Zusammenhanges, dessen Wirkung erlebt wird in der Form restloser Aussöhnung des Gemütes mit der Totalität der inneren Schicksale und des Weltlaufes. Deshalb kann die Religion drei Ausgangspunkte setzen: den empirischen Zusammenhang (die Motive der Religion), den höheren Zusammenhang (Gegenstand der Religion, als Gott, Götter, Jenseits, Geist schlechthin), und die Seligkeit (das Haben der Religion). Die geschichtliche Entwicklung ist, roh gesagt, den Weg von außen nach innen gegangen. Das eigentliche Innere aber schließt sich natürlich nur dem auf, der sich selbst in das Innere stellt: Wer den Frieden Gottes hat, der vermag von da aus auch die Bänder zu bestimmen, die diesen Frieden beziehen einerseits auf die Welt (empirischen Zusammenhang), andererseits auf Gott (höheren Zusammenhang). Nur aus dem frommen Bewußtsein selbst heraus, das haben SCHLEIERMACHER und RITSCHL erkannt, lassen sich die Bezüge der Religion entwickeln. Man kann sie nicht demonstrieren, man kann auch nicht jemanden hineinführen, der nicht durch die religiöse Affiziertheit seines Inneren schon irgendwie drinstände. So wenig, wie der ästhetische Eindruck von inneren Voraussetzungen unabhängig ist, so wenig läßt sich Religion definieren ohne Religion. Diese spezifische Beschaffenheit des Lebensbewußtseins aber vorausgesetzt, können wir nun sagen:
B. Es folgt aus der doppelten Beziehung der Religiosität zum gegebenen Zusammenhang und zu einem höheren Zusammenhang, daß sie zu allen anderen Lebensgebieten positive Beziehungen haben kann, daß ihr diese aber niemals etwas Letztes bedeuten. Vielmehr empfängt das Wort vom "Haben als hätten wir nicht" hier seinen Sinn und seine Erfüllung. Die kräftigste Religion, isoliert betrachtet, d. h. sofern man ausschließlich auf den religiösen Trieb achtet, wird die sein, die sich am freiesten und höchsten über den Zwang des Gegebenen und seiner Formung in den Kultursystemen erhebt. Betrachten wir zunächst diesen Typus, so findet er sich unverkennbar nach allen Seiten realisiert im Christentum, das wir hier als einen großen Religions kreis, nicht aber als eine inhaltlich identische Lehre ansehen. Der Fromme verhält sich dann ablehnend gegen das Wissen und Erkennen, zumal das auf Raum und Zeit bezogene, weil es niederen Ursprungs ist und unzulängliche Mittel anwendet: das Glauben steht über dem Wissen. SOKRATES, NIKOLAUS von KUES, JACOBI, KANT sind für die Theologie von Bedeutung geworden, weil sie aus kritischen Gründen die Leistungen des Wissens einschränken. Der Dogmatismus ist aber auch moralisch bedenklich: Wissen macht hochmütig, Glaube ist demütig und läßt uns Gott schauen, was die Wissenschaft niemals vermag. Der Fromme löst ferner sein Herz von den Gütern dieser Welt, er sammelt sich nicht Schätze auf Erden; die Armut macht ihn frei von irdischen Gelüsten; denn wo unser Schatz ist, das ist auch unser Herz. Er findet Gott in der Einsamkeit, d. h. durch Übungen der Seele, Abtötung des Leibes und einen ganz persönlichen Wechselverkehr mit Gott, wie ihn die Mystiker in den Stunden der Ekstase erleben. Alle irdische Macht ist ihm gleichgültig; "Mein Reich ist nicht von dieser Welt"; und endlich verbannt er die Kunst, weil sie Bilder und Gleichnisse gibt, die jenem höchsten Wesen nicht angemessen sind, sondern die Seele herabziehen zumal in ihren spielenden Formen: wie Tanz und Theater. Aber auch die Bildlichkeit ist eine Entstellung der geistigen Reinheit. Wohl niemals ist dieser extremste Typuns in allen seinen Beziehungen zugleich verwirklicht worden; hat doch Christus selbst mindestens das Evangelium der Liebe in seine Religiosität mit aufgenommen und so eine Brücke geschlagen, die das Hier und Dort mit einem mächtigen Bogen verbindet. Aber die Tendenz zu dieser großartigen Einseitigkeit zeigen alle Eremiten, und am deutlichsten die, die durch die Negation der Kultur hindurch gegangen sind und in denen das "Nein" der Welt gegenüber noch mit einem schmerzlichen Klang nachzittert: AUGUSTINUS, ZINZENDORF, TOLSTOI. Wenden wir uns nun zu dem anderen extremen Typus, der die Beziehungen zur Welt in die Religiosität mit aufnimmt, so ist von vornherein klar, daß all diese Bezüge eine Umwertung erfahren müssen eben deshalb, weil sie jetzt dem religiösen Gesichtspunkt unterstellt werden. Dann führt die Erkenntnis zu Gott hin: aber sie ist nicht mehr bloßes Welterkennen, sondern ragt mit ihrem Gipfel in höhere Zusammenhänge hinein: so und nicht anders entsteht alle Metaphysik, als Mischung religiösen und theoretischen Verhaltens, wie KANT sie getadelt hat. PLATO, ARISTOTELES, die Scholastik, der Deismus, HEGEL sind Ausprägungen dieser großen Geistesart. Die Wirtschaft und die Arbeit werden dann als ein Stück Gottesdienst, als gottgewollte Ordnungen aufgefaßt; aber wie die Erkenntnis umgebildet wurde, so ist dann auch das wirtschaftliche Leben nicht mehr letzter Zweck, sondern nur ein Gebietsstreifen im Reiche Gottes. Zumal unter den sozialen Gedanken der Liebe gestellt, vereinigt sie sich mit diesem Lebenskreis zu einem Verhalten, das in zahlreichen religiös-sozialen Programmen zum Ausdruck gekommen ist. Und doch ist die Liebe zum Nächsten nur das zweite; das erste ist die Liebe zu Gott. Und wo diese Liebe das ganze Dasein beherrscht, da hat sie auch die Tendenz, zu einer irdischen Macht zu werden: es bleibt nicht bei der Gemeinschaft in der Liebe, sondern es entsteht eine Organisation mit Weltansprüchen: der Kirchengedanke erwächst. Nur selten ist die Kirche rein religiös, eine geistige und geistliche Weltherrschaft. Je mehr das religiöse Moment zurücktritt, umso mehr nähert sie sich dem Typus politischer Organisation. SCHLEIERMACHERs "unsichtbare Kirche" dagegen ist in Wahrheit nur eine religiöse Gemeinschaft, eine Verbindung der Religion mit dem dritten, statt mit dem vierten Typus. Auch Phantasie und Kunst werden von der Religion als Mittel der Stimmung und Erhebung aufgenommen: Musik, Malerei, Tempelbau lösen die Seele von der stofflichen Realität und führen sie stufenweise empor zu reineren Höhen. Aber die Kunst ist wiederum kein letztes, sondern ein Mittel. Auch dieser zweite Typus ist extrem und eine ideale Konstruktion. Lassen wir nun beide sich gegenseitig durchdringen, den einen bald dies aufnehmen, bald jenes ablehnen, so erhalten wir in abstrakter Form die mannigfache Struktur, deren das religiöse Leben fähig ist, und die geschichtlich vielfältige, noch heute nebeneinander bestehende Ausprägungen gefunden hat. Die religiösen Lebensformen sind zahllos, wie sich eine Lichtquelle in Millionen Strahlen bricht. An dieser Stelle aber weiterzugehen, liegt nicht mehr in unserer Betrachtung. C. Vielmehr müssen wir nun noch andere Gesichtspunkte heranziehen, die in diese komplizierten Typen weitere Schattierungen hineinbringen. Auch in der Religion sind die schöpferischen Naturen nur Steigerungen von Anlagen und Erlebnisformen, die sich in jedem religiösen Gemüt finden. Die Gottsucher, die eigene Wege gehen, sind immer Kampfnaturen von innerer Mächtigkeit: was sie im inneren Ringen finden, soll auch andern zuteil werden. Aber diese anderen erhalten daran nicht teil, wenn nicht auch in ihnen ein (freilich schwächeres) Ringen und eine metanoia [innere Umkehr - wp] vor sich geht. Diese Variation fällt nicht zusammen mit dem Gegensatz zwischen religiösem Machtgefühl und religiösem Abhängigkeitsbewußtsein. Vier Größen bestimmen nach dieser Richtung hin die besondere Schattierung der Religiosität: das Maß der Weltverneinung, von Weltbejahung, von Gottferne und Gottnähe des Menschen. In jeder Religion steckt etwas von jeder dieser Erlebnisformen. Die Religiosität des eigentlichen Kulturmenschen zeichnet sich aus durch ein Maximum an Weltbejahung verbunden mit einem Maximum an Gottnähe: daß Gott sich offenbart in der Welt und daß Göttliches in uns selbst ist, das ist das völlige Widerspiel jenes Typus, der die Welt völlig entwertet und zugleich den Menschen durch den Abgrund des Sündenbewußtseins von Gott getrennt hält. Statt Gott aber sollten wir überall allgemeiner sagen: der höhere Zusammenhang, unter welchen besonderen Symbolen man sich ihn auch denkt. Keine religiöse Lebensform kann den Zusammenhang der gegebenen Welt ganz mißachten. Aber von charakteristischer Bedeutung ist es nun, an welche ihrer Inhalte sich das stärkste religiöse Verhalten anheftet. Für den einen ist es die Natur, für den andern das Menschenleben, für den dritten die Innerlichkeit des Ich. MAX MÜLLER hat danach alle Religionen überhaupt eingeteilt in Naturreligion, anthropologische Religion und psychologische Religion. Alle drei enthalten ein Moment an Mystik, insofern alle - als Religion - das Gegebene unter der Beleuchtung eines höheren Sinnes sehen müssen. Aber von Mystik im engeren Sinn reden wir da, wo die Religion rein im Innern entspringt und bei der Innerlichkeit bleibt; von hier aus ergießt sie dann gleichsam abgeleitete Strahlen über alle anderen Zusammenhänge. Einen weiteren Unterschied bedingt es, ob sich die Religiosität wesentlich nach dem Schema des Erkennens oder des Fühlens oder im Handeln vollzieht. Das bedeutet natürlich nicht, daß etwa Erkennen und Religion identisch sein könnten. Sondern das Erkennen liefert dann die wichtigsten Ausdrucksformen und gleichsam die Methode des religiösen Verhaltens, während ein anderer im Gefühl die höchste religiöse Erregung erfährt, ein dritter das Erlebnis sogleich in Willensimpulse und spezifische Richtungen des Handelns umsetzt. Man wird die alte Gliederung in Theisten, Pantheisten [Gott existiert in allen Dingen - wp] und Panentheisten [die Welt ist in Gott eingeschlossen - wp] vermissen. Aber für eine Theorie der Lebensformen sind diese Bildungen offenbar nicht primär. Sie müssen zurückgeführt werden auf die innere Struktur der Erlebnisweisen. Die Weltanschauung selbst ist nur Produkt, und zwar, wie auch die Geschichte lehrt, das Produkt der religiösen Erlebnisform mit Kategorien des Welterkennens. Deshalb gehören diese Typen in die Metaphysik als eine Mischung von Erkenntnis und Religion. Sie sind vorwiegend Abwandlungen des Kausalitätsgedankens; sodann aber ist für sie bestimmend das früher berührte Distanzverhältnis von Welterleben und Gotterlebnis. Für den Theisten ist die Kluft breiter als für den Pantheisten, der Gott in der Welt selbst findet und trotz der Erhebung über das unmittelbare Weltgeschehen doch ein starkes Immanenzbewußtsein behält. Der Panentheist steht zwischen beiden, insofern er die Welt als eine Vermischung von Göttlichem und Ungöttlichem auffaßt. Die Übergänge zwischen diesen drei Typen aber sind, wie jeder weiß, durchaus fließend, und darin liegt ein neues Symptom, daß diese dem Erkennen entnommenen Bilder der inneren religiösen Verfassung niemals ganz adäquat sind. Wird doch z. B. der Pantheist niemals dahin gelangen, das Weltgeschehen in seiner rohen tatsächlichen Verflechtung oder selbst in seiner theoretischen Umkehrung unmittelbar mit Gott gleichzusetzen. Einen letzten Unterschied der religiösen Lebensformen nehmen wir vom Umfang des religiösen Bewußtseins her. Es gibt Naturen, die nur sporadisch von religiösen Eindrücken erfaßt werden, dann aber sehr stark, bisweilen in Form von katastrophischen Bekehrungsvorgängen. Bei andern begleitet Frömmigkeit in sanfter Kontinuität das ganze Dasein, wie etwa der Pietist alles, auch das Kleinste, in Welt und Seele unter den Gesichtspunkt höherer Zusammenhänge stellt. Und wieder andere sind nur Religion, so daß sie den Weg zum zeitlichen Leben kaum zurückfinden, sondern schon hier in der Ewigkeit leben und alles Irdische fern, unendlich klein unter sich sehen. Aber selbst die tiefsten Mystiker behaupten doch, daß ihnen diese völlige Entäußerung und Einswerdung mit Gott nur selten gelingt; es läßt sich eben der irdische Faktor des Religiösen nicht gänzlich eliminieren. Die Formen der Religiosität, zumal wenn man ihre Entwicklungsstufen hinzunimmt, sind so unendlich vielfältig, daß oft ihr Ursprung aus einer einheitlichen Struktur kaum noch erkennbar ist. Soll aber das Religiöse überhaupt ein spezifisches geistiges Phänomen sein, so muß sich durch diese Fülle der Formen ein einheitliches Band hindurchschlingen. Wir haben gesehen, daß dieses Einheitliche weder in einem Weltbewußtsein noch in einem Gottesbewußtsein liegt: denn die Auffassungen von Welt und Gott sind variabel. Es bleibt aber als einheitlicher Beziehungspunkt allen religiösen Lebens die innere Beseligung, die Kraft und Ruhe, die für den primitiven Menschen von seinem Totem ausströmt, wie der Naturanbeter sich mit den anthropomorph gedeuteten Kräften der Natur in eine innere Übereinstimmung zu setzen strebt und der religiös gestimmte Philosoph in einem rein geistigen Zusammenhang die letzte Stütze seines inneren Lebens findet. Hinter all diesen Formen verbirgt sich die Rückkehr in die rein geistige Kraft, die über alle Bildlichkeit und Stofflichkeit hinaus ein neues Reich von eigener Art konstituiert. Der irreligiöse Mensch wäre nun der, in dem dieses Streben nach innerer Aussöhnung mit dem Weltlauf kein beherrschendes Moment bedeutet. Die Strenge der positiven Forschung, die Realistik des praktischen Handelns mag ganz an die Stelle dieser Erlösungssehnsucht treten. Aber auch den merkwürdigen Fall finden wir, daß jemand irreligiös ist aus Religion. Der Gegensatz gegen eine herrschende und überlieferte Form der Religion wird von manchen so stark empfunden, daß sie mit der gegebenen Religion jede Religiosität überhaupt aus sich ausgerottet zu haben meinen, wie man ja früher den Pantheisten schon als Atheisten und den Atheisten wiederum als religionslos brandmarkte. In solchen Fällen wird die Analyse sich gerade darauf richten müssen, ob nicht doch die eigentlich religiöse Struktur im geistigen Verhalten solcher Menschen wirksam ist. GUYAU spricht von der Irreligion der Zukunft, NIETZSCHE, der als Immoralist eine neue Moral verkündete, nennt sich selbst irreligiös. Die Frage ist, ob die Irreligiosität bei ihnen nicht ebenso aus einer religiösen Wurzel entspringt, wie schließlich die Monisten nur eine andere religiöse Sprache sprechen als ihre Umgebung. Von unseren Gesichtspunkten aus gesehen, sind bei GUYAU wie bei NIETZSCHE alle Bedingungen der Religiosität erfüllt: ein Erleben der Welt, über das sich ein neues, von einem inneren Kraftgefühl getragenes Bewußtsein schöpferisch emporhebt - das sind schließlich dieselben Züge, die auch die alte Religion geboren haben. Wer überhaupt die große Sehnsucht fühlt, den nach Befriedigung hungernden Grundtrieb des Lebens, wer überhaupt den Stachel der Vergänglichkeit jemals in sich fühlte, in dem ist Religiosität lebendig. Und es ist nur ein Zeichen der hohen Echtheit und Kraft des Triebes, wenn ihm alle überlieferte Religion nicht zu genügen vermag. Der Sprachgebrauch, der dann von Irreligion redet, darf uns nicht täuschen: es liegt auch in der Lebensform des Irreligiösen ein Funke von Religion, ja bisweilen ein ganzes Flammenmeer.
2) Dieser Begriff der Phantasie unterscheidet sich also von dem Elementarpsychologie grundlegend dadurch, daß er die Lebensinhalte und Lebenswerte komplexer Art bereits voraussetzt. 3) Daß es auch eine "wissenschaftliche Phantasie" gibt, ist dadurch nicht ausgeschlossen. Nur ist sie von der hier gemeinten durch ihre Struktur tief verschieden. Vgl. meinen Aufsatz "Phantasie und Weltanschauung", Sammelband Weltanschauung, Hg. MAX FRISCHEISEN-KÖHLER, Berlin 1911. 4) in einem künstlerischen Sinne. 5) Vgl. meinen Aufsatz: "Zur ästhetischen Weltanschauung", Monatsschrift "Deutschland", 1905 6) Feine Analysen über diese Bedeutung der Phantasie finden sich schon in SHAFTESBURYs "Soliloquy". |