cr-1ra-2FichteT. G. MasarykA. StorchMüller-Lyer  
 
HANS CORNELIUS
Die Würde des Menschen
ist unantastbar!


"Willst Du ein Sklave bleiben, so rede ich nicht mit Dir. Nicht vergeuden will ich meine Worte; nicht durch Reden mit Unwürdigen mich entwürdigen."

"In Deiner Vernunft bist Du heute derselbe, der Du gestern warst; nur in Deinem vernünftigen Denken also bist Du Du selbst. Deine Vernunft und Du: das sind nicht  zwei  Wesen, sondern  Eines." 

1.

Ist wohl Einer unter Euch, der sie nie empfunden hätte in seinem Herzen, die große Sehnsucht? - oder laßt mich lieber fragen, ist Einer unter Euch, der sie nicht Tag für Tag und Stunde um Stunde mit sich trüge: die Sehnsucht nach einem Höheren, Beseligenden, nach einem Wert, der jenseits all des Lärms und Jammers Eures Alltags liegt, der Euch über all diese Erbärmlichkeit hinausheben, Euch dieses Leben erst lebenswert und menschenwürdig machen soll?

Ich weiß es, Ihr alle kennt sie, die große Sehnsucht; Ihr habt sie empfunden und Ihr empfindet sie noch. Aber die Meisten haben daneben eine große Scham in sich, von dieser Sehnsucht zu reden und sie einzugestehen; nicht nur, sie anderen einzugestehen, sondern sogar sich selbst: weil sie vielleicht einmal von anderen über diese Sehnsucht haben spotten hören, darum glauben sie, daß sie wirklich etwas sei, was Spott verdiene. Denn das ist Menschenart, den Spott anderer mehr zu achten, als den Richter in der eigenen Brust; weil sie ja von Kind auf mit Schlägen dazu gewöhnt werden, nur auf fremdes Urteil zu horchen und das Gebot des eigenen Herzens zu mißachten.

Darum, wenn die große Sehnsucht sich regen will in ihren Herzen, wenden sie scheu den Blick von ihr ab; und weil sie fürchten, ihr Schatten könnte wieder aufsteigen, sobald ihnen der Geist nicht vom Lärm der Tretmühle ihres Alltags übertäubt ist, meiden sie ängstlich alle Einsamkeit und alle Stille und Ruhe der Seele. Ersticken und betäuben möchten sie die heilige Stimme in ihren Herzen; und um sie zu betäuben, stürzen sie sich in den Taumel der leeren Torheiten, die sie ihre Vergnügungen nennen. Die Lichtspiele, die Tanzsäle, die Weinstuben - und noch andere Orte -: de sind ihnen Zufluchtstätten vor der inneren Stimme, auf die sie nicht hören wollen; - nicht hören wollen aus falscher Scham.

Aber ich will Euch aufwecken aus Eurer Betäubung! Hören sollt Ihr sie mir wieder und auf sie lauschen, auf die heilige Stimme in Euren Herzen. Verlernen sollt Ihr, Euch zu schämen, weil die Toren Euch verspotten; lernen sollt Ihr mir, nicht mehr den Spott der Toren zu meiden aus falscher Scham, sondern Euren Ruhm darin zu suchen, wenn die Toren Spott über Euch ausgießen. Nicht mehr die heilige Frage zu meiden in Euren Herzen, sondern sie zu suchen, und ihr zu folgen, der großen Sehnsucht: das sollt Ihr mir wieder lernen.

Aber vielleicht ist eine andere Scham in Eurer Seele; und wohl berechtigt wäre sie - wenn sie nämlich die Scham ist darüber, daß Ihr Euch das Ziel Eurer Sehnsucht durch fremde Meinung habt bestimmen lassen: daß Ihr  glaubtet,  wo Ihr  wissen  solltet.

Denn nicht würdig ist es des Menschen, daß er sich von anderen das Gesetz seiner Sehnsucht vorschreiben lasse. Scham über solche Würdelosigkeit, die sollt Ihr mir nicht verlernen! aber die Würdelosigkeit sollt Ihr verlernen. Nicht glauben sollt Ihr, was andere Euch vorsagen; sondern aus Eurem eigenen Denken und Erkennen sollt Ihr auf Eures Lebens Frage die Antwort finden. Und auch mir sollt Ihr nicht glauben, indem Ihr nur auf die Worte hört, die aus meinem Mund an Euer Ohr dringen; sondern mitdenken sollt Ihr und prüfen und aus Eurem eigenen Erkennen urteilen. Denn Ihr seid ja nicht unmündige Kinder, sondern Ihr wißt zu unterscheiden, zwischen dem, was Euch frommt zu tun und zu reden, und dem, was zu tun und zu reden sinnlos und töricht ist.

Da Ihr aber zu unterscheiden wißt: so ziemt es Euch nicht, zu reden wie die Kinder oder wie geschwätzige Weiber, die nur reden, wie sie der Zufall treibt, ohne Ziel und Sinn. Sondern wie Verständige sollt Ihr reden. Darum darf nicht der Zufall und nicht fremde Meinung Euch bestimmen, wohin Ihr Euer Trachten lenken sollt; sondern Euer eigenes Urteil muß Euch zeigen, ws zu tun und zu reden Wert hat. Wenn Ihr aber Euch diese Frage stellt: findet Ihr wohl etwas, was Euch dringender am Herzen liegen müßte, als die Frage nach der großen Sehnsucht Ziel - als die Frage nach Eures Lebens Wert?

Oder hätte es Wert, über anderes davor zu reden, ehe wir wissen, was unseres Lebens letzter Sinn und Wert ist? Sind wir würdig, Menschen zu heißen, wenn wir unser Leben dahinrinnen lassen, ohne nach seinem Sinn und Wert zu fragen? Wie können wir Ruhe finden, daß wir bei anderen Fragen uns aufhielten, so lange wir keine Antwort haben auf diese Frage, die unsere Lebensfrage ist? - solange wir noch im Zweifel sind, ob unser Dasein überhaupt Sinn und Wert hat, und wie es ihn etwa gewinnen mag, wenn es ihn noch nicht hätte - oder ob es auf immer als ein Gleichgültiges ohne Sinn und Wert dahinrollen muß, wie die Welle am Strand über die Felsen hinauf und zurückrollt?

Kindisch wären wir ja und unverbesserliche Toren, wenn wir uns zu anderen Fragen oder wohl gar zu Spiel und Zeitvertreib die Ruhe nehmen wollten, ehe wir diese erschütterndste aller Fragen uns überlegt hätten. Oder meint Ihr wohl, Ihr könntet an ihr vorübergehen in einem großen Bogen, wie an einem Hornissennest oder an einer giftigen Schlange? An mir freilich könnt Ihr vorrübergehen, der ich Euch unbequem bin mit meiner Frage; der Frage aber werdet Ihr nicht mehr entgehen, da sie einmal den Weg gefunden hat zu Eurem Herzen. Vor meiner Stimme mögt Ihr Euer Ohr verschließen; aber nicht verschließen könnt Ihr es vor der inneren Stimme, die Euch immer von nun an die Frage wiederholen wird, mag es Euch lieb sein oder leid! Wer in die Sonne gesehen hat, der wird ihr Bild nicht los, wohin er sich auch wendet. So werdet Ihr dieser Frage nicht entrinnen, wohin Ihr Euch auch wenden mögt. Denn Eures Lebens Frage ist sie.

Wie ein Kind den Sand durch die Finger gleiten läßt und ihn verstreut: so habt Ihr sinnlos Eure Tage und Jahre zerrinnen lassen, ehe Ihr diese Frage Euch gestellt habt.

So laßt uns denn zusammen erwägen, wie wir sie bewältigen. Suchen wollen wir miteinander und eifrig graben, wir rechte Schatzgräber, ob wir den Platz finden, wo der Wert unseres Lebens verborgen liegt: Ob wir das Ziel finden für unsere große Sehnsucht.


2.

Wo aber sollen wir suchen? Sollen wir wohl in unserem Leben selber suchen oder jensseits desselben? Dürfen wir hoffen, ihn auf der Erde zu finden, den wahren Wert unseres Lebens und mit ihm das wahrhaft menschenwürdige Dasein - oder müssen wir unsere Blicke dorthin richten, wohin noch kein Auge geschaut hat?

Auf ein menschenwürdigeres Leben ist sie gerichtet, unsere Sehnsucht. Aber worin besteht denn unsere Würde als Menschen, auf die dieses Hoffen sich aufbaut? um derentwillen wir ein besseres, ein höheres Dasein uns ersehen dürfen?

Das laßt uns doch erst erwägen! Denn wenn es sich etwa fände, daß sie uns mangelte, diese Menschenwürde, - daß wir also unwürdig wären und es somit an uns läge, wenn das menschenwürdige Dasein uns nicht zuteil wird: so müßten wir doch erst den Weg suchen, würdig zu werden, damit unsere Sehnsucht nicht zu Schanden würde.

Dies also müssen wir zuerst fragen: welche Würde meinen wir, wo wir von unserer Menschenwürde sprechen? Eine Würde muß es doch wohl sein, durch die wir uns als Menschen vor anderen, minder würdigen Wesen auszeichnen. Laßt uns zusehen, wo wir eine solche Würde finden.

Leicht ist es ja, Unterschiede anzugeben, durch die wir über andere Wesen erhoben sind. Wir haben die Fähigkeit der Sprache und des Verstehens der Sprache; wir haben die Fähigkeit, mit Hilfe der Begriffe die Erscheinungen der Natur unter Gesetze zu fassen; wir vermögen vorauszuberechnen, was die Folgen unseres Handelns sein werden, soweit nicht unerwartete Ereignisse die Berechnung stören; - und wie weit reicht nicht unsere Fähigkeit, durch unserer Hände Werk unter der Leitung unseres Verstandes neue Gestaltungen zu schaffen! Alle diese Fähigkeiten bedingen einen Vorrang des Menschen vor anderen Wesen, die dieser Fähigkeit ermangeln.

Aber sollen wir diesen Vorrang unsere Menschenwürde nennen? oder wäre es nicht denkbar, daß wir von all diesen Gaben unwürdigen Gebrauch machten? dann dürften wir doch nicht von uns sagen, daß wir durch sie das Tier an Würde übertreffen; sondern vielmehr, daß wir uns unserer Vorzüge unwürdig erweisen, das würde man mit Recht von uns urteilen. So macht also nicht die höhere Fähigkeit des Menschen Würde aus; sondern erst in ihrer Anwendung erweist er sich als würdig oder unwürdig.

Was aber haben wir im Auge, wo wir vom würdigen oder unwürdigen Gebrauch unserer Kräfte reden? Unwürdig ist es gewiß, wenn wir die Gabe der Rede zu nichtigem Geschwätz gebrauchen, statt zu verständiger Mitteilung; auch nicht eben würdig ist es, wenn wir uns vom Zufall leiten lassen in unseren Reden, statt durch eigene vernünftige Überlegung den Gegenstand zu bestimmen, der wert erscheint, daß wir unsere Rede an ihn wenden. Unwürdig aber wäre es abermals, wenn wir einen solchen Gegenstand gefunden hätten und uns dann dennoch verleiten ließen, von minderwertigen Gegenständen statt seiner zu reden. Nur das zu tun also, was wir als wertvoll erkennen: das allein scheint uns würdig.

Nach den Zielen zu streben, die wir als wertvoll erkannt haben und durch solche Erkenntnis allein unser Handeln zu bestimmen, alles minderwertige Handeln aber zu meiden: das ist es, wodurch wir uns erst der Fähigkeiten als würdig erweisen, die uns als Menschen vor anderen Wesen auszeichnen. Hier also liegt unsere Menschenwürde.

Eine erste Hoffnung blinkt uns hier entgegen, daß wir unser Ziel nicht verfehlen werden: denn wie wir seiner würdig werden mögen, das wenigstens hat sich uns jetzt gezeigt. Könnten wir aber nicht würdig werden, so bliebe unser Sehnen vergeblich! ewig wertlos bliebe unser Leben, wenn wir nicht zu handeln vermöchten nach unserer Erkenntnis der Werte und nicht dem Wertlosen zu entrinnen imstande wären.

Nur so weit wir nach unserer Einsicht zu handeln vermögen, hat unser Leben Wert! Keinen Wert besäße es, wenn wir es müßten hinfließen lassen, nicht so, wie wir es wollten, sondern wie eine fremde Macht es wollte: wenn wir in allem gezwungen wären zu tun, wie es uns nicht gefiele und niemals zu handeln vermöchten, wie es uns wertvoll dünkte und uns keine leiseste Hoffnung bliebe, jemals unser Leben nach unserer Überzeugung zu gestalten. Wir wären ja dann nicht besser, als willenlose Maschinen. Unser Dasein wäre nicht das Dasein von Menschen, sondern von leblosen Dingen: - kein menschenwürdiges Dasein als wäre es! Ja, wir wären noch weit schlimmer dran, als die Maschine: denn sie arbeitet doch nur willenlos - wir aber wären gezwungen, ewig gegen unseren Willen zu handeln.

Daß wir also irgend unser Tun und Lassen so einrichten können, wie wir es für wertvoll halten: das ist die erste Bedingung dafür, daß unser Leben uns nicht völlig wertlos sei.

Darauf wollen wir achten, daß wir nicht etwa gefunden haben, unser Leben hätte nur Wert, wenn wir immer und in allem nach unserem Wollen zu handeln vermöchten; sondern wir haben nur gefunden, daß unser Leben keinen Wert hätte, wenn wir nie und nirgends nach unserer Überzeugung zu handeln imstande wären. Denn unsere Würde beruht darauf, daß wir nach unserem Werturteil handeln, wo uns die Hände gebunden sind, da liegt es nicht an uns, daß wir uns würdig oder unwürdig erweisen könnten; sind sie aber nicht in allen Dingen uns gebunden, so können wir uns würdig zeigen.

Aber laßt uns nun zuerst zusehen, was uns all dies bedeutet! Denn vom Wert haben wir geredet und von uns selbst und unserem Wollen und unserer Einsicht, als wären alle diese Worte und ihr Sinn uns alte liebe Bekannte, die wir kennen, wie unser Bett. Wenn ich Dich aber frage, was Du doch meinst mit Wert und mit Deinem Ich und Deinem Wollen; wirst Du mir wohl Rede stehen? oder wirst Du unwillig werden und glauben, daß ich Dich zum Narren halten will, da ich Dich nach solchen Sachen frage, die doch jeder kennt und weiß? Wenn Du sie aber kennst und weißt, wirst Du dann nicht auch Rechenschaft darüber geben können, Dir selbst und mir? Denn wertlose Reden sind es, die wir führen, wenn wir Worte reden, ohne uns Rechenschaft zu geben von ihrem Sinn. Unwürdig also ist solches Reden! Darum laß uns zusehen, daß wir die Worte meistern und Klarheit gewinnen über ihre Deutung, daß sie uns nicht in die Irre führen. Denn hinterlistig sind die Worte und heimtückisch; und um nichts in der Welt ist mehr Blut geflossen, als um mißverstandene Worte.


3.

Nach Deines Lebens Wert suchst Du; aber hast Du wohl schon gefragt, was es heiße,  Dein  Leben? hast du je bedacht, was es heiße zu sagen "Ich" oder "Du"?

Wer bist Du denn und was ist Dein? was bist Du? Du, der Du Dir selbst ein kleiner Herr der Erde zu sein dünkst oder wohl gar ein großer, für den andere sich mühen sollen, damit er sein Behagen habe -, hast Du Dich je gefragt, was dieses Dein Selbst ist, Dein Ich? Hast du gefragt, worin die Würde dieses Ich besteht, um derentwillen Du es so vergötterst, wie Du tust - : ob ihm überhaupt Würde und Wert zukommt, ob es mehr ist, als nur ein staubgeborenes Tiergebilde, das seine Zeit dahinlebt, zufällig, gleich den anderen Tieren, und dahinstirbt wie sie und verwest? Hast Du Dich je gefragt, was da ist, was Du Dein nennen kannst? das nicht fremden Mächten angehört, die sein Kommen und Gehen bestimmen, wie der Wind der Wellen Kommen und Gehen bestimmt auf der Fläche des Wassers? Wahrlich, nicht Dein ist, was der Wind formt und verweht; des Windes Tun ist es und gehört nicht Dir an. Sieh mir erst zu, ob Du etwas hast, was Dein ist, was sich behauptet als Dein gegen die fremden Mächte: ob Du eine Macht bist neben jenen, daß Du wahrhaft sagen kannst "ich bin" und nicht nur: "sie sind"! ob Du handelst, oder ob nur  sie  handeln und Du nicht frei bist, nicht ein Herr, wie Du Dir zu sein dünkst, sondern ein elender Sklave!

Hast Du ein Ziel, das  Dein  Ziel ist? kennst Du ein Ziel Deines Tuns uns Strebens, ein letztes, beständiges? Oder gleichst Du noch dem Jüngling, der auf die Frage nach seinem Ziel nur immer mit einem Ziel für den nächsten Tag zu antworten wußte: ein Pferd, ein Wild, ein Weib - und da ihm immer von neuem die Frage entgegentönte "und dann?" sich keinen Rat wußte, als das Kloster? Nicht ins Kloster sollst Du mir! denn auch dort wirst Du der Frage nicht entgehen nach Deinem Ziel.

Wohl Dir, wenn Dir die Antwort darauf vertraut ist in Deinem Herzen, - wenn sie Dir in die Brust gegraben ist mit Flammenschrift, die nicht erlischt: wohl Dir, wenn Du ein Ziel kennst, ein letztes, beständiges - wohl Dir, wenn Du  willst! 

Deinem Wollen muß Dein Handeln gehorchen, damit es Dein Handeln sei. Nicht Dein ist, was sich nicht Deiner Herrschaft fügt! Wo Deiner Glieder Bewegungen nicht Deinem Willen gehorchen, das sind sie nicht Dein Handeln, so wenig Wind und Woge Dein Handeln sind oder der Strom des Blutes in Deinem Herzen: fremder Kräfte Handelns sind sie; denn Du bist nicht darüber Herr.

Aber ich rede und weiß nicht, ob Du meiner Worte Sinn erfaßt hast; weiß Du denn, was es heißt, Wollen?

Das weißt Du freilich, was Wünschen heißt und Begehren. Wer wüßte das nicht! begehren und wünschen doch auch Deine vierbeinigen Brüder und Schwestern: und wenn sie Deine Sprache verstünden, so würden sie leicht fassen, was Du mit Wünschen meinst und mit Begehren; die Namen kennen sie nicht, aber die Sachen kennen sie, die Deine Worte treffen wollen. Das Wollen aber kennen sie nicht! und vielleicht kennst auch Du es nicht: Denn wenn Du nur Wünschen kennst und Begehren, so weißt Du noch nicht, was es heißt: Wollen.

Was ist dein Wollen?

Nennst Du es wohl dein Wollen, wenn Du von Deiner Wünsche Hin- und Widerwogen Dich hin- und widertreiben läßt? Unvernünftig und ohne Bestand ist solches Wünschen: von einer Stunde zur anderen weiß es nicht, was sein Ziel sein wird. Unvernünftig und ohne Bestand bist Du, wo Du von solchen Wünschen Deine Taten beherrschen läßt: nicht Du herrschst, sondern von der Wünsche Zufall wird Du beherrscht. Wie kannst Du sagen, das  Du bist,  da Du doch ohne Bestand bist?

Was die erfreulich erschiene, wenn es eben jetzt zur Wahrheit würde: das ist das Ziel deines Wunsches, den Du jetzt im Herzen hegst. Und Du meinst zu wollen und zu handeln, wo es Dir gelingt, ihn zu erfüllen, - wo Deiner Glieder Bewegungdem Wunsche folgt und ihn wahr macht, damit Dein Herz sich erfreut. Denn so ist ja Dein Wunsch nicht ohnmächtig und tatenlos geblieben: Dich zum Handeln zu treiben besaß er die Macht.

Aber sieh mir erst zu, ob Du es warst, der da handelte, wenn Du von ihm getrieben warst zu handeln!

Wieder frage ich Dich, was ist  Dein?  was ist, das sich gegen andere Mächte behauptet, daß Du von ihm sagen kannst: "ich bin" - und nicht nur von jenen sagen mußt: "sie sind"!

Ist denn Deiner Wünsche Wogen Dein Selbst? siehst Du nicht, daß sie veränderlich sind, wie das Wetter im März? Du aber - hast Du ein Recht, von Deinem Ich zu reden, wenn es nicht heute ist, was es gestern war? Und doch willst Du in Deinen Wünschen Dein Ich finden? in Deinen Wünschen, die heute nach rechts ziehen und morgen nach links? Siehst Du nicht daß Du Dein Ich schon verloren hast, wenn Du es nicht einmal vom Gestern zum Heute hinüberretten kannst als  dasselbe? 

Nur das allein kann Dein Selbst sein, das über dem Wechsel als Beständiges herrscht: dessen Wunsch Dein Wille heißen kann, weil es beständig ist und nicht heute ein anderes, als gestern.


4.

Kein Ziel hat Dein Leben, wenn Du noch nicht weißt, was es heißt "Wollen", was es heißt, ein Bleibendes erstreben und alle anderen Wünsche ertöten; all Dein Sinnen und Tun nur auf das Eine richten, damit Du es schaffest und das Geschaffene erhaltest gegen alle Unbill - das Eine, das Du wert hältst, von Dir geschaffen zu werden, das zu schaffen Dir mehr gilt, als alle Lust und aller Flitter der Erde. Erst wenn Du ein solches Ziel kennst, weißt Du, was es heißt: "Wollen".

Aber vielleicht kennst Du es! dann weißt Du auch dies andere: daß Wollen heilig ist und Begehren unheilig; daß Du im Wollen göttlich bist und im Begehren ein Sklave.

Denn nicht Du selbst bist es, der herrscht, wo Du begehrst! Deiner Leidenschaften Spielball bist Du oder Deiner Gewohnheit und Deiner Trägheit; sie sind Deine Herren und geben Dir das Gesetz. Du aber, Du stellst Dich, als wärst Du blind und müßtest Dich führen lassen oder als wärst Du kraftlos und gefesselt, daß Du keine Wahl hättest als ihnen zu gehorchen. Und doch hast Du den Gebrauch Deiner Augen und Deiner Hände und hast den Gebrauch Deines Denkens, das Dir den Weg zeigte, wenn Du ihn nur sehen wolltest, - und das Dich erkennen ließe, daß jene Dich den falschen Weg führen, wenn Du nur eben erkennen  wolltest.  Aber da Du nur begehrst, so  willst  Du nicht den wahren Weg sehen und den wahren Weg gehen: unbequem ist er Dir zu gehen, weil Du von Deiner Trägheit Dich beherrschen läßt - unbequem ist es Dir zu wollen, darum willst Du nicht" denn von Deiner Bequemlichkeit läßt Du Dir das Gesetz vorschreiben. Unwürdig bist Du! denn ein Sklave hat keine Würde.

Willst Du ein Sklave bleiben, so rede ich nicht mit Dir. Nicht vergeuden will ich meine Worte; nicht durch Reden mit Unwürdigen mich entwürdigen.

Willst Du aber nicht ein Sklave bleiben, so mach Deine Augen auf und schau! Sieh zu, was es heiße, vernünftig denken: so wirst Du Dein Selbst erkennen - so wirst Du erkennen, was es heiße, Wollen und Handeln.

Unbedachtes Tun ist es, was der Wünsche Reigen von Dir fordert! Oder weißt Du, was Deiner Wünsche Ziel sein wird in der nächsten Stunde? weißt Du, ob Du nicht morgen Deine heutigen Wünsche verwünschen mußt, - ob Du nicht verwünschen mußt, was Deine Glieder taten, da sie dem heutigen Wunsch folgten, weil morgen Dein Ziel ein anderes geworden ist und nun nicht mehr erfüllt werden kann, da Dein Tun sich vorschnell dem gestrigen Wunsch fügte?  Widersprechendes  haben Deine Wünsche Dir geraten: unvernünftig hast Du gedacht und getan!

Vernünftig denken, das heißt ohne Widerspruch denken; mit sich selbst im Einklang denken, das allein ist bedachtes Denken, mit sich selbst im Einklang wünschen, das allein ist bedachtes Wünschen: nicht mehr der Wünsche Herrschen ist das, sondern Dein Herrschen. Mit Dir selbst im Einklang bleiben, das ist vernünftiges Denken: in Deiner Vernunft bist Du heute derselbe, der Du gestern warst; nur in Deinem vernünftigen Denken also bist Du Du selbst. Deine Vernunft und Du: das sind nicht  zwei  Wesen, sondern  Eines. 

So ist denn nur  das  Handeln wahrhaft Dein Handeln, das von Deinem vernünftigen Denken bestimmt ist: denn von Dir ist es bestimmt und nicht von anderen. Nicht die Wünsche des Augenblicks laß herrschen über Deine Taten, sondern nur das Urteil Deiner Vernunft laß Herrscher sein: so bist Du es, der herrscht. Denn Deiner Vernunft Herrschaft ist Deine Herrschaft. Siehst Du nun das Wünschen, das  Dein  Wünschen ist? was Dir nach Deiner Vernunft zu wünschen obliegt, heute wie gestern, morgen wie heute, das ist Deines vernünftigen Willens Wunsch:  das  ist Dein Wollen.! 


Wo Du willst: da bist Du nicht mehr ein Sklave, sondern ein Freier; nicht mehr dem Begehren, noch der Trägheit folgst Du, sondern Dir selbst; nicht von fremden Kräften wirst Du mehr hin und her gepeitscht wie ein steuerloses Boot in der Brandung, sondern Dir selbst gibst Du das Gesetz.

Nicht leicht ist es dem Menschen, er selbst zu sein! Lerne erst, was Du bist, auf daß Du es werdest! lerne es zu sein, damit Du es bleibst.

Wenn Du es aber bist - welches Ziel ist wohl herrlicher? Und von neuem frage ich Dich: hat Dein Leben ein Ziel?


Literatur - Hans Cornelius, Vom Wert des Lebens, Hannover 1923