ra-2 A. SchäffleH. Cohnvon Ehrenfelsvon WieserW. Sombart    
 
OSKAR KRAUS
Zur Theorie des Wertes
[eine Bentham-Studie]
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"Aristoteles beruft sich gegen den Hedonismus darauf, daß kein Mensch sein ganzes Leben hindurch auf dem geistigen Niveau eines Kindes zu verharren wünschen würde, wenn ihm auch dadurch gewährt sein sollte, alle kindischen Vergnügungen im höchsten Maße zu genießen, so wenig, als jemand sich an einem fortgesetzten Tun von etwas überaus Schändlichem freuen möchte, wenn ihm auch verbürgt wäre, daß nie ein Leid darauf folgen sollte und daß es andererseits viele Dinge gebe, denen jeder Mensch gewiß gern ein eifriges Streben zuwenden möchte, selbst wenn dasselbe keine Lust in seinem Gefolge hätte, wie z. B. das  Sehen,  das  Sicherinnern,  das  Wissen,  der  Besitz  der sittlichen Vollkommenheiten."

Vorwort

Die Lehre vom Wert wurde in neuester Zeit von zwei verschiedenen Seiten in Angriff genommen; einerseits von den wissenschaftlichen Vertretern der  Ethik  und  Psychologie,  zu deren eigentlichem Forschungsobjekt der "Wert" in seinen mannigfachen Bedeutungen gehört; andererseits von den Bearbeitern der  Wirtschaftslehre,  die, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden, ebenfalls der Klärung des Wertbegriffs bedürfen. Da der Ethiker seine Aufmerksamkeit naturgemäß zunächst dem Begriff des primären Wertes, des in sich Guten zuwenden mußte, dessen Inhalt, Kriterium und Umfang zu ergründen ihm vornehmlich am Herzen lag, vernachlässigt er notwendigerweise die Betrachtung der  sekundären Werte,  für die der Wirtschaftslehrer sich am meisten interessiert. Infolgedessen sah sich dieser genötigt, auf eigene Faust die Theorie des  Nützlichen  und des "wirtschaftlichen Wertes" auszuarbeiten. Am glücklichsten scheinen mir in dieser Hinsicht eine Reihe österreichischer Forscher gewesen zu sein, die nach dem Beispiel MENGERs die Methode der  empirischen Psychologie  befolgend, die Lehre vom "wirtschaftlichen Wert" erheblich gefördert und dadurch auch der  Ethik  und  Sozialpsychologie  einen wesentlichen Dienst geleistet haben. - Obwohl diese Schule jedoch von dem Satz ausgeht, daß das, was man gewöhnlich "Wert der äußeren Güter" nennt, etwas  Sekundäres  sei und  vom Wert der primären Güter (des in sich Guten) stamme,  hat sie dennoch diesen  primären  Wertbegriff weder selbst untersucht, noch sich die diesbezüglichen Ergebnisse der neueren, psychologisch-ethischen Forschung zueigen gemacht.

Diesem Mangel, der in seinen Konsequenzen sehr fühlbar wird, wäre umso leichter abzuhelfen gewesen, als im Werk des Psychologen FRANZ BRENTANO, "Über den Ursprung sittlicher Erkenntnis", das philosophische Wertproblem seinem schwierigsten Teil nach gelöst erscheint. Die große Bedeutung dieser Schrift für die Ethik und die politischen Disziplinen habe ich bereits in den rechtsphilosophischen Abhandlungen über "Das Motiv" (1) und "Strafe und Schuld" (2) darzutun gesucht und von ihr soll auch die vorliegende Arbeit Zeugnis ablegen. - Die Art, wie BRENTANO nicht bloß das Naheliegende oder von andern Übernommene, sondern auch eigene Entdeckungen, die von der größten Tragweite sind, in schlichter und prunkloser Weise vorträgt, verbunden mit einer großen Gedrängtheit der Darstellung, haben dessen grundlegende Schriften bisher der  allgemeinen  Anerkennung entrückt. Wenn es der vorliegenden Arbeit gelingen sollte, auf der Grundlage der BRENTANOschen Prinzipienlehre eine der meistbestrittenen Fragen der Werttheorie, die nach dem Wesen des "wirtschaftlichen Wertes", in einer allseits befriedigenden Weise zu beantworten, so wäre ein neuer Beweis für deren Fruchtbarkeit erbracht und hiermit ein neuer Anstoß gegeben, den Werken dieses hervorragenden Denkers näher zu treten.

Doch es ist nicht die Meinung, daß ich auf diese Weise eine alles bisher Geschaffene umstürzende Theorie vom "wirtschaftlichen Wert"zu geben mir anmaßen würde! Ich freue mich vielmehr, auch die von nationalökonomischer Seite geleistete Arbeit mit Vorteil verwertet zu haben und hier den sogenannten "Grenznutzentheoretikern" auf dem von MENGER angebahnten Weg zu begegnen. Hierbei mußte ich allerdings an mehreren Stellen die Pfade der Grenznutzentheoretiker verlassen, sei es, daß ich sie auf einem Abweg vermutete, sei es, daß ich auf kürzerem Weg zum Ziel zu gelangen glaubte.

Zu den Lehrsätzen, denen ich nach gewissenhaftester Untersuchung nicht Gefolgschaft leisten konnte, gehören mitunter solche, die von mir hochverehrte Männer vertreten. Unter diesen ist es namentlich Professor FRIEDRICH Freiherr von WIESER, der mich, was meine wissenschaftliche Förderung anlangt, wiederholt zu größtem Dank verpflichtet hat. Ich kenne die Gerechtigkeits- und Wahrheitsliebe dieses hervorragenden Forschers, aus dessen von philosophischem Geist erfüllten Vorlesungen mir manche Belehrung zu schöpfen vergönnt war, gut genug, um gewiß zu sein, daß er in meinem Vorgehen nicht die Verletzung einer Dankespflicht erblicken wird. Denn jeder, der in rein theoretischem Interesse der Wahrheit zu dienen bestrebt ist, wird sich in so einem Fall an die Worte des Stagyriten (Aristoteles - wp] erinnern: "Freilich ist eine solche Untersuchung dadurch mißlich, daß es befreundete Männer sind, welche die Ideen eingeführt haben; allein wir dürfen wohl der Ansicht huldigen, daß es besser, ja daß es Pflicht sei, da, wo es um die Aufrechterhaltung der Wahrheit geht, selbst unser Eigenes zum Opfer zu bringen, zumal wenn man Philosoph ist. Denn obschon uns beide wert sein, so ist es doch Pflicht, der Wahrheit den Vorzug zu geben."

Was den Grund anlangt, der mich veranlaßt, die vorliegenden wertheoretischen Untersuchungen in Gestalt einer Kritik BENTHAMs vorzubringen, so ware es sowohl die  Vorzüge  als auch die Mängel BENTHAMs, die mir eine gründliche Beleuchtung zeitgemäß erscheinen ließen.

Als  Vorzüge  gelten mir vor allem die Erkenntnis, daß die Wertlehre in keinem ihrer Teile von der Psychologie und Ethik losgelöst werden kann und die mit dieser Erkenntnis verbundene empirisch-psychologische Methode; ferner die aus dieser Methode sich ergebende, von der österreichsichen MENGER-Schule geteilte Einsicht, daß der praktische Wert der "Dinge" von den psychischen Werten abgeleitet ist; der richtige Kern seines "greatest happinesse principle" und seiner von JEVONS beachteten Lehre von der "dimension of value"; endlich das von mir so genannte  Benthamsche Axiom,  dessen Existenz den Werttheoretiker unbekannt geblieben zu sein scheint, da bei ihnen lediglich die Berufung auf das zwar innig verwandte, aber bedenklichere und unvollkommener begründete  "Bernouillische Gesetz"  und das viel später aufgestellte  "Gossensche Gesetz"  wiederkehrt; wobei ich allerdings diesem Satz eine Bedeutung nicht in jener Richtung zuzuerkennen vermag, in welcher die modernen Theoretiker sie zu sehen pflegen.

Die  Mängel  erblicke ich in den  hedonistischen Grundsätzen,  welche die Basis seiner Werttheorie bilden. Heutzutage, wo ihnen durch die Autorität FECHNERs eine neue Stütze erwuchs, wurden sie von vielen Philosophen und von fast allen Werttheoretikern der Wirtschaftslehre rezipiert, obwohl sie ganz und gar unzureichend sind; so richtet sich meine Schrift gegen BENTHAM als den ausgebildeten Typus des Hedonisten.



I. Kapitel
Die ethischen Prinzipienfragen bei Bentham

1. BENTHAMs Wertlehre ist ein Teil seiner Ethik und Politik und zwar der fundamentalste; sie wird von ihm nicht nach Art der Modernen in selbständigen Monographien theoretischen Charakters vorgetragen, vielmehr immer und überall nur zu dem Zweck, um  praktisch-politische Maximen  aus ihr abzuleiten. - BENTHAM erscheint daher als einer der energischsten Vertreter der Überzeugung, daß die Politik "aufs innigste  mit der Ethik zusammenhängt  und ohne Zurückgehen auf das Letzte und Prinzipielle in den  Fragen nach den Werten  und menschlichen Aufgaben jedes Leitsterns entbehrte."

2. Wie immer das Urteil über die Beantwortung, die BENTHAM diesen Fragen angedeihen läßt, ausfallen mag, die  Methode,  der diese Fragestellung entspringt, ist für die praktischen Disziplinen von so immenser Wichtigkeit, daß schon ihretwegen und insbesondere wegen der bewunderungswürdigen Ausdauer, die BENTHAM in ihrer Anwendung auf die mannigfachsten und schwierigsten politischen Probleme bewährt, seinen Schriften einen Ehrenplatz in der Geschichte der praktischen Philosophie gebührte.

3. Allerdings ist seine Methode nicht von ihm als ersten in die Politik eingeführt worden; man findet ihre Ansätze unverkennbar in PLATONs Schrift über die Gesetze, man findet sie ausgebildet in der  aristotelischen Ethik und Staatskunst  vorerst Gewißheit zu suchen  über das wünschenswerte Ziel allen menschlichen Strebens, um sodann der Erfahrung die richtigen Mittel abzuringen, die der menschlichen Gemeinschaft die möglichste Annäherung an das Ideal verbürgen  - in diesem Verfahren, wie in manchen anderen, ist ARISTOTELES zweifellos der Lehrmeister der Briten gewesen.

4. Allein BENTHAMs hervorragendstes Verdienst besteht - unseres Erachtens - eben darin, die Bedeutung dieser lange vernachlässigten Methode erkannt und sie auf Fragen ausgedehnt zu haben, die wir in den Schriften von ARISTOTELES nicht oder nur andeutungsweise behandelt finden, sei es, weil die betreffenden Teile seines Werkes verloren gegangen sind, sei es, weil seine Zeit die diesen Problemen zugrunde liegenden Verhältnisse nicht kannte, sei es endlich, weil er, von philosophischen Fragen höherer, prinzipieller Art gefesselt, die Lösung ruhig seinen Epigonen überlassen durfte, denen er den Weg gebahnt und die Mittel zu weiterem Fortschritt an die Hand gegeben hatte.

5. Unter diese Epigonen in den praktisch-philosophischen Disziplinen gibt es, THOMAS von AQUIN ausgenommen, kaum einen würdigeren als BENTHAM, gewiß keinen von gleichem unermüdlichem Fleiß, gleicher Arbeitskraft und gleicher Vielseitigkeit. Findet sich doch kein Zweig der Sozialpolitik, den BENTHAM unberührt gelassen hätte, wenngleich zuzugestehen ist, daß er nicht in jedem die nämlichen Erfolge aufzuweisen hat; bildet seine liebste und erfolgreichste Domäne die Strafrechts-Philosophie und -Politik, so hat er doch auch die Lehre über die Grundsätze des Zivilrechts mannigfach gefördert, war er doch richtunggebend in der Staatsphilosophie und Verfassungspolitik, reformierend für die Gestaltung der zivilprozessualen Prinzipien und hat auch für die Sozialpolitik im weitesten und modernsten Sinne lichtvolle Gesichtspunkte aufzufinden gewußt. So konnte JOHN STUART MILL von BENTHAM sagen: "Die Philosophie des Rechts fand er als ein Chaos vor und ließ sie als eine Wissenschaft (3) zurück. Die Praxis des Rechts fand er als einen Augiasstall vor und er war es, der den Strom hineinleitete, welcher einen Berg des aufgehäuften Schmutzes nach dem anderen untergräbt und wegfegt."

6. Dieses Lob, das wir mit MILL übereinstimmend BENTHAMs eigentlich politischer Denkarbeit zollen und für das selbst ein so nüchterner Kritiker wie MOHL (4) begeisterte Worte findet, gilt nicht in gleicher Weise von ihm als Psychologen. Hier steht er an analytischer Befähigung weit hinter dem Genie eines ARISTOTELES zurück; da er aber, durchdrungen von der Wichtigeit psychologischer Grundlegung, nicht müde wird, die menschliche Seele, sofern die Kenntnis ihrer Tätigkeiten und Eigenschaften den Ethiker und Politiker interessiert, zum Gegenstand eingehender Betrachtungen zu machen, da ferner keiner vor ihm auch nur mit annähernder Sorgfalt die  menschlichen Werte und Übel zu klassifizieren versucht  hat und endlich da  alle  diese Untersuchungen mit peinlichem Fleiß und größter Gewissenhaftigkeit geführt sind, ist in ihnen trotz all ihrer Mängel ein so reicher Erfahrungsstoff angehäuft, daß, obwohl ihn schon BENTHAM für einen Zweck immer wieder trefflich zu nutzen verstand, auch heute noch gewinnvolle Ausbeute aus ihm gezogen werden könnte.

7. Freilich macht sich gerade in BENTHAMs Klassifikationsversuchen, wie anläßlich der ethischen Prinzipienlehre überhaupt, seine  psychologische Unzulänglichkeit  empfindlich bemerkbar, indem der die Wege eines ARISTIPP, EUDOXUS, EPIKUR wandelnd, außer der Lust und der Schmerzlosigkeit kein primäres Gut, außer dem Schmerz und der Freudlosigkeit kein primäres Übel anerkennt. Der Satz, daß Lust und Freiheit von Schmerz das einzig wertvolle sei, bildet den Ausgangspunkt seiner  Wert- und Güterlehre  und seiner utilitaristischen Ethik, deren Wesen und Aufgabe sich kurz gefaßt folgendermaßen darstellt: Die Ethik, Moral oder Deontologie im  weiteren  Sinne gibt die Richtschnur des praktischen Verhaltens an, indem sie bindende Regeln aufstellt, uns zeigt, was die richtigen der erstrebenswerten, die sein sollenden Zwecke oder in sich wertvollen Güter sind und uns die Mittel lehrt, sie zu erreichen. Für jeden ist  eigene  Lust und Freiheit von Schmerz das einzige Gute,  eigener  Schmerz und Freudlosigkeit der einzige Unwert, es sei denn, daß man deren Ursachen und Bedingungen als sekundäre Güter und Übel betrachten will; um  seiner selbst willen  kann jedoch nichts anderes geliebt, bzw. gehaßt werden als Lust und Schmerzlosigkeit, bzw. Pein und Mangel an Vergnügen - diese Dinge sind eben zugleich das einzig Liebenswerte und Liebbare und in nichts anderem als in Lustgefühlen, welcher Art auch immer und in der Freiheit von Schmerz besteht die Glückseligkeit, das Wohl des Menschen.

8. Die Ethik könne daher definiert werden als die Kunst, das menschliche Verhalten zum Nutzen, das ist zur Erzeugung der größtmöglichen Glückseligkeit zu leiten. Die "private Ethik" lehrt dies den Privatmann mit Rücksicht auf dessen eigene Glückseligkeit, die Politik (art of legislation) den Staatsmann mit Hinblick auf das größtmögliche Wohl der größtmöglichen Zahl. Nach dieser Einteilung wäre die "private Ethik" eigentlich nur die Kunst das  eigene  Glück zu fördern; wohl in der Erkenntnis, daß einer solchen Disziplin nicht der Name Ethik gebührt, hat BENTHAM selbst die private Ethik in die  esoskopische  und  exoskopische  geschieden und dieser letzteren die Aufgabe zugeschrieben, zu lehren, wie man sich verhalten soll, wenn es darum geht, die Interessen von anderen sensiblen Geschöpfen zu berücksichtigen. Es ist auch gewiß, daß eine  egoistische  Ethik, wie es eine "esoskopische private Ethik" sein müßte, mit der wichtigsten Lehre BENTHAMs nicht harmoniert, der zufolge das Prinzip der  allgemeinen Maximierung der Glückseligkeit  für die Ethik dasselbe ist, was die selbstverständlichen und darum keines Beweises bedürftigen Axiome der Mathematik für diese. Die esoskopische private Ethik könnte demnach höchstens als  hypothetische  Kunstlehre, die dem kategorischen Imperativ der exoskopischen Ethik untergeordnet wäre, in Betracht kommen. Die  Ethik  BENTHAMs wird daher, wenn man auf das Ganze seiner durch 11 Quartbände nicht erschöpften Schriften blickt, mit Recht als eine  altruistische  bezeichnet, sie zielt auf die größtmögliche Lust aller, nicht auf die egoistische Bevorzugung der  eigenen  Lust; in dieser Weise hat schon JOHN STUART MILL in seiner berühmten Schrift über das "Nützlichkeitsprinzip" die BENTHAMsche Ethik aufgefaßt und so pflegt auch in der Geschichte der Philosophie der "Benthamsche Utilitarismus" verstanden zu werden.

9. Es ist jedoch nicht korrekt, BENTHAM den  Begründer  dieser Lehre zu nennen. Keiner der beiden Sätze aus denen sie besteht, weder der  hedonistische  Grundsatz: eigene Lust und Freiheit von Schmerz sei das einzig Gute, das Wesen der Glückseligkeit und der eigene Schmerz und Mangel an Lust das einzige Übel, noch das  Prinzip des größten Glücks,  wonach die höchsterreichbare Glückseligkeit der größtmöglichen Zahl das oberste Ziel der Ethik ist, stammt von BENTHAM selbst. Der  Hedonismus  war seit den Tagen eines ARISTIPP, EUDOXUS und EPIKUR aus der Geschichte der Philosophie nicht verschwunden und durch den Einluß LOCKEs stand er zur Zeit BENTHAMs wieder in hohem Ansehen; das Prinzip des größten Glücks kannte schon HUTCHESON (5), ja man kan sagen schon THOMAS von AQUIN (6) hatte den Utilitarismus gelehrt. Während jedoch HUTCHESON und THOMAS ohne Einfluß geblieben sind, steht BENTHAM ganz im Lager LOCKEs. Wir wissen von BENTHAM selbst, aus welchen Quellen er sowohl das Lustprinzip als auch das Prinzip des Glücks der größtmöglichen Zahl geschöpft hat; ohne LOCKE und HELVETIUS, sagt er an einer Stelle, hätte eine planmäßige geistige Verarbeitung von Gesetzen in seinem Sinne nicht zustande kommen können. An anderer Stelle wieder werden HELVETIUS und HARTLEY als Verkünder des Maximierungsprinzips namhaft gemacht. Auch HUMEs Einfluß hat BENTHAM selbst rühmend hervorgehoben. Es beruth daher wohl auf einem Versehen, wenn JODL meint, nicht nur mancher seiner Schüler, sondern BENTHAM selbst gebärde sich geradezu "derart, als ob das Utilitätsprinzip selbst die bahnbrechende Entdeckung BENTHAMs gewesen wäre. (7)

10. Wenn sich die Nützlichkeitstheorie trotzdem vornehmlich an den Namen BENTHAMs knüpft, so erklärt sich das daraus, daß keiner seiner Vorgänger sie mit gleichem Nachdruck und so unermüdlich wie er vertreten, keiner ein so groß angelegtes, politisches System auf sie gegründet und bis in die feinsten Verzweigungen staatsmännischer Probleme an ihr festgehalten hat und keiner es schließlich, wie schon erwähnt, vor ihm versucht hat, den  Wert und die Wertverhältnisse von Lust und Unlust  gründlich zu untersuchen und aufgrund des Lustprinzips eine ethische  Werttheorie  aufzustellen.

11. Wenn wir an die Kritik des ersten und fundamentalsten Teils dieser Wertlehre herantreten, so finden wir hier manches wesentliche bereits getan; denn schon vor mehr als 2000 Jahren ist das Lustprinzip von den erleuchtetsten Geistern kritisiert und ihm die Fähigkeit abgesprochen worden, eine genügende Grundlage der Ethik zu sein.  Die Lust kann nicht das einzige menschliche Gut, der einzige psychische Wert sein.  In dieser Überzeugung waren schon PLATO und ARISTOTELES einig (8); so finden wir im "Philebus" und in den "Gesetzen" neben anderem die Schönheit, die Erkenntnis, die maßvolle Haltung der Seele in die Gütertafel PLATOs aufgenommen und berühmt ist auch die Stelle der nikomachischen Ethik, wo ARISTOTELES gegen den Hedonismus sich darauf beruft, daß "kein Mensch sein ganzes Leben hindurch auf dem geistigen Niveau eines Kindes zu verharren wünschen würde, wenn ihm auch dadurch gewährt sein sollte, alle kindischen Vergnügungen im höchsten Maße zu genießen, so wenig, als jemand sich an einem fortgesetzten Tun von etwas überaus Schändlichem freuen möchte, wenn ihm auch verbürgt wäre, daß nie ein Leid darauf folgen sollte und daß es andererseits viele Dinge gebe, denen jeder Mensch gewiß gern ein eifriges Streben zuwenden möchte, selbst wenn dasselbe keine Lust in seinem Gefolge hätte, wie z. B. das  Sehen,  das  Sicherinnern,  das  Wissen,  der  Besitz  der sittlichen Vollkommenheiten." Es sei kein Einwand dagegen, meint ARISTOTELES, daß an diese Dinge notwendig Freude geknüpft ist; denn wir würden dieselben auch dann wünschen, wenn uns keine Lust von ihnen erwüchse.

12. Im Gegensatz hierzu lehrt BENTHAM, wie schon erwähnt, Lust und Freiheit von Schmerz sei nicht nur das einzig  Liebenswerte  (9), sondern auch das einzig  Liebbare.  Sehen wir näher zu, so erweist sich die letztere Behauptung direkt als absurd und durch eine einfache Erwägung widerlegbar. Denn die Lust  an  etwas ist nichts anderes, als eine in eigentümlicher Weise modifizierte  Liebe zu  etwas, an dessen Existenz man glaubt; somit könnte es gar keine Lust geben, wenn nicht auch etwas anderes  liebbar  wäre als die Lust; und zwar, müssen wir hinzufügen, da nicht die "Freiheit von Schmerz" den Inhalt der Lust bildet, alos noch etwas anderes neben der Freiheit von Schmerz. Es ist nun leicht, vom Nachweis der  Liebbarkeit  zu dem der  Liebenswürdigkeit  anderer Objekte außer der Lust überzugehen. "Wäre nichts anderes liebenswert als die Lust", sagt FRANZ BRENTANO trefflich, "so wäre die Lust selbst in letzter Instanz ein Wohlgefallen an etwas, was keiner Liebe, also keines Wohlgefallens wert ist; aber in diesem Fall erscheint sie selbst kaum liebenswürdig. Wenn also die Lust ein Gut ist, so führt dies zur Annahme noch anderer Güter als die Lust selbst."

13. BENTHAM lehrt das strikte Gegenteil: "Das Vergnügen ist als solches ein Gut, was sogar die Freiheit von Schmerz als einziges Gut beiseite schiebt. Schmerz ist als solcher ein Übel und in der Tat ohne Ausnahme das einzige Übel, wenn die Wörter gut und böse überhaupt noch einen Sinn haben sollen." Hiermit kann zweierlei gemeint sein. Erstens, daß "Gut" gleichbedeutend ist mit "Lust" (eventuell per äquivocationem noch mit "Freiheit von Schmerz") "Übel" gleichbedeutend mit "Schmerz" (eventuell per äquivocationem noch mit "Mangel an Lust"). - Jedermann wird einsehen, daß dies unhaltbar ist, daß "Lust" und "Gut" bzw. "Schmerz" und "Übel" nicht Synonyma sind, wie etwa "Duell" und "Zweikampf" und man wird nicht fehl gehen, wenn man annimmt, daß auch BENTHAM nicht so verstanden werden will. Zweitens kann gemeint sein, daß die Worte "Gut" bzw. "Übel" zwar verschiedenes bedeuten, aber ihre Bedeutungen, d. h. die Begriffe, deren Ausdruck sie sind, keine Möglichkeit der Anwendung haben, außer auf Lust, bzw. Schmerz, daß also der Umfang ihrer Bedeutungen zusammenfällt wie z. B. bei den Worten "Schweres" und "Körperliches", eine Ansicht, die wir im vorhergehenden Abschnitt als unrichtig erkannt haben. Nichts ist somit gewisser, als daß die Begriffe Lust und Gut bzw. Schmerz und Übel weder dem Umfang noch dem Inhalt nach zusammenfallen und BENTHAMs Lehre in diesem Punkt einen bedauerlichen Rückschritt gegenüber ARISTOTELES und PLATO aufweist.

14. Wie in der eben besprochenen Lehre, so steht BENTHAM auch darin auf dem Standpunkt ARISTIPPs, daß er erklärt, es sei vollkommen gleichgültig, woran man Freude habe; an und für sich betrachtet, von den Folgen abgesehen, bleibe selbst die Lust an Greueln aller Art ein Gut, das umso wertvoller sei, je intensiver sie ist. Dies ist eine jener Behauptungen BENTHAMs, die durch ihren Widerspruch zum natürlichen Empfinden am meisten dazu beigetragen hat, seine Lehre zu diskreditieren: die Schadenfreude, die Lust an der Grausamkeit erscheinen jedermann als etwas durchaus verwerfliches; wie kann sie BENTHAM unter die Güter rechnen? Er fügt freilich ergänzend hinzu "solange nicht böse Konsequenzen eintreten," allein jedermann ist geneigt zu entgegnen, die "Lust am Schlechten" sei hassenswert ohne Rücksicht auf etwa auftretende schädliche Wirkungen. 15. Um klar zu beurteilen, inwieweit der common sense hier mit der wissenschaftlichen Einsicht harmoniert, muß vorerst,  was  BENTHAM versäumt hat, auf dem Weg psychologischer Analse gezeigt werden, wie  zum Ursprung des Wertbegriffs  zu gelangen ist; es kann uns nicht genügen zu sagen; dies oder jenes ist ein Wert oder ein Gut, dies oder jene sei besser oder ein höheres Gut oder wertvoller als ein anderes; wir müssen auch wissen, ob wir mit Sicherheit und  woran  wir das Gute und Bessere zu erkennen imstande sind.' (10)

16. In diesem speziellen Problem blieb BENTHAM weiter von der Wahrheit entfernt, als irgendeiner seiner Vorgänger, von denen manchem doch wenigstens undeutlich vorschwebte, was später BRENTANO in meisterhafter Schärfe und Klarheit dargelegt hat:
    daß nämlich die psychischen Tätigkeiten des Gemütslebens, das Lieben und Hassen und alle seine Modifikatioinen in analoger Weise eine innere Richtigung und Unrichtigkeit aufweisen, wie die Akte des Urteilens, das Bejahen und Verneinen; daß ferner dem evidenten Urteilen eine als richtig charakterisierte Liebe an die Seite gestellt werden kann, die wie jenes die Wahrheit des Beurteilten, so die Liebenswürdigkeit, den Wert des Geliebten zu erkennen gibt und mithin der Evidenz des Urteils als Kriterium des Wahren, eine Quasi-Evidenz der Gemütstätigkeiten als Kriterium des Guten entspricht und endlich, daß auch die Liebe zur Erkenntnis, das Meiden des Irrtums, das Hassen der Unwissenheit, die Liebe zu jeder richtigen und als richtig charakterisierten Gemütstätigkeit, das Hassen der unrichtigen, oder die Liebe zur Bereicherung des Vorstellungslebens berechtigt und als richtig gekennzeichnet ist und uns somit die innere Erfahrung dieser Akte noch andere geistige Wert neben der Lust, anderes, was gehaßt zu werden verdient neben dem Schmerz würdigen lehrt. (11)
17. BENTHAM hat, wie schon bemerkt, auf dieses Zeugnis der inneren Erfahrung nicht geachtet; vielleicht mag man finden, daß ihm einigermaßen der Gedanke vorschwebte,  es sei richtig  die Lust zu lieben; niemand wird behaupten können, daß er auch nur im entferntesten ahnte, auf welche Weise diese Richtigkeit erkannt zu werden vermag; eine hierauf bezügliche Stelle in der  Deontologie  (12) Seite 73 lautet: tout plaisir est  prima facie  un bien et doit être recherché de même toute pein est un mal et doit être évitée [Jede Lust ist unmittelbar gut und sollte angestrebt werden, wie Schmerzen böse und vermieden werden sollten. - wp]. Er scheint hiernach der Meinung gewesen sein, man schöpfe aus der Erfahrung der  Lust  unmittelbar "prima facie" die Erkenntnis ihrer Güte, und somit diese Erkenntnis für ein Urteil nach Art der mathematischen und analytischen überhaupt gehalten zu haben, während es doch die Wahrnehmung der  auf sie gerichteten als richtig charakterisierten Liebe  ist, aus der die Erkenntnis ihres Wertes herrührt.

18. Wie BENTHAM nicht wußte, woher der Begriff des Wertes stammt, so hat er auch nicht angeben können, wie man zum Begriff des  Wertvolleren,  des  höheren Wertes  oder des  Besseren  gelangt. Auch hier verdanken wir BRENTANO die Einsicht, daß dieser
    Begriff aus gewissen Aken des Wählens, Vorziehens stammt, an denen ein kategoriales Element uns die Richtigkeit kund gibt: es ist eine als richtig charakterisierte Bevorzugung, aus der wir den Begriff der größeren Güte, des höheren Wertes, des Vorzüglicheren schöpfen, (13) und die Erfahrung dieser Akte ist es, durch die wir die Vorzüglichkeit des Guten gegenber dem Übel, der Summe gleichwertiger Güter vor dem einzelnen Summanden erkennen.
Letztere Tatsache: die Vorzüglichkeit der Gütersumme allerdings blieb BENTHAM nicht verborgen; dies zeigt sein  greatest happiness principle,  mit welchem er die Maximierung der Lust nach Intensität, Dauer, Menge, etc. als den einzig richtigen Zweck aller Praxis und Gesetzgebung erklärt. er bezeichnet sogar diesen Satz als einen axiomatischen (14); freilich ohne sich auch nur das erkenntnistheoretische Problemm gestellt zu haben, woran wir die Richtigkeit dieser Axiome erkennen. Ist es aber auch richtig, daß die Summe der Güter wertvoller ist als der Summand, und die größere Summe vorzüglicher als die kleinere, so ist es doch unrichtig mit BENTHAM zu glauben, daß das Bessere überhaupt nur durch einfache Summierung entsteht. Der höhere Wert entsteht nicht, wie BENTHAM lehrt,  ausschließlich  durch die Steigerung der Intensität oder der zeitlichen Dauer, oder eine sonstige Vervielfachung der Lust. Doch hierüber später; vorläufig genügt das Gesagte, um die Frage zu beantworten, inwiefern BENTHAM bei seiner Behauptung, jegliche Lust, auch die am fremden Schmerz sei ein umso größeres Gut, sei umso wertvoller, je  intensiver  sie ist, geirrt hat.

19. In dieser Richtung haben wir nun Folgendes zu bemerken: die in Rede stehende Behauptung BENTHAMs involviert  vorerst  die Überzeugung, daß jegliche Lust, die Intensität aufweist, ein Gut ist,  zweitens  die Meinung, daß entweder eine intensitätslose Lust, wenn es eine solche gibt, von geringerem Wert ist, als jede noch so kleine irgendwie intensive Freude, oder daß es ein intensitätsloses Wohlgefallen überhaupt nicht geben kann. Aus dem Zusammenhang der BENTHAMschen Lehre geht hervor, daß er zu letzterer Meinung hinneigte und die Intensität als zum  Wesen  der Lust gehörig oder doch als  unzertrennliche Begleitung  derselben betrachtete. Wenn aber richtig ist, was wir oben ausgeführt haben, daß die Lust nichts anderes ist als ein im Glauben an die Existenz seines Gegenstandes statthabendes Lieben, so ist die erste Alternative von vornherein ausgeschlossen. Allein auch die zweite ist unrichtig. Man vergegenwärtige sich nur, daß unseren Bewußtseinszuständen nur insofern Intensität zukommt, als sie auf physische, konkrete Inhalte gerichtet sind; denn Intensität des Empfundenen ist nichts anderes als das Maß der Dichte der intensiven Erscheinung im Sinnesfeld, (15) und da jedem Teil des erfüllten Sinnesraums ein darauf bezüglicher Teil unseres Empfindens entspricht, ist die intensität der Empfindung notwendig völlig gleich der Intensität des Empfundenen. Sagt man daher eine Liebe, ein Gefallen weist  Intensität  auf, so ist damit ausgesprochen, daß dies eine Lust, ein Gefallen an sinnlichen Qualitäten ist, d. h. daß der  Inhalt  des Lustphänomens eine sinnliche Qualität ist; man denke z. B. an die Lust, deren Inhalt Qualitäten des Geschmacks oder Geruchs oder überhaupt Qualitäten des dritten Sinnes (16) sind. Wo immer aber ein psychischer Akt keinen physischen, konkreten, sondern einen abstrakten, begrifflichen Inhalt aufweist, dort mangelt auch jegliche Intensität. Fremde Lust z. B. fällt nicht in meine innere Erfahrung, ich nehme sie nicht anschaulich wahr und stelle sie nur mittels Reflexion auf eigene einmal empfundene Lust vor; ein auf sie gerichtetes psychisches Phänomen, z. B. ein Urteil, eine Liebe oder Freude, kann daher nur intensitätslos sein.

20. Eine andere Frage als die, ob es intensitätslose Freuden geben kann, ist jedoch die, ob intensitätslose Freuden ohne  Begleitung  von mehr oder minder  intensiven Lustredundanzen  vorkommen; letzteres dürfte für die weitaus überwiegende Zahl der Fälle, vielleicht für alle verneint werden; jeder Liebesakt, dessen Inhalt ein Begriff oder eine begriffliche Synthese ist, ist zwar selbst intensitätslos, aber vermöge des psychophysischen Mechanismus werden zugleich oder zeitlich angrenzend und in kausalem Zusammenhang mit jenem Akt regelmäßig Empfindungen sinnlicher Qualitäten ausgelöost, die mit irgendwie intensiver Lust gefühlt werden. (17) Diese beiden inhaltlich verschiedenen, jedoch kausal und zeitlich innig verknüpften Akte werden nun gemeinhin nicht voneinander unterschieden und dieser Umstand fördert die irrige Meinung, daß jegliche Freude ohne Ausnahme Intensität hat. Diese Überzeugung konnte umsomehr entstehen, als, wie gesagt, wohl alle unsere Seelenakte von sinnlichen Redundanzen begleitet sind; unser lebhaftes Vergnügen an Werken der Poesie, Musik, wie der Kunst überhaupt, ist nichts anderes als solch ein angenehm anmutendes Mittönen unserer Sinne; diese physische "Resonanz", wie der Vorgang bildlich auch genannt werden kann, ist mitunter sehr mächtig und weist manchmal ganz außerordentliche Intensitäten auf; die ekstatischen Zustände der Heiligen und Seher können so begriffen werden.

21. Es klärt sich jetzt die BENTHAMsche Auffassung von selbst; die von ihm als einfaches Phänomen betrachtete "Lust an fremdem Schmerz" ist kein einfaches Phänomen; es besteht erstens aus einer Liebe zu einem, durch Zugrundelegung vermittelnder Abstraktionen und Synthesen vorgestelltem fremden und für existenz gehaltenen Schmerz und zweitens aus einer Lust an sinnlichen Qualitäten, deren Empfindung gleichzeitig und kausal ausgelöst wird; diese weist unzweifelhaft Intensität auf. "Die Lust an fremden Schmerz" ist sonach nicht intensiv, und was Intensität hat ist nicht die "Lust an fremdem Schmerz", sondern eine, jene intensitätslose Lust (18) begleitende Lust. Wenn FECHNER in der Vorschule der Ästhetik (Seite 260) lehrt: "bei der Lust an Grausamkeiten kommt die Lust an  starken rezeptiven Erregungen  in Betracht; es hat grausame Menschen gegeben, die ohne Hass und Rache ihre Lust an der Qual anderer gefunden haben," so ist unter jenen "starken rezeptiven Erregungen" wohl nichts anderes als die von uns als physische Redundanzen bezeichneten Miterregungen der Sinne zu verstehen.

22. Man darf also BENTHAM insofern Recht geben, als man mit ihm an den  primären Wert,  den Wert an und für sich, von allen schädlichen Folgen abgesehen, denkt, jedoch an den Wert der  Lustredundanzen,  nicht des sie hervorrufenden Wohlgefallens am fremden Schmerz; jene erregten sinnlichen Empfindungsinhalte sind als Bereicherung des Vorstellungslebens nach dem Gesagten kein Übel, sondern liebenswert und die intensive Lust an ihnen ist, wenn auch blind, so doch berechtigt (19) und selbst an sich liebenswürdig und umso wertvoller, je intensiver sie ist. Dies zugestanden muß aber Folgendes hinzugefügt werden: Die intensive Lust ist in unserem Fall, was schon ARISTOTELES wußte,  Zeichen  für das Vorhandensein übler Dispositionen; wenn einer intensive Lust fühlt bei fremdem Schmerz, so sieht dies jeder als einen moralischen Defekt an, jeder schließt sofort auf schädliche Anlagen zu unsittlichen Entschließungen, und mit Recht; die Lust ist hier ein schlimmes Symptom; aber nicht nur das; sie hat die Tendenz Ursachen zu schaffen für das Wiederauftreten eines Übels, nämlich des fremden Schmerzes, dessen Wirkung sie ist; je intensiver eine Lust ist, desto mehr wird die Disposition gestärkt,  wenn  ihre  Herbeiführung  in der  Macht des Willens  liegt, sie zu verwirklichen; im vorliegenden Fall also die Disposition fremden Schmerz, der Lust wegen, den er verursacht, herbeizuführen. Wegen des Einflusses der "Gefühlsdispositionen" (20) auf den Willen ist die Lust also hier umso schädlicher, je größer sie ist; je größer der primäre Wert, desto größer der sekundäre Unwert.

23. Es ist aber nicht die üble  Symptomatik  und  Schädlichkeit  der Lustredundanzen allein, welche jenen psychischen Erscheinungskomplex, der gemeinhin und auch von BENTHAM unter dem Namen "Lust am Schlechten" zusammengefaßt wird, als  ethisch  verwerflich beurteilen läßt; vielmehr ist es jenes Wohlgefallen, das wir als  intensitätsloses Lieben  des fremden (nur uneigentlich vorgestellten Schmerzes bezeichnet und als zu unterscheidenden Akt hervorgehoben haben, das als unrichtig erkennbar ist und aus diesem Grund sowohl als auch als Schädlichkeit mit Recht gehaßt, also moralisch verwerflich ist. Somit dürfte beides erklärt sein: die Tatsache, daß die sogenannte "Lust am Schlechten" allgemein als sittlich verwerflich angesehen wird und der Umstand, daß BENTHAM sie als ein Gut betrachtet; es ist eben nicht  ein  Akt des Gefallens vorhanden, sondern zwei;, der eine, instinktive, intensitätsaufweisende ist in der Tat  an und für sich  (primär) gut; allein er ist in seinen  Folgen  schädlich und ist der Begleiter eines anderen, ihn auslösenden, nicht nur  schädlichen,  sondern  auch  in sich verabscheuenswerten Wohlgefallens.

24. Wir haben den Satz BENTHAMs bekämpft, daß es kein anderes primäres Gut gibt neben der Lust und der Freiheit von Schmerz; wir müssen jedoch daran erinnern, daß der Ausgangspunkt der BENTHAMschen Unterschungen nicht bloß ein hedonistischer, sondern auch ein  subjektivistisch-egoistischer  ist; er lehrt nicht: jegliche Lust, gleichgültig wer sie fühlt, ist ein Gut, sondern:  jegliche  Lust ist nur für jeden der sie fühlt ein Gut; (21) obwohl nun BENTHAM bei der Aufstellung seines  greatest happiness principle  von diesem Satz selbst vollkommen abfällt, müssen wir doch, da immer wieder Versuche gemacht werden, ihn zum Fundament einer Ethik zu machen, auf seine prinzipielle Haltlosigkeit hinweisen. Schon was wir vorhin über den Ursprung der Wertbegriffe angedeutet haben widerlegt ihn; daß die Lust ein Gut ist erfahren wir, indem wir wahrnehmen, wie bei deren Auftreten eine als richtig charakterisierte Liebe dem zugleich auch abstrakt erfaßten Phänomen sich zuwendet; die als richtig charakterisierte Liebe hat
    den allgemeinen Begriff der Lust zum Inhalt, so daß uns mit der Erfahrung des einzelnen Aktes "mit einem Schlag und ohne jede Induktion besonderer Fälle die Güte der ganzen Klasse offenbar wird".
Etwas ist ein Wert (Gut), ist liebenswert, heißt eben, es ist, soviel an ihm liegt, Bedingung für richtige Liebesakte, nicht etwa meiner eigenen Person, sondern jeglichen Wesens, das des Liebens und Hassens fähig ist, mit anderen Worten, es verdient schlechthin von jedermann geliebt zu werden. Zu sagen etwas sei in sich liebenswert, aber nur für mich, nicht schlechthin, ist ebenso absurd wie mit alten und modernen Sophisten zu sagen: etwas ist wahr, aber nur für mich und nicht schlechthin.

25. Wenn nun BENTHAM in seinen politischen Schriften zu dem Satz gelangt, daß die größtmögliche Vermehrung der Lust der größtmöglichen Zahl innerhalb des Gemeinwesens das höchste Ziel des  Staatsmannes,  bzw. nach dem Tenor (22) seiner Werke  jedes Menschen  sein soll, so ist einleuchtend, daß dieses sogenannte "greatest happiness principle" oder "principle of utility" nicht weniger als eine Konsequenz des Satzes vom ausschließlichen Wertcharakter der  eigenen  Lust ist; ist die Lust anderer Wesen für mich indifferent, so kann ich offenkundig auch in ihrer größtmöglichen Vermehrung kein erstrebenswertes Ziel erblicken.

26. Die Versuche BENTHAMs, das Gegenteil plausibel zu machen, sind daher kläglich gescheitert. In der "Deontologie", einem Werk, das unter dem Beifall JOHN STUART MILLs nicht in die Gesamtausgabe seiner Werke aufgenommen wurde, bemüht er sich zu zeigen, daß das Wohl aller ausschließlich darum anzustreben ist, weil es das geeignete Mittel darstellt umd das  eigene  Glück, also die größtmögliche Zahl der eigenen  intensivsten  Freuden zu erreichen, was der letzte Zweck allen Strebens ist. Wir brauchen dieser oft bekämpften Meinung nicht erst das Blutzeugnis der Märtyrer und der großen Wohltäter der Menschheit entgegenzuhalten; steht doch diese Argumentation in offenbarem Widerspruch zu dem anderen vor BENTHAM propagierten, als axiomatisch und quasi selbstverständlich bezeichneten Satz: das höchste Wohl  aller  ist das  letzte und oberste  Ziel eines jeden; das letzte Ziel. d. h. dasjenige, das  nur  um seiner selbst willen allem anderen, also auch dem höchsten  eigenen  Wohl vorgezogen zu werden verdient.

27. Bei näherem Hinsehen mag mancher an BENTHAMs Schriften noch andere mehr oder minder deutlich zutage tretende Ansätze finden, sein "greatest happiness principle" aus dem Prinzip der größten eigenen Lust begreiflich zu machen. Einer dieser Ansätze hat sich in der Schrift von BENTHAMs berühmtesten Schüler, JOHN STUART MILL über das Nützlichkeitsprinzip zu einem ernst gemeinten Beweisversuch verdichtet, der hier angeführt werden mag, weil er ein klassisches Beispiel ist für die Unmöglichkeit der Begründung einer Ethik auf der Basis eines subjektivistischen Hedonismus. "Es kann kein anderer Grund dafür beigebracht werde," sagt MILL am angeführten Ort, warum die allgemeine Glückseligkeit wünschenswert ist, außer dem, daß jedermann seine eigene Glückseligkeit wünscht, insofern er dieselbe für erreichbar hält." Weil also der  A  seine  eigene  Glückseligkeit wünscht und der  B  seine  eigene,  und ebenso der  C  nichts als sein eigenes Wohl und so fort, darum soll das Wohl aller ein Gut sein?! Es ist vollkommen unerfindlich wie MILL damit auch nur den Schein einer Begründung vorgebracht haben will, wenn man nicht annimmt, daß er einem Paralogismus [Vernunftwidrigkeit - wp] zum Opfer gefallen ist, der kollektiv auslegt was distributiv auszulegen ist und ungefähr folgendermaßen zu denken wäre: jeder Mensch wünscht seine eigene Glückseligkeit, alle Menschen wünschen also die Glückseligkeit aller; wenn nun dem letzteren Satz statt des Sinnes: die Summe der Menschen wünscht zusammen die Summe der Glückseligkeiten, der Sinn unterschoben wird: von der Summe der Menschen wünscht jeder Summand die Summe der Glückseligkeiten, so ist das Sophisma insoweit fertig, als nun vom einzelnen Summanden etwas ausgesagt wird, was dem ersten Satz zufolge nur im Hinblick auf die Summe ausgesagt werden darf; hierbei sehen wir ganz davon ab, daß die Behauptung, jeder wünscht seine Glückseligkeit, jedenfalls insofern zu weitgehend ist, als sie besagen soll jeder wünschte nichts anderes als diese, und daß die Übereinstimmung der Wünsche aller die  Wünschenswürdigkeit  des Gewünschten durchaus nicht verbürgt.

28. Eine Stelle aus BENTHAMs Schriften wollen wir hier noch anführen, die wie ein versteckter Beweisversuch des "greatest happiness principle" anmutet: "By utility is meant that property in any objekt, whereby it tends to produce benefit, advantage, pleasure, good or happiness ... or to prevent the happening of mischief, pain, evil or unhappiness  to the party  whose interest is considered:  if that party  be the community in general, then the happiness of community;  if a particular individual,  then the happiness of that individual." [Mit Nützlichkeit ist die Eigenschaft in einem Objekt gemeint, wodurch es Nutzen, Vorteil, Freude ein Gut oder Glück zu produzieren tendiert ... oder das Geschehen von Unheil, Schmerz, Übel oder Unglück einer Interessenspartei verhindert. Wenn es sich bei dieser Partei um die Gemeinschaft im Allgemeinen handelt, dann ist es das Glück der Gemeinschaft, wenn um eine bestimmte Person, dann das Glück des Einzelnen. - wp] (23). Es scheint als machte sich da die Auffassung des  Gemeinwesens  als einer Partei (party) geltend, für die gleichsam selbstverständlicherweise das Nämliche zu gelten hat wie für den Menschen als  Einzelwesen;  wir finden in der neueren Philosophie diesen Gedanken bei Forschern wie WUNDT oder JHERING in mannigfacher Weise ausgeführt. Während aber BENTHAM sich sonst immer bewußt blieb und mehrfach ausdrücklich betonte, daß die Personifikation der Gesellschaft nichts ist als bloße Fiktion, (24) sind die genannten Denker hierüber durchaus nicht im Klaren. Jede Persönlichkeit strebt nach dem eigenen Wohl, ist ihr wunderlicher Gedankengang, daher auch das Gemeinwesen als Persönlichkeit; wonach diese strebt, danach zu streben ist das ethische Ziel.

29. doch bleiben wir bei BENTHAM; man sieht nach dem Gesagten, daß er dem Relativismus und Subjektivismus im Grunde abhold war; immer und immer wieder lehrt er die Notwendigkeit eines  absoluten  Ideals - des  greatest happiness principle;  aber indem er dies tut, tut er es - ähnlich wie der hl. THOMAS von AQUIN (25) - im Widerspruch zu seinem Ausgangspunkt; letzterer ist auch bei BENTHAM subjektivistisch, relativistisch - "chacun est" heißt es an einer Stelle der Deontologie, (26) "non seulement le meilleur, mais encore le seul juge compétent de ce qui lui est peine ou plaisir"; [Jedes Ideal ist nicht nur der beste, sondern der einzig zuständige Richter darüber, ob etwas Schmerz oder Vergnügen ist. - wp] daher auch le seul juge compétent, de ce qui est  bon ou mal  [der einzig zuständige Richter, was gut oder böse ist - wp] denn es gibt keine anderen Güter und Übel nach BENTHAM als  eigene  Lust und Schmerz. Trotzdem lesen wir an einer anderen Stelle desselben Werkes: mon propre bonheur forme et doit former une portion aussi grande de bonheur général, que le bonheur de quelque autre individu que ce soit [Mein eigenes Glück bildet auch einen Großteil des alllgemeinen Glücks wie auch das Glück jeder anderen Person. - wp] das heißt meine Lust ist ceteris paribus [unter gleichen Umständen - wp] ebenso wertvoll wie die einer anderen - jede Lust, nicht nur die meine, ist ein Wert; es gibt nur objektive Werte. Der Widerspruch (27) kann nicht vollkommener gedacht werden.
LITERATUR - Oskar Kraus, Zur Theorie des Wertes - eine Bentham Studie, Halle 1901
    Anmerkungen
    1) OSKAR KRAUS, Das Motiv, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. XVII
    2) OSKAR KRAUS, Strafe und Schuld, Schweizer Zeitschrift für Strafrecht, 1897
    3) Die moderne Rechtsphilosophie hat von BENTHAM noch gar viel zu lernen; ich habe in einigen rechtsphilosophischen Schriften schon wiederholt auf das Studium BENTHAMs hingewiesen, das vereint mit der Kenntnis und Anwendung der von BRENTANO aufgedeckten ethischen Prinzipien geeignet wäre, die Jurisprudenz vor der gänzlichen Entartung in rabulistische Spitzfindigkeit zu schützen. Vgl. meine oben zitierten Schriften und die Abhandlung "Das Dogma von der Ursächlichkeit der Unterlassung", Prager juristische Vierteljahrsschrift, Bd. 30
    4) Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften. In Monographien dargestellt von ROBERT von MOHL, Erlangen 1855, III. Band. Daß BENTHAMs Einseitigkeit auch erbitterte Gegner schuf, ist wohl begreiflich; allein schwer verständlich ist es, wie LASSON alles was BENTHAM geschrieben hat als  "abseits vom Weg strenger Wissenschaft"  gelegen bezeichnet. Da haben andere Rechtsphilosophen wie STAHL, AHRENS, TRENDELENBURG und selbst ein so streng  katholischer  Denker wie WALTHER unserem Autor doch mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen.
    5) Vgl. HÖFFDING, Geschichte der neueren Philosophie II, Seite 405 und JODL, Geschichte der neueren Ethik II, Seite 601
    6) OTTO WILLMANN, Geschichte des Idealismus III, Seite 735
    7) FRIEDRICH JODL, Geschichte der Ethik in der neueren Philosophie II, Stuttgart 1889, Seite 434
    8) Die Polemik gegen den Hedonismus ist seither ebensowenig aus der Philosophie geschwunden, wie die Versuche, ihn zu verteidigen.
    9) Vgl. über die Verkennung des Unterschiedes zwischen dem Liebenswerten und dem Liebbaren BRENTANOs "Ursprung sittlicher Erkenntnis", Seite 85. In der Ablehnung der Lehre, die Lust sei das einzig Liebbare, folgt auch EHRENFELS BRENTANO unter Berufung auf die innere Erfahrung.
    10) Wir wollen hier bemerken, daß die vorliegende Schrift, die sich mit Fragen der Ethik, bzw. der philosophischen Wirtschaftslehre beschäftigt, in die subtilen Fragen der Lehre vom  primär  Wertvollen und Hassenswerten nur soweit eingeht, als es zum Zweck der Behandlung der Lehre vom  praktischen Wert  nötig erscheint; ein tieferes Versenken in die Fragen der Wertlehre ist ja für denjenigen am Platz, der metaphysische Probleme, als für den, der ethische Probleme lösen will; der Metaphysiker muß die psychologische Analyse weiter führen als es hier geschieht und manche Ungenauigkeit berichtigen, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung belanglos, in einer Frage von höherer Art von größter Wichtigkeit sein kann.
    11) ARISTOTELES und PLATO, obwohl sie das Charakteristikon des Wertes nicht explizit erfaßt haben, haben doch den Wertcharakter anderer psychischer Phänomene neben der Lust erkannt und hervorgehoben; die innere Erfahrung spricht hier zu deutlich, und die Ausschließlichkeit des Lustprinzips kann nur im Widerspruch zu ihr behauptet werden. Wie ARISTOTELES an den springenden Punkt rührte siehe KASTIL a. a. O. Unklar scheint, was SCHWARZ gegen die hier vertretene Lehre vorbringt; einerseits verwirft er BRENTANOs "Lehre vom Guten" (Seite 27, Sittl. Leben und Seite 95 seiner kleinen "Ethik", andererseits lehrt er, "jedes Gefallen an Lust" sei in sich als richtig charakterisiert (Seite 77, Psychologie des Willens), ja, bei  allen  Gefühlen findet sich das, was nach BRENTANO als Analogon der Evidenz auf dem Gebiet des Gemütslebens gelten soll (Seite 27, Sittl. Leben), außerdem mißversteht er BRENTANO insofern, als er behauptet, nach BRENTANO wäre das  "Gefallen am Wohlgeschmack  einer Speise"  nicht  als richtig charakterisiert. Das Gegenteil lehrt BRENTANO:  jede  Lust wird mit einer als richtig charakterisierten Liebe geliebt; was beim "Gefallen am Wohlgeschmack" nach BRENTANO blind, d. h. nicht als richtig  charakterisiert  ist, ist der  Wohlgeschmack,  die "Lust am Geschmeckten" selbst. Freilich lag für SCHWARZ, für den der  Wohlgeschmack,  d. h. der Lust am Geschmacksempfindungsinhalt nur, daß sie nicht als richtig  charakterisiert  ist, nicht aber, daß sie nicht richtig sei; vielmehr kann man aus dem Umstand, daß das Gefallen an der Empfindungslust als richtig charakterisiert ist, entnehmen, daß auch die letztere richtig ist (vgl. oben). - Im übrigen müssen und können wir auf die durch BRENTANOs und MARTYs Untersuchungen genügend gesicherte, von SCHWARZ aufgegriffene Lehre vom gemeinsamen Grundzug alles Psychischen hier nicht näher eingehen; daß SCHWARZ die "Objektlosigkeit" psychischer Akte lehrt, ist eine der schlagendsten Widerlegungen seiner Behauptng, daß "durch keinen noch so starken Drang" (Ethik, Seite 95) Axiome in ihrer inneren Richtigkeit auch nur verdunkelt werden könnten.
    12) Über dieses merkwürdige Buch vgl. MILLs Essay über BENTHAM, a. a. O., HÖFFDING, Geschichte der neueren Philosophie II, Seite 408; JODL, Geschichte der Ethik i. d. neueren Philosophie, Seite 599.
    13) SCHWARZ bemängelt an BRENTANO, daß dieser (im Ursprung der sittl. Erkenntnis) die als richtig charakterisierten  Bevorzugungen  nicht als  Erfahrungsquelle  der Vorzüglichkeit gelten läßt; nun hat allerdings BRENTANO a. a. O. es noch für  möglich  gehalten, daß die Vorzüglichkeit auf dem Weg analytischer Urteile erkannt wird, allein schon seit einer Reihe von Jahren hat er den Glauben an diese Möglichkeit aufgegeben; in der von Prof. MARTY verfaßten Vorrede zu einer englischen Übersetzung des "Ursprungs", die demnächst erscheinen wird, ist dieser Korrektur Erwähnung getan; ich selbst habe bereits in meinem 1897 erschienenen "Motiv" (Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft XVII) und in der Monographie "Strafe und Schuld" (Revue Penale Suisse 97) mit auf sie Bedacht genommen; übrigens ist schon im "Ursprung" die Auffassung, welche die als richtig charakterisierte Bevorzugung als Erkenntnisquelle des Vorzüglichen betrachtet, nicht nur an erster Stelle vorgebracht, und die andere Auffassung erst hierauf als ernst zu erwägende Möglichkeit hervorgehoben, sondern sie ist auch in der Anmerkung 36 bevorzugt worden. Man kann also höchstens sagen, BRENTANO habe beide Auffassungen alternativ zur Wahl gestellt. Das Vorziehen nach der einen Auffassung nennt nun SCHWARZ ein "analytisches", das nach der andern ein "synthetisches" und stellt was BRENTANO alternativ geschieden hat, konjunktiv zusammen. Hierbei läßt er uns im Unklaren, ob er jegliches Vorziehen oder, was wohl gemeint ist, jegliches "synthetisches" Vorziehen für  richtig  charakterisiert hält, oder wie er sonst zum Begriff des "richtigen Vorziehens" gelangt (vgl. Sittliches Leben, Seite VII, 29, 40f). Wenn wir recht verstehen, gäbe es nach SCHWARZ drei verschiedene Begriffe des Besseren, einer der aus Akten eines "gesättigteren Gefallens", einer der aus Akten eines "analytischen", und einer der aus Akten "synthetischen Vorziehens" stammt. Wir kennen als Erfahrungsquelle des Besseren lediglich das als "richtig charakterisierte Vorziehen" - wie den auch der Begriff des  Besseren  ein einheitlicher ist. Im Verlauf unserer Untersuchung folgt das Nähere hierüber. - Daß der von uns vertretenen ethischen Prinzipienlehre, und wohl auch nicht der trotz der mannigfachen Veränderungenn als nachgebildet erkennbaren SCHWARZschen Theorie der Name eines "voluntarischen Apriorismus" gebührt, dürfte einleuchten.
    14) Has the rectitude of this principle (of utility) been ever formally contented? It should seem that it had, by those who have not known what they have been meaning. Is it susceptible of any direct proof? It shoud seem not: for that which is used to prove everything else, cannot itself be proved; a chain of proof must have their commencement somewhere; to give such proof is  as impossible as it is needless  [Ist das Utilitätsprinzip jemals wirklich zufriedenstellend gerechtfertigt worden? Es scheint, nur von Leuten, die nicht wissen was sie eigentliche meinen. Kann es auf irgendeine Weise direkt bewiesen werden?. Scheinbar nicht, denn das, was als Beweis für alles andere gebraucht wird, kann selbst nicht bewiesen werden. Eine Kette von Beweisen muß irgendwo beginnen. Einen solchen Beweis zu geben ist also so unmöglich, wie es unnötig ist. - wp], Works I, Principles page 2).
    15) Vgl. hierüber BRENTANOs Vortrag über die "Empfindung" im Protokoll des III. Psychologischen Kongresses.
    16) Vgl. BRENTANOs Psychologie
    17) BRENTANO, Psychologie, Seite 197.
    18) Wer der Meinung ist, daß der Sprachgebrauch mit dem Wort "Lust" den Begriff der "sinnlichen Lust" und folgeweise "intensitätsaufweisenden Lust" verknüpft, müßte einen anderen Terminus wählen, z. B. "Wohlgefallen", "Angemutetweren".
    19) Die Empfindungsinhalte können Gegenstand eines intensiven (blinden, instinktiven) Gefallens nur sein, sofern sie selbst intensiv sind, und sie sind, wie alle Vorstellungsinhalte, zugleich Gegenstand einer berechtigten und als richtig charakterisierten Liebe, sofern sie zugleich  begrifflich  erfaßt werden; der physische Schmerz, der nichts anderes ist, als ein eigentümlich modifiziertes Hassen für wahr gehaltener ("wahrgenommener") Qualitäten, ist daher stets  ein unrichtiger Gemütsakt,  denn der Empfindungsinhalt auf den er gerichtet ist, ist in sich liebenswert.
    20) Vgl. KRAUS "Motiv", "Strafe und Schuld".
    21) Über den Subjektivismus dieser Lehre vgl. BRENTANO, Ursprung der sittlichen Ideen, Seite 86.
    22) Wir bemerken, daß die  Tendenz  seiner Schriften im Großen und Ganzen ins Auge gefaßt werden muß, und jene Sätze seiner Werke, aus denen er, als den Prämissen, seine sozialpolitischen Forderungen ableitet; vornehmlich darf DUMONTs Bearbeitung der BENTHAMschen "Grundsätze der Zivilgesetzgebung" als wichtiges Dokument BENTHAMschen Geistes angesehen werden. Dieses Buch, 1830 in der deutschen Übersetzung BENEKEs erschienen, verdankt seine Entstehung dem einträchtigen Zusammenwirken der englischen, französischen und deutschen Nation.
    23) BENTHAM, Works I, 2 Principles
    24) The community is a ficitious body, composed of the individual persons, who are considered as constituting as it were its  members.  The interest of the community then is what? - the sum of the interests of the severeal members who compose it [Die Gemeinde ist ein fiktiver Körper, bestehend aus individuellen Personen, die als ihre konstituierenden Mitglieder betrachtet werden. Das Interesse der Gemeinde ist dann was? - Das der einzelnen Mitglieder aus denen sie besteht. - wp] (Principles); vgl. auch "Fragment. on government" und "Essay on Political Tactics".
    25) Vgl. hierüber BRENTANO, Ursprung der sittlichen Ideen, Anmerkungen Seite 85f.
    26) BENTHAM, Deontologie, Seite 74
    27) Man vgl. BENTHAM, Deontologie, Seite 25 und dagegen Works I, Principles, Kap. 1.