tb-4 William GodwinPaul EltzbacherMax StirnerP.-J. Proudhon    
 
KARL DIEHL
Der Anarchismus

"Es ist ein Irrtum, daß der Anarchismus nichts anderes sei, als der ins äußerste Extrem getriebene Sozialismus. Sehr weit verbreitet ist die Meinung, die Anarchisten hätten dieselben Ziele wie die Sozialisten, sie stellten nur den radikalen Flügel dar; sie wollten auf gewaltsamem Weg das erreichen, was die Sozialisten auf dem Wege allmählicher politischer Betätigung erreichen wollten. Diese Auffassung ist vollkommen irrig. Anarchismus und Sozialismus sind himmelweit verschieden, sie sind die denkbar größten Gegensätze."

"Der Mensch braucht nur zu begreifen, daß der Zweck seines Lebens die Erfüllung von Gottes Gesetz sei und dieses Gesetz, welches für ihn alle anderen Gesetze ersetzen müsse, werde allen menschlichen Gesetzen ihre Verbindlichkeit nehmen. Der Christ befreie sich also von jeder Menschengewalt dadurch, daß er für sein Leben und das Leben anderer das göttliche Gesetz der Liebe als einzigen Leitfaden betrachte, welcher in die Seele jedes Menschen gelegt und durch Christum zum Bewußtsein gebracht worden sei. Dem christlichen Gebot widersprechen alle staatlichen Obliegenheiten, der Eid, die Abgaben, das Gericht und das Heer, aber eben auf diesen Verpflichtungen gründe sich die Gewalt des Staates. Das Christentum in seiner wahren Gestalt zerstört den Staat. Zur Erreichung dieses Ziels, das heißt der anarchistischen Gesellschaftsordnung dürfe aber niemals Gewalt angewendet werden."

I.
Die Theorie des Anarchismus


"Warum mir aber in neuester Zeit
Anarchie gar so wohl gefällt?
Ein jeder lebt nach seinem Sinn
Das ist nun also auch mein Gewinn,
Ich lasses einem jeden sein Bestreben,
Um auch nach meinem Sinn zu leben."


In diesen Versen hat GOETHE das Wesen des Anarchismus in knapper Form treffend charakterisiert.

Der Anarchismus stellt das System der größten menschlichen Freiheit dar. Zweierlei weitverbreitete Irrtümer über das Wesen des Anarchismus müssen von vornherein richtig gestellt werden. - Oft wird der Anarchismus verquickt mit den anarchistischen Verbrechertaten, die in neuerer Zeit so häufig das allgemeine Interesse auf sich gelenkt haben und man meint, der Anarchismus stelle nur eine verbrecherische Sekte dar, der aber jedes soziale oder politische Programm fehle. Dies ist durchaus nicht zutreffend. Wir müssen das sozialphilosophische System des Anarchismus von der anarchistischen  Propaganda der Tat  wohl unterscheiden. Nur diese anarachistische Propaganda der Tat hat es mit den verbrecherischen Anschlägen zu tun, von denen ich eben gesprochen habe, während die anarchistische Sozialtheorie eine sozialphilosophische Richtung ist. Die berühmtesten Vertreter der an anarchistischen Theorien sind, wie wir später noch sehen werden, Anhänger einer friedlichen Sozialreform gewesen.

Der zweite Irrtum ist, daß der Anarchismus nichts anderes sei, als der ins äußerste Extrem getriebene Sozialismus. Sehr weit verbreitet ist die Meinung, die Anarchisten hätten dieselben Ziele wie die Sozialisten, sie stellten nur den radikalen Flügel dar; sie wollten auf  gewaltsamem  Weg das erreichen, was die Sozialisten auf dem Wege allmählicher politischer Betätigung erreichen wollten. Diese Auffassung ist vollkommen irrig. Anarchismus und Sozialismus sind  toto coelo  [soweit der Himmel reicht - wp] verschieden, sie sind die denkbar größten Gegensätze.

Ich will in dieser Vorlesung über Anarchismus mich darauf beschränken, das Wesen des Anarchismus im allgemeinen und die wichtigsten sozialphilosophischen Systeme des Anarchismus darzulegen. In der nächsten Vorlesung will ich die anarachistische Propaganda schildern und eine kurze Kritik der anarchistischen Theorie geben.

Der Anarchismus ist das System des extremen politischen und wirtschaftlichen Liberalismus.

Es ist die Lehre, daß nur aus der völligen  Freiheit  der Volksgenossen ein harmonisches Zusammenwirken sich ergebe. Diese Theorie steht also in direktem Gegensatz zum Sozialismus und zur Sozialdemokratie die eine sehr straffe Bindung der einzelnen Individuen und eine viel schärfere Zwangsorganisation als die bestehende Rechtsordnung fordert. Während die sozialistische Gesellschaft die Freiheitssphäre des einzelnen aufs äußerste einschränkt, ist hier der individuellen Freiheit der denkbar größte Spielraum gegeben. Der Anarchismus ist die ins Extrem getriebene  Manchesterlehre:  diese will dem Staat eine möglichst  geringe  Einwirkung auf das wirtschaftliche Leben zugestehen. Der Staat soll im wesentlichen den Schutz der Bürger nach außen und innen garantieren. Der Anarchismus geht noch einen Schritt weiter und hält auch diese staatliche Fürsorge für überflüssig. Auch hierfür könne der einzelne selbst Sorge tragen; besondere öffentliche Einrichtungen zum Schutz der Bürger sei nicht nötig. Und wenn - wie ROUSSEAU berichtet - in Genua am Eingang der Gefängnisse und auf den Fesseln der Galeerensklavven das Wort "libertas" steht, um anzudeuten, daß die Übeltäter aus allen Ständen die einzigen wären, die den Bürger hindern könnten, frei zu sein, so soll, nach der Meinung der Anarchisten, die Gesellschaft sich sogar ohne Strafgesetze, nämlich durch Selbsthilfe der Betroffenen, auch der Verbrecher, erwehren können. Darin sind sich alle Anarchisten einig, daß sie keinen rechtlichen Zwang haben wollen. Aber, so werden Sie fragen, wie kann jeder tun, was ihm beliebt, da doch so häufig die Menschen einander nötig haben? Die Menschen müssen doch voneinander kaufen, pachten, mieten usw. Sie wollen Schulen, Straßen, Eisenbahnen gemeinsam bauen, sie wollen heiraten usw. In allen diesen Fällen treten Menschen in  Beziehung  zueinander. Wie anders als durch Rechtssatzungen sollen diese Beziehungen festgelegt werden? Gewiß, antworten die Anarchisten, treten die Menschen vielfach in Beziehungen miteinander und brauchen für vielerlei Dinge ein gemeinschaftliches Handeln, aber wo und wann dies geschieht, soll es nur auf dem Weg  freiwilliger Vereinigung  und  stets  kündbarer Verträge' geschehen. Die Menschen sollen also, wenn sie gemeinsame Ziele und Zwecke verfolgen, sich zu  Vereinen  verbinden, aber der Austritt soll jedem jederzeit freistehen und kein rechtlicher Zwang bindet die Menschen an die Vereine. Wollen sie also kaufen, verkaufen, pachten, vermieten, so soll dies alles durch freiwilliges, persönliches Übereinkommen geschehen, an das sie sich durch gegenseitiges Versprechen gebunden halten. Wollen sie zu einem Konsumverein oder zu einer Produktivgenossenschaft zusammentreten, so können sie dieses, aber die Genossenschaft hat nicht das Eigentum an den Mitteln der Gemeinschaft, sondern jedem einzelnen steht das völlig freie Verfügungsrecht über seinen Anteil zu. Will eine Gemeinde eine Straße, Brücke oder Schule bauen oder wollen mehrere Gemeinden eine Eisenbahn einrichten, so mögen sie sich zu derartigen gemeinschaftlichen Einrichtungen durch vertragsmäßige Vereinbarungen einigen, aber es soll kein staatlicher oder gesellschaftlicher Zwang vorhanden sein, der sie  verpflichtet,  an derartigen Einrichtungen teilzunehmen. Wollen zwei Leute eine Ehe eingehen, so bilden sie zusammen eine familiäre Gruppe; sie vereinbaren gegenseitig ihre Rechte und Pflichten, aber irgendwelche rechtliche Garantien und Privilegien, die ihnen aufgezwungen werden, soll es nicht mehr geben.

Wenn ich bei meiner Darstellung des Anarchismus bisher die  politischen  Ziele dieser Richtung in der Vordergrund gestellt habe und nicht das  wirtschaftliche  Programm, so geschah dies deshalb, weil das Wesen des Anarchismus in der  staatsrechtlichen  Theorie liegt, daß die geeignetste Form menschlichen Gesellschaftslebens das absolut zwanglose Zusammenleben sei. Die wirtschaftlichen Reformpläne sind bei den einzelnen Anarchisten sehr verschiedenartige.

Das, was der Anarchismus anstrebt, läßt sich so charakterisieren: sie wollen, daß sich das menschliche Gesellschaftsleben auflösen soll in freie Vereinigungen zwanglos untereinander verbündeter Gruppen. Wie diese zwanglosen menschlichen Vereinigungen sich zu der Frage des  Privateigentums  stellen, das läßt sich nicht einheitlich beantworten. Nur soviel sei bemerkt, daß die Mehrzahl der Anarchisten und zwar gerade die konsequentesten von ihnen, ebenso entschiedene Anhänger des Privateigentums sind, wie die Sozialisten demselben gegnerisch gegenüberstehen. Das Privateigentum soll nur von gewissen Ungerechtigkeiten, mit denen es heute noch behaftet sei, befreit werden. Dann aber soll es in noch viel weitergehendem Maße als in der heutigen Gesellschaftsordnung die Grundlage der wirtschaftlichen Rechtsordnung bilden. Das ist im Wesen des Anarchismus begründet. Eine Theorie, welche dem einzelnen Menschen die größte Ausdehnung seiner Freiheitssphäre gewähren will, muß auch den Individuen durch das Privateigentum die Möglichkeit geben, diese Freiheit zu betätigen.

Wir werden allerdings später eine Richtung des Anarchismus kennen lernen, den sogenannten  kommunistischen  Anarchismus, der eine gewisse Gütergemeinschaft fordert. Aber abgesehen davon, daß in dieser Richtung des kommunistischen Anarchismus zweifellos etwas Widerspruchsvolles, Inkonsequentes liegt, ist zu beachten, daß diese Gütergemeinschaft nur durchgeführt werden soll innerhalb kleiner lokaler autonomer Menschengruppen, die im übrigen selbständig und frei handeln dürfen. Im Gegensatz zum Kommunismus, der eine möglichst große  Zentralisation  anstrebt, dem als Ziel vorschwebt, daß immer größere Menschenverbände nach dem System der Zentralisation in Gütergemeinschaft leben sollen, wünscht der kommunistische Anarchismus die größte  Dezentralisation.  Hier soll also das kommunistische Prinzip nur für kleine autonome Menschengruppen durchgeführt werden.

So sehr auch die Ziele des Anarchismus und Sozialismus auseinandergehen, so ist er doch aus derselben  naturrechtlichen  Wurzel hervorgegangen, wie ein großer Teil der sozialistischen Theorien. Wie der ethische Sozialismus eine Folgerung aus bestimmten naturrechtlichen Sätzen war, so ist das auch mit dem Anarchismus der Fall. Aus der Lehre von den angeborenen gleichen Menschenrechten hatte der Sozialismus und Kommunismus das Recht auf  gleichen Besitz  abgeleitet. Der Anarchismus bildete die Lehre von den angeborenen Menschenrechten fort zur Lehre vom angeborenen Recht jedes einzelnen auf  volle persönliche Freiheit. 

Die anarchistische individualistische Sozialphilosohie weist drei berühmte Vertreter auf: den Engläner WILLIAM GODWIN, den Franzosen PIERRE JOSEPH PROUDHON und den Deutschen MAX STIRNER. - Der erste Begrüner des theoretischen Anarchismus ist der Engländer WILLIAM GODWIN. Geboren 1756 als Sohn eines Geistlichen der Dissidentenkirche einer kleinen englischen Provinzstadt, ist GODWIN bekannt durch seine Ehe mit der berühmten Vorkämpferin der Frauenbewegung in England, MARY WOLLSTONECRAFT. Über das Leben dieser beiden und ihre sozialphilosophische Bedeutung hat uns HELENE SIMON in einem fesselnd geschriebenen kleinen Werk unterrichtet. - In seinem 1793 erschienenen Hauptwerk: "Enquiry concerning political justice and its influence on morals and happiness" hat GODWIN die Grundzüge seiner anarchistischen Theorie dargelegt. Dieses Werk hat literaturhistorisch dadurch eine gewisse Berühmtheit erlangt, daß eine Stelle daraus MALTHUS zur Abfassung seines Werkes über die Bevölkerung veranlaßte. GODWIN behauptet dort, daß bei vernünftiger Gesellschaftsordnung der Vermehrung des Menschengeschlechts gar keine Grenzen gesetzt seien. "Die heutige Gesellschaftsordnung erdrosselt die Kinder in der Wiege" sagt er an einer Stelle und an einer anderen: "Myriaden von Jahrhunderten mit stetig wachsender Bevölkerung können noch darüber hingehen und die Erde wird noch immer imstande sein, ihre Menschen zu ernähren."

Man merkt diesem Werk an, wie sehr es unter dem Einfluß der französischen Revolution geschrieben ist. Zweifellos war GODWIN in stärkstem Maße durch ROUSSEAU, HELVETIUS und überhaupt durch die französische Aufklärungsphilosophie beeinflußt, aber nicht minder durch englische Philosophen wie LOCKE, HUME, ADAM SMITH, BENTHAM u. a. m.

GODWIN will in seinem Werk untersuchen, welche  Form der politischen Gemeinschaft  am geeignetsten sei, die allgemeine Wohlfahrt zu verbürgen. Er sucht die Frage zu beantworten: Wie kann die individuelle und unabhängige Tätigkeit jedes einzelnen im gesellschaftlichen Leben am besten geschützt werden? Wie kann die Sicherheit, die jedermann hinsichtlich des Schutzes seines Lebens und des Gebrauchs seiner Fähigkeiten bedarf, am sichersten vor Eingriffen bewahrt werden? Wie kann man am meisten dazu beitragen, die Menschen  glücklich  zu machen?

Vor allem, meint GODWIN, dürfe nicht vergessen werden, daß die  Regierung  als solche, abstrakt genommen, ein Übel sei, ein Eingriff in die private Urteilskraft und das individuelle Bewußtsein der Menschheit, und daß, wenn wir auch genötigt seien, sie als ein  notwendiges  Übel für die gegenwärtige Zeit noch beizubehalten wir als Freunde der Vernunft und der Menschlichkeit nur so wenig als möglich davon zulassen dürfen und immer danach trachten müssen, das Wenige davon noch mehr zu vermindern. Jede Regierung entspreche bis zu einem gewissen Grad dem, was die Griechen eine Tyrannei nannten. Wie der ökonomische Liberalismus mit den Beschränkungen  wirtschaftlicher  Freiheit aufgeräumt habe, so müsse auch die Beschränkung aller  politischen  Freiheiten beseitigt werden: "Heute weiß man, daß der Handel am besten blüht, wo er von der Aufsicht der Gesetzgebung befreit ist. Nichts kommt der Unvernunft und der Aussichtslosigkeit des Versuchs gleich, die  unabänderlichen  Gesetze des Weltalls' durch  positive Vorschriften  ersetzen zu wollen."

Die Regierung kann nach GODWIN nur zwei Zwecke haben, einmal die Unterdrückung der Ungerechtigkeit innerhalb des Gemeinwesens und zweitens die gemeinsame Verteidigung gegen den Einfall von außen. Dazu sei aber keine Regierungsgewalt nötig. Für den ersten Zweck genüge eine Assoziation, welche eine Jury einsetzen könne, die über Beleidigungen gegen Mitglieder des Gemeinwesens und über die Eigentumsstreitigkeiten zu entscheiden hätte. Kleine Gemeinden, die  Kirchspiele  [alle Gemeinden einer Pfarrei - wp], seien hinreichend, um diese Justiz selbständig auszuüben; da aber einer, der sich vergangen habe, sich leicht der Jurisdiktion seines Kirchspiels entziehen könne, sei es nötig, daß sich die Gemeinden untereinander über die Verurteilung oder Auslieferung solcher Verbrecher verständigten.

Die Verbrecher sollten so gestraft werden, daß die Jury die Verbrecher auffordere (invite), sich ihr verbrecherisches Leben abzugewöhnen; wenn der Verbrecher dieser Aufforderung nicht nachkomme, werde er viel schwerer unter der allgemeinen Mißbilligung zu leiden haben, als ihn die ihm auflegte Strafe bedrücken würde. Die Kirchspiele brauchten auch keine geschriebenen Gesetze, sondern könnten die Justiz von Fall zu Fall auszuüben.

Die allgemeine Gerechtigkeit und das gegenseitige Interesse könnten die Menschen viel besser miteinander verbinden als Siegel und Unterschriften von Amtsrichtern. Eine aufgeklärte Politik müsse also autonome Gemeinden anstreben: groß genug für die Einsetzung einer Jury zur Rechtsprechung bei Verfehlungen der Mitglieder und zur Entscheidung über Eigentumsfragen. Diese Jury sei die einzige  ständige öffentliche  Einrichtung. Daneben sei eine Art Nationalversammlung, die nur im Bedarfsfall tagen soll, vorzusehen: eine von den einzelnen Gemeinden zu delegierende Körperschaft zur Beilegung etwaiger Grenzstreitigkeiten und zur Leitung der gemeinsamen Landesverteidigung.

GODWIN erklärte, daß die  Anarchie  nicht ein Zustand der Unordnung sein solle, sondern der Zustand  gegenseitiger Nachsicht  (mutual forbearance). Die anarchistische Doktrin ist bei GODWIN die Konsequenz des individualistischen Prinzips. Der Mensch, erklärt GODWIN, ist eine Art Wesen, dessen Vortrefflichkeit allein von seiner Individualität abhängt und das weder weise noch groß sein kann, außer wenn es unabhängig ist,  die Regierung sei in allen Fällen ein Übel.  Das Endziel müsse auch über die autonomen Gemeinden noch hinausgehen und laute: Auflösung der  Gesellschaft  in  selbstherrliche  Einzelwesen: "Wenn die Juries nicht mehr entscheiden, sondern nur noch  Aufforderungen  erlassen,  wenn der Zwang allmählich schwindet und man allein der Vernunft vertraut,  werden wir nicht eines Tages finden, daß Juries und alle anderen öffentlichen Einrichtungen unnötig sind?"

"Mit welchem Vergnügen", ruft GODWIN aus, "muß jeder wohlunterrichtet Freund vorwärts blicken auf die glückliche Periode der Auflösung jeder politischen Herrschaft, dieser unvernünftigen Maschine, welche die einzige, immerwährende Ursache der Laster der Menschheit gewesen ist."

Die Eigentumsfrage hängt nach GODWIN eng mit der Frage nach der Regierungsform zusammen; die Periode, welche dem System des Zwangs und der Bestrafung ein Ende mache, werde auch das Eigentum auf gerechter Grundlage (equitable basis) errichten.

GODWIN nennt das Eigentum ein Patent, aufgrund dessen das Eigentum von der Arbeit anderer lebe. "Es ist eine schwere Täuschung, der sich die Menschen hingeben, wenn sie vom Eigentum sprechen, das ihnen von ihren Ahnen vermacht sei. Das Eigentum wird produziert durch die tägliche Arbeit derer, die jetzt leben. Alles, was ihre Ahnen ihnen vermacht haben, war ein schimmeliges Patent, welches sie vorzeigen als ein Anrecht, von ihren Mitmenschen zu erpressen, was die Arbeit dieser Mitmenschen hervorgebracht hat."

GODWIN will das Eigentum und die individualistische Wirtschaftsweise nicht abschaffen: "ohne jedermann bis zu einem beträchtlichen Grad die Ausübung seiner eigenen Willkür zu gestatten, kann keine Unabhängigkeit, kein Fortschritt, keine Tugend und kein Glück sein. Das Eigentum ist das Palladium all dessen, was uns teuer sein soll." Er erhofft die soziale Reform von einer Umgestaltung des Menschengeschlechts in  moralischer Hinsicht:  Gegner alles revolutionären, ja nur sozialpolitischen Handelns, erwartet er alles vom Sieg der Gerechtigkeitsidee. Aufgabe des wahren Politikers sei es, die Menschen allmählich davon zu entwöhnen, das Eigeninteresse bei ihrem Tun zu erwägen und sie dahin zu bringen, sich des Vorteils anderer zu erfreuen.

Er hofft, die Menschen würden es einmal als eine Ungerechtigkeit empfinden, reich zu sein, wenn andere darben und  freiwillig  auf ihren Reichtum verzichten: sobald jemand eine Sache besäße, von der er glaube, daß sie in den Händen anderer mehr Nutzen stiften könne, solle er freiwillig diese Sache an den andern abtreten.

GODWINs Werk stellt die erste wissenschaftliche Begründung der anarchistischen Theorie dar; es hat aber in keiner Weise auf die anarchistische Ideenrichtung eingewirkt. Zwar wurde es zur Zeit seines Erscheinens viel gelesen, erlebte auch mehrere Auflagen, hatte aber keinen nachhaltigen Erfolg und wurde bald vergessen. Beachtung fand es überhaupt nur als Manifest des ultraradikalen politischen Liberalismus. Die extremen Liberalen haben gerne daraus geschöpft, aber für die Entwicklung der anarchistischen Gedankenwelt hat es nie eine Rolle gespielt.

Der eigentliche Begründer des Anarchismus in dem Sinne, daß eine nachhaltige anarchistische Bewegung entstand, ist P. J. PROUDHON. Er hat zuerst die anarchistische Theorie eingehend begründet und gleichzeitig für seine Theorien eine lebhafte Agitation entfaltet und dadurch einen großen Einfluß auf die soziale Bewegung hervorgerufen.

PROUDHON (1809 - 1865), der Sohn armer Bauern, der sich bis zu seinem 22. Lebensjahr seinen Unterhalt als Setzer verdienen mußte, hatte es durch rastlosen Fleiß dahin gebracht, daß ihm trotz höchst mangelhafter Schulbildung von der Akademie Besancon ein Stipendium und ein Preis für eine Arbeit über die Sonntagsruhe gegeben wurde. Als dieselbe Akademie eine Preisarbeit "über die Folgen der gleichen Erbteilung unter den Kindern" stellte, beteiligte er sich daran mit einer Schrift, die viel Aufsehen erregte.

Sie führte den Titel "Qu'est-ce-que la propriéte?" [Was ist das Eigentum?] (1840) und gab auf diese Frage die berühmte Antwort: "La propriéte, c'est le vol." [Das Eigentum ist Diebstahl. - wp] Aufgrund dieses Anspruchs wird PROUDHON oft für einen Kommunisten gehalten, für einen Gegner des Privateigentum. Bei näherem Eindringen in sein Buch ergibt sich das gerade Gegenteil, nämlich, daß PROUDHON ein energischer Anhänger des Privateigentums ist, daß er aber alle Menschen zu Privateigentümern machen möchte und die individuelle Freiheit der Menschen so hoch hält, daß er die Herrschaftslosigkeit, d. h. die Anarchie predigt.

Die Anarchie ergibt sich für PROUDHON als Folgerung aus seinem Gerechtigkeitsideal. Wie STAHL seine Geschichte der Rechtsphilosophie mit den Worten beginnt: "Rechtsphilosophie ist die Wissenschaft des Gerechten"; so konnte auch PROUDHON die Grundidee seiner Sozialphilosophie in den Begriff der sozialen Gerechtigkeit zusammenfassen. Nur mit dem Unterschied, daß bei dem deutschen Rechtsphilosophen die Gerechtigkeit ein göttliches Gebot ist, während sie bei PROUDHON rein menschlichen Wesens ist.

Auf PROUDHONs sozialphilosophische Idee war sein emsiges Studium der französischen, englischen und deutschen philosophischen Literatur von großem Einfluß gewesen. Von den Franzosen haben besonders VOLTAIRE, DIDEROT, VOLNEY, d'ALEMBERT, von den Engländern SHAFTESBURY, HUTCHESON, BUTLER und von den Deutschen KANT, HEGEL und FEUERBACH auf ihn eingewirkt. Keinem der genannten Philosophen schloß er sich rückhaltlos an; allem Dogmatischen abhold, ging er seine eigenen Wege und sein unruhiger Geist vertrug es nicht, ein bestimmtes Lehrsystem anzunehmen.

Wenn PROUDHON als wichtigste Reform der Gesellschaft die anarchistische Verfassung vorschlug, so erhebt sich die Frage: Wie soll eine solche rein  politische  Reform zu Besserung der  wirtschaftlichen  Verhältnisse des Volkes führen? Wenn anstelle der  Rechtsordnung  der lose Zusammenhang  menschlicher Vereinigungen  tritt, wie soll dadurch die Lebenslage der großen Masse des Volkes in wirtschaftlicher Hinsicht eine Besserung erfahren? Darauf ist folgendes zu antworten: Diese  politische  Reform sollte nur im Zusammenhang mit einer tiefgreifenden  sozialen  Reform in Erscheinung treten. Erst wenn zwei Despoten des  sozialen  Lebens, nämlich Geld und Zins, gestürzt seien, könne auch die politische Despotie beseitigt werden. PROUDHON ist nicht wie GODWIN des naiven Glaubens, daß durch freiwillige Opfer seitens der Eigentümer das Privateigentum von seinen Härten befreit werden könnte.

Er war der Meinung, daß die Ursache aller sozialen Not nicht aus der Sphäre der  Produktion  der Güter stamme, sondern aus der Sphäre der  Zirkulation  der Güter. Zwei Einrichtungen des privatkapitalistischen Systems seien es, durch welche die große Majorität der Menschheit wirtschaftlich geknechtet würde und in steter Not und Abhängigkeit leben müsse, nämlich das gemünzte  Geld  und der  Zins  des Leihkapitals.

Durch die Einführung des  Geldes  habe man der arbeitenden Menschheit eine lästige Fessel aufgebürdet. Sobald Geld allein als Tauschmittel in Betracht komme, müsse jeder Handwerker und Gewerbetreibende, der auch noch so fleißig seine Arbeit verrichtet habe, warten, bis er jemand fände, der das nötige bare Geld habe. Viel einfacher, besser und leichter wäre es, wenn  alle Güter  Tauschmittel wären, wenn alle Güter untereinander nicht gegen den künstlichen Geldwert, sondern gegen den natürlichen Wert, der in ihnen selbst steckt und der in der Arbeit bestehe, welche es gekostet hat, die Güter herzustellen, ausgetauscht würden.  Alle  Güter wären dann Tauschmittel und das Privileg des Gelds wäre beseitigt.

Eine zweite harte Bedrückung sei der  Zins  des Leihkapitals. Viele fleißige Leute, die irgendetwas unternehmen wollten, kämen nicht dazu, weil ihnen das Kapital fehle und um Kapital zu erlangen, müßten sie einen haren, drückenden Tribut in Form des Zinses an den Kapitalisten zahlen.

Gelänge es, meint PROUDHON, diese beiden wirtschaftlichen Despoten zu beseitigen, so könne im übrigen die freie privatwirtschaftliche Produktionsweise bestehen bleiben; das Privateigentum wäre dann gereinigt; es könnte von allen seinen Ungerechtigkeiten befreit, die richtige allgemeine Basis des sozialen Systems werden.

PROUDHON hatte den Plan gefaßt, in einer sogenannten  Tauschbank  diese beiden Ziele: Beseitigung des Geldes und des Zinses durchzuführen. Die Tauschbank sollte jedem Produzenten, der sein Produkt gegen Tauschbons eintauschen wollte, offenstehen; z. B. ein Schuster liefert Stiefel und erhält dafür einen Tauschbon im Betrag des Preises der Stiefel. Für diesen Tauschbon kann er in der Bank irgendeinen anderen Gegenstand zu demselben Preis erhalten. Bei der Festsetzung der Preise sollten die Produzenten gegenseitig die auf die Waren verwendete Arbeitszeit und die Auslagen berechnen, aber auf Gewinn verzichten. Die Preise sollten durch Taxatoren der Bank kontrolliert werden. Es war PROUDHONs Hoffnung, daß die Tauschbank allmählich immer mehr Mitglieder gewinnen werde, so daß schließlich alle Produzenten und Konsumenten ihr angehören müßten; dann sollte das Geld überflüssig sein, alle Umsätze müßten mit Tauschbons vorgenommen werden. Der lästige und drückende Profit des Zwischenhandels würde dann ebenfalls fortfallen. - Durch diese Tauschbank sollte auch die  Unentgeltlichkeit des Kredits  erreicht werden. Die Kunden der Bank sollten sich untereinander unentgeltlich Kredit gewähren. Auf diese Weise würde der Kapitalzins verschwinden. - Da alle Mitglieder der Bank miteinander durch gegenseitige Dienste verbunden sein sollten, so kann man PROUDHONs System auch mit dem Namen  Mutualismus  bezeichnen. - Auf diese Weise wäre jedem Produzenten ein Recht  auf Absatz  seiner Produkte und ein  Recht auf Kredit  garantiert; von der Tyrannei des Geldes und des Kapitals befreit, sei dann der Zeitpunkt für die Menschheit gekommen, sich auch von der Tyrannei aller  Regierungsformen  und aller  Gesetze  zu entledigen.

Die Grundidee des PROUDHONschen Anarchismus, die er in seinen beiden Werken "Les confessions d'un révolutionnaire" (1849) und "Idée générale de la révolution au XIX' siécle" (1851) niedergelegt hat, ist folgende: Das ganze Regierungssystem sei nur dazu da, um die Vorrechte der besitzenden Klassen gegenüber den Besitzlosen aufrecht zu erhalten. Mit dem Augenblick, wo die von ihm vorgeschlagenen wirtschaftlichen Reformen, namentlich die Unentgeltlichkeit des Kredits, durchgeführt seien, sei auch die Autorität überflüssig; dann könne jeder selbst herrschen und sich selbst Gesetze geben. Nicht Anordnung soll PROUDHONs Anarchie bedeuten, sondern die größte Ordnung und Harmonie aller. Anstelle der Gesetze sollten Verträge treten, die von den Mitgliedern der einzelnen wirtschaftlichen Gruppen, Vereine, Gesellschaften, Korporationen, Assoziationen untereinander auf der Grundlage eines freien Austauschs der Produkte und des unentgeltlichen Kredits geschlossen werden. Diese wirtschaftlichen Gruppen sollten auch ihre eigene Polizeit haben und die Verwaltung ihrer Angelegenheiten selbst übernehmen. Mit einem Wort: Jeder sei Selbstherrscher, sobald anstelle der politischen Gewalten die ökonomischen Kräfte träten.

Die Zwangsrechtsordnung sollte durch eine vertragsmäßige Bindung ersetzt werden:
    "Man muß mit einem Wort alles, was Zeitiges in der Regierung der Gesellschaft besteht, unterdrücken und das Gebäude neu aufbauen auf der menschlichen Idee des Vertrages. In der Tat, wenn ich wegen eines Gegenstandes den Vertrag, den ich mit einigen machte, mit allen machen könnte, wenn ihn alle untereinander erneuern könnten, wenn jede Gruppe von Bürgern, Gemeinden, Departements, Korporationen, Gesellschaften usw. durch einen gleichen Vertrag gebildet und als eine moralische Person betrachtet würden, so könnte sie mit jeder der anderen Gruppen und mit allen verhandeln. Es wäre gerade, als ob mein Wille sich bis ins Unendliche wiederholte. Der Vertrag anstelle der Herrschaft der Gesetze würde die wahre Regierung des Bürgers und des Menschen begründen, die wahre Souveränität des Volkes, die wahre Revolution."
In voller Konsequenz seiner anarchistischen Doktrin geht PROUDHON so weit, die staatliche Justiz- und Strafgewalt als überflüssig zu erklären:
    "Alle Regierungshandlungen sind dann überflüssig. Der Kultus von Staatswegen ist unnütz; wer ein Bedürfnis nach religiöser Erbauung hat, soll sich seine Priester selbst bezahlen. Ebenso soll es sich mit der Justiz verhalten. Die Gesellschaft soll sich verteidigen, wenn sie angegriffen wird, das ist ihr Recht, sie soll sich rächen, das kann in ihrem Interesse liegen; aber daß sie urteilt und nach dem Urteil straft, das Recht bestreite ich ihr und ihrer Autorität. Der Mensch allein hat das Recht, über sich zu urteilen, und wenn er sich schuldig fühlt, wenn er glaubt, daß eine Buße ihm gut sein, kann er eine Strafe verlangen. Die Gerechtigkeit ist ein Akt des Gewissens, wesentlich freiwillig; das Gewissen kann aber nur verurteilt, bestraft oder freigesprochen werden durch sich selbst, alles übrige ist Autoritätsherrschaft, ist Mißbrauch der Gewalt. Ich verstehe, daß Leute, die einen Diebstahl, Mord usw. begingen, da sie im Krieg mit der Gesellschaft sind, aufgefordert und gezwungen werden, den Schaden, den sie angerichtet haben, wieder gut zu machen und die Kosten, die sie verursacht haben, zu tragen. Aber daß man außerdem diese Individuen gefangen setzt, Geist und Körper peinigt, sie sogar guillotiniert, nochmals, ich bestreite, daß die Gesellschaft zu einer solchen Handlung berechtigt ist. Die vollkommene und sofortige Abschaffung der Gerichtshöfe und Tribunale ist eine der ersten Forderungen der Revolution; ebenso muß die Polizei und Verwaltung verschwinden und jeder Haushalt, jede Werkstätte, jede Korporation, jede Kommunie sollte ihre eigene Polizei haben und ihre Angelegenheiten selbst verwalten. Anstelle einer Million Gesetze genügt eines und das lautet: "Tue anderen nichts, was du nicht willst, das man dir tue und tue andern, was du willst, das man dir tue."
PROUDHON hat an seiner anarchistischen Lehre nicht festgehalten. In seinem 1863 erschienen Werk "Du principe fédératif" erklärt er, daß die Anarchie nur ein Ideal sei, aber nie verwirklicht werden könne, daß vielmehr die richtige Regierungsform die des Föderalismus sei, das heißt eine möglichst dezentralisierte Regierung. Die politische Organisation soll in der Bildung möglichst vieler kleiner Gruppen mit weitgehender Selbstverwaltung bestehen.

Gerade in PROUDHONs Lehren und seiner politischen Wirksamkeit ist der  antisozialistische  Charakter des Anarchismus besonders deutlich erkennbar. PROUDHON trat hauptsächlich zur Zeit der Februarrevolution in der Öffentlichkeit hervor und er betrachtete es als seine Hauptaufgabe, die proletarisch-sozialistischen Tendenzen zugunsten seiner freiheitlichen Forderungen zu bekämpfen. In jener Zeit, wo alle möglichen sozialistischen und kommunistischen Parteien und Vereine wie die Pilze aus der Erde schossen, damals, als die provisorische Regierung, zu deren Mitgliedern vier entschiedene Sozialisten gehörten, diesen Ideen in weitestgehendem Maße Rechnung trug, entfaltet PROUDHON eine rastlos Tätigkeit zur  Bekämpfung  der sozialistischen und kommunistischen Theorien. Nichts ist so charakteristisch für den Zusammenhang zwischen Anarchismus und Manchestertum, als daß PROUDHON in seinem Briefwechsel über Kapital und Zins mit BASTIAT, dem Führer der französischen Freihandelsbewegung, diesen immer wieder seiner Hochachtung und Zuneigung versicherte.
    "Freiheit!" schreibt PROUDHON in einem Brief an BASTIAT, "dies ist das erste und letzte Wort der Sozialphilosophie. Es ist seltsam, daß wir, nach so vielen Schwankungen und Rückschritten auf der gefährlichen und verwickelten Bahn der Revolution, schließlich entdeckten, daß das Heilmittel für so viel Elend, die Lösung so vieler Probleme darin besteht, der  Freiheit  eine  freiere  Bewegung zu verschaffen und die Schranken fallen zu lassen, welche die Autorität des Staates und des Eigentums gegen sie erhoben hat."
Wie GODWIN war auch PROUDHON Gegner eines revolutionären Vorgehens zum Zweck der Durchführung der anarchistischen Ideen. Er meinte mittels seiner dargelegten ökonomischen Reformen und durch die Aufklärung des Volkes auf friedlichem Wege am besten zu seinem Ziel gelangen zu können. Der Ausbruch der Februarrevolution kam ihm höchst unerwünscht, da er ihn an der Durchführung seiner Reformpläne hinderte und ihm überhaupt der Gedanke revolutionären Vorgehens verfehlt erschien. In einem Artikel seiner Zeitung "Peuple" setzte er einmal der Bergpartei gegenüber seine Auffassung der Revolution auseinander: "Das Proletariat muß sich mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit jedes mittelbaren oder unmittelbaren politischen, fiskalischen oder sonstigen Angriffs auf das Kapital und das Eigentum enthalten, weil ein solcher Angriff - mit welchem Namen man ihn auch verschleiern möge - nur eine Art und Weise, das Übergewicht des Kapitals anzuerkennen, also ein Widerspruch, wäre; nur dadurch kann die Arbeit über das Kapital triumphieren, daß sie sich in und durch sich selbst, durch die Assoziation, durch wechselseitige Garantie, durch eine selbstbestimmende Organisation ins Werk setzt." Er konnte einst mit Recht ironisch sagen: "J'aurais pu arriver á mon but en dênant tous les jours avec le préfet de police." [Ich konnte meine Vorstellungen in die Tat umsetzen, in Zusammenarbeit mit dem Polizeichef - wp]



In den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts versammelte sich in der HIPPELschen Weinstube in Berlin öfters ein Kreis von Männern, die ihrer politischen Gesinnung nach zur äußersten Linken gehörten und deshalb den Namen  "die Freien"  erhielten. Zu ihnen gehörten unter anderem die beiden Brüder BAUER (BRUNO und EDGAR BAUER), Dr. EDUARD MEYEN und einige Führer der Freihandelsbewegung, darunter JULIUS FAUCHER und JOHN PRINCE-SMITH. An diesem Kreis nahm auch der grüblerische einsame Denker CASPAR SCHMIDT teil, der 1844 unter dem Namen MAX STIRNER ein Buch unter dem Titel "Der Einzige und sein Eigentum" veröffentlichte, worin er eine neue eigenartige theoretische Darlegung des Anarchismus gegeben hat.

STIRNER war 1806 als Sohn des Instrumentenmachers in Bayreuth geboren; er lebte als Mädchenschullehrer in Berlin und starb 1856 im größten Elend und gänzlich verschollen. STIRNERs Philosophie bezeichnet den äußersten Flügel jener Jung-Hegelianer, die, wie die beiden Brüder BAUER und LUDWIG FEUERBACH in der Bekämpfung jeder göttlichen und weltlichen Autorität miteinander wetteiferten. Von FEUERBACH stark beeinflußt, ging STIRNER in seiner Kritik alles herrschenden Autoritätsglaubens noch über diesen hinaus, indem er die Lehre verkündete, daß  jede Macht,  die über den einzelnen Menschen gesetzt sei, eine  Knechtschaft  wäre. Wenn FEUERBACH sein naturalistisches Glaubensbekenntnis einmal in die bekannte Formel gefaßt hatte: Gott war mein erster Gedanke, die Vernunft mein zweiter, der Mensch mein dritter und letzter Gedanke, so war auch das für STIRNER noch nicht genügend, denn das bedeutete für ihn eine neue Form des Kultus, nämlich den Menschheitskultus. "Der Mensch" sollte nicht, wie nach FEUERBACHs Idee, "dem Menschen" das höchste Wesen sein, sondern jeder einzelne ganz persönlich für sich sollte das höchste Wesen darstellen. Die Idee der Humanität bringen den Menschen wieder in Abhängigkeit, jede Aufstellung eines Sittengesetzes sei eine lästige Bindung der einzelnen. Nicht das "Ich" als Idee, sondern das "empirische Ich" des einzelnen Individuums müsse die Grundlage und der Ausgangspunkt aller Sozialphilosophie sein. Es solle nur eine Regel für den Menschen geben: "Verwerte Dich!"

So war die extreme Denkrichtung der Anhänger der HEGELschen Linken schließlich bis zu einer reinen Verherrlichung des empirischen Ich angelangt.

Auch das FICHTEsche absolute "Ich" will STIRNER nicht gelten lassen. Wenn FICHTE sagt: Das "Ich" ist alles, so steht das nicht in Übereinstimmung mit STIRNERs Idee: "Allein nicht  das Ich  ist alles, sondern  das Ich  zerstört alles, nur das sich selbst auflösende Ich, das nie seiende Ich, das  endliche  Ich ist wirklich Ich. FICHTE spricht vom  absoluten  Ich. Ich aber spreche von Mir, dem vergänglichen Ich." STIRNERs Werk ist das Hohelied des Egoismus. Niemals ist in so schroffer und radikaler Weise das einzelne Individuum mit seinen Wünschen und Begehrungen zur Grundlage allen Gesellschaftslebens gemacht worden. Der Egoismus, der nach gewöhnlicher bürgerlicher Moral etwas Minderwertiges darstellt, wird hier zur Quelle der größten Wohlfahrt aller. Zum äußeren Zeichen seiner unbedingten Verehrung des Ich schreibt STIRNER dieses Wort immer mit großem Anfangsbuchstaben.

Schon in einem Aufsatz über Schulgesetze, den STIRNER in seinem Examen  pro facultate docendi  [Vorläufer des heutigen Staatsexamens - wp] lieferte, findet sich eine für sein Denken sehr charakteristische Stelle: "Die Universität heißt nur noch in sehr uneigentlichem Sinn  Hochschule;  statt des Lehrers stellt sich die Wissenschaft selbst dem "Ich" als Aufgabe dar und ihr Gebiet ist die Freiheit." - In der ganzen bisherigen Weltgeschichte habe der Mensch stets unfrei gelebt, er habe immer Autoritäten über sich gehabt; es seien daher die besten menschlichen Eigenschaften unterdrückt worden. Altertum und Christentum hätten keine Anerkennung des Ichs gebracht, denn das Altertum hätte als oberstes moralisches Fundament den Staat und das Rechtsgesetz aufgestellt und das Christentum hätte uns Gott als unvergängliches ewiges Gesetz gegeben. Jede Form des Staatskultus, - Gotteskultus oder Menschheitskultus - sei aber eine Versündigung an der Idee des Ichs des Egoisten. "Ob, was Ich denke und tue", sagt STIRNER, "christlich sei, was kümmerts Mich? - ob es menschlich, liberal, human, ob unmenschlich, illiberal, inhuman, was frag ich danach? Wenn es nur bezweckt, was Ich will, wenn Ich nur Mich darin befriedige, dann belegt es mit Prädikaten wie Ihr wollt, es gilt Mir gleich."

STIRNER meint keineswegs, also ob durch alle noch so liberalen Parteien und Einrichtungen, wie Demokratie, Volkssouveränität und wie die sonstigen Postulate des politischen Liberalismus heißen, auch nur das Geringste gebessert würde, denn auch die sogenannten volksfreundlichen Richtungen stellten immer wieder einen neuen Götzen auf, den der einzelne verehren müsse.

Der politische Liberalismus habe vielleicht ein freies  Volk  geschaffen, niemals aber freie  Einzelne;  was früher absolute Monarchie war, heißt man jetzt Volk oder Nation, immer aber müsse man sich wieder einem größeren Ganzen fügen. Es würde auch bei diesem politischen Liberalismus ein Staatskultus getrieben:
    "Der Staat soll eine Gemeinschaft von freien und gleichen Menschen sein und jeder sich dem Wohl des Ganzen widmen, im Staat aufgehen, den Staat zu seinen Zwecken ideal machen. Staat! Staat! So lautete der allgemeine Ruf und fortan suchte man die rechte Staatsverfassung, die beste Konstitution, also den Staat in seiner besten Fassung. Der Gedanke des Staates zog in alle Herzen ein und weckte Begeisterung; ihm zu dienen, diesem weltlichen Gott, das war der neue Gottesdienst und Kultus. Die eigentliche  politische  Epoche war angebrochen. Dem Staat oder der Nation dienen, das wurde höchstes Ideal, Staatsinteresse ... So waren dann die Sonderinteressen und Persönlichkeiten verscheucht und die Aufopferung für den Staat zum Schibboleth [Kennwort - wp] geworden.  Sich  muß man aufgeben und nur dem Staate leben."
Jeder Staat sei aber eine Despotie, seien nun einer oder viele der Despot oder seien auch, wie in manchen Republiken alle die Herren, denn immer würden doch Gesetze gegeben und durch diese Gesetze die einzelnen wieder unterdrückt.

Noch schärfer als gegen den politischen Liberalismus wendet sich STIRNER gegen den Sozialismus und Kommunismus. Hier sei die Unterdrückung des Einzelwillens in ihrer denkbar höchsten Potenz vorhanden:
    "Im Gegenteil, der Kommunismus drückt Mich durch Aufhebung allen persönlichen Eigentums nur noch mehr in die Abhängigkeit von einem andern, nämlich von der Allgemeinheit oder Gesamtheit, zurück und so laut er auch immer den Staat angreife, was er beabsichtigt, ist selbst wieder ein Staat, ein Status, ein Meine freie Bewegung hemmender Zustand, eine Oberherrlichkeit über Mich. Gegen den Druck, welchen Ich von den einzelnen Eigentümern erfahre, lehnt sich der Kommunismus mit Recht auf; aber grauenvoller noch ist die Gewalt, die er der Gesamtheit einhändigt."

    "Wenn wir das persönliche Eigentum abschaffen, dann hat keiner etwas, dann ist jeder ein Lump: Vor dem höchsten  Gebieter,  dem alleinigen  Befehlshaber  waren wir alle gleich geworden, gleiche Personen, das heißt Null; vor dem höchsten  Eigentümer  werden wir alle gleiche Lumpen. Für jetzt ist noch  Einer  in der Schätzung des Andern ein "Lump" und "Habenichts", dann aber hört diese Schätzung auf: Wir sind allzumal Lumpen und als Gesamtmasse der kommunistischen Gesellschaft können wir uns Lumpengesindel nennen."
Alles bestehende Recht ist nach STIRNER fremdes Recht, nur das sei richtiges Recht, das man sich selbst gibt. Was soll anstelle des heutigen Rechtszwanges treten? Die Menschheit solle sich auflösen in lauter Vereine von Egoisten.
    "Darum sind Wir beide, der Staat und Ich, Feinde. Mir, dem Egoisten, liegt das Wohl dieser  menschlichen Gesellschaft  nicht am Herzen, Ich opfere ihr nichts, Ich benutze sie nur; um sie aber vollständig benutzen zu können, wandle Ich sie vielmehr in mein Eigentum und mein Geschöpf, das heißt Ich vernichte sie und bilde an ihrer Stelle den  "Verein der Egoisten". 
Irgendeine verbindliche Macht über diese Vereine nicht aus, jeder kann dem Verein angehören, solange er will und kann austreten, was es ihm paßt.

Wie soll es mit dem  Eigentum  gehalten werden? Darauf antwortet STIRNER:
    "Mein Eigentum ist alles, was meiner Gewalt gelingt, Mir anzueignen: Zu welchem Eigentum bin Ich berechtigt? Zu jedem, zu welchem Ich Mich ermächtige. Das Eigentumsrecht gebe Ich mir, indem Ich Mir Eigentum nehme oder Mir die Macht des Eigentümers, die Vollmacht, die Ermächtigung gebe. Worüber man Mir die Gewalt nicht zu entreißen vermag, das bleibt Mein Eigentum. Wohlan, so entscheidet die Gewalt über das Eigentum und Ich will alles von Meiner Gewalt erwarten."
Selbsthilfe soll überall anstelle des Strafgesetzes treten:
    "Allerwärts will man gegenwärtig ein neues Strafgesetz schaffen, ohne sich über die Strafe selbst ein Bedenken zu machen. Gerade die Strafe aber muß der Genugtuung den Platz räumen, die wiederum nicht darauf abzielen kann, dem Recht oder der Gerechtigkeit genugzutun, sondern  Uns  ein Genüge zu verschaffen. Tut Uns einer etwas, was Wir Uns nicht gefallen lassen wollen, so brechen  Wir  seine Gewalt und bringen die  Unsere  zur Geltung: wir befriedigen Uns an ihm und verfallen nicht in die Torheit, das Recht befriedigen zu wollen. Nicht das  Heilige  soll sich gegen den Menschen wehren, sondern der Mensch gegen den Menschen."
Erst in diesem Zustand genieße der Mensch seine volle Menschenwürde; erst dann sei das Ideal menschlichen Gesellschaftslebens erfüllt und mit folgender Verherrlichung des Egoismus schließt STIRNER sein Werk:
     "Eigner  bin Ich meiner Gewalt und Ich bin es dann, wenn Ich Mich als  Einzigen  weiß. Im  Einzigen  kehrt selbst der  Eigner  in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewußtseins. Stell' Ich auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem Vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt und Ich darf sagen: "Ich hab' Mein' Sach' auf Nichts gestellt."


Durch die Charakterisierung der genannten Autoren habe ich Sie mit den bedeutendsten Vertretern des Anarchismus, soweit es sich um ein sozialphilosophisches System handelt, bekannt gemacht. Zahlreiche Anhänger und Nachfolger haben alle diese Männer nicht gefunden. Immer sind es nur einzelne gewesen, welche die Gedanken dieser Anarchisten weiterzuführen und zu verbreiten gesucht haben. Es wären z. B. zu nennen: Der schwäbische Arzt MÜLBERGER, der Schotte JOHN HENRY MACKAY und der Amerikaner JOSIAH TUCKER. MACKAY, der in seinem Buch "Die Anarchisten" (Zürich 1891) eine gute Darstellung der anarchistischen Ideen gibt, ist ein unbedingter Anhänger PROUDHONs. Er meint, das PROUDHONsche Projekt sei vielleicht das bedeutendste und weittragendste, das jemals einem menschlichen Gehirn entsprossen ist. In Amerika versammelt der bereits genannte TUCKER (Boston) eine PROUDHON-Gemeinde um sich. Er hat die wichtigsten Schriften PROUDHONs übersetzt und ist unermüdlich für die Verbreitung dieser Ideen tätig; auch eine von ihm seit 1881 in New York herausgegebene Zeitung "Liberty" dient der Progaganda für anarchistische Theorien. Der vollständige Titel ist ein Zitat aus PROUDHON: "Liberty ist not the daughter, but the mother of order". Als Motto trägt sie den Vers:
    "For always in thine eyes, o liberty.
    Shines that high light, whereby the world is saved
    And though thou slay us, we will trust in thee."

    [Für immer in deinen Augen, o Freiheit
    scheint das helle Licht, das die Welt rettet
    und obwohl du uns tötest, vertrauen wir dir. - wp]
Häufig finden wir auch einzelne anarchistische Gedankengänge bei Autoren, die im übrigen keineswegs den Anarchismus vertreten. Gelegentlich finden wir sogar den Versuch, eine religiöse Begründung des Anarchismus zu geben.

HARNACK sagt in seinem Werk "Das Wesen des Christentums":
    "Indem JESUS die Forderung ausspricht, seine Jünger sollten auf ihr  Recht  verzichten können, hat er nicht alle Verhältnisse seiner Zeit im Auge, noch viel weniger die verwickelteren einer späteren, sondern ihm steht nur in einziges Verhältnis vor der Seele, die Beziehung jedes Menschen zum Reich Gottes. Weil der Mensch alles verkaufen soll, um die köstliche Perle zu kaufen, so soll er auch die irdischen Rechte frei lassen können, so soll alles jenem höchsten Verhältnis untergeordnet werden können. Im Zusammenhang aber mit dieser Verkündigung eröffnet JESUS die Aussicht auf eine Verbindung der Menschen untereinander, die nicht durch eine Rechtsordnung zusammengehalten ist, sondern in welcher die Liebe regiert und in der man den Feind durch Sanftmut überwindet. Es ist ein hohes herrliches Ideal, welches wir hier von der Grundlegung unserer Religion her erhalten haben, ein Ideal, welches unserer geschichtlichen Entwicklung als Ziel und Leitstern vorschweben soll. Ob die Menschheit es je erreichen wird, wer kann es wissen? Aber wir können und sollen uns ihm nähern und heute fühlen wir bereits - anderes als noch vor 200 und 300 Jahren - eine sittliche Verpflichtung in dieser Richtung und die zarter und darum prophetischer unter uns Empfindenden blicken auf das Reich der Liebe und des Friedens nicht mehr wie auf eine bloße Utopie."
Indem hier HARNACK die  Liebe Gottes  der  irdischen Rechtspflege  gegenübergestellt, will er keineswegs behaupten, daß das Christentum und die Rechtsordnung im Widerspruch miteinander stünden. Er vertritt vielmehr die Auffassung, daß die Lehren CHRISTI mit positiven Rechtssatzungen wohl vereinbar seien, nur dürften die irdischen Rechtssatzungen gegenüber der göttlichen Gerechtigkeit nicht überschätzt werden; auch ergäbe sich aus den Worten JESU über Recht und Rechtsordnung, daß die Jünger auch unter Umständen auf das Recht verzichten müßten und sich durch Liebe einigen sollten.

Darüber weit hinausgehend findet sich auch eine Auslegung, daß die Rechtsordnung mit dem Wesen der Kirche in einem gewissen Widerspruch stünde: Der Kirchenrechtslehrer SOHM hat für das Gebiet des  kirchlichen Lebens  das Recht als unvereinbar mit dem Wesen der Kirche bezeichnet. TOLSTOI aber nennt das Recht etwas dem  Wesen des Christentums  absolut Widersprechendes. Er kommt so zu einem  religiösen Anarchismus.  Während STIRNER gerade von seinem antireligiösen Standpunkt zur Verwerfung des Rechts gelangt, meint TOLSTOI als wahrer Interprt der christilichen Gedanken eine rechtliche Ordnung verneinen zu müssen. Auch RENAN nennt in seinem Werk "Das Leben Jesu" JESUM einen Anarchisten, "Jesus á quelques égards, est un anarchiste, car il n'a aucune idée du gouvernement civil. Ce gouvernement lui semble purement et simplement un abus." [Jesus ist in mancher Hinsicht ein Anarchist, weil er keine Ahnung von ziviler Regierung hat. Eine solche Regierung ist für ihn nur ein Mißbrauch. - wp]

Bei TOLSTOI ist das ganze Fundament seiner Lehre das Christentum. Die Werke, in denen dieser russische Philosoph hauptsächlich seine Staatslehre dargelegt hat, sind: "Worin besteht mein Glaube?" (1884). "Was sollen wir also tun?" (1885). "Das Reich Gottes ist in Euch oder das Christentum als eine neue Lebensauffassung, nicht als eine mystische Lehre" (1893)

Nach TOLSTOI enthält CHRISTI Lehre die allerstrengste und reinste Erfassung der Vernunft, zu welcher der Mensch sich bis heute erhoben habe. Die Liebe müsse statt des Rechts herrschen: vielleicht habe das Recht einmal höheren Sinn und Bedeutung gehabt, jetzt sei diese Zeit aber vorüber, die Sitten seien milder geworden, die Menschen unserer Zeit bekennten die Worte der Menschenliebe, des Mitleids mit dem Nächsten und verlangten nur die Möglichkeit eines ruhigen, friedlichen Lebens. Der Mensch brauche nur zu begreifen, daß der Zweck seines Lebens die Erfüllung von Gottes Gesetz sei und dieses Gesetz, welches für ihn alle anderen Gesetze ersetzen müsse, werde allen menschlichen Gesetzen ihre Verbindlichkeit nehmen. Der Christ befreie sich also von jeder Menschengewalt dadurch, daß er für sein Leben und das Leben anderer das göttliche Gesetz der Liebe als einzigen Leitfaden betrachte, welcher in die Seele jedes Menschen gelegt und durch Christum zum Bewußtsein gebracht worden sei. Dem christlichen Gebot widersprächen alle staatlichen Obliegenheiten, der Eid, die Abgaben, das Gericht und das Heer, aber eben auf diesen Verpflichtungen gründe sich die Gewalt des Staates. Das Christentum in seiner wahren Gestalt zerstöre den Staat. Zur Erreichung dieses Ziels, das heißt der anarchistischen Gesellschaftsordnung dürfe aber niemals Gewalt angewendet werden.

Ferner gibt es eine Reihe älterer und neuerer Rechts- und Staatsphilosophen, die öfters zu den Anarchisten gerechnet werden, aber nicht zu ihnen gehören, sondern nur eine gewisse Verwandtschaft mit den Ideengängen des Anarchismus aufweisen. Ich nenne Ihnen zunächst JEAN JAQUES ROUSSEAU, der wiederholt als der erste Vertreter des Anarchismus bezeichnet wurde. ROUSSEAU hat in seinem "contrat social" die schärfste theoretische Begründung der Volkssouveränität gegeben, er ist der bedeutendste Verfechter des politischen Liberalismus, aber nie hat er den Anarchismus vertreten. Er wollte, daß das Recht aus dem Willen aller, der  volonté générale  hervorgehen solle, aber der auf der Grundlage größter Volksfreiheit herbeigeführte Rechtszustand sollte dann bindend für alle Volksgenossen sein. Die individualistische Grundstimmung ROUSSEAUs ist also nicht im schroffen Sinne eines Individualprinzips zu verstehen, daß das Einzelinteresse unbedingt im Vordergrund stehen müsse, daß die Souveränität des Individuums unantastbar sei. In einzelnen Fragen weist ROUSSEAU sogar dem Staat eine sehr große Zwangsgewalt gegenüber dem einzelnen zu, z. B. in der Frage der Kindererziehung oder wenn er dem Staate die Macht zubilligt, die Bürger zu gewissen religiösen Satzungen zu verpflichten.

Eine ähnliche Stellung wie ROUSSEAU nehmen zwei andere Schriftsteller zum Anarchismus ein, die auch in der denkbar größten Autonomie der Individuen das höchste soziale Ideal erblicken, ohne aber die extreme Konsequenz des Anarchismus zu ziehen, WILHELM von HUMBOLDT und HERBERT SPENCER.

HUMBOLDT wendet sich in seiner um 1800 ausgearbeitetn Schrift "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" gegen die "fureur du gouverner" [Zorn der Regierung - wp]. Er hält es für das Beste, wenn der Mensch möglichst so handle, wie sein Wille es verlange und wie seine Kräfte es ihm erlauben. Daher ist ihm der Staat nur ein  notwendiges Übel.  Sie finden bei ihm eine auffallende Verwandtschaft mit den Ideen der Begründer der französischen Freihandelsdoktrin. So wenn er z. B. als Hauptgrundsatz für die Politik aufstellt,
    "daß die wahre Vernunft dem Menschen keinen anderen Zustand als einen solchen wünschen kann, in welchem nicht nur jeder einzelne die ungebundendste Freiheit genieße, sich aus sich selbst in seiner Eigentümlichkeit zu entwickeln, sondern in welchem auch die physische Natur keine andere Gestalt von Menschenhänden empfängt, als ihr jeder einzelne nach dem Maß seines Bedürfnisses und seiner Neigung, nur beschränkt durch die Grenzen seiner Kraft und seines Rechts selbst und willkürlich gibt."
Von diesem Standpunkt ist er z. B. gegen eine vom Staat geordnete und geleitete Erziehung. Aber wie weit HUMBOLDT vom Anarchismus entfernt ist, geht daraus hervor, daß er genaue Regeln gibt für die staatlichen Gesetze, soweit sie für die Sicherheit der Bürger nötig sind, allerdings nur für diese, denn:
    "Der Staat enthalte sich aller Sorge für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem anderen Endzweck beschränke er ihre Freiheit."
Gerade wir für HUMBOLDT das Problem "wie die mannigfaltigste Individualität, die originellste Selbständigkeit mit der gleichfalls mannigfaltigsten und innigsten Vereinigung mehrerer Menschen zu verbinden sei"; nur durch die höchste Freiheit gelöst werden kann, so steht auch im Mittelpunkt der Sozialphilosophie des berühmten englischen Philosophen HERBERT SPENCER der Gedanke, daß die größtmöglichste Freiheit der Individuen das beste Gedeihen des Volkes garantiere. Während aber HUMBOLDT besonders durch die französische und deutsche Aufklärungsphilosophie angeregt wurde, steht SPENCER auf dem Boden der Naturwissenschaft, besonders des  Darwinismus,  den er für die Sozialwissenschaft fruchtbar zu machen sucht. Er meint, daß unser soziales Leben ein  natürliches  sei und daher auch nach  naturwissenschaflicher  Methode erforscht werden müsse.

In seinem Buch "Einleitung in das Studium der Soziologie" erklärt er, daß unser vorhandenes industrielles System ein Produkt der vorhandenen menschlichen Natur sei und nur in dem Maße verbessert zu werden vermöge, als sich die menschliche Natur verbessere. Wenn die menschliche Gesellschaft ein Naturwesen sei, so herrsche in ihr auch dasselbe Gesetz, wie in der Tierwelt, nämlich die Disziplin der Natur oder die natürliche Auslese. Wie bei DARWIN für die Tierwelt, so ist bei SPENCER für die Menschenwelt die natürliche Auslese wohltätig, indem sie die Unfähigen entfernt, ihre Leiden abkürzt und Vererbung der Unfähigkeit auf Nachkommen, also Vermehrung des Übels verhindert. Jede Einmischung in diesen Prozeß durch staatliche Eingriffe zugunsten der Schwächeren habe nicht eine Verminderung, sondern ein Wachstum des Elends zur Folge. SPENCER kommt von diesem Standpunkt zur Empfehlung einer Politik des  laisser faire, laisser passer  und namentlich in seiner Schrift "The man versus the state" vertritt er einen gouvernementalen Nihilismus. Dort sagt er: "Jeder Vorschlag, daß der Staat in die freie Tätigkeit des Bürgers einzugreifen habe, außer so, daß er die Freiheit der Verträge garantiere, ist ein Vorschlag, das Leben dadurch zu verbessern, daß man die Grundbedingungen des Lebens zerstört." Er geht so weit, öffentliche Wohltätigkeit irgendwelcher Art, staatliche Beihilfe zu Arbeiterwohnungen, öffentliche Bibliotheken, öffentliche Museen und den Schulzwang für verderblich zu halten. Trotzdem hat er nie den Rechtszwang überhaupt negiert, sondern  dem Recht nur sehr enge Schranken gesetzt. 

Besonders häufig wird FRIEDRICH NIETZSCHE als Vertreter des Anarchismus bezeichnet. So spricht z. B. KARL VORLÄNDER in seiner "Geschichte der Philosophie" von einem aristokratischen Anarchismus NIETZSCHEs. Mir scheint, daß NIETZSCHEs Philosophie bei der Originalität dieses Schriftstellers überhaupt schwer in eine Schablone gepreßt werden kann. Zuzugeben ist, daß seine Gedankengänge viel Gemeinsames mit dem Anarchismus aufweisen. In  negativer  Hinsicht seine schroff ablehnende Stellung dem Staat gegenüber, so z. B. wenn er in seinem Werk "Also sprach Zarathustra sagt:
    "Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer ... Vernichter sind es, die stellen Fallen auf für viele und heißen sie Staat: sie hängen uns Schwert und hundert Begierden über sie hin. Wo es noch Volk gibt, da versteht es den Staat nicht und haßt ihn, haßt ihn als bösen Blick und Sünde an Sitten und Rechten ..."
In  positiver  Hinsicht nähert er sich dem Anarchismus durch seine Hervorhebung des Willens des einzelnen zur Macht, der Bedeutung der Individualität des einzelnen Menschen und des Übermenschen. Aber das alles stempelt ihn noch nicht zum Anarchisten, denn es fehlt das, was ich Ihnen als das Wesentliche bezeichnet habe, die Forderung eines auf freier Vereinigung der Menschen beruhenen Zusammenlebens. Man darf bei NIETZSCHE also höchstens von einer Annäherung an gewisse anarchistische Gedanken reden.

Im Gegensatz zu dem bisher geschilderten  individualistischen  Anarchismus, der das volle freie Privateigentum fordert, stehen die Richtungen des Anarchismus, die das Gemeineigentum in mehr oder minder großem Umfang ausheben:
    a) der kollektivistische Anarchismus (BAKUNIN) und
    b) der kommunistische Anarchismus (KROPOTKIN)
a) BAKUNIN (geb. 1814, Hauptwerk "Gott und der Staat") ist Vertreter des sogenannten  kollektivistischen  Anarchismus. Er hält an Privateigentum an Verbrauchsgegenständen fest, fordert aber das Gemeineigentum an Boden und Kapital. Das Eigentum müsse so gestaltet werden, daß zwar an den Konsumtionsmitteln auch Privateigentum; dagegen an Grund und Boden, den Arbeitswerkzeugen, sowie an allem anderen Kapital nur Gesellschaftseigentum zulässig sei. Im Gegensatz zum Marxismus soll aber diese gesellschaftliche Umbildung nicht in zentralistischer, sondern in dezentralistischer Weise vor sich gehen.
    "Der Kollektivismus der künftigen Gesellschaft fordert keineswegs die Errichtung irgendeiner höchsten Gewalt. Im Namen der Freiheit, auf die allein sich eine wirtschaftliche wie eine politische Organisation gründen kann, werden wir immer gegen alles Einspruch erheben, was auch nur von fern dem Kommunismus oder Staatssozialismus ähnlich sieht. Ich will die Organisation der Gesellschaft und des Kollektiv- oder Gesellschaftseigentums von unten nach oben durch die Stimme der freien Vereinigung, nicht von oben nach unten mittels irgendeiner Autorität."
Die Bakunisten nennen sich daher antiautoritäre Kollektivisten. Auf dem Kongreß der Internationale in Basel (1879) erklärte BAKUNIN: "Ich stimme für Gemeinschaft von Grund und Boden im besonderen und des ganzen sozialen Reichtums im allgemeinen im Sinne der sozialen Liquidation."

b) Als typischer Vertrete des sogenannten kommunistischen Anarchismus ist in erster Linie KROPOTKIN (geb. 1842 in Moskau) zu nennen. Er fordert das Gemeineigentum an den Produktions- und Konsumtionsartikeln, welches auf kleine Gruppen übertragen werden soll, denen im übrigen ein großer Spielraum zu freier Entfaltung gegeben werden soll.

Wie die neue Gesellschaft, welche KROPOTKIN anstrebt, in ihrer Grundverfassung beschaffen sein soll, ist von ihm selbst einmal in seinen Memoiren in folgender Weise beschrieben worden:
    "Diese neue Gesellschaft besteht aus einander gleichgestellten Mitgliedern, die nicht mehr gezwungen sind, Hand und Kopf an andere zu verkaufen und von diesen in beliebiger, planloser Weise ausnützen zu lassen; sie können vielmehr ihre Kenntnisse und Fähigkeiten zielbewußt der Produktion zuwenden im Rahmen eines Organismus, der vermöge seines Aufbaus alle auf die Gewinnung des größtmöglichen Gesamtbetrags der allgemeinen Wohlfahrt gerichteten Bestrebungen zusammenfaßt und dabei für die individuelle Initiative vollen Spielraum läßt. Dieser Organismus zergliedert sich in eine Vielheit von Assoziationen, die sich zu allen, gemeinsame Arbeit erfordernden Zwecken zusammenschließen: zu Gewerbebünden zum Zweck der Produktion jeder Art, der landwirtschaftlichen, industriellen, rein geistigen oder künstlerischen; zu Konsumgemeinden, die für Wohnungen, für Beleuchtung und Heizung, für Nahrungsmittel, sanitäre Einrichtungen usw. Sorge tragen; zu Vereinigungen dieser Kommunen wie der Gewerbeorganisation untereinander. Endlich bilden sich noch weitere, auf ein ganzes Land oder auf mehrere Länder sich erstreckende Gruppen, deren Mitglieder in gemeinsamer Arbeit die Befriedigung wirtschaftlicher, geistiger, künstlerischer und sittlicher Anforderungen, soweit sie über ein bestimmtes Gebiet hinausgreifen, erstreben. Alle diese Gruppen wirken in freier gegenseitiger Vereinbarung zusammen."
Wie sich die Güterproduktion und die Güterverteilung gestalten sollen, hat KROPOTKIN in seinem Werk "Die Eroberung des Brotes", Paris 1892, dargelegt.

Die erste Tat der zukünftigen Gemeinde soll darin bestehen, daß sie sich alles aufgehäuften Kapitals, sowohl der Produktions- wie der Konsumtionsmittel bemächtigt. Bei der Gütererzeugung muß dann unterschieden werden zwischen den  notwendigen  Bedürfnissen der Menschen und den  Luxusbedürfnissen.  Zwecks Herstellung der notwendigen Bedarfsgegenstände müßten sich alle Erwachsenen verpflichten, täglich eine bestimmte Anzahl Stunden zu arbeiten. Dabei soll aber kein autoritärer Zwang auf die einzelnen ausgeübt werden, sondern jeder einzelne soll sich einer bestimmten Arbeitsgruppe freiwillig anschließen und mit der Gruppe einen Vertrag schließen. Die Gruppen würden dann wieder untereinander Verträge schließen und auf diese Weise würde die Gesellschaft konstituiert sein.

Was die Befriedigung minder dringender Bedürfnisse anlangt, so reicht die übrige Zeit am Tag aus, um auch diese in weitgehendem Maße auszuführen. Jeder kann dann die übrige freie Zeit benutzen, um seinen wissenschaftlichen, künstlerischen und sonstigen Neigungen nachzugehen. Je nach der persönlichen Liebhaberei wird sich jeder der Gruppe anschließen, wo er gerade die ihm zusagende Beschäftigung ausführen kann.
LITERATUR: Karl Diehl, Der Anarchismus in Über Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus, Jena 1922