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ERNST HORNEFFER
Der moderne Individualismus (1)

"Der Individualismus ist ein ästhetischer und, wenn er tief gefaßt wird, ein religiöser Wert, aber keine ethische Norm. Er ist nur Material für die ethische Norm."

Der moderne Individualismus hat zuletzt in NIETZSCHE eine eindrucksvolle Vertretung gefunden. Es sei mir gestattet das Ideal dieses Individualismus zu charakterisieren und zwar durch Ableitung aus seinen geschichtlichen Vorstufen, die ich in ihren Hauptzügen zu analysieren gedenke. Es wäre zur Befruchtung und Klärung der gegenwärtigen Problemlage auf dem Gebiet der ethischen Werte gewiß von großem Gewinn, rückschauend die Stellung, die der Begriff und das Ideal der Individualität in den verschiedenen Epochen der Vergangenheit eingenommen hat, wie es sich entwickelt und abgewandelt hat, eingehend nachzuprüfen und zu schildern, eine Aufgabe, die meines Wissens noch nicht in Angriff genommen worden ist. Aus Vorarbeiten für eine solche Aufgabe zeichne ich hier ganz kurze Striche und ich  muß  sie zeichnen, weil sich nur auf diesem Hintergrund der NIETZSCHEsche Begriff der Individualität bestimmen und bewerten läßt.

Die erste Tatsache in diesem Zusammenhang ist, daß das Ideal der Individualität keineswegs neu ist, ja daß es auch nicht etwa erst in der jüngsten Zeit sichtbar geworden ist, sondern daß es eigentlich als das bedeutsamste Problem der neuzeitlichen Entwicklung des ethischen Denkens seit der Renaissance zu gelten hat. Der Individualismus war die Erscheinungsform jener schöpferischen Zeit, was für uns seit den grundlegenden Arbeiten von DILTHEY und BURKHARDT zu einer feststehenden Einsicht geworden ist, so vielfach auch neuere Forschungen, besonders diejenigen von KONRAD BURDACH, die leisen Übergänge vom sogenannten Mittelalter zur Neuzeit, den schrittweisen Vollzug dieser Wendung in der inneren Verfassung der europäischen Menschheit aufgedeckt haben. Ich sage mit Absicht: der Individualismus war die  Erscheinungsform  der Renaissance. Denn das ausschlaggebende Motiv der gesamten Bewegung war doch wohl die Hinneigung der Menschheit zur Diesseitigkeit, wodurch sich die Wertschätzung der Endlichkeit, der endlichen und bestimmten Erscheinungen von selbst ergab, wie ich auch überzeugt bin, daß die entscheidenden Wendungen in der Geschichte mit einer metaphysischen Grundstellung, Grundeinstellung des Menschen zusammenhängen. Woher sich freilich diese metaphysischen Auffassungen und Veränderungen der Auffassung herleiten, woraus in unserem besonderen Fall gegen Ende des Mittelalters jener bedeutsame Wandel entsprungen ist, wird wohl wissenschaftlich nicht lösbar sein.

Aber welcher Art war der Individualismus, wie er zur Zeit der Renaissance hervortrat? Da wird man im allgemeinen sagen können, daß man sich damals im Vollgefühl der neuen Entdeckung der außerordentlichen Schwierigkeiten, theoretischer und praktischer Art, die mit dem Individualismus gegeben waren, der gewaltigen Problematik, die dieser Begriff einschließt oder im Gefolge hat, nicht bewußt gewesen ist. Der Blick ruhte mit grenzenlosem Wohlgefallen auf dem Reichtum der vielgestaltigen diesseitigen Welt. Aber wie diese Vielgestaltigkeit sich doch wieder zur Einheit binde, wie weit diese Einzelerscheinungen in ihrem Wesen gleich oder ungleich, zusammenstimmend oder widersprechend wären, - kurz das eigentliche  Problem  der Individualität erkannte die damalige Zeit noch nicht. Das bekannte Wort des NIKOLAUS von KUES von der "Coincidentia oppositorum" [Zusammefall der Gegensätze - wp] gab einer allgemeinen Anschauung der Renaissance Ausdruck, die unbefangen dahin ging, daß alle Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit sich gleichsam von selbst, von Natur aus zur großen Harmonie des Ganzen vereinige.

Mir ist immer LEIBNIZ als der wahre zusammenfassende, abschließende Philosoph der Renaissance erschienen, die in der italienischen Naturphilosophie nur ihr Programm entwarf, ihr Thema gleichsam anschlug, durch die bahnbrechenden, methodologischen Denker in Frankreich und England sich die Wirklichkeit zu erobern begann, aber erst in Deutschland, in LEIBNIZ sich zu einer allseitigen, inhaltlichen Weltanschauung durchrang und abklärte. LEIBNIZ wirkte zwar gleichzeitig mit der eben damals in England und bald auch in Frankreich einsetzenden Aufklärung, er selbst aber in seinem ganzen Wesen bedeutete eine Nachblüte der Renaissance, ein Zusammenfassen ihrer Motive und Grundstimmungen auf deutschem Boden, wo die Renaissance infolge der religiösen Bewegung und der hierdurch hervorgerufenen Erschütterungen unterbrochen worden war.

Der neuzeitliche Individualismus hat in der tiefsinnigen Gedankenwelt von LEIBNIZ seine erste Formulierung und philosophische Ausgestaltung gefunden. Der zuversichtliche Optimismus, mit dem er zunächst ins Leben trat, kommt bei LEIBNIZ zu einem klassischen Ausdruck. Mit seiner Monadenlehre entwarf LEIBNIZ eine pluralistische Metaphysik. Die Einzelwesen gehen nicht in einem starren Sein unter. Sie sind selbständige Substanzen. Aber diese unzerstörbaren Quellpunkte gleichsam der Wirklichkeit stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Gerade ihr Zusammenhang ist ihr Charakter. Diesen Zusammenhang denkt sich LEIBNIZ so tief begründet, daß er in jedem Individuum alle anderen, das ganze Universum vertreten glaubt. Jedes Individuum spiegelt das Universum wieder. Diese Spiegelung ist ihr innerstes Wesen. Sie finden hierin ihre Tätigkeit, ihren Sinn. Es gibt hier keinen tragischen Zusammenprall. Vielheit und Einheit fließen widerspruchslos ineinander. Die prästabilierte Harmonie beherrscht das ganze System, das in einer allumspannenden, die ganze Weite der Welt erfüllenden Theodizee [Rechtfertigung Gottes - wp] gipfelt.

Es erscheint mir überzeugend, daß LEIBNIZ mit seiner Weltanschauung das Sehnen und Ahnen der gesamten voraufgegangenen Jahrhunderte zu vollendeter Ausprägung bringt. Was bei GIORDANO BRUNO jugendlicher Sturm gewesen ist, hat sich bei LEIBNIZ zu reifer Weisheit abgeklärt.

Zwischen LEIBNIZ und KANT liegt die Aufklärng, original gewachsen in England, zur vollen Auswirkung gelangt in Frankreich, in Deutschland nur im kurzen Zeitalter CHRISTIAN WOLFFs übernommen, bis dann schon in KANT die Gegenwirkung einsetzte.

Im Zeitalter der Aufklärung ist der Individualismus, der in der Renaissance eine ästhetisch gefärbte Weltanschauung einzelner, bevorzugter Geister gewesen war, zu einer  Massenerscheinung  geworden. Von der nur idealen Befreiung von den mittelalterlichen Gebundenheiten, wie sie die vorige Zeit errungen hatte, schritt die in stolzem Selbstbewußtsein auf ihr Recht und ihre Kraft pochende freie Persönlichkeit nunmehr zur  Anwendung  der gewonnenen Freiheit, zur Abschüttlung der überlebten und entwurzelten Lebensordnung fort. Die freie Entfaltung des natürlichen Individuums wurde das allgemeine Kampfgeschrei, der Weckruf für die Aufrichtung neuer Lebensordnungen auf allen Gebieten, in Staat und Gesellschaft, Religion und Erziehung. Aber eine höchst bedeutsame, für uns äußerst merkwürdige Voraussetzung und Annahme über das Wesen des Individuums ermutigte und beflügelte diesen Freiheitsrausch. Man faßte das Individuum als im Kern, in seinen natürlichen Anlagen und Auswirkungen, soweit diese ungehemmt verliefen,  vollständig gleichartig  auf. Die offenbaren Ungleichheiten und Verschiedenartigkeiten, die wir heute beim Wort  Individualität  empfinden, die uns den eigentlichen Wert und Kern der Individualität auszumachen scheinen, diese  erkannte  man zwar, aber verlegte sie nicht in die Individualität selbst, man faßte sie nur als äußere Zufälligkeiten und Zutaten auf, die die historisch bedingten Umstände herbeiführten, und deshalb gelte es eben, die äußeren Zustände, die diese Ungleichheiten hervorrufen - denn diese Ungleichheiten galten als Fehler und Mängel -  aufzuheben,  um die reine, überall gleiche Menschlichkeit herauszuschälen. Man erkennt, daß der Individualitäsbegriff der Aufklärung von dem der Gegenwart grundverschieden ist, ja, daß er dessen Gegensatz bedeutet. Das Individuum war damals gleichsam das berühmte unbeschriebene Blatt, und zwar nicht nur bezüglich der Erkenntnis, sondern in seinem vollen Wesen, ein Blatt, auf dem die Geschichte und menschliche Kulturentwicklung ihre Züge eingetragen hat, aber, wie man meinte, irrige, unrichtige, entstellende Züge, die es wieder auszulöschen gelte, um das Individuum in seiner ursprünglichen Reinheit, Einfachheit, Unschuld und Kraft wieder herzustellen. Und weil die Individuen in ihrem Ursprung und Wesen als völlig gleichgeartet, als wesensgleich gedacht werden, so sieht man auch in ihrer Vereinigung keine Schwierigkeit. Jene optimistische Grundstimmung der Renaissance, vergröbert und verflacht, auf die praktische Wirklichkeit übertragen, wirkt hier nach in der Überzeugung, daß Freiheit und Gleichheit  zusammen  - diese Zusammenstellung drückt den Individualitätsbegriff der Aufklärung erschöpfend aus - die harmonische Vereinigung der Einzelnen in Staat und Gesellschaft verbürge. Da alle Einzelnen gleich  sind  im Kern, kann es auch im Grunde keinen Widerspruch zwischen ihnen geben, wenn nur alle hemmenden Schranken beseitigt sind, die ihrer natürlichen, gradlinigen Entfaltung entgegenstehen.

Wie verhält sich zu diesem Individualitätsbegriff der Aufklärung derjenige des deutschen Idealismus, durch den die Aufklärung abgelöst wurde?

In seinen Vorlesungen über KANT hat GEORG SIMMEL den Gegensatz des Individualitätsbegriffs der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts scharf herausgearbeitet. (2) Die Individualität der Aufklärung sei eine solche der Freiheit gewesen, die unsere sei eine solche der Einzigkeit. Dort Gleichartigkeit, hier Verschiedenartigkeit, dort quantitativer, hier qualitativer Individualismus. Das schlechthin Unvertauschbare, Eigentümliche, die "charakterologische Einheit der Persönlichkeit", das schlechthin "individuelle Gesetz", das sei  unsere  Individualitätsauffassung gegenüber der allgemein-menschlichen, überall gleichen Beschaffenheit der Einzelpersönlichkiten, wie sie die Aufklärung annahm. Aber wohin stellt SIMMEL nun KANT, der doch nach allgemeiner Überzeugung die Aufklärung zwar abschließt, aber doch auch zugleich überwindet? SIMMEL faßt KANT als die tiefste Verinnerlichung und Sublimierung der Aufklärung auf. Sein Ziel und Streben nach allgemeingültigen, unbedingt notwendigen Gesetzen und Normen zeige ihn als Sohn der Aufklärung mit ihrer Überzeugung von der Wesensgleichheit der Menschen. Das klingt zunächst sehr einleuchtend, scheint mir aber dennoch irrig, zumindest mißverständlich. Um an eine im letzten Grund  einheitliche  Natur des Menschen zu glauben, braucht man wohl nicht ein Sohn der Aufklärung zu sein. Diese Überzeugung taucht in den verschiedensten Zeitaltern auf und wird wohl zu einem dauernden, stets wiederkehrenden Bestand der menschlichen Begriffsbildung gehören. Die ganze Problemlage KANTs wird durch die Zurückführung seiner Tendenz nach Allgemeingültigkeit auf die geschichtliche Bedingung verschoben. Es wäre nämlich irrig zu glauben, daß KANT durch diese Hinneigung zum Allgemein-Gültigen, Unbedingten die Tatsache und das Problem des Individuellen übersehen hätte, als würde hiermit eine Schranke im kantischen Denken aufgewiesen. Im Gegenteil. KANT  geht aus  von der reinsten Subjektivität und Mannigfaltigkeit der Erscheinungen. Ihm steht die vielseitige Individualität aller Einzeltatsachen, Vorgänge und Wesen vor Augen. Besonders beim Menschen fällt ihm dessen ganzes Triebleben im geraden Gegensatz zu der Anschauung der Aufklärung in die Sphäre der reinen Subjektivität. Das ganze Triebleben ist ihm erfahrungsgemäß individuell in der heutigen, qualitativen Ausprägung des Wortes, und diese vielfarbige Individualität ist nicht etwa nur zufällig, durch die historischen Bedingungen hervorgerufen und dadurch abstellbar, sondern dauernd, grundsätzlich, wesenhaft. Aber nun geht KANT ans Werk: diese Vielgestaltigkeit zu  überwinden,  theoretisch und praktisch.  "Synthese des Mannigfaltigen"  wird das herrschende, grundsätzlich und klar formulierte Leitmotiv seines ganzen Philosophierens. So muß er also doch diese Mannigfaltigkeit als gegeben anerkannt, angeschaut haben! Aber allerdings als seinen  Gegensatz  faßt er diese Mannigfaltigkeit auf, die die theoretische Erkenntnis und das unbedingt verpflichtende Sittengebot einschließen und so überwältigen sollen. Man kann deshalb sagen, daß KANT geradezu als erster in der Neuzeit die  Problematik  der Individualität entdeckt und empfunden habe. Gegenüber dem anfangs gefühlsmäßig-schwärmerischen, dann dogmatisch verfestigten Glauben an die Individualität und den Wert der Individualität erschaut und ahnt KANT zum erstenmal das Gefährliche und Fragwürdige dieses Begriffs und der mit ihm gegebenen Lebenseinstellung und Auffassung. So wird er gleichsam der Angelpunkt des gesamten ethischen Lebens der Neuzeit. Von der Renaissance bis zu ihm hin steigert sich der Freiheits- und Individualitätsdrang in der europäischen Bildung. Hier erfolgt die Selbstbesinnung, die Kritik, hier wie auf allen anderen Gebieten. (3)

KANT fußt wirklich auf dem Bathos [Relevanz - wp] der Erfahrung, worauf er sich beruft, und zwar nicht nur bezüglich der Naturwissenschaft, wo das allgemein anerkannt ist, sondern auch in Bezug auf das Reich des ethischen und ästhetischen Menschen. Wie er mit einer geradezu visionären Kraft das ästhetische Problem der Zukunft vorwegnahm, was immer staundende Bewunderung erregt hat, so hat er auch das ethische Problem des modernen Menschen in seiner vollen Tragweit, Tiefe und Schwere erfaßt. Vorahnend schaut er das Bild der Individualität des 19. Jahrhunderts in seiner ganzen vielfarbigen Mannigfaltigkeit. Nur von diesem Hintergrund reichster Subjektivität aus, die KANT voraussetzt, intuitiv vorwegnimmt, ist die strenge, herbe Gesetzgebung, die er ihr entgegenstellt, verständlich. Was sich von selbst triebmäßig nach dem gleichen Ziel hinbewegt, braucht nicht einer so rigorosen Gesetzgebung unterworfen zu werden.

Und noch zu Lebzeiten KANTs, unter seinen Augen, ohne daß er es allerdings gewahr wurde, brach das großartige künstlerische Zeitalter unserer Geschichte an, der Neuhumanismus mit seinem eben so neuen wie schöpferischen Individualitätsbegriff. Hier wurde Bewußtsein und Tatsache, was bei KANT nur Annahme und Voraussetzung gewesen war, und zwar nicht als gefahrbringende, sondern als wertvolle, beglückende Wirklichkeit empfunden. Der volle Zauber der eigentümlichen Innerlichkeit, der ursprüngliche, unvertauschbaren Eigenart ging den Gemütern in der ebenso leidenschaftlichen wie gefühlvollen Zeit auf, die wir Sturm und Drang zu nennen pflegen. Mit der gleichen Begeisterung, mit der einst die Renaissance die farbige Außenwelt, die lang verpönte Natur mit ihrer Schönheit ergriffen hatte, wandte sich jetzt der berauschte Blick dem  Inneren  zu. es war den damaligen Geistern zumute, als ob sie erst jetzt die Seele des Menschen entdeckten. Aber trotz der Leidenschaftlichkeit und Empfindsamkeit, mit der diese Bewegung in Erscheinung trat, lebte doch etwas vom kantischen Geist des Gesetzes in den Besten, wenigstens in den Führern dieser Bewegung. Die Individualität wurde ihnen nur der Ausgangspunkt, die Verpflichtung für ihre schöpferische Tätigkeit. Bezeichnend hierfür ist der Ausspruch  Wilhelm Meisters,  wenn er von sich sagt, sein Ziel sei: "Mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden". Auf dem  letzten  Wort liegt der Nachdruck und das Schwergewicht.  Sich auszubilden  nach dem vollen Umfang aller Anlagen und Kräfte wurde der Ehrgeiz jener hochstrebenden Generation. Die Individualität, wie sie aus den Händen der Natur hervorgeht, ist nur der Stoff, der zwar wertvolle, herrliche Stoff, dem aber doch erst die ernste Arbeit der Selbsterziehung die  Form  zu geben hat. Muster und Maßstab für diese Formerziehung wurde das Bild der Antike, des Griechentums, wie es in der damaligen Vorstellung lebte. SPRANGER hat uns in seinem schönen Werk "Humboldt und die Humanitätsidee" das Ringen und Streben, die Hauptmotive jener Epoche geschildert, wozu sich WILHELM von HUMBOLDT deshalb vorzüglich eignet, weil er, mit allen schöpferischen Geistern jener Zeit verbunden, mit einer seltenen Aufnahmefähigkeit die wertvollen Gedanken von überall her gleichsam aufsog und sie dann als wahrer Lebenskünstler, als ein Meister der Persönlichkeit in seinem inneren und äußeren Dasein zur Darstellung brachte. Denn nur ein rezeptiver Geist kann eine solche Mannigfaltigkeit der geistigen Kräfte und Antriebe in sich vereinigen. Der schöpferische Geist wird doch immer, mag er wollen oder nicht, in eine gewisse Einseitigkeit hineingedrängt. Das trifft selbst auf den größten, auf GOETHE zu. Und wenn man immer wieder auf den ethischen Rigorismus KANTs verweist, um dessen Einseitigkeit zu betonen, - wir haben gesehen, es war die vorausgenommene  Gegen wirkung gegen die sich ankündigende Welle des Individualismus und Subjektivismus - so darf vielleich darauf aufmerksam gemacht werden, daß auch GOETHE auf der Höhe seiner Entwicklung, nach Überwindung von allem Sturm und Drang, nach der Rückkehr von der italienischen Reise sich zu einem  Rigorismus der ästhetischen Form  bekannte, die den gleichen Zweck der Eindämmung und Einschränkung des allzu ausschweifenden Individualismus verfolgte, einem Rigorismus des ästhetischen Gesetzes, der in seiner Strenge und Härte als die vollkommene Parallele zu KANTs ethischem Rigorismus zu gelten hat, ein ästhetischer Rigorismus, den allerdings GOETHE kraft seiner machtvollen Individualität, des Dämonischen in seiner Natur zum Glück wieder selbst durchbrochen hat. Aber theoretisch steht sein ästhetischer Rigorismus um nichts hinter dem ethischen KANTs zurück. Und nur durch diese Gegenwirkung ist die damalige Individualität, die wahrlich den Hang zum Überschäumen hatte, der eine Art "Übermenschentum" im Blut lag - man denke an SCHILLERs Räuber - zu so hohen Leistungen befähigt worden.

Die Individualität ist nur der  Ausgangspunkt  für das Bildungsstreben der neuhumanistischen Zeit, das  Ziel  ist die  Universalität.  Ohne Zwischenglieder wurde das Individuum dem Kosmos gegenübergestellt. Diese Fülle und Weite aber ließ sich nur  ästhetisch  bemeistern. Darin liegt es begründet, daß das Zeitalter in der Hauptsache ästhetisch ausgerichtet war, bei den schöpferischen Führern, wie in der Allgemeinheit. Es klingt offenbar die Weltanschauung von LEIBNIZ nach, die Monaden, von denen jede Einzelne das ganze Weltall spiegelt. KONRAD BURDACH mach in seinem jüngst erschienenen Buch "Deutsche Renaissance" (4) auf ein Goethewort aufmerksam, das sich in einem  Faust-Paralipomenon findet, das nach seiner Meinung den Gehalt des damaligen Zeitalters am prägnantesten ausdrückt, auf das Wort, in welchem als Ziel der Menschenvollendung hingestellt wird: "Schaffende Spiegel" zu werden. Zwar schöpferisch sucht sich die Individualität zu betätigen - und darin liegt wohl ein Hinausdrängen über den Standpunkt von LEIBNIZ - aber doch nur als "Spiegel". Wie soll auch das Individuum das ausschweifende Ideal sich zur Universalität zu erheben anders erfüllen können als durch eine ästhetische Auffassung und Darstellung? Darin aber liegt auch begründet, wie ich beiläufig bemerken will, daß wir das damalige Ideal, so hervorragend es erscheint, so sehr es uns anziehen mag, nicht ohne weiteres in unsere Zeit übertragen können.

Höchst bemerkenswert ist deshalb auch, daß die zwei vorzüglich ethisch gerichteten Männer der damaligen Zeit, SCHILLER und FICHTE, bereits über jene Anschauung hinausstrebten, daß in ihnen Zweifel am Wert der Individualität überhaupt erwachten. Bei SCHILLER ist die Individualität nicht mehr der allumspannende Rahmen, der so weit ist, daß ihn nur die ganze Welt auszufüllen vermag, sondern bereits die Schranke, die die ästhetische Erziehung zu überwinden habe. Und FICHTE, der doch aus dem Ich die ganze Welt herauszuspinnen sucht, und der selbst die eigenwilligste, schroffste Persönlichkeit des Zeitalters war, schreitet - vielleicht aus tiefster Erfahrung am eigenen Ich - zu einer harten Kritik, ja einer Absage an das Individualitätsideal fort. In seiner Geschichtsphilosophie (in den "Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters") schildert er den Entwicklungsgang der Menschheit vom Urzustand des "Vernunftinstinktes" über die Epoche der "Autorität" hinweg, wo das Gesetz des Ganzen gebietend dem schon erwachenden Selbstbestimmungsdrang gegenübertritt, zum "Zeitalter der beginnenden Sündhaftigkeit" mit seiner fortschreitenden individuellen Selbständigkeit, die im Zeitalter "der vollendeten Sündhaftigkeit" sich zu vollkommener Willkür der Individuen steigert, bis dann die beginnende Vernünftigkeit das Zeitalter der "Vernunftkunst" heraufführt, da sich das voll befreite Individuum freiwillig dem Gattungsgesetz bedingungslos unterordnet. Und  sein  Zeitalter faßt FICHTE hierbei als das der vollendeten Sündhaftigkeit auf, da der Individualitätsdrang die schärfste Zuspitzung erfahren habe. In dem dann folgenden politischen Zusammenbruch Deutschlands erblickte FICHTE den Beweis seiner verurteilenden Charakteristik des Zeitalters. Mit Recht betont WINDELBAND (5), daß sich hinter diesem künstlichen und gewaltsamen Schematismus der geschichtlichen Konstruktion FICHTEs ein wertvoller Kern verberge. In diesen Gedankengängen käme die allgemeine Tatsache zum Ausdruck, daß der Mensch zwar von allen Wesen auf der einen Seite das zur selbständigsten Ausbildung der Individualität befähigte und zugleich auf der anderen Seite das am meisten durch den sozialen Zusammenhang bedingte sei. Und weiter, in Bezug auf die moderne Kultur liege in diesen an KANT anschließenden Gedanken "die tiefste Selbstbesinnung der modernen Denkbewegung". "Mit der Entfesselung des Individuums, mit der Abwerfung der Autorität beginnt sie, und mit der kritischen Versenkung in die menschliche Gattungsvernunft und deren sittlichen Grundcharakter vollendet sie sich".

In meiner Skizze der Entwicklung des modernen Individualitätsideals wollte ich auch diese gegenwirkenden Kräfte nicht unerwähnt lassen, weil sie ein helles Licht auf jenes Ideal und dessen  immer deutlicher werdende Problematik  zurückwerfen. Aber von einer Vollendung der modernen Denkbewegung hinsichtlich der Individualität, wie WINDELBAND meint, kann keine Rede sein. Erst das letzte Jahrhundert, ja eigentlich erst die Gegenwart hat die gewaltige Problematik der Individualität voll zur Erkenntnis gebracht. Damals hatte der Gedanke und das Ideal der Individualität noch bei weitem nicht seine Bahn durchmessen. Es schritt unaufhaltsam einer weiteren Steigerung und Vertiefung entgegen.

Zunächst hatte die Romantik das Wort. Auch in dieser geistigen Bewegung spielt der Individualitätsbegriff eine entscheidende Rolle. Wir stoßen bei SCHLEIERMACHER, der für die ethischen Gedanken der Romantik maßgebend wurde, auf Aussprüche wie die Forderung: "Stelle deine Eigentümlichkeit dar" und das Gelübde: "Immer mehr zu werden, was ich bin, das ist mein einziger Wille; jede Handlung ist eine besondere Entwicklung dieses einen Willens". Hier meint man schon NIETZSCHE zu hören, wenn dieser fast gleichlautend sagt: "Werde, der du bist". Aber auch bei der Romantik fehlt der Bezug auf das Universum nicht. Im Gegenteil, hier scheint diese Beziehung zunächst noch fester geknüpft zu sein als bei der Klassik. Lautet doch ein anderer Ausspruch SCHLEIERMACHERs: "Jeder Mensch soll auf eigene Art die Menschheit darstellen". Ja, er soll sich in seiner Eigenart als auserlesenes Werk der Gottheit fühlen; einzeln als solches gewollt, soll er sich seiner besonderen Gestalt und Bildung erfreuen.

Hier erkennt man deutlich den religiösen Ursprung dieses Individualismus. Denn es kann kein Zweifel sein, daß wir in solchen Aussprüchen SCHLEIERMACHERs Nachklänge seiner herrenhuterischen Erziehung zu erblicken haben. Und dann erinnern wir uns in diesem Zusammenhang leicht, welchen Einfluß der Pietismus auf KANT, auf die ganze Zeit ausübte, die der Sturm- und Drangzeit vorausliegt, wie sich noch das ästhetische Bildungsideal GOETHEs in  Wilhelm Meister  vom Hintergrund des Pietismus ablöst, um uns zu überzeugen, daß der gesamte deutsche Individualismus jener Epoche, während der der westlichen Völker vorzüglich sozial und politisch war,  religiöser  Herkunft ist. Er weist auf die Reformation, die deutsche Mystik zurück. Jede Seele, die einen besonderen Zugang zu Gott besitzt, ist  selbst  etwas Besonderes. Das ist nur  ein  Schritt. Der religiöse Individualismus blüht gleichsam in der Klassik und Romantik aus in einen ethischen und ästhetischen Individualismus mit jener Fülle des seelischen Reichtums, den wir an diesen Epochen bewundern.

Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als ob der klassische und romantische Individualismus identisch seien. In beiden Theorien ist Individualismus und Universalismus verknüpft. Das kommt unzweideutig auch in der Ästhetik der damaligen Zeit, dem eigentlichen Glanzstück der Romantik, zum Ausdruck, wenn nach SCHELLING im individuellen Kunstwerk das Unendliche zur Darstellung kommt, in der endlichen Gestalt schaubar, sinnlich wird. Und doch ist ein Unterschied vorhanden, ja er ist fundamental. Bei der Klassik ist der Individualismus der  Ausgangspunkt  und der Universalismus das  Ziel,  in der Romantik ist umgekehrt der Universalismus die  Voraussetzung,  nur der allgemeine  Hintergrund,  und die Individualität  als solche  das Ziel. Die Individualität ist die Erscheinungsform des Absoluten und darum selbst höchster Wert, Selbstzweck, Ideal. Noch ist die Individualität nicht abgelöst von ihrem universalen Wurzelboden. Aber sie ist der  Gipfel  des Daseins; das Absolute stellt sich dar, kommt zum Ausblühen  in  und  mit  der menschlichen Individualität. War in der vergangenen Epoche die Individualität eine Verpflichtung, so beginnt man jetzt in der gegebenen Individualität zu schwelgen.

Damit war der entscheidende Schritt getan, hiermit der eigentlich moderne Begriff der Individualität im engeren Sinne als letzter, absoluter Wert geschaffen. Die Romantik ist hier wie auch auf so vielen Gebieten der Mutterboden der bis in die Gegenwart wirkenden Kräfte. Die Verwandtschaft NIETZSCHEs mit der Romantik ist deshalb auch frühzeitig erkannt und eingehend behandelt worden, ein so bedeutsamer Unterschied auch in der bestimmten Auffassung der Individualität und ihrer Verwirklichung und Ausführung, wie sich sogleich zeigen wird, bestehen bleibt.

Das Schicksal der Romantik ist bekannt. Obwohl die Romantiker wesentlich in der Welt der Einbildungskraft lebten, hielten sie es doch in ihrem übersteigerten Individualitätsbegriff nicht aus. Wie sie überhaupt geistig in Gegensätzen lebten - das geistige Leben war ihnen ein Spiel in Gegensätzen, auch darin bedeutungsvolle Vorboten des zerissenen Charakters der späteren Zeit -, so erlagen sie naturgemäß auch dem größten und weitesten Gegensatz: aus ihrer schrankenlosen Subjektivität streckten sie die Hand aus nach der stärksten Objektivität und Autorität. Das war der tiefere Grund ihrer Hinneigung zum Katholizismus, war mit der Grund der Ausbildung der SCHELLINGschen Philosophie in ihren späteren Phansen, war auch wohl ein treibendes Motiv der großartigen Aufrichtung aller objektiven Mächte und Werte im menschlichen Leben durch das System HEGELs. In diese Tendenz der Gegenwirkung gegen den allzu üppig wuchernde, subjektiven Lebensdrang reiht sich auch in gewissem Sinne die Alleinheitslehre SCHOPENHAUERs und seine Lehre von der Negation des Willens ein. Ich kann diese Beziehungen hier nicht weiter verfolgen. -

Die ganze Problematik der Individualitätsideals konnte erst zu Bewußtsein kommen, als man aus der theoretischen und ästhetischen Betrachtung  zur Verwirklichung in der Tat  überging. Mit der Einschränkung, die jede geschichtliche Zusammenfassung, jede charakterisierende Synthese anwenden muß, da es bei näherer Analyse immer Abweichungen, Ausnahmen, Gegenkräft gibt, kann man doch wohl sagen, daß die Zeitalter der Klassik und Romantik mit ihrer Vorherrschaft der Philosophie und Dichtkunst mehr  geistig  gerichtet waren, in Idee und Symbol, während das nun folgende Zweidrittel des letzten Jahrhunderts bis zur Gegenwart das Schwergewicht auf die praktische Wirksamkeit legte. GOETHE, welcher hintereinander Sturm und Drang, Klassik und Romantik durchlebt hatte, hat in seinen großen Erziehungswerken diesen Weg der Praxis gewiesen, den denn wirklich unser Volk mit seiner rührigen Arbeitskraft in Wirtschaft, gesellschaftlicher Organisation und Staat beschritten hat.

Eine Kritik der Werte kann sich nicht ausschließlich an die abstrakten Moralsysteme halten. Besonders ein ganz bestimmtes Lebensideal, wie das des Individualismus, will notwendig am wirklich gelebten Leben verfolgt werden, um in seiner wahren Natur erfaßt zu werden. Prinzipiell bietet sich hierfür das persönliche und soziale Leben in seiner ganzen Breite dar. Aber einen bevorzugten Rang nimmt hierbei zweifellos immer wieder die Dichtung ein, weil sich in ihr das Leben mit seinen Wertschätzungen und Idealen am erkennbarsten darstellt, unmittelbar zur Anschauung gelangt. So rechtfertigte es sich, daß wir bereits beim Individualismus der klassischen und romantischen Epoche verweilten, um den Werdegang dieses Ideals zu zeichnen. Und wenn wir nun zuletzt in das Zeitalter des Realismus eintreten, da die Probe aufs Exempel tatsächlich gemacht wurde, nämlich das stufenweise ausgebildete Ideal des Individualismus auch zu verwirklichen, so werden wir selbst hier unsere Kenntnis und Beurteilung dieses Ideals am besten anhand der Dichtung gewinnen, weil hier die Wertung und ihre Bewährung im Leben am reinsten und einleuchtendsten zur Erscheinung kommt.

In diesem Zusammenhang erwähne ich aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, nachdem die Klassik und Romantik verklungen waren, mit Nachdruck den Dichter HEBBEL, der zugleich ein ernster und gehaltvoller, wenn auch rein autodidaktischer Denker war, der in den letzten Jahrzehnten zu immer steigendem Ansehen gelangt ist, auf der Bühne und in der Wissenschaft, mit Fug und Recht. Besonders aber in der Geschichte des modernen Individualitätsideals nimmt HEBBEL eine hervorragende Stellung ein. Er selbst in seinem Leben wie seine Gestalten sind von Idealitätsfülle und -kraft gesättigt. Er geht weit über die Romantik hinaus. Wovor diese schließlich zurückgeschreckt war,  wagt er.  Er entfesselt die Individualität zu rücksichtsloser Entfaltung. Hier ist nicht mehr entfernt die Rede von LEIBNIZscher Harmonie. Hier ist die Individualität auch nicht mehr die Aufgabe, ein objektives Ideal vollendeten Menschentums zu verwirklichen wie in der Klassik. Mit der Romantik verbindet HEBBEL zwar die Schätzung der Individualität als solcher, als unbedingten Wertes. Und doch trennt ihn von ihr wieder ein tiefwirkender Gegensatz - man ersieht daraus beiläufig, welch einen Reichtum verschiedener Individualitätsbegriffe die moderne Geistesbewegung gezeitigt hat. In der Romantik fanden wir die Individualität als die sublimste Versinnlichung und Ausstrahlung des Universums. Bei HEBBEL umgekehrt  reißt sich das Individuum vom Universum los.  Es tritt in den schroffsten Widerspruch zum universalen Gesetz, in Widerspruch zu seiner sozialen Mitwelt und Umwelt. Mit elementarer Gewalt bricht es hervor und hemmungslos, unerbittlich wirkt es sich aus,  muß  es sich auswirken. Es gibt keinen inneren Widerstand, und so ist jeder äußere Widerstand sekundär.

Man möchte meinen, daß wir hiermit bereits beim Individualismus NIETZSCHEs angelangt wären. Gibt es hierüber hinaus noch eine Steigerung? Dennoch bleibt auch hier ein höchst bedeutsamer Unterschied bestehen. Denn dieser harte Individualismus  ist begleitet vom Bewußtsein der Verletzung der ethischen Norm.  Bei HEBBEL erfüllt sich, was FICHTE vom Zustand des ausgereiften Individualismus ausgesagt hatte: die Tatsache der "vollendeten Sündhaftigkeit" und zwar  bewußter  Sündhaftigkeit. Das Individuum wird  als  Individuum  durch  seine Individualität schuldig. Es kann dieser Notwendigkeit überhaupt nicht ausweichen, sofern es als Individuum seiner Bestimmung folgen will. Darin liegt die unversöhnliche Herbheit in der Tragik HEBBELs, weshalb man mit Grund von "Pantragismus" [ungöttliches Lebensgesetz - wp] bei HEBBEL gesprochen hat.

Und HEBBEL hat in dieser Auffassung der unentrinnbaren, tragischen Verstrickung der Individualitäten einen sehr merkwürdigen theoretischen Zeitgenossen und philosophischen Zwillingsbruder in einem meines Erachtens schwerverkannten Denker, der in den Handbüchern nur das kümmerliche Dasein bloßer Namensnennung führt, ich meine den SCHOPENHAUER-Schüler JULIUS BAHNSEN. Er lebte gänzlich abseits in dem entlegenen pommerschen Städtchen Lauenburg als Gymnasiallehrer, nicht einmal an einem Vollgymnasium, in einem "Sibirien des Geistes" nach seinem Ausspruch. Seine Versuche, sich eine seiner Bedeutung angemessene Wirksamkeit zu verschaffen, scheiterten. Er hatte weiter das Unglück in einem allerdings von ihm selbst begonnenen literarischen Streit mit EDUARD von HARTMANN, der damals auf der Höhe seines Ruhmes stand, dank dessen schrifstellerischer Gewandtheit, eine äußerliche Niederlage zu erleiden. Seitdem hat die wissenschaftliche Welt ihn so gut wie vergessen. Es ist ein langgehegter Wunsch von mir, jenes zu allgemeiner Anerkennung gelangte Urteil HARTMANNs einer Nachprüfung zu unterwerfen und BAHNSEN die Würdigung im wissenschaftlichen Urteil zu erkämpfen, auf die er mir Anspruch zu haben scheint.

BAHNSEN ist durch und durch Metaphysiker, und das hat ihm den Zugang zu der im Ganzen der Metaphysik abholden Zeit versperrt. Er schreibt zudem in einem schwer lesbaren, zusammenhanglosen, fast aphoristischen Stil, ohne doch die aphoristische Form rein auszubilden. Sein leitender Begriff ist der von KANT übernommene der  Realreprugnanz  [Auflösung durch Entgegensetzung - wp] oder, wie er meist sagt,  Realdialektik.  Er verknüpft die SCHOPENHAUERsche Willensmetaphysik mit der Dialektik HEGELs, dem er zu Unrecht nur Begriffs- oder Verbaldialektik vorhält, da ja bei HEGEL Denken und Sein zusammenfallen. Aber allerdings wird die Dialektik bei BAHNSEN außerordentlich wuchtig und tragisch, da er sie ganz in den Willen verlegt und jede Synthese ablehnt. Thesis und Antithesis uns zwar in Form antithetischer  Willens richtungen stehen in allen realen Verhältnissen, in Natur und Geschichte, besonders auch im ethischen Leben der Menschen unversöhnlich, unaufhebbar gegenüber. Und niemals schafft irgendeine scheinbare Synthese einen wirklichen Ausgleich. Daß der Wille, wie SCHOPENHAUER lehrt, aus einem Willen zum Ja sich in einen solchen zum Nein verwandle, umschlage, will er nicht anerkennen. Der Wille sei ursprünglich, wesenhaft beides, mit gleicher Stärke. Bis in die Wurzel jedes Willenszentrums reicht die Zerspaltung hinein, was er psychologisch außerordentlich fein zu behandeln weiß. Und wie in jeder Monade, so waltet der Widerspruch und zwar unaufhebbar, unlösbar in jeder Verbindung. "Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt" ist der vielsagende Titel seines Hauptwerkes. Lehrreich ist von hier ein Rückblick auf LEIBNIZ. Auch BAHNSEN vertritt eine rein pluralistische, individualistische Metaphysik. Bei LEIBNIZ aber herrscht die vollkommene  Harmonie,  hier die vollkommene  Disharmonie.  Bis dahin hat der individualistische Weg geführt. Der Individualismus, folgerichtig zu Ende gedaht, hat gleichsam das ganze Sein hoffnungslos zersprengt.

Als notwendiges Glied in der Entwicklung der Geistesgeschichte oder wenigstens dieser Seite der Geistesgeschichte scheint mir BAHNSEN nicht übergangen werden zu dürfen. Jene wurzelhafte Zwiespältigkeit jeder Seele, die BAHNSEN zu erkennen glaubt - treffen wir sie nicht in der modernen Welt, in Dichtung und Leben wirklich an? Tragen die dichterischen Gestalten der Gegenwart - und die Dichtung ist auch hier wieder ein sprechendes Zeugnis des Lebens - diese Zerklüftung nicht greifbar zur Schau? Und jene grausam unerbittliche Realdialektik, jene absolute Widerspruchsnatur des Daseins, die BAHNSEN erschütternd zu schildern weiß, mit einer Kraft der Darstellung, die häufig nicht hinter der Kunst SCHOPENHAUERs und NIETZSCHEs zurücksteht - scheint zumindest für unsere Zeit eine gewisse Wahrheit zu haben, da alle Kräfte ideeller und materieller Natur gegeneinanderstoßen, im Widerstreit aller Parteien und Stände, aller vorhandenen Interessen, bis zur Entladung in diesem Weltkrieg? Als ein geistiger Deuter des Zeitalters und seines ethischen Charakters dürfte meines Erachtens dieser seltsame Denker jedenfalls zu bewerten sein.

NIETZSCHE endlich sucht dem Individualismus die letzte Schranke wegzuräumen. Er spricht zwar auch von einer tragischen Weltauffassung. Aber diese kann dem Individualismus doch nur dann zugesprochen werden, wenn er, selbst unvermeidbar, in ethischen Hemmungen seinen inneren Widerspruch findet. Diese Selbstentzweiung hatte seine Vorgänger in die unentrinnbare Tragik hineingedrängt. Aber gerade diese ethischen Hemmungen sucht NIETZSCHE aufzuheben. Mit heroischer Kraft bejaht er jede Distanz, jeden Gegensatz, den die Individualitätsentfaltung mit sich bringt. Die Klüfte des Lebens will er nicht ausgleichen, sondern bewußt, vorsätzlich, grundsätzlich vertiefen. Was seinen Vorgängern tragischer Zwang gewesen war, wird bei ihm frei gewählter, selbstgewollter  Wert Damit erst stellt sich die Individualität restlos mit dem letzten Mut auf sich selbst. Indem das ethische Band völlig zerrissen wird, steigt das Individuum in jene grauenvolle Einsamkeit empor, die NIETZSCHE zwar lebhaft zu preisen weiß, bei der ihn aber doch selber fröstelte. Da sich das Individuum nur bei völliger Zertrümmerung der ethischen Fesseln entfalten konnte, - die tragische Verschlingung der Individuen bei den Vorgängern schien das zu lehren, und NIETZSCHE hat beide gelesen, BAHNSEN hat auf ihn nachweisbar eingewirkt - deshalb sah sich NIETZSCHE vor die unerhörte Aufgabe gestellt, eine vollkommene ethische Umwälzung und Umwertung herbeizuführen. Nur von hier aus ist dieser seltsame Gedanke begreiflich. NIETZSCHE glaubte sich an der Spitze, als Urheber einer völlig neuen Entwicklung. Er meinte, daß kaum irgendwelche Brücken aus der Vergangenheit zu ihm hinüberführten. Er, der sich als ein so glänzender Psychologe anderen Erscheinungen gegenüber erwiesen hat, befand sich über sich selbst und seine geschichtliche Stellung in einer schweren Selbsttäuschung. Er ist nicht der Anfang einer völlig neuen Geistesepoche - höchstens mittelbar - er ist das Ende, der Ausläufer, die letzte Zuspitzung einer ethischen Anschauung und Richtung, die bei ihm nicht ihren endgültigen Triumph feiert,  sondern ihre Selbstaufhebung erfährt. - 

Mit ganz kurzen, programmatischen Sätzen präzisiere ich meine Stellung zum individualistischen Ideal: Der Individualismus ist ein ästhetischer und, wenn er tief gefaßt wird, ein religiöser Wert, aber keine ethische Norm. Er ist nur Material für die ethische Norm. 

Wenn aber NIETZSCHE die  Normlosigkeit  proklamiert, das schlechthin "individuelle Gesetz", so ist das individuelle Gesetz trotz SIMMEL, der diesen Begriff zu verteidigen sucht (6), eine  contradictio in adjecto  [Widerspruch in sich - wp]. Deshalb sprach ich von der Selbstaufhebung des Individualitätsideals in seiner konsequenten Fassung.

Der  Beziehungscharakter oder  Verknüpfungs charakter ist vom Begriff des Gesetzes niemals zu trennen. Wenn das Individuum nicht in eine völlig zusammenhangslose Summe einzelner, gleichwertiger oder gleich  un wertiger Momente zerfallen soll - und das ist nicht NIETZSCHEs Meinung, weil er damit dem Individuum jede aktive Kraft rauben würde, die er ihm ja gerade verschaffen will - so trägt NIETZSCHE zur näheren Bestimmung des Wertes des Individuums, der von ihm bewerteten  Verfassung  des Individuums, theoretisch ungeklärt, von  außen  her objektive, jenseits des Individuums liegende Maßstäbe stillschweigend heran, die scheinbar dem Individualitätsideal Leben einhauchen. Gefühlsbetont, ohne zu begrifflicher Klarheit erhoben zu werden, schwingen bei dem individuellen Ideal unbewußte, objektive Werte mit. Diese sind bei NIETZSCHE sehr reich, aber sie können nicht über die begriffliche Unklarheit, über die Inhaltslosigkeit des rein individuellen Ideals als solchem hinwegtäuschen.

Das Werten ist eine menschliche Funktion wie das Urteilen. Wie der Skeptiker trotz seiner  epoche  sich des Urteilens nicht entziehen kann, so auch der Immoralist nicht des Wertens. Der Wert aber stellt immer ein Wirkliches einer Idee gegenüber, an der er das Wirkliche mißt. Damit wird das Singuläre, Individuelle, Bestimmte über seine Individualität hinausgehoben, zunächst der individuelle, augenblickliche Zustand  innerhalb  eines Individuums gegenüber dessen herrschendem, richtunggebendem, wertverleihendem, gesetzgeberischem  Allgemein willen. Und woher dieser? Er kann nur wieder  jenseits  des Einzelindividuums seinen Ursprung haben, seinen Wert entleihen. Es könnte scheinen, als ob bei NIETZSCHE selbst das objektive Ideal im Gedanken der Erhöhung der Gattung gegeben sei, um derentwillen die Individuen als solche sich zu entfalten hätten, ein Irrtum der Auffassung, welchem ich in meiner Jugend verfallen war. Aber die Menschheit stellt sich NIETZSCHE nicht dar als ein Wertsystem objektiver Leistungen, sondern nur als die Summe weniger bevorzugter, nur wieder rein in ihrer eigenen Individualität bestimmter Einzelner, sodaß er aus dem Bannkreis seines rein individuellen Ideals nicht hinausgelangt. Der Charakter aber der Vornehmheit, den er meist als Wert-unterscheidend, ausgesprochen oder unausgesprochen, einführt (7), ist, wie gesagt, eine theoretisch ungeklärte Entlehnung aus dem grundsätzlich abgelehnten, aber unbewußt und wider Willen nachwirkenden Reich der objektiven Werte, eine Entlehnung, die niemals begrifflic faßbar wird.

Den gleichen Einwand aber muß man auch gegen die weitverbreitete, populär gewordene Unterscheidung von Individualität und Persönlichkeit richten, die man gegen den  reinen  Individualismus in der Art NIETZSCHEs ins Feld zu führen pflegt. Vielleicht hat man die Erwähnung dieses Begriffsgegensatzes schon länger vermißt. Aber mit Absicht habe ich diese scheinbar so einfache und schlagende Lösung des Problems der Individualität auf die Schlußkritik aufgespart, weil sie sich in diesem Zusammenhang am klarsten erfassen läßt. Die Unterscheidung von Individualität und Persönlichkeit, wonach Individualität als die naturhaft gegebene  Anlage,  Persönlichkeit aber als die vollzogene Ausbildung oder Gestaltung der Anlage verstanden wird, erscheint mir als ein aus der Not geborenes, oberflächliches  Ausweichen  vor dem großen und ernsten Problem. Denn wie beim NIETZSCHEschen Ideal des  vornehmen  Individuums, seiner aristokratischen Wertung uneingestanden objektive Maßstäbe mitschwingen, ja bestimmend sind, die aber vollständig im Unklaren bleiben,  so auch hier beim Begriff der Persönlichkeit  als der gestalteten, ausgereiften Individualität. Denn  woher  diese Gestaltung? Woher der Maßstab, die Norm, nach der sich diese Gestaltung vollziehen soll? Dieser Maßstab kann ebenfalls nur  jenseits  des Individuums liegen, ist niemals im Umkreis des Individuums selbst zu gewinnen, sodaß hier die gleiche Verschwommenheit vorliegt. Meist richten sich ja auch bei dieser Unterscheidung die Blicke rückwärts in unser klassisches Zeitalter, zu GOETHE und HUMBOLDT. Damals aber  hatte  man das objektive Ideal oder  glaubte  es doch zu haben im Bild des Griechentums, unter dessen erzieherischer Einwirkung sich die Individualität zur Persönlichkeit steigern sollte. Dieses Ideal aber ist uns entschwunden.

Der Individualismus ist etwas Tatsächliches, Wirkliches. Etwas Tatsächliches, Wirkliches aber kann man icht direkt, bewußt  erzeugen.  Es braucht nicht konstant zu sein und ist in unserem Fall auch nicht konstant, wie meine geschichtliche Skizze zu zeigen suchte. Es wächst wie alle anderen menschlichen Kräfte, die sozialen, die wissenschaftlichen, künstlerischen, praktischen. Und wodurch wachsen sie insgesamt?  Durch das objektive Ideal.  Je härter und schwerer dieses auf den Seelen lastet, umso mehr weckt, belebt und stärkt es auch alle individuellen Kräfte. Nur durch eine solche Gegenüberstellung gegen ein absolutes kann die vielgestaltige Wirklichkeit zum Aufblühen kommen. Und vielleicht liegt darin der geschichtliche Wert NIETZSCHEs, seine - hegelianisch gesprochen - dialektische Wirkung, daß er seinen vollen Gegensatz, das unbedingte Ideal, nach sich ziehen muß, herausfordert, es auf höherer Grundlage schaffen hilft.

Die Frage aber nach dem absoluten Ideal selbst scheint mir in das Gebiet der Erkenntnistheorie und Metaphysik hinüberzuweisen. Es ist im Bereich der Ethik selbst nicht zu lösen. Das Grundproblem, wenigstens wie es mir für meine philosophische Arbeit vorschwebt, ist die Frage nach dem Verhältnis von Wert und Wirklichkeit.  Wer das Ideal sucht, wird an die Erkenntnis der Dinge verwiesen.  Das aber setzt voraus, daß die Wertsetzung nicht völlig willkürlich erfolgt, daß sie irgendwie mit dem Sein verbunden ist. Man pflegt heute beide Sphären voneinander zu trennen. GEORG SIMMEL, den ich schon oben erwähnte, gegen den sich auch meine Einwände gegen das individuelle Gesetz gerichtet haben, ein außerordentlich feinfühliger Psychologe des ethischen und gesellschaftlichen Charakters der Gegenwart, ihrer bewußten und unbewußten Bedürfnisse, dem ich aber nur selten in seinen Ergebnissen zu folgen vermag, tut einmal den gewagten Ausspruch von der "Ruhelage der Objektivität", die erkennt,  "daß unsere Wertgefühle und Ideen überhaupt kein prinzipielles, sondern ein rein zufälliges Verhältnis zur realen Ordnung der Dinge haben." (8) Heißt das nicht die BAHNSENsche Realdialektik an der bedeutsamsten, entscheidenden Stelle zur Geltung zu bringen? Wenn dies zutrifft, zweifle ich allerdings sehr, ob sich ein objektiver Wert finden lassen wird. In einer Zeit, da alles wankt, scheint mir die einzige Rettung eine Theorie zu sein, die das Reich des Idealen fest auf dem Boden des Realen zu gründen weiß.
LITERATUR: Ernst Horneffer, Der moderne Individualismus, Kant-Studien, Bd. 23, Berlin 1918
    1) Habilitationsvorlesung in der philosophischen Fakultät der Universität Gießen am 24. Juli 1918
    2) GEORG SIMMEL, Kant, 16 Vorlesungen (1. Auflage). Da das zur Zeit vergriffene Werk mir nur in der 1. Auflage zugänglich ist, zitiere ich nach dieser.
    3) Erschöpfend kann KANTs Stellung zum Problem des ethischen Individualismus naturgemäß nur in Verbindung mit seiner erkenntnistheoretischen Bewertung des Individuellen und Konkreten behandelt werden. Zu dieser Frage liegt eine bedeutsame Äußerung aus jüngster Zeit von Seiten NATORPs vor, in seiner Besprechung des Kant-Werkes von BRUNO BAUCH (Kant-Studien, Bd. 22, Heft 4, Seite 426f). Ein Eingehen auf dieses grundlegende Problem in der Beurteilung KANTs verbietet sich an dieser Stelle durch die dieser Vorlesung gesteckten Grenzen. - KANTs Stellung zum ethischen Individualismus, wie sie SIMMEL (a. a. O., Seite 96) darstellt, als sei gerade die kantische Formulierung des Sittengesetzes, sein formaler Charakter die Gewähr für die restlose Geltendmachung des Individuellen in der Person und der jeweiligen Situation des Handelns ist eine moderne Auslegung, die die Intention KANTs ins Gegenteil verkehrt.
    4) KONRAD BURDACH, Die deutsche Renaissance, Seite 85
    5) WILHELM WINDELBAND, Geschichte der neueren Philosophie II, Seite 227
    6) In diesem geistreichen Aufsatz (Logos IV, Heft 2, Seite 117f) unternimmt SIMMEL den Versuch, die ethische Norm von da her zu bestimmen, "von wo das Handeln kommt, vom Leben", nicht von da her, "wohin das Handeln geht, von einem ideellen Außerhalb des Lebens, vom Inhalt" (Seite 155). Die Idealität ist eine Kategorie wie die Wirklichkeit. "Der Aktus des Selbstbewußtseins, in dem wir ein Sein, dessen Inhalt wir selbst sind, uns gegenüber wissen, wie er auch gedeutet werden möge, ist jedenfalls der Art nach nichts anderes, als der Aktus des Sollens, in dem wir ein Gebotenes, dessen Inhalt wir selbst sind, uns gegenüber zu wissen" (Seite 134). Aber  woher  dieser Dualismus von Idealität und Wirklichkeit, dessen die ganze Weite der Persönlichkeit erfassende Wirkung SIMMEL mit Recht aufweist? Die Bezeichnung als Kategorie kann hier nicht genügen. Diese neben der  vollen  Wirklichkeit herlaufende Idealität kann doch nur aus einer  Vergleichung  mit anderen Individualitäten gewonnen werden, wenn sie auch formal ebenso konstitutiv sein mag wie das Selbstbewußtsein.  Über individuelle Faktoren bestimmen seinen Inhalt. So reduziert sich das individuelle Gesetz auf die rational niemals erfaßbare  Anwendung  eines Allgemeinen.
    7) Vgl. GEORG SIMMEL, Schopenhauer und Nietzsche, Seite 233f
    8) GEORG SIMMEL, Kant - 16 Vorlesungen (1. Auflage), Seite 123