ra-2Die ArbeiterfrageDie sittliche Frage eine soziale Frage    
 
FRIEDRICH MUCKLE
Der wirtschaftliche und geistige
Untergrund des Sozialismus

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"Hineingestellt in ein verwickeltes, der Ordnung entbehrendes Wirtschaftsgetriebe, wurden die Menschen, fern davon nun die Gebieter im Bereich der erhofften Freiheit zu sein, selbst zu willenlosen Opfern übergreifender gesellschaftlicher Zusammenhänge: von Krisen, die zu Bankrotten führten, von seelischen Qualen, die sie dank der Unsicherheit ihres Daseins häufig in eine beängstigende Aufregung versetzten, ihrem Leben das Gift der Unrast einträufelten, ihrer Seelenstimmung das Gepräge nervöser Erregung verliehen."

"Die kapitalistische Produktionsweise zaubert ungeheure Reichtümer hervor, aber es ist ein Reichtum, der denen, die ihn in harter Arbeit geschaffen haben, vorenthalten bleibt. Das große Heer der Proletarier hebt sich, eine ungelenke, blöde Masse, schroff ab vom Glanz, der dem schnell erworbenen Reichtum der wenigen entstrahlt, versunken in ein Elend, daßs uns heutigen unbegreiflich ist."


I.

Treten wir jählings hinein in den Bereich des Kapitalismus, auf dessen Boden sich der moderne Sozialismus entwickelt hat. Welch eisiger Luftzug strömt uns da entgegen, welch wirre Welt tut sich vor unseren Blicken auf! Während früher im Bereich handwerksmäßigen Schaffens Beschaulichkeit herrschte, welches Drängen und Hasten nun im gewerblichen Leben! "Eine endlose Beschäftigung" hat man das moderne Unternehmen genannt und damit treffend den tiefsten Gehalt heutiger Wirtschaftsführung, der sich so sichtbar von dem des Handwerks trennt, bezeichnet: wir meinen jenen unbändigen Willen zur Macht, der sich auswirkt im Streben nach rücksichtsloser Verwertung des Sachvermögens, des Kapitals. Scharf umgrenzt war ehedem der Wirkungsbereich des Handwerkers und gebieterisch jeder Ausdehnung des Betriebes, die eine Gefährdnung der Selbständigkeit des Genossen mit sich bringen konnte, Einhalt geboten: seinen Mann soll das Handwerk ernähren, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Diese Zwecksetzung ist im Rahmen des Kapitalismus völlig verschwunden, ein Ausdruck vor allem für die nun eingetretene veränderte Stellung, die in diesem System die sachlichen Güter, die Produktionsmittel, einnehmen. Nicht dient das Kapital des Unternehmers allein dazu, ihm die Mittel zur Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse zu liefern, er will es vielmehr vergrößern und sich darin weder von den Schranken etwa des bestehenden Rechts noch geltender Sittlichkeit behindern lassen. Eine ungeheure soziale und seelische Bedeutung kommt diesem Streben der Unternehmer zu und in der Tat war die Entwicklung des Kapitalismus von einer völligen Umwälzung der alten, auf anderem Boden erwachsenen Lebensverhältnisse begleitet, von einer grundstürzenden Veränderung nicht allein der Klassenscheidung, sondern auch des Rechts, ja selbst der Wissenschaft, Kunst und Religion. Jener individualistische Geist, der dem modernen Unternehmer eigen ist, sucht isch von allen Fesseln, die seine Auswirkung hemmen könnten, zu befreien, durch ihn verkümmert das Gefühl der Rücksichtnahme auf den Genossen, das für den Handwerker alter Prägung so bezeichnend ist, es ist ein Geist ungeschminkter Selbstsucht, dem dem Handeln des Unternehmers das Gepräge verleiht, einem Handeln, das sich seine Wirkungsstätte sucht, wo immer der Gewinn, der Endzweck kapitalistischer Tätigkeit, winkt. Das gilt vor allem für den Durchschnittsunternehmer, mitnichten aber für den Unternehmer großen Stiles, der neue Wege bahnende, mit einer Leidenschaft seinem Werk zugetan ist, die ihre Farbe empfängt nicht so sehr durch das Streben nach Gewinn als die schöpferische Tätigkeit selbst. Sein Werk ist ihm seine Not und sein Glück, ihm weiht er, oft heldenhaft kämpfend, alle Kräfte seines Wesens, der Wille zur Macht ist es, der den großen Unternehmer im Innersten beherrscht: der Wille, Herr und Gebieter zu sein über ein neues Königreich gleichsam, das überlegene Geisteskraft geschaffen hat.

Im Dienst dieser Endlosigkeit kapitalistischen Strebens steht ein völlig neues technisches Können, das die Naturwissenschaft mit ihren märchenhaften Leistungen befruchtet hat. Die moderne Chemie mit ihren wunderbaren Ergebnissen hat eine Fülle neuer Produktionszweige hervorgerufen; eine Unzahl von Arbeitsmaschinen, oft wahre Wunderwerke der Technik, hat die Handarbeit alter Prägung ersetzt; tausend und abertausend Hände regen sich, die Natur dem Menschen durch das Mittel moderner Erkenntnis dienstbar zu machen; gewaltige Motoren, denen die Erde mit ihren fast unerschöpflichen Kohlenlagern die nötige Nahrung bietet, wirken sich in mächtigen Leistungen aus. Aber was uns zwar geläufig, aber bei scharfem Hinsehen doch seltsame ist: dieses ungeheure Getriebe von internationaler Geltung, diese verwirrende Mannigfaltigkeit von Einzelbetrieben entbehrte, wenigstens lange Zeit hindurch, jeder festen Organisation, war dem Wechselspiel freiwaltender sozialer Kräfte überlassen. Denn einleuchtend ist es, daß das rechtliche Gefüge der Zunft dem Freiheisstreben des modernen Wirtschaftsmenschen als lästiger Druck erscheinen mußte. Ein neues ökonomisches Ideal war so auf dem Untergrund kapitalistischer Entwicklung erwacht, nicht mehr allseitige Regelung des Wirtschaftslebens, wie zur Zunftzeit, war von nun an die Losung, sondern eine völlige Freistellung der Wirtschaftsmenschen, ihre Erlösung von den starren Formen der Zunft. Und was erstrebt wurde, ist auch erreicht worden. Außerhalb des Geltungsbereiches der Zünfte entwickelte sich das Wirtschaftssystem des Kapitalismus, indem man die den neuen Bedürfnissen zuwiderlaufenden zünftigen Vorschriften einfach mißachtete oder sich unter den Schutz landesherrlich erlassener Vorschriften stellte, die zur Zeit des fürstlichen, geldbedürftigen Absolutismus geradezu eine staatliche Förderung der neuen Produktionsrichtung bezweckten und selbst Einzelheiten der Wirtschaftsführung berührten. So unter den führenden Ländern frühkapitalistischer Entwicklung - in Frankreich und England besonders - zu beträchtlicher Bedeutung gereift, stärkte die moderne Unternehmung, angetrieben auch durch die Bedürfnisse des stets wachsenden Marktes und beeinflußt weiterhin durch die grenzenlose Ergiebigkeit der neuen Produktionsmethoden, den Geist selbstbewußten Handelns, der für sich volle Freiheit der Selbstbestimmung beanspruchte. In jähem Ansturm gegen die es behindernden Gewalten hat so das französische Bürgertumg in der großen Revolution des Jahres 1789 die Unzahl wirtschaftlicher Schranken, die den freien Lebenslauf der modernen Unternehmung unterbanden, beseitigt, es hat Frankreich zu einem einzigen großen Wirtschaftsgebiet durch Vernichtung der Zollschranken ausgeweitet, hat im Glauben an die harmonisierende Kraft der wirtschaftlichen Freiheit die Zünfte beseitigt und die bevormundende Politik des absolutistischen Staates als schädigend verworfen. Auch in England wurde, wenn auch ohne revolutionärem Ansturm, in einem langen Vorgang, der sich in allen Ländern moderner Kultur in überraschender Gleichartigkeit wiederholte. Von solch unwiderstehlicher Macht ist dieser ungeheure Vorgang moderner Wirtschaftsentwicklung, der gleich einem mächtigen, plötzlich hereinbrechenden Strom die Nationen mit sich fortriß und ungeachtet vorhandener kultureller Sonderheiten ihr wirtschaftliches Leben in eine einheitliche Richtung zwang. Der internationale Charakter der sozialen Bewegung, die dem entwickelten Kapitalismus wie sein eigener Schatten gleichsam folgt, hat in dieser Gleichartigkeit des modernen Wirtschaftslebens, wie hier schon angedeutet werden mag, ihre Grundlage.

Man hat die mittelalterliche Gewerbeverfassung als "das umfassendste und durchgreifendste System gesetzlicher Mittelstandspolitik" bezeichnet, "das die Weltgeschichte je gesehen hat, indem es sehr breite Schichten der Stadtbevölkerung in ihrer Erwerbstätigkeit privilegierte und gleichmäßig vor der Konkurrenz des Großkapitals wie vor der Durchlöcherung ihrer Privilegien durch die untersten Elemente der Stadtbevölkerung oder fremden Zuzug sicherte." (1) Wie schroff hebt sich davon das System des Kapitalismus, in der Frühzeit seiner Entfaltung besonders, ab! Nicht eine Unterbindun, sondern rückhaltlose Förderung der Konkurrenz, erbarmungsloser Wettbewerb, und führe er selbst bis zur Vernichtung des Schwachen, war nun die Losung. Als ein gerechter Sieg überlegenen Könnens wurde das Unterliegen der weniger Leistungsfähigen von den Theoretikern des neuen Wirtschaftssystems hingestellt, freilich auch in den Hintergrund gerückt gegenüber der durch das Spiel der Kräfte erhofften, in Wirklichkeit aber nicht vorhandenen sozialen Harmonie. Jeder Gedanke des Schutzes des Schwachen war nun verschwunden und es muß in der Tat anerkannt werden, daß durch diese Freistellung des Wirtschaftsmenschen, die ihm weitesten Spielraum der Betätigung sicherte, ein außerordentlicher wirtschaftlicher Fortschritt angebahnt wurde. Keine Zeit der Weltgeschichte hat auch nur ähnliche Umwälzung der Technik, die sich in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum in fast allen Teilen Europas, in Amerika, Asien und Australien einbürgerte, erlebt. Die in früheren Zeiten schier unendlich erscheinende Weite des Erdenraumes hat sich in einenun leicht zu durchquerende Fläche verwandelt; gleich eisernen Gürteln sind tausendfältig Schienenstränge um unseren Planeten gelegt, auf dem in rasender Schnelligkeit das Dampfroß sich fortbewegt; die Riesenkörper unserer Dampfschiffe durchfurchen in eilendem Lauf die Meere, allgegenwärtig dünken wir Heutigen uns, denen Vorgänge fernster Länder im Nu der Telegraph zuträgt und schon hat menschliche Kühnheit das Reich der Lüfte erobert. Eine unübersehbare Fülle neuer Gebrauchsgüter hat menschlicher Fleiß hervorgezaubert, Wunderwerke nötigen uns Ehrfurcht vor menschlicher Geschicklichkeit ab; als ein stolzer Gebieter erscheint uns der Mensch, dessen Willen die Kräfte der Natur sich in stummem Gehorsam beugen. Allerdings, es ist ein Sieg, der mit großen Opfern erkauft worden ist.

Denn wäre es nicht seltsam, wenn die enge Verschlingung der Einzelbetriebe - derzufolge Tausende von Händen sich regen müssen, um in arbeitsteiligem Zusammenwirken ein fertiges Gebrauchsgut herzustellen, ohne daß eine einheitliche Leitung vorhanden wäre - zur Harmonie ökonomischen Daseins führen würde! Nur jene Begeisterung, die herausgeboren war aus dem Freiheitsstreben einer Zeit, die sich wirtschaftlich mündig fühlte, aber unter dem Druck hemmender Fesseln noch seufzte, konnte jenes Trugbild einer aus Freiheit entspringen Eintracht zeitigen, nur jenes hoffnungsfreudige Wollen, wie es Frühzeitalten der Kultur immer eigen ist. Denn mitnichten stellte sich das erwartete Reich des sozialen Friedens ein. Hineingestellt in ein verwickeltes, der Ordnung entbehrendes Wirtschaftsgetriebe, wurden die Menschen, fern davon nun die Gebieter im Bereich der erhofften Freiheit zu sein, selbst zu willenlosen Opfern übergreifender gesellschaftlicher Zusammenhänge: von Krisen, die zu Bankrotten führten, von seelischen Qualen, die sie dank der Unsicherheit ihres Daseins häufig in eine beängstigende Aufregung versetzten, ihrem Leben das Gift der Unrast einträufelten, ihrer Seelenstimmung das Gepräge nervöser Erregung verliehen. Und in Zeiten der Not steigerte sich die ohnehin schon in glücklichen Epochen bis zur Häßlichkeit verzerrte Selbstsuch ins Ungemessene, zwang zur Anwendung verwerflichster Mittel, um den überlegenen Nebenbuhler aus dem Feld zu schlagen, zerfleischte gleichsam den gesellschaftlichen Körper. Eine sittliche Zerrütung, wie man sie in gleicher Stärke nicht einmal in den Zeiten der römischen Kaiserzeit vorfindet, sucht unsere Zeit heim, die die ehrwürdigen Symbole entschwundener Zeiten entthronte und die Gebote der Religion, die namentlich während der Glanzzeit des Zunftwesens als Richtpunkte des Handelns dienten, frevelhaft mißachtet.

Aber nicht allein die Seele des Menschen hat der Kapitalismus verwüstet, auch der uns umgebenden äußeren Wirklichkeit hat er die Züge abstoßender Häßlichkeit aufgedrückt. Lange wird es dauern, bis der verderbenbringende Schlamm, den der Strom der modernen Entwicklung zurückgelassen hat, durch mühsame Arbeit wieder beseitigt ist. Man muß die großen Stätten unseren heutigen Wirtschaftssystems, sagen wir einmal die Riesenstadt London, unter deren frischem Eindruck der Verfasser diese Zeilen schreibt, kennen, um sich einen Begriff von den Widerwärtigkeiten des modernen Lebens machen zu können. Diese Hunderttausende, die dichtgedrängt auf den Straßen mit dem Ausdruck völliger Gleichgültigkeit gegenüber dem Gewimmel der Außenwelt aneinander vorbeischießen; der tosende Lärm der unzähligen Verkehrsmittel, die mit ihrem wirren Lauf eine beständige Gefahr für das menschliche Leben bilden; der Ruß, der die oft prächtigen Gebäude mit einem schwarzen Firnis überzogen hat; die unbeschreibliche, gähnende Einförmigkeit der Arbeiterviertes, die Monotonie des Elends nämlich der durch Laster und Not verzerrten Gestalten, die uns hier auf Schritt und Tritt begegnen, die Monotonie weiterhin der aller Reize entbehrenden Arbeiterhäuser, die, weite Flächen bedeckend, dem sie überschauenden Blick als eine wirre Steinmasse sich darbieten - alles dieses und hundert andere Widerwärtigkeiten hat das kapitalistische Wirtschaftssystem der Menschheit gebracht. Und wenn wir erste einige Jahrzehnte zurückgreifen, wo die öffentlichen Gewalten hygienische Maßnahmen kaum kannten, welch abscheuliches Städtebild stellt sich uns dann dar! FRIEDRICH ENGELS, der später berühmt gewordene Sozialist, hat in seiner Schrift: "Die Lage der arbeitenden Klassen in England" die grauenhaften Zustände in einzelnen englischen Städten in ihrer ganzen ergreifenden Düsterheit geschildert. Ihn zu lesen ist unerläßlich für jeden, der den Kapitalismus in der Frühzeit seiner Auswirkung kennen lernen will.

Entsetzlich geradezu war der verheerende Einfluß des Kapitalismus auf jene zahlreiche Gesellschaftsklasse, der die ausführende Arbeit des modernen Wirtschaftssystems obliegt, auf das  Proletariat.  Was dieser Klasse ihre sichtbaren Züge gibt und sie von ähnlichen sozialen Schichten, vom Handwerker und Gesellen mittelalterlicher Prägung vor allem, unterscheidet, das ist ihre ewige Trennung vom Besitz der Produktionsmittel, das beständige Verharren in abhängiger Stellung, die trostlose Gewißheit, nie die Stellung eines Wirtschafts subjektes,  wie es der Handwerksmeister war und der Lehrling und Geselle werden konnten, erreichen zu können. Und merkwürdigerweise, freilich erklärlich für den, der mit dem Wesen sozialer Klassen vertraut ist: gerade jener Liberalismus, der die Freiheit der Persönlichkeit als hehrstes Menschenrecht, als ein natürliches Recht forderte, befestigte, als er zur Macht gelangt, diese Abhängigkeit der Lohnarbeiter noch, indem er letztere politisch einfach entrechtete: die Proletarier durch Entziehung des Wahlrechts zu Bürgern zweiter Klasse herabdrückte und sie damit des wichtigsten Mittels wirtschaftlicher und geistiger Hebung beraubte. Gewiß, mannigfache Freiheiten hat der Liberalismus dem Lohnarbeiter gebracht: die Freiheit der Berufswahl z. B., die Freiheit weiterhin in höchsteigener Person mit dem Unternehmer einen Vertrag zu schließen, ihm Bedingungen hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse zu stellen, ohne daß er weder auf korporative noch staatliche Satzungen Rücksicht zu nehmen braucht. Menschlicher Leistungsfähigkeit angepaßte Arbeitszeit, auskömmliche Löhne, gesunde Arbeitsstätten - alles das zu verlangen hat der Proletarier nun das Recht. Wie aber, wenn die Erfüllung dieser Forderungen an der harten Tatsache der Wirklichkeit scheitern sollte, wenn nicht der Arbeiter, sondern der Unternehmer  seine  Vertragsbedingunen dank ihm zustehender Überlegenheit durchzusetzen die Macht hätte! Und wenn ihn bei dieser Vertragsschließung nicht billige Rücksichtnahme auf das Wohl des Arbeiters, sondern persönliches Interesse, rücksichtsloses Gewinnstreben leitet, ist dann diese Freiheit des Arbeiters nicht ein elendes Trugbild, eine Kulturlüge, die bei der großen Ausdehnung der Lohnarbeiterklasse von furchtbarer Bedeutung werden könnte! In der Tat, sie wurde es.

Der Arbeiter soll beim Abschluß des Arbeitsvertrages frei sein! er ist frei, solange ihn die Not nicht zwingt, die vorhandene Arbeitsgelegenheit auszunützen. Solange ihm aber fehlt, was des Lebens Notdurft gebieterisch erheischt, ist er einfach gezwungen, will er nicht Hungers sterben, auf die Vertragsbedingungen des Unternehmers einzugehen. Und diese Voraussetzung günstiger Arbeitsverhältnisse als Grundbedingung persönlicher Wohlfahrt und eines menschenwürdigen Daseins fehlte gar zu häufig. War doch der Arbeiter, solange die Gesetzgebung den Zusammenschluß mit seinesgleichen zum Zwecke gemeinsamer Festsetzung und, wenn nötig, die Erzwingung der Arbeitsbedingungen verbot - und das war lange Zeit hindurch der Fall -, der Konkurrenz seiner Genossen hilflos ausgesetzt, die ihn unterbieten, den Lohn in Zeiten wirtschaftlichen Niedergangs selbst bis zur denkbar niedrigsten Stufe herabdrücken konnten. So war es nicht eigener Wille, sondern das Walten fremder Mächte, die das Arbeiterlos während der Zeit allmählicher Ausreifung des Kapitalismus bestimmten. Die Freiheit des Arbeiters wurde in ihr Gegenteil verdreht, in eine Art Sklaverei. Denn nicht allein verfügt der Unternehmer über die Arbeitskraft des Proletariers, sondern auch, da diese Ausfluß seiner Persönlichkeit ist, über diese letztere selbst. Mit seinem ganzen Wesen ist der Arbieter in die Stätte seiner Arbeit einbezogen; Gesundheit, Lebensglück hängt von der Art seiner Beschäftigung ab.

So war das Leben des Proletariers in der Früheit kapitalistischer Entwicklung eine einzige lange Lebensgeschichte. Wenn man bedenkt, daß der Handwerksmeister schon aus dem Grund, daß er gemeinsam mit seinen Hilfskräften seine Arbeit verrichtete, die Arbeitsbedingungen den Anforderungen der Menschlichkeit anpaßte; daß zudem noch die Zunftordnung einer Ausbeutung der Gesellen und Lehrlinge Schranken entgegensetzte, so liegt schon in der Tatsache der im kapitalistischen Betrieb nun vollzogenen Arbeitstrennung - der Trennung ausführender und leitender Arbeit - beschlossen, welche Gefahr sie für die Gesundheit des Arbeiters bringen konnte. Aller Sittlichkeit hohnsprechende Zustände stellten sich denn auch ein. Es fehlte ursprünglich an allen hygienischen Maßnahmen, in den Baumwollfabriken herrschte dichter Staub, ekelhafte Gerüche verbreiteten sich in den Arbeitsräumen, inmitten unbeschreiblichen Schmutzes mußten die Arbeiten verrichtet werden und selbst das Licht der Sonne konnte oft beim Mangel an Fensern in diese Stätten des Elends nicht eindringen. Geradezu jammervoll war das Schicksal der bei der Quecksilber-, Phosphor- und Arsenfabrikation beschäftigten Arbeiter.

Man stelle sich vor, daß beim Mangel jeder rechtlichen Regelung des Arbeitsverhältnisses die Arbeitszeit ins Ungemessene ausgedehnt wurde, daß 16-, 18-, ja beim Wechsel der Schichten 24-stündige Arbeitszeit keine Seltenheit war; daß die Arbeitsleistung durch den raschen Gang der Maschinen die größtmögliche Steigerung erfuhr, daß der Arbeiter einförmige Teilverrichtungen zu vollziehen hatte, die reizlos, ohne jeden persönlichkeitsbildenden Wert waren! Man erwäge weiterhin, daß die Löhne Hungerlöhne waren, daß ein großer Teil von ihnen für Wohnungsmiete verausgabt werden mußte, daß das Heim des Arbeiters jedes erfrischenden Reizes entbehrte, ihm nach des Tages Mühen, statt Anregung zu geben, das düstere Leidensbild seiner Angehörigen vor Augen stellte; man bedenke außerdem, daß Frauen durch die Not in die Fabriken getrieben wurden, daß Kinder, oft im zartesten Alter von drei Jahren schon, in großer Anzahl in den industriellen Betrieben beschäftigt wurden, daß diesen armen, elenden Geschöpfen die unschuldige Freude des Spiels, auf die ihre ganze Natur hindrängt, geraubt wurde, um stattdessen vom frühen Morgen bis abends spät im Dienst gewinnsüchtiger Unternehmer, Arbeitssklaven gleicht, sich abrackern zu müssen, von rohen Aufsehern erbarmungslos gezüchtigt und zur Arbeit angetrieben wie das Vieh - man bedenke das alles und man wird verstehen, daß die arbeitende Klasse geistig und körperlich entartete. Es ist ein Bild von erschütternder Wirkung: diese stumme, dunkle Klasse, in einer Zeit ungeheurer Steigerung des Reichtums, die zu blödem Luxus der oberen Schichten führte, dumpf dahinlebend zu sehen, den verzehrenden Genüssen des Trunks und geschlechtlicher Ausschweifung hingegeben, ohne klares Bewußtsein ihrer sozialen Lage, voll Groll gegen die herrschende Ungerechtigkeit, der zuweilen zur furchterweckenden Ausbrüchen der Verzweiflung führte, bestimmt, der Welt ihr Leid zu bekunden.

Am frühesten vollzog sich die moderne gewerbliche Entwicklung in England und hier löste sich denn auch zuerst jener heftige Gegensatz gegen die bestehende Ordnung der Dinge aus, der zum Sozialismus führte. Aus diesem Grund, weiterhin auch, weil sich in diesem Land der Kapitalismus am schroffesten durchsetzte, mag den Verhältnissen Englands, auf deren Boden der Sozialismus erblühte, soweit deren Schilderung für ein Verständnis unserer folgenden Untersuchungen von Bedeutung ist, unsere Aufmerksamkeit zugewendet sein.

Noch überwog hier im 18. Jahrhundert die Landwirtschaft; aber Handel und Gewerbe machten schon einen bedeutenden Bestandteil der Produktion aus; ein weites Reich einträglicher Kolonien nannte England sein eigen und eine mächtige Flotte gab dem überseeischen Handel wirkungsvollen Rückhalt. Dadurch war eine wichtige Voraussetzung kapitalistischer Machtentfaltung gegeben, die Möglichkeit massenhaften Absatzes der gewerblichen Produkte. Und nun leiten die technischen Erfindungen eine Zeit ungestümster Entwicklung ein mit all der verheerenden Wucht fessellos gewordener Kräfte, die menschliche Schwachheit nicht zu bändigen vermag. Mitte der sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts wurden die Spinnmaschinen erfunden, die in vielfältiger Weise die Leistungsfähigkeit der Handwerker überboten und im Verein mit der Dampfkraft Wunder wirkten. Auch die Weberei wurde nun mechanisch betrieben und die handwerksmäßige Produktion auf dem Gebiet der Textilindustrie rasch verdrängt. In riesigem Wachstum breiteten sich, immer angetrieben durch die Bedürfnisse des Marktes, die Gewerbe der Eisenproduktion, die Baumwollfabriken und der Kohlenbergbau aus. Um mit ein paar Zahlen diesen gewerblichen Aufschwung zu kennzeichnen: 1740 belief sich die Eisenproduktion auf 17 000 Tonnen, 1830 auf 650 000 Tonnen und 1840 auf 1 500 000 Tonnen. Die Ausfuhr betrug 1800 30 Millionen Mark, 1850 aber 100 Millionen Mark. Bald gesellten sich zur Unzahl neuer technischer Erfindungen die Eisenbahnen, ein Beförderungsmittel erst für Güter, dann auch für Menschen und stellten so jene innige Verbindung weitentfernter Gebiete her, die die Einbeziehung des ganzen Landes in das neue Wirtschaftsgetriebe rasch zur Folge hatte. Ein neues Leben war somit in verhältnismäßig kurzer Zeit in England erwacht, das kein Gebiet des Daseins unberührt ließ und die Nation auf eine neue, sich immer mehr festigende Grundlage stellte. Das Antlitz des Landes hat sich nun geändert: wo früher im abgeschlossenen Bereich der Landmann sein Tagewerk vollbrachte, da lagern nun riesige Ungetüme, die mit ihrem schwarzen Rauch die Luft verpesten und den Glanz der Sonne verdüstern: wirre Massen von Häuserreihen, die man Städte nennt und die einem Menschenschlag neuester Prägung zum Wohnsitz dienen: den Fabrikarbeitern. Was war doch aus dem "merry old England" geworden! Eine zahlreiche, freie Bauernschaft bildete einst den Stolz und die Kraft des Landes; nun sind an ihre Stelle als Besitzer des Bodens die Lords und die Fabrikherren getreten, die sich mit ihrem Geld durch Landerwerb politische Rechte verschafften; der Bebauer des Bodens ist zum Pächter geworden. Die kapitalistische Produktionsweise zaubert ungeheure Reichtümer hervor, aber es ist ein Reichtum, der denen, die ihn in harter Arbeit geschaffen haben, vorenthalten bleibt. Das große Heer der Proletarier hebt sich, eine ungelenke, blöde Masse, schroff ab vom Glanz, der dem schnell erworbenen Reichtum der wenigen entstrahlt, versunken in ein Elend, das uns heutigen unbegreiflich ist. Denn eine rücksichtslose Klassengesetzgebung suchte die Regungen der Arbeiter, die auf eine Besserung ihrer Lebenslage abzielten, zu ersticken, gesetzliche Maßnahmen zur Linderung der Not kannte man nicht oder sie blieben, wenn sie ergriffen wurden, wirkungslos und was das Schlimmste ist, man beachtete das Elend fast gar nicht oder wer es zu tun wagte, wurde selbst als Sonderling gebrandmarkt.

Das wirtschaftliche Getriebe war nun sich selbst überlassen, die zünftigen Schranken, die dem Arbeiter einen gewissen Schutz verliehen, waren gefallen, der Arbeiter der Konkurrenz seiner Genossen hilflos ausgesetzt. Ein Ringen auf Leben und Tod begann. Infolge der geringen Ansprüche, die die anfangs noch einfach gebauten Arbeitsmaschinen an die Fähigkeiten der sie bedienenden Hilfskräfte machten, war die Möglichkeit gegeben, auch körperlich und geistig noch unentwickelte Personen zu beschäftigen, Jünglinge, junge Mädchen und Kinder, außerdem auch Frauen. Männer wurden in weit geringerem Maße in der Anfangszeit dieser wirtschaftlichen Umwälzung beschäftigt. Oft kam es vor, daß der Mann zuhause saß, Kinder hütete oder sonstigen häuslichen Verrichtungen oblag, während die Frau in der nahen Fabrik arbeitete oder die Männer angestellt wurden, die Kinder bei der Arbeit zu überwachen.

Man wundert sich nicht, daß unter diesen Umständen die arbeitende Klasse Englands zu Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts im dumpfen Gefühl erlittenen Unrechts von wilder Verzweiflung ergriffen wurde. Voller Groll stemmte sie sich der überstürzten Entwicklung, die das unsägliche Elend über Millionen fleißiger Männer, Frauen und Kinder gebracht, entgegen, zornerfüllt vor allem gegenüber den Maschinen, die ihnen die ewige Not gebracht haben. Als ein Recht wurde ehedem - das war der Gedankengang, der den Proletarier anfangs beherrschte - dem Hanwerker innerhalb des Bereiches seines Gewerbes die Arbeit zugewiesen und gewährleistet, während nun die zügellose Freiheit die Einführung von Maschinen gestattet, die Tausende von fleißigen Händen außer Arbeit setzen, nichts als Not und Elend bringen. Aber wie Abhilfe schaffen? 1776 forderten die Wollspinner und Weber die Abschaffung der Spinn-Jenny, 1794 die Tuchweber eine solche der Walkmühle. Vergebens natürlich: denn zu offenbar war der gewerbliche Fortschritt, den der maschinelle Betrieb der Produktoin mit sich brachte, zu mächtig das Interesse der herrschenden Klasse an der Aufrechterhaltung der neuen Produktionsmethoden, als daß solche Verbote hätten durchgesetzt werden können. Wutentbrannt ließen sich so die Arbeiter zu Gewalttaten hinreißen. Sie zerstörten die verhaßten Maschinen, steckten die Fabrikgebäude in Brand, bedrohten das Leben der Erfinder und Fabrikanten. Schon 1782 und 1788 waren Gesetze zum Schute der den Angriffen der Arbeiter ausgesetzten Maschinen erlassen worden, ohne daß damit freilich viel erreicht wurde. Es schien, als ob ein Bürgerkrieg das unvermeidliche Ergebnis der Feindseligkeiten zwischen Bourgeoisie und Proletariat wäre. Namentlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in den Jahren 1811 - 1814 besonders, war die Haltung eines Teils der Arbeiterbevölkerung eine äußerst bedrohliche. Unter dem Führer NED LUD ließen sich die Arbeiter der Wolldistrikte, angetrieben durch die Not, in die sie durch Arbeitslosigkeit versetzt wurden, zu einm Aufstand hinreißen, zerstörten im Dunkel der Nacht Fabrikanlagen, brachten die Stadt Nottingham in Aufruhr, der erst duch das Eingreifen einer Anzahl Regimenter Soldaten gelegt wurde. 1816 war Suffolk, 1826 Lancashire der Schauplatz heftiger Verwüstungen. "Brot oder Blut", das war der fürchterliche Schlachtruf dieser ausgehungerten, elenden Proletarier, Arbeit oder der Tod im Kampf gegen die bösen Mächte. Eine Erbitterung, von der wir uns kaum eine Vorstellung machen können, muß die Arbeiter beherrscht haben, wenn man bedenkt, daß selbst die grausamsten Strafen - denn seit 1811 konnte die Zerstörung der Maschinen mit dem Tod bestraft werden - wirkungslos blieben.
LITERATUR - Friedrich Muckle, Die großen Sozialisten, Leipzig und Berlin 1920
    Anmerkungen
    1) GEORG ADLER, Geschichte des Sozialismus, Bd. I, Seite 83