ra-2ra-2von NeumannR. Stammlervon WieserI. KornfeldR. Stolzmann    
 
EUGEN BÖHM-BAWERK
Macht oder ökonomisches Gesetz?
[1/4]

"Rudolf Stolzmann spricht als leitenden Gedanken seiner Verteilungstheorie aus, daß nicht, wie die Theorie des Grenznutzens lehrt, die rein ökonomischen Verhältnisse der Zurechnung, also nicht das Maß des Beitrags der einzelnen Produktionsfaktoren zum Produktionsertrag, sondern die sozialen Machtverhältnisse über die Verteilung des Produktionsertrages zwischen Grundeigentümer, Kapitalisten und Arbeitern entscheiden. Die Macht allein sei es, welche die Größe des Anteils vorschreibt. Nicht was die Produktionsfaktoren zum Produktionswerk beitragen, sondern was die Menschen, die als Eigentümer hinter den Produktionsfaktoren stehen, je nach den bestehenden sozialen Machtverhältnissen sich als Vergütung zu erzwingen wissen, entscheidet über die Verteilung."

I.

Die Bemühungen der ökonomischen Theorie waren seit jeher darauf gerichtet,  Gesetze  des ökonomischen Geschehens aufzufinden und auszusprechen. In der älteren Zeit, die unter dem Einfluß ROUSSEAUs und seiner naturrechtlichen Doktrin stand, liebte man es, für solche ökonomische Gesetze den Namen und den Charakter von  Naturgesetzen  in Anspruch zu nehmen. Buchstäblich genommen war das natürlich anzufechten; man wollte aber wohl durch diese Bezeichnung zum Ausdruck bringen, daß ebenso, wie sich die Gesetze des rein natürlichen Geschehens unabhängig von Menschenwillen und Menschensatzung in unabänderlichen Folge vollziehen, es auch im ökonomischen Leben Gesetze gebe, gegen die der Menschenwille und sei es auch der mächtige Staatswille, ohnmächtig bleibt; daß auch durch künstliche Eingriffe gesellschaftlicher Gewalten der Strom des wirtschaftlichen Geschehens sich nicht aus gewissen Bahnen herausdrängen lasse, in die ihn die Macht ökonomischer Gesetze gebieterisch zwinge. Als ein solches Gesetz galt unter anderem das Preisgesetz von Angebot und Nachfrage, das man unzählige Male triumphieren gesehen hatte, z. B. über Versuche der staatlichen Allgewalt, in Hungerjahren das Brot durch "naturwidrige" Preistaxen billig zu machen oder einem schlechten Geld die Kaufkraft des guten beizulegen. Und insofern in letzter Linie die Entlohnung der großen Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital und mit ihr die Verteilung der gesamten durch die nationale Produktion geschaffenen Gütermasse an die verschiedenen sozialen Klassen im Volk ebenfalls nur ein Anwendungsfall und zwar der allerwichtigste konkrete Anwendungsfall der allgemeinen Preisgesetze ist, zeigte sich die ganze hochwichtige Frage der  Verteilung der Güter  in das Dilemma verwoben, ob eine Allgewalt natürlicher ökonomischer Gesetze oder aber ein gewillkürter Einfluß gesellschaftlicher Gewalten sie regle und beherrsche.

Die damalige Epoche zögerte nicht, sich in diesem Dilemma mit unerschrockener Konsequenz für die Allgewalt der "Naturgesetze" zu entscheiden. Das am meisten berühmt oder berüchtigt gewordene Probestück dieser Auffassung war die Lohnfondstheorie der klassischen und nachklassischen Ökonomie. In ihrem Sinne sollte über die Höhe des Arbeitslohnes durch einen naturnotwendigen Zusammenhang von geradezu mathematisch zwingender Kraft entschieden werden, der zwischen der in einer Volkswirtschaft vorhandenen, zu Lohnzahlungen disponiblen Kapitalsumme, dem sogenannten "Lohnfonds" und der Zahl der vorhandenen Arbeiter bestehe. Alle Arbeiter zusammengenommen sollten nicht mehr und nicht weniger als den vorhandenen Lohnfonds bekommen können und die Durchschnittshöhe des Arbeitslohnes sollte sich daher mit zwingender mathematischer Notwendigkeit aus der Division des Lohnfonds durch die Zahl der Arbeiter ergeben. Versuche einer künstlichen Beeinflussung könnten daran nichts ändern; auch Streiks nicht. Werde durch einen erfolgreichen Streik der Lohn einer Gruppe von Arbeitern künstlich emporgetrieben, so bleibe ein desto kleinerer Teil des Lohnfonds für die anderen Arbeiter übrig, deren Lohn dann um ebensoviel sinken müsse, als der Lohn der ersteren gestiegen sei: eine allgemeine oder durchschnittliche Emporhebung der Arbeitslöhne über das Ausmaß des "Lohnfonds" sei ein Ding der Unmöglichkeit.

Spätere Zeiten haben von dieser und von der "Gesetzes"-Frage überhaupt eine andere Anschauung gewonnen und auf die geänderten Anschauungen auch andere, neue Formeln geprägt. Man unterschied nach dem Vorgang von RODBERTUS und ADOLF WAGNER zwischen "rein ökonomischen" und "historisch rechtlichen Kategorien". Jene sollten das umfassen, was an den wirtschaftlichen Erscheinungen bleibend, allgemein gültig, unter allen denkbaren Rechtsordnungen wiederkehrend ist; diese stellen den historisch variablen Einschlag dar, den die wechselnden Rechtsordnungen, Gesetze und sonstigen sozialen Einrichtungen in das Wirtschaftswesen hineinbringen. Und dieser "sozialen Kategorie" - wie ein seither namentlich von STOLZMANN (1) gern gebrauchter Ausdruck lautet - begann man jetzt einen entscheidenden oder wenigstens sehr weitgehenden Einfluß auf die Verteilungsgesetze zuzuschreiben.

Mit Recht oder mit Unrecht?

Gewiß nicht ganz ohne Grund.  Aber wie weit soll dieser Einfluß reichen? Und wie und wo soll er sich gegen die von der anderen "Kategorie" stammenden Einflüsse abgrenzen?  Das sind Frage, die bis heute ihrer genauen Lösung noch harren. Wie ich vor einigen Jahren bei einer anderen Gelegenheit schrieb: "Man müßte heutzutage ein Idiot sein, wenn man einen Einfluß der sozial geschaffenen Einrichtungen und Maßregeln auf die Güterverteilung leugnen wollte; es liegt auf der Hand, daß unter einer kommunistischen Rechtsordnung die Verteilung formell und materiell ganz anders verlaufen würde, als unter einer individualistischen, auf dem Prinzip des Privateigentums basierenden Rechtsordnung; und es zweifelt unter anderem auch kein Verständiger mehr daran, daß der Bestand der Arbeiterorganisationen mit dem Kampfmittel der Streiks auf die Gestaltung der Arbeitslöhne nicht ohne Einfluß ist. Aber es wird umgekehrt auch kein Verständiger der Meinung sein können, daß die "soziale Regelung" omnipoten und allein entscheidend sei. Man hat genug oft erlebt, daß niedrige staatliche Preistaxen unvermögend sind, in Hungerjahren das Getreide billig zu machen; und wir erleben es alle Tage, daß Streiks ergebnislos verlaufen, wenn sie auf die Erreichung von Arbeitslöhnen abzielten, die, wie man sich auszudrücken pflegt, nicht in der "ökonomischen Lage" begründet sind. Nicht das kann heute in Frage stehen, ob die "natürlichen" oder "rein ökonomischen Kategorien" einerseits und die "sozialen Kategorien" andererseits überhaupt einen Einfluß auf die Verteilungsgesetze ausüben; denn daß alle beide das tun, steht für jeden Verständigen von vornherein außer Frage. Sondern die Frage kann nur sein,  wieviel  Einfluß sie ausüben; oder, wie ich es schon vor Jahren einmal aus Anlaß eines älteren, "die soziale Kategorie" betitelten Werkes STOLZMANNs ausgedrückt habe: "Das große, noch nicht befriedigend gelöste Problem ist, die Art und das Maß des von jeder der beiden Seiten kommenden Einflusses darzulegen; darzulegen, wieviel der eine neben dem anderen und eventuelle gegen ihn vermag. Dieses Kapitel der Sozialökonomie ist noch nicht befriedigend geschrieben worden." (2)

Ich möchte fast noch mehr sagen: es ist bis auf die jüngste Zeit noch gar nicht einmal ernsthaft versucht worden, dieses Kapitel zu schreiben. Von keiner der beiden großen Richtungen, die sich rivalisierend um den Ausbau unserer Wissenschaft bemühen. Von der theoretischen Richtung nicht, die heutzutage vornehmlich durch die weitverzweigte Schule der "Grenzwerttheoretiker" repräsentiert wird; aber auch von der historischen und sozialpolitischen Schule nicht, die gegen die Theorien der alten Klassiker sowohl als der modernen Grenzwerttheoretiker ankämpfend den Einfluß der Macht in den Mittelpunkt der Verteilungslehre zu stellen liebt.

Die Grenzwertschule hat das hier bestehende Problem nicht ignoriert, aber bis jetzt auch nicht  ex professo  [professionell - wp] bearbeitet; sie hat gewissermaßen ihre Forschungen bis an den Rand jenes Problems geführt, an diesem Rand aber bis jetzt Halt gemacht. Sie hat sich nämlich bis jetzt vornehmlich damit befaßt, die Verteilungsgesetze unter der Voraussetzung zu entwickeln; also unter einer Voraussetzung, welche die  Übermacht  eines Teils - die man ja beim Schlagwort des Einflusses der "Macht" doch wohl vornehmlich im Auge hatte - vorweg auszuschließen geeignet ist. Unter dieser und der weiteren vereinfachenden Voraussetzung des ausschließlichen Waltens rein wirtschaftlicher Motive gelangte die Grenzwerttheorie zu dem Ergebnis, daß jeder konkrete Produktionsfaktor im Verteilungsprozeß beiläufig soviel als Vergütung für seine Mitwirkung im Produktionsprozeß erlangt, als das Produkt oder der Produktzuwachs ausmacht, den man nach den Regeln der Zurechnung eben dieser seiner Mitwirkung im Produktionsprozeß verdankt. Den kürzesten Ausdruck findet dieser Gedanke in der bekannten Formel von der "Grenzproduktivität" der Faktoren.

Hiermit hatte die Grenzwerttheorie aber nur einen unvollständigen Torso der gesamten Verteilungstheorie geliefert und war sich dessen auch wohl bewußt. Sie prätendierte [beabsichtigte - wp] mit jener Formel die verwickelte, vielgestaltige Wirklichkeit schon vollends zu erschöpfen; sie versäumte im Gegenteil nicht, in wiederholten ausdrücklichen Kundgebungen zu betonen, daß zu ihren bisherigen Untersuchungen noch eine zweite Reihe von Untersuchungen hinzutreten müsse, deren Aufgabe es eben sei, die Veränderungen zu erforschen, die das Hinzutreten anderer Voraussetzungen, insbesondere von Voraussetzungen "sozialer" Provenienz [Herkunft - wp], gegenüber jener einfachsten Formel hervorrufen muß. (3) Sie räumte nur jenem ersten Teil in ihrer eigenen Tätigkeit die zeitliche Priorität ein, weil sie dafür hielt, daß ihm auch die methodische Priorität gebührt; daß man vor allem wissen und verstehen muß, wie der Verteilungs- oder allgemeiner der Preisbildungsprozeß ohne besondere (4) soziale Beeinflussung verlaufen würde, um überhaupt einen Ausgangs- oder Vergleichspunkt zu gewinnen, an dem sich dann die Veränderungen ermessen lassen, welche der Hinzutritt anderer, spezieller Faktoren "sozialer" Natur nach Art und Größe hervorbringen kann. Die Grenzwerttheorie arbeitete also vorerst einen allgemeinsten theoretischen Rahmen für das Ganze - mit den allgemeinsten Lehren ihrer Wert- und Preistheorie - und innerhalb desselben im Detail nur die Theorie der freien Konkurrenz aus und ließ vorerst dort eine Lücke, wo vorwiegend die Einflüsse einer sozialen "Macht" zu verfolgen und darzustellen gewesen wären.

Diese Lücke wurde immer als solche gefühlt; sie wird aber mit jedem neuen Dezennium fühlbarer, weil in unserer modernsten Wirtschaftsentwicklung der Einschlag sozialer Machtmittel in immer stärkerer Zunahme begriffen ist. Trusts, Kartelle, Pools, Monopole aller Art drängen sich von der einen, Arbeiterorganisationen mit den Machtmitteln der Streiks und Boykotts von der anderen Seite überall in die Preisbildung und Verteilung ein - der ebenfalls rapid anwachsenden künstlichen Beeinflussungen nicht zu gedenken, die von der staatlichen Volkswirtschaftspolitik ausgehen. Und während daher noch zur Zeit der klassischen Nationalökonomie die Theorie der freien Konkurrenz beanspruchen konnte, nicht nur die systematisch Unterlage des Ganzen, sondern zugleich die Theorie des normalen Hauptfalles zu sein, ist heute die Masse und Wichtigkeit der Erscheinungen, deren Erklärung in der Theorie der freien Konkurrenz nicht mehr ihr Genügen finden kann, vielleicht schon über das Ausmaß dessen hinausgewachsen, was auch heute noch nach der Formel der freien Konkurrenz erklärt werden kann - obgleich das immer noch ein sehr ansehnlicher und vielleicht ein ansehnlicherer Teil des Ganzen ist, als man gewöhnlich meint.

Die von der Grenzwerttheorie gelassene Lücke (5) ist aber auch von der anderen Seite, von der Seite derjenigen, die den Einfluß der "sozialen Kategorie" in den Vordergrund der Erklärung stellten, nicht ausgefüllt worden. Und zwar deswegen nicht, weil diese die Tragweite der erklärenden Kraft ihrer Lieblingsformeln überschätzten. Man meinte, wenn man in einem erklärenden Ton aussprach, daß in diesem oder jenem Verhältnis, z. B. bei der Festsetzung der Arbeitslöhne, in letzter Linie die "Macht" entscheide, hiermit der Erklärung schon einen Inhalt gegeben zu haben; man meinte einen genügenden Erklärungsgrund  sui generis  [eigener Art - wp] genannt zu haben, der dort, wo er überhaupt zutreffe, die Wirksamkeit der rein ökonomischen Erklärungsgründe vertrete, bzw. ausschließe. Wo die "Macht" herrsche, herrsche eben kein ökonomisches Gesetz und die Berufung auf die Macht war so nicht nur der Anfang, sondern auch schon das Ende der Erklärung, die man zu geben hatte. Sie wurde weit meh von einer Leugnung oder Bekämpfung der von anderen theoretischen Richtungen entwickelten "ökonomischen Gesetze" begleitet, als von einer sorgfältigen Untersuchung darüber, wo und wie die beiden "Kategorien" ineinander arbeiten; wozu noch kam, daß eben auch die Schlagworte von den beiderlei "Kategorien" bloße Schlagworte von recht vagem und dehnbarem Gedankeninhalt und daher keineswegs sehr geeignete Werkzeuge für die Führung klarer, scharfer Untersuchungen waren.

Als typischer Vertreter dieser Richtung kann heute etwa STOLZMANN gelten. Vielleicht sind andere Vertreter ähnlicher Gedanken, wie STAMMLER oder SIMMEL, in weiteren Kreisen bekannt und einflußreich geworden. Aber STOLZMANN hat den Vorzug, daß er sich emsig bemüht hat, die von Früheren - seit RODBERTUS und A. WAGNER - gegebenen Anregungen prinzipiell zu fassen und in Monographie systematisch auszugestalten und dann auch noch den weiteren Vorzug, daß er sich mit den ökonomischen Theorien eingehender vertraut zeigt, als manche von anderen Wissensgebieten ihren Ausgang nehmende Autoren: er ist so vielleicht der zur Diskussion der Prinzipienfrage bestlegitimierte Vertreter seines Typus. STOLZMANN spricht nun als leitenden Gedanken seiner Verteilungstheorie aus, daß nicht, wie die Theorie des Grenznutzens lehrt, die rein ökonomischen Verhältnisse der Zurechnung, also nicht das Maß des Beitrags der einzelnen Produktionsfaktoren zum Produktionsertrag, sondern die sozialen Machtverhältnisse über die Verteilung des Produktionsertrages zwischen Grundeigentümer, Kapitalisten und Arbeitern entscheiden. "Die Macht allein" sei es, welche "die Größe des Anteils vorschreibt". Nicht was die Produktionsfaktoren zum Produktionswerk beitragen, sondern was die Menschen, die als Eigentümer hinter den Produktionsfaktoren stehen, je nach den bestehenden sozialen Machtverhältnissen sich als Vergütung zu erzwingen wissen, entscheidet über die Verteilung. Und mit solchen und ähnlichen Aussprüchen (6) geht eine ununterbrochene, auf eben diese prinzipiellen Gesichtspunkte gestützte Polemik gegen die Grenzwerttheorie einher, weil diese in ihrer ökonomischen Erklärung der Verteilung angeblich keinen Spielraum für die Berücksichtigung des in Wahrheit ausschlaggebenden Machtfaktors lasse, sondern eine Rückfälligkeit in die alte rein "naturalistische" Erklärungsweise, in die Theorie von den ewigen unwandelbaren Naturgesetzen zeigt. (7)

Das war nun freilich auch kein richtiger Weg, um in die Feinheiten des gestellten Problems einzudringen und die bisher gelassene "Lücke" in der Erklärung zu füllen - worin ja doch auch STOLZMANN den Hauptzweck seines fast 800 Seiten umfassenden Buches erblickt. (8) Die "Macht  allein"  über die Ergebnisse der Verteilung entscheiden zu lassen, war eine so offenbare Wiederholung der alten Einseitigkeit nach der entgegengesetzten Seite, daß STOLZMANN sich mit dieser Formel selbst nicht ernsthaft beim Wort nehmen lassen konnte. Es war allzu deutlich, daß die "Macht" doch nicht alles und daß auch das "rein ökonomische" einiges zu bedeuten hatte. STOLZMANN sah sich daher dazu gedrängt, an ungezählten Stellen seines Werkes trotz jener Formel doch auch einen gewissen Einfluß der "rein ökonomischen" Kategorie auf die Verteilung anzuerkennen. Aber er tat es in einer Weise, die auf alles eher als auf eine klar Auseinandersetzung des zwischen beiden Kategorien nach Art und Maß ihrer Wirkungsweise bestehenden Verhältnisses abzielte. Offenbar war nämlich neben der jetzt ausgesprochenen Anerkennung, daß  nicht nur  (also doch auch!) "die natürliche Wirkung" des Effekts der Produktionsfaktoren, sondern neben ihr  "auch  die sozialen Machtverhältnisse das Verteilungsresultat beeinflussen (9), die erste Formel, daß die Macht  allein  über die Verteilung entscheidet, nicht mehr zu halten. Aber STOLZMANN will trotzdem beide Formeln halten. Er widerruft nicht die extreme Formel des "nur" oder "allein", sondern er balanziert dialektisch zwischen dem "nur" und dem "auch" hin und her, wobei er das "nur", die alleinige Hervorhebung der Macht, dadurch dialektisch möglich zu machen sucht, daß er die Wirkungsweise der sozialen Kategorie aus seinem Sprachschatz jedesmal mit sehr bestimmten und starken, die Wirkungsweise der natürlichen Kategorie aber nur mit vagen und abgeschwächten Prädikaten bedenkt: diese soll stets nur eine "Bedingung", eine "Voraussetzung", ein "Rahmen", eine Schranke für das "Mögliche" sein, jener, der sozialen Kategorie, allein komme es zu, zu "bestimmen", zu "entscheiden", den "Grund" für das "Wirkliche" abzugeben. (10) Und auf den logischen Widerspruch zwischen dem "auch" und "nur" aufmerksam gemacht, glaubt STOLZMANN ohne Skrupel replizieren zu dürfen, es sei "beides richtig, je nach dem Standpunkt der jeweiligen Betrachtung".  Beide  Kategorien äußern in der Wirklichkeit ihre Macht; aber wenn er "von ihrem grundsätzlichen systematischen Verhältnis zueinander redet, dann sei die soziale Kategorie entscheidend und ganz besonders für die  Größe  der Abfindungen." (11) Ich glaube, nicht ich allein werde den Eindruck haben, daß hier eine Wolke von Worten um einen nichts weniger als deutlichen und einwandfreien Kern gehüllt wird und daß wie eine wirkliche Lösung des hochwichtigen Problems trotz STOLZMANNs 800 Seiten erst noch zu suchen haben und zwar wohl auf anderen Wegen als dem einer hin- und herbiegenden Dialektik.

Stellen wir erst noch fest, um was es sich bei diesem bisher so stiefmütterlich behandelten Problem für die ökonomischen Wissenschaften eigentlich handelt: es handelt sich tatsächlich um nicht mehr und nicht weniger als um die wissenschaftliche Fundierung jeder rationellen Volkswirtschaftspolitik. Denn es liegt auf der Hand, daß ein künstliches Eingreifen in die volkswirtschaftlichen Prozesse von vornherein nur dann einen Sinn hat, wenn man die Vorfrage, ob die Macht gegenüber den "natürlichen Gesetzen" des ökonomischen Geschehens überhaupt etwas vermag, bejahend zu beantworten imstande ist; und es liegt nicht minder auf der Hand, daß man die Ziele und Grenzen eines solchen Eingreifens nur dann rationell abzustecken und die Durchführungsmittel nur dann rationell auszuwählen imstande sein wird, wenn man sich über das, was ich oben als den Inhalt unseres Problems bezeichnet, nämlich über das  Maß  und die  Art  des Einflusses, der der "Macht" gegenüber dem "natürlich ökonomischen" Geschehen beschieden sein kann, klare und zutreffende Anschauungen zu bilden vermag. (12) Man muß hier  sehen,  wenn man nicht  tappen  will; und ich glaube, daß ein solches Sehen nicht dadurch vermittelt oder ersetzt wird, daß man für die miteinander in Rivalität tretenden kausalen Einflüsse nur die sprachlichen Ausdrücke variiert und den einen ein bedingendes, den anderen ein bestimmendes Beeinflussen zuschreibt.

Ich will darum im folgenden versuchen, einige Fragen aufzuwerfen und zu ihrer Beantwortung anzuregen, von denen mir scheint, daß der Weg zur Klarheit notwendig durch sie hindurchführen muß. Es wollen in jeder Hinsicht nur sehr bescheidene Anregungen sein, die ich hier zu bieten habe. Denn einerseits bin ich mir wohl bewußt, daß der volle systematische Ausbau weit mehr als das hier Gebotene erfordern würde. Und andererseits liegt die Sache so, daß ich auch für den Zweck der Anregung überwiegend Dinge zu sagen haben werde, welche nicht im mindesten auf Neuheit oder Originalität Anspruch machen können. Es sind zumeist in der Luft liegende, jedermann geläufige Trivialitäten, an die ich anzuknüpfen haben werde: ich werde sie nur in einem gewissen Zusammenhang aufzuweisen und in gewisse Konsequenzen zu verfolgen haben, die aber ebenfalls so nahe liegen, daß sie sich beinahe von selbst ergeben und nur dessen harren, endlich einmal auch mit voller Ausdrücklichkeit und Absichtlichkeit ausgesprochen zu werden.
LITERATUR - Eugen Böhm-Bawerk, Macht oder ökonomisches Gesetz?, Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, Bd. 23, Wien 1914
    Anmerkungen
    1) R. STOLZMANN, "Die soziale Kategorie in der Volkswirtschaftslehre", Berlin 1896 und "Der Zweck in der Volkswirtschaft", Berlin 1909
    2) Ich zitiere hier aus meiner eingehenden Besprechung des STOLZMANNschen Werkes über den "Zweck in der Volkswirtschaft" in der Nummer der "Neuen Freien Presse" vom 2. Februar 1910
    3) Ich darf mich z. B. auf meine erstmals schon im Jahre 1886 veröffentlichten Äußerungen über zwei einander ergänzende "Teile" der Preistheorie beziehen, von welchen ich selbst nur den einen, "allgemeinen Teil" zu bearbeiten mir bewußt war; siehe meine Grundzüge der Theorie des wirtschaftlichen Güterwerts in CONRADs Jahrbücher, Neue Folge, Bd. XIII, 1886, Seite 486f; ferner jetzt auch meine "Positive Theorie des Kapitals", 3. Auflage, Seite 354f und bezüglich der Voraussetzung der vollwirksamen freien Konkurrenz für die Aufstellung z. B. meiner "Gesetze der Zinshöhe" ebenda, Seite 594 ("Tausch im vollen Wettbewerb").
    4) Irgendein Einschlag sozialer Einflüsse muß, wie unten noch genauer besprochen werden soll, immer vorhanden sein, weil ja doch immer irgendeine, wie immer beschaffene Rechtsordnung existieren muß.
    5) Einige erfreuliche Ansätze zur Ausfüllung der Lücke beginnen sich in der neuesten englischen und amerikanischen Literatur zu zeigen, insbesondere in einer sorgfältigen Durcharbeitung der Theorie der Monopolpreise. Aber diese Ansätze reichen nicht weit genug, um die durch die gegenwärtigen Zeilen zu bietenden Anregungen schon überflüssig zu machen - zumal vor einem deutschen Leserkreis.
    6) Siehe z. B. RUDOLF STOLZMANN, Die soziale Kategorie, 1896, Seite 41, 338, 341f, sowie "Der Zweck in der Volkswirtschaft", 1909, Seite 235f, 241, 283, 381, 415, 717, 765
    7) Siehe z. B. STOLZMANN "Zweck etc.", Einleitung, Seite XXIV, Seite 355, 673f, 774f - Aus der massenhaften auf denselben Grundton gestimmten ökonomischen Literatur unserer Tage seien noch stichprobenweise zwei jüngst (1913) erschienene Werke von LEXIS (Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 2. Auflage) und TUGAN-BARANOWSKY (Soziale Theorie der Verteilung) genannt und zitiert. LEXIS stellt den allgemeinen Leitsatz auf, "daß sich der Anteil der Arbeiterklasse am jährlichen Ertrag der nationalen Produktion  nach der verhältnismäßigen ökonomischen Macht  bestimmt, mit der sie ihr Interesse dem Kapital gegenüber geltend zu machen vermag" (Seite 146); und TUGAN-BARANOWSKY, der die Theorie des Grenznutzens als richtig anerkennt (Seite 3f und 15), gibt der Sache die Wendung, daß er die Verteilungslehre aus der Wert- und Preislehre, für die allerdings die Grenznutzentheorie die "einzig mögliche wissenschaftliche Basis" bilde, aus "methodologischen Gründen" ganz herausheben und grundsätzlich auf die zwischen den sozialen Klassen herrschenden  "Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse"  fundieren will (Seite 5, 9f, 42f, 55)
    8) STOLZMANN, Der Zweck in der Volkswirtschaft, Seite 566
    9) STOLZMANN, Soziale Kategorie, Seite 40f
    10) STOLZMANN, Der Zweck etc., Seite 204f, 300, 401, 415, 424, 441, 450, 717 und öfter
    11) STOLZMANN, Der Zweck etc. Seite 55f
    12) Ganz richtig erkannt und ausgesprochen auch von TUGAN-BARANOWSKY, a. a. O. Seite 82 - bei freilich gänzlicher Verfehlung seines positiven Lösungsversuches!