K. BergbohmJ. BinderA. FeuerbachA. MengerH. Kantorowicz | ||||
Die Rechtswissenschaft in ihren Beziehungen zu anderen Wissenschaften
Meine Damen und Herren! Eine merkwürdige Abhandlung des großen Philosophen von Königsberg, dessen hundertjährigen Todestag man in diesem Jahr gefeiert hat, eine Schrift von KANT handelt über den sogenannten Streit der Fakultäten. Sie handelt nicht ohne trockene Ironie über einen Rangstreit unter den verschiedenen Wissensfächern einer Universität, und wir erfahren, daß man zu jener Zeit gewissermaßen offiziell zwischen höheren und niederen Fakultäten unterschied, daß man zu ersteren in einer durch die Reihenfolge bezeichneten Abstufung die Theologie, die Jurisprudenz und die Medizin, zu letzteren aber alle diejenigen Wissensfächer rechnete, die man auch heutzutage noch vielfach unzutreffend unter dem Gesamtbegriff der philosophischen Fakultät zusammenfaßt. Es bedarf kaum einer Andeutung, daß uns mit KANT dieser Rangstreit ein wenig eitel erscheint. Der einzige Wettbewerb, der innerhalb einer Gelehrtenrepublick zulässig ist, scheint uns derjenige der Forscherarbeit im Dienst der Wahrheit zu sein, und der Name "Universität" selbst deutet auf Solidarität, nicht auf Rivalität der wissenschaftlichen Arbeiten. Freilich scheint mir KANT selber sich von einer durch jene offizielle Rangordnung gekränkten Gelehrteneitelkeit nicht ganz frei zu bezeugen, wenn er sein Bemühen, der zurückgesetzten philosophischen Fakultät den höchsten wissenschaftlichen Rang zu vindizieren, in Sätze kleidet, die für die seiner Zeit offizielle als die drei oberen eingeschätzten umso herabwürdigender klingen. Er rechtfertigt jene offizielle Rangordnung höchst ironisch mit der "objektiven Vernunft" der Regierungsweisheit:
"Durch die öffentlichen Lehrer in Anbetracht des ersteren kann die Regierung selbst auf das Inndere der Gedanken und die verschlossensten Willensmeinungen der Untertanen, jene zu entdecken, diese zu lenken, den größten Einfluß haben; durch die, so sich aufs zweite beziehen, ihr äußeres Verhalten unter dem Zügel öffentlicher Gesetze halten; durch die dritte sich die Existenz eines starken und zahlreichen Volkes sichern, welches sie zu ihren Absichten brauchbar findet. - Nach der Vernunft würde also wohl die gewöhnlich angenommene Rangordnung unter den oberen Fakultäten stattfnden; nämlich zuerst die theologische, darauf die der Juristen und zuletzt die medizinische Fakultät. Nach dem Naturinstinkt hingegen würde dem Menschen der Arzt der wichtigste Mann sein, weil dieser ihm sein Leben fristet, darauf allererst der Rechtserfahrene, der ihm das zufällige Seine zu erhalten verspricht, und nur zuletzt (fast nur, wenn es zum Sterben kommt), obgleich es um die Seligkeit zu tun ist, der Geistliche gesucht werden; weil auch dieser selbst, so sehr er auch die Glückseligkeit der künftigen Welt preist, do, da er nichts von ihr vor sich sieht, sehnlichst wünscht, von einem Arzt in diesem Jammertal immer noch einige Zeit erhalten zu werden."
Gegenüber dieser fabrikmäßigen Auffassung der wissenschaftlichen Arbeitsteilung macht ein anderer deutscher Philosoph, BENEKE, in seiner Schrift "Die Philosophie in ihrem Verhältnis zur Erfahrung, zur Spekulation und zum Leben" mit Recht folgendes geltend:
Die berühmte Definition unserer Wissenschaft aus dem Anfang der Institutionen JUSTINIANs als "divinarum atque humanarum rerum notitia, justi atque injusti scientia" [die Wissenschaft von den göttlichen und den menschlichen Dingen, vom Gerechten und Ungerechten - wp], oder aus dem Anfang der Pandekten, woselbst ULPIAN die Jurisprudenz als "vera, non simulata philosophia" [eine wahre und keine nicht bloß vorgetäuschte Philosophie - wp] bezeichnet, ist nicht ohne Widerspruch geblieben, sie hat vielmehr oftmals entgegengesetzte, umso geringschätzigere Bemerkungen hervorgerufen. In seiner zweifellos geistreichen Rede pro MURENA spricht schon CICERO von der Jurisprudenz als von einer tenuis scientia, einer schwächlichen oder dünnen Wissenschaft, er macht den Juristen lächerlich als Buchstabengelehrten, auceps syllybarum, er erdreistet sich sogar, das ganze römische Recht in wenigen Wochen zu lernen, meint aber, daß es sich nicht der Mühe lohnt. Allgemein bekannt sind auch die Verse, welche GOETHE seinem Schüler in Faust und Mephisto in den Mund legt, GOETHE, der doch selbst das juristische Studium hinter sich hatte und eine kurze Zeit lang sogar die Rechtsanwaltschaft in seiner Vaterstadt ausgeübt hat:
"Zur Rechtsgelehrsamkeit kann ich mich nicht bequemen." Mephisto: "Ich kann es Euch so sehr nicht übel nehmen: Ich weiß, wie es um diese Lehre steht. Es erben sich Gesetz und Rechte Wie eine ew'ge Krankheit fort! Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte Und rücken sacht von Ort zu Ort. Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage; Weh dir, daß du ein Enkel bist! Vom Rechte, das mit uns geboren ist, Von dem ist, leider! nie die Frage." Da sprach PETER WELLER, so heißt es weiter, der bei ihm im Hause war und zu Tisch ging: "Er hätte den Sinn nicht, und täte es nicht. Da rief Dr. MARTIN LUTHER überlaut und sprach zu seinem Famulo: "Wolf, gehe und laß die große Glocke läuten und bring Wasser her, daß man ihn kühle!" Da er aber darauf bestand und es teuer bejahte, fragte ihn der Doktor: "Ob er allein von wegen der Erkenntnis der Händel, und daß er wissen möge, was Recht ist, oder Lust halben in Jure studierte? So wäre er unsinnig!" Endlich schrieb vor etwa dreißig Jahren ein ebenfalls nicht ganz unbekannter Philosoph, seinem Beruf nach sogar preußischer Staatsanwalt, JULIUS von KIRCHMANN, eine Abhandlung unter dem Titel: "Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft." - CICERO freilich hat seinen Ausfall gegen die Jurisprudenz, wie es sich auch zumal für einen alten Römer ziemte, wieder gut gemacht, durch vortreffliche Bemerkungen in seinem Buch vom vollkommenen Redner, wo er unserem Studium gegenüber dem Vorwurf der Trockenheit, den man heutzutage noch so oft vernimmt, so gar nachrühmt, daß ihm "mira quaedam in cognoscendo suavitas et delectatio" [da ist eine wunderbare Köstlichkeit und Freude im Erwerb von Wissen - wp] beiwohnt.
In einem interessanten Versuch, den von BACO angedeuteten Baum des Gesamtwissens zeichnerisch darzustellen, den der amerikanische Nationalökonom CAREY im Anfang seiner Sozialökonomie bietet, sehen wir die Jurisprudenz sich ein wenig oberhalb der Biologie und der Sozialwissenschaft als Nebenzweig der Nationalökonomie abgliedern. CAREY hat die Geschichtswissenschaft übersehen. Die positive Rechtswissenschaft ist vor allem eine geschichtliche Wissenschaft. Alles wirkliche Recht ist nur als geschichtliches Ergebnis und Entwicklungsprodukt zu begreifen. Nicht nur die wissenschaftliche Rechtfertigung eines Gesetzes, auch die unmittelbar praktische Anwendung, die Auslegung fordert von uns nicht selten den ganzen Aufwand der historischen Kritik. Vielleicht ist eine Zeit von so unaufhörlicher gesetzgeberischer Tätigkeit, wie sie leider der moderne Parlamentarismus, der gewissermaßen von stetigen gesetzgeberischen Neuerungen lebt, mit sich führt, mehr als jede andere in Gefahr, diesen geschichtlichen Charakter der Rechtswissenschaft zu vergessen. So sind fast alle Gesetz des deutschen Reiches von relativ sehr modernem Datum. Gleichwohl müßte ich jede Auslegung dieser Gesetz als banausisch bezeichnen, die sich mit den parlamentarischen Motiven begnügen und vergessen könnte, daß auch die Wurzel des modernsten Gesetzes in einem historischen Untergrund ihre Fasern ausbreitet, den man nur ganz oder gar nicht verstehen kann. So kann insbesondere niemand in den wahren Geist des neuen bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich eindringen, der nicht sowohl dessen germanistische wie dessen romanistische Wurzeln bis in ihre feinsten Fasern verfolgt hat. Diese, wir wir sehen, auch von SCHOPENHAUER erkannte nahe Beziehung der Rechtswissenschaft zur Geschichte ein für allemal festgeknüpft zu haben, ist das große Verdienst der sogenannten historischen Rechtsschule, als deren glänzendsten Stern wir Deutschen einen SAVIGNY und PUCHTA rühmen dürfen. Zweifellos war diese historische Schule im wahren Sinn des Wortes bei weitem von einem philosophischeren Geist durchdrungen, als die von ihr verdrängte sogenannte naturrechtliche Schule, von deren Irrtümern mir ein KANT auch in dem anfangs gedachten Aufsatz bedenklich angesteckt erscheint, jene Schule des 18. Jahrhunderts, an die auch die abstrakten Theorien eines ROUSSEAU erinnern, welche von einem allgemeinen und notwendigen Recht träumte, das aufgebaut aus sogenannten aprioristischen Maximen unabhängig von Zeit und Raum gleich den Formeln der Mathematik für alle Zeiten und Völker gelten kann. Jenes sogenannte Naturrecht war eine simulata, keine vera philosophia; seine trockenen formalistischen Deduktionen, zumal in seinen letzten Vertretern sind denkbar unerquicklichste Gelehrtenstubenscholastik, (1) vielfach streifen sie gar das Lächerliche, wie z. B. die kantische Deduktion des ihm zufolge allgemein notwendigen Rechtssatzes: Kauf bricht Miete, zu dessen Gegenteil jetzt das deutsche bürgerliche Gesetzbuch zurückgekehrt ist. (Vgl. meinen Aufsatz "Kant als Rechtsphilosoph" im Juristischen Literaturblatt 1904, Nr. 153). Jene Schule vergaß eben, daß alle Erkennen ein Anerkennen voraussetzt oder, um ein berühmtes Wort KANTs selber zu wiederholen, daß zwar Anschauungen ohne Begriffe blind, Begriffe aber ohne Anschauungen leer sind. Übrigens vertrat schon im 18. Jahrhundert MONTESQUIEU mit seinem berühmten Werk "Vom Geist der Gesetze", das immer noch einige Beachtung verdient, insofern eine richtigere Anschauung der Rechtswissenschaft und Politik, als er die historischen, und in Wahrheit natürlichen Bedingungen der Variabilität der Rechtsformen zu ergründen versuchte. Der Hauptmangel seines Werkes besteht, wie STAHL in seiner Rechtsphilosophie, Bd. 1, Seite 235 richtig hervorhebt, vor allem in der ungenügenden Würdigung des Nationalcharakters oder noch mehr, wie ich selbst in meinem Buch "Natürliche Grundlagen des Rechts und der Politik" betone, in unzureichender Erkenntnis der Bedeutung des Rassen charakters. Nach MONTESQUIEU ist es, wie STAHL sagt, nur ein Chaos zufälliger Dinge, welche dazu beitragen, die Weise des Denkens und Handelns zu bestimmen, Klima, Gesetze, Staatsmaximen, alte Beispiele, Sitten und Gebräuche, Religion (deren bestimmter Inhalt hier auch als zufällig entstanden angesehen wird). Aus all dem bildet sich für MONTESQUIEU das, was wir Nationalcharakter nennen. -
Das römische Recht dagegen, da es jede Befugnis isoliert faßt, hat eben damit von allen lebendigen Verhältnissen abstrahiert, und kann nur das enthalten, was unabänderlich mit dem Begriff gegeben ist. Darin besteht das abstrakte Fortschließen der Römer von den vorhandenen Rechten und Gesetzen, welche deren Inhalt bezeichnen (die logische Geschlossenheit des römischen Rechts!). Mit der Leere des Lebens ist der logische Charakter überall von selbst eingetreten; denn er ist nicht etwas erst zu Erwartendes, sondern nur, was immer noch übrig sein muß. Wenn die Kraft, die Neues bildet, zurückweicht, so bleibt alles, wie es ist, und in einen unverrückbaren Begriff gebannt stehen. Soweit sind das römische Recht und das sogenannte Naturrecht übereinstimmend. Allein das römische Recht faßt nur die schon vorhandene Befugnis isoliert auf. Sein abstraktes Fortschließen beginnt also erst von den gegebenen Rechten und Gesetzen. Diese selbst aber - die Basis der Folgerungen - sind ihm aus der Totalität des Bewußtseins und der Verhältnisse der Nation hervorgegangen. Patriotismus, Religion, Familie, Nahrungsweise, diese lebendigen Ursachen haben sie bestimmt, die ihrer Natur nach etwas positives wirken, etwas, was sie nicht selbst schon sind, erzeugen müssen. So hat es eine Mannigfaltigkeit von Rechten und Gesetzen, deren jedes sein eigenes Dasein hat, die in keinem Begriff - man mag unterlegen, was man will, enthalten sind. Dagegen das sogenannte Naturrecht isoliert den Menschen von vornherein. Was sich hier ergibt, ist schon abstrakt entstanden." (F. J. Stahl, a. a. O., Bd. I, Seite 105). Was die Rechtswissenschaft von der Geschichtswissenschaft unterscheidet, ist dies, daß Klio [griech. Muse der Geschichtsschreibung - wp] ihren Blick ausschließlich auf die Vergangenheit richtet; einer Rechtswissenschaft aber, die dasselbe tun würde, würde es ergehen wie dem Weib Lots [zur Salzsäure erstarren - wp]. Man hat die einseitig-historische Schule nicht ganz mit Unrecht wegen ihres allzu konservativen, um nicht zu sagen, quietistischen [asketisch-mystisch - wp] Charakters getadelt. Es hing dies zusammen mit ihrer fast romantisch zu nennenden Anschauung vom geschichtlichen Werden als einer stillen, geheimnisvollen Entfaltung in aller menschlichen Vorstellungsweise und allen geselligen Zuständen, dem unfaßbaren Wachstum der Pflanze ähnlich. Es ist ein Verdienst von JHERINGs durch seine kleine Schrift: "Der Kampf ums Recht" mit dieser einseitigen Geschichtsauffassung gebrochen zu haben. Das Wesen der Geschichte ist die Tat. Ein berüchtigtes Wort HEGELs: "Was ist, ist vernünftig," wird vielfach als Ausdruck jenes falschen Positivismus der rein historischen Rechtsanschauung erwähnt; vielleicht geht man mit diesem Vorwurf zu weit; denn dem Wesen dieser Schule dürfte eher der Satz entsprechen: "Gerecht ist, was der Bildungsstufe des Volkes und der Zeit entspricht." Immerhin war bei der Haltung der historischen Schule ein Mißverständnis ihres Charakters im Sinne des ersten HEGELschen Satzes nichts ausgeschlossen, der eher geeignet sein dürfte, die entgegengesetzte Sentenz des größten Revolutionärs der deutschen Dichtung, GOETHEs Mephistopheles zu provozieren, der bekanntlich im Faust spricht:
Ist wert, daß es zu Grunde geht." Nachdem ich das Fehlen der Geschichtswissenschaft an CAREYs Stammbaum der Wissenschaft genügend gerügt haben dürfte, bleibt mir aus dem soeben ausgesprochenen Grund seine Zeichnung umso wertvoller, wenn sie zunächst die nahe Verwandtschaft der Rechtswissenschaft mit der Nationalökonomie hervorhebt. Auch der englische Philosoph JOHN STUART MILL, selber ein hervorragender Ökonomist, hat die Bedeutung dieser Wissenschaft für die allgemeine Bildung des Juristen mehrfach vortrefflich beleuchtet. In seiner Rektoratsrede sagt er z. B.:
Gegenüber der Nationalökonomie verzeichnet CAREY, ähnlich wie SCHOPENHAUER in seinem System der Wissenschaftslehre, in seinem Bild des Baumes der Wissenschaften als einen Nebenast der Rechtswissenschaft, mit dem sie in unmittelbarster Zirkulation steht, die Psychologie. Zunächst brauche ich nur an die Beweis fragen zu erinnern, um den praktischen Juristen darauf hinzuweisen, daß er in jedem einzelnen Fall, wo es sich, sei es nun um die Würdigung von Zeugenaussagen oder auch um den sogenannten Indizienbeweis handelt, praktischer Psychologe sein muß. Und ich berühre hier einen Punkt, in dem auch die Theorie selber mehr und mehr erkennen muß und wird, daß sie Fortschritte nur in engerem Anschluß an die moderne, sich nicht unerheblicher Fortschritte rühmende empirische Psychologie erwarten darf. Zunächst scheint es vor allem das Strafrecht zu sein, für welches diese Einsicht in erfreulicher Weise zu dämmern beginnt. Die Verhandlungen des letzten deutschen Juristentages über die Zurechnungsfähigkeit sogenannter minderwertiger Personen unter Mitwirkung hervorragender Psychiater legen dafür Zeugnis ab. Allein der Zusammenhang der Rechtswissenschaft mit der Psychologie reicht über diese verhältnismäßig äußerlichen Anknüpfungspunkt, die in der Praxis den Juristen so oft in Verkehr mit dem Psychiater bringen, weit hinaus. Niemand hat dies vortrefflicher begründet als der schon einmal erwähnte Psychologe BENEKE in seiner Schrift "Die Philosophie in ihrem Verhältnis zur Erfahrung, zur Spekulation und zum Leben", in der er, übrigens nach dem Vorlauf des ARISTOTELES die Psychologie gewissermaßen als das Fundament aller sogenannten Geisteswissenschaften bezeichnet.
Im übrigen ist ja die sozusagen freundnachbarliche Beziehung der Jurisprudenz zur Medizin in der sogenannten gerichtlichen Medizin, die ein Mitglied der medizinischen Fakultät auch zum Mitglied der juristischen stempelt, alten Datums. Hierdurch berührt sich also die Naturwissenschaft in ihrem zweifellos praktisch wertvollsten Zweige, zunächst freilich etwas äußerlich, als Hilfswissenschaft mit der Jurisprudenz. Dem erstaunlichen Aufschwung der Naturwissenschaft im letzten Jahrhundert und dem Einfluß, den die naturwissenschaftliche Denkweise auf unsere gesamte moderne Weltanschauung sich erobert hat, dürfte aber noch eine bedeutsamere, sozusagen prinzipiell wissenschaftliche Annäherung gerecht werden müssen, die in letzter Linie in den Gedanken ausläuft, daß nach streng wissenschaftlicher Denkweise auch die Geisteswissenschaften sich von den Naturwissenschaften im engeren Sinne nicht durch absolute Gegensätze, sondern nur durch die größere Kompliziertheit der den Gegenstand der Forschung bildenden Gesetze unterscheiden. Selbstverständlich liegt mir nichts ferner, als den schon von KANT gelegentlich mit Recht getadelten Versuch zu billigen, die wohlbegründeten Grenzen der einzelnen Wissenschaften verwischen zu wollen. Wenn beispielsweise bei einzelnen juristischen Schriftstellern der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts es Mode wurde, mit geistreichen oder geistreich sein sollenden Analogien und "mit der Terminologie der niederen Wissenschaften" zu spielen, so ist das von RUDORFF in der Vorrede zu seiner römischen Rechtsgeschichte mit Recht getadelt worden; bestenfalls konnte eine solche Bildersprache nur zur Belebung des Stils dienen, wenn sie nicht gar dem nüchternen und klaren Erfassen der Begriffe schadete. Gibt man aber zu, daß die Psychologie als Wissen von den Gesetzen der menschlichen Natur eine Voraussetzung der Rechtswissenschaft bildet, so ist auch eine Berührung mit der Physiologie infolge der unstreitigen Wechselbeziehungen zwischen Leib und Seele nicht zu vermeiden, und wenn das Recht ein Erzeugnis des ganzen, geistig-leiblichen Menschen ist, noch weniger mit der Anthropologie, deren rein naturwissenschaftliche Basis die Biologie überhaupt bildet. Ein berühmter Vorstoß in diesem Sinne ist nun seitens der durch die Gedanken DARWINs und seiner Nachfolger so außerordentlich angeregten Biologie selber bekanntlich in den letzten Jahren zu verzeichnen, indem vermutlich auf Anregung HAECKELs der verstorbene Groß-Industrielle KRUPP eine nicht unerheblich Summe für Preise über die beste Erörterung der Frage stiftete: "Welchen Einfluß hat die Deszendenztheorie [Abstammungslehre - wp] auf die innere Gesetzgebung und politische Entwicklung der Staaten?" Die inzwischen unter dem Gesamttitel: Natur und Staat in Jena erschienenen Schriften freilich, welche don dem aus einem Zoologen, einem Nationalökonomen und Historiker zusammengesetzt gewesenem Schiedsgericht mit Preisen ausgezeichnet sind, können im Großen und Ganzen nur als Fiasko der hier erzählten Annäherung bezeichnet werden; ich verweise dafür des näheren auf die von mir in der "Polit. Anthropolog. Revue" III, Nr. 7 veröffentlichte Kritik dieser Jenenser Preisschriften, die neben den von hervorragenden Anthropologen wie AMMON, de LAPOUGE, WILSER und WOLTMANN veröffentlichten Kritiken sogar noch als besonders milde erscheinen darf. Während die mit geringeren Preisen bedachten Arbeiten, insbesondere die an zweiter Stelle gekrönte von Dr. MATZAT sich als rechtsphilosophischer Dilettantismus verworrenster Art offenbaren, hat es dem an erster Stelle gekrönten Dr. SCHALLMAYER zwar nicht an umfassender Belesenheit in einer das doch schließlich gestellte gesetzgeberische und politische Problem gar nicht berührenden rein naturphilosophischen Literatur, wohl aber an rechtswissenschaftlichen Vorbedingungen für die Erfassung desselben gemangelt, und es genügt mir, an dieser Stelle darauf hinzudeuten, daß er - das einzige wissenschaftlich ersichtliche Ziel der Kulturentwicklung ist ihm die Verwirklichung möglichst großer Quantität organischen Lebens - von seinem Standpunkt aus die chinesischen Staatseinrichtungen gewissermaßen als mustergültig hinstellt. Eine von mir selber vor kurzem veröffentlichte Arbeit über "Die natürlichen Grundlagen des Rechts und der Politik" darf ich gewissermaßen als einen Protest gegen diesen Versuch einer krass materialistisch-naturwissenschaftlichen Reform der Rechtswissenschaft und Gesetzgebung bezeichnen. SCHALLMEYER begeht überdies den vom eigenen Ausgangspunkt aus ganz unlogischen Fehler, die Rassen unterschiede und Rassen werte in ihrer Bedeutung für Recht und Staat völlig zu übersehen. Um meine eigene Auffassung der Bedeutung der Biologie für das Recht hier einigermaßen anzudeuten, zitiere ich aus meiner erwähnten Schrift (Seite 15f) folgende Sätze:
Umgekehrt aber gilt es auch, den Fehler derjenigen Geschichts- und Rechtsphilosophen zu vermeiden, die in geschichtlichen Entwicklungen nichts anderes als Naturprozesse erblicken, und die Eigengesetzlichkeit des menschlichen Handelns verkennen. Wir lehnen damit von vornherein jenen Evolutionismus ab, der jede Entwicklung deshalb, weil sie geschehen ist, auch für notwendig erachtet und der sich dementsprechend vermißt, aus einer überdies dürftigen Erkenntnis der die Vergangenheit beherrschenden Entwicklungsfaktoren die Bahn dieser Entwicklung für die Zukunft mit apodiktischer Gewißheit zu bestimmen. Diese der Autonomie des menschlichen Geistes nicht Rechnung tragende Richtung halten wir besonders dann für gefährlich, wenn sie sich mit dem Vorurteil - oder soll ich gar Aberglauben sagen? - eine unbedingten notwendigen Fortschritts verknüpft, mit jenem bedenklichen Positivismus, der das Überleben schlechthin, weil es sich rein objektiv als ein Überleben der Passendsten begreifen läßt, für gleichbedeutend nimmt mit einem Überleben der Besten. Die sittliche, wertschätzende Beurteilung soll mit der kausalen zwar verknüpft, aber nicht verwechselt werden. Es liegt hiernach auf der Hand, daß eine wissenschaftliche Verwertung der sogenannten Prinzipien der Deszendenztheorie für Recht und Politik ihren Ausgang vom Standpunkt des Juristen und Politikers, nicht von dem des bloßen Naturforschers nehmen muß, mit anderen Worten, daß der erstere, nicht der letztere am besten in der Lage ist, zu beurteilen, ob und wie weit diese sogenannten Prinzipien Rechtserheblichkeit beanspruchen. Zweifellos können sie diese nur insoweit beanspruchen, als sie nicht "Prinzipien" im Sinne KANTs, sondern Naturgesetze darstellen, mit denen unsere Initiative, unser "freier Wille" rechnen muß, um die Zwecke (Ideale), die er sich setzt, erreichen zu können. "Freier Wille" ist freilich ein dem Naturforscher anstößiges Wort; wie angeblich LAPLACE geäußert haben soll, er habe mit den besten Fernrohren im Weltall keinen Gott entdecken können, so läßt sich "freier Wille" auch weder mit Tele- noch mit Mikroskopen, auch nicht unter Zuhilfenahme von Röntgenstrahlen nachweisen; aber vielleicht kann dem naturphilosophischen Denken doch die Möglichkeit einer derartigen Kraft durch die Analogie der Variabilität näher gebracht werden, auf deren Wesen wir in den folgenden Untersuchungen näher eingehen werden. Diese Variabilität braucht nicht als unbegrenzte Möglichkeit gedacht zu werden; als solche ist sie nur denkbar unter Zuhilfenahme der Unendlichkeit in räumlicher und zeitlicher Beziehung; neben oder richtiger innerhalb der absoluten Freiheit des Ganzen kann nämlich eine relative (bedingte) Freiheit seiner Teile sehr wohl bestehen. Ich zitiere hier einen Satz aus meinem Aufsatz über den Freiheitsbegriff im "Hochland der Gedankenwelt" (Seite 108), auf welchen ich wegen der näheren, hier zu weit ablenkenden Begründung verweise. Die menschliche Freiheit ist durch die Kausalität der Natur und durch die Kausalität insbesondere auch der menschlichen Psychologie bedingt. Der Charakter des Menschen ist aber variabel; die deterministische Behauptung einer Konstanz des Charakters steht auf einer Stufe mit der gerade durch den Darwinismus beseitigten Lehre von der Konstanz der Arten. Freilich die Änderung des Charakters ist, wenigstens in der Regel, an das Gesetz der Stetigkeit gebunden, natur non facit saltus [Die Natur macht keine Sprünge. - wp], - und plötzliche "Mutationen" gehören wenigstens zu den Ausnahmen. Sehr treffend sagt Dr. PLOETZ im Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, Bd. 1, Seite 3:
Ich unterschreibe somit die Worte GABRIEL TARDEs (Transformations du droit, Seite 100):
Scheinbar können sich die Beziehungen der Rechtswissenschaft zu den Natur wissenschaften nicht weiter erstrecken, als die soeben besprochenen biologischen Grundfasern der Biologie und damit der Psychologie, welche letztere ja neuerdings, wie schon längst ein geistreicher Naturphilosoph, KAPP (Grundlinien einer Philosophie der Technik, Seite 5) bemerkt hat, mit der Biologie in einer Verschmelzung begriffen ist, sodaß "beide, nicht wie bisher getrennt, sondern zu einem Lauf vereinigt in das weite Strombett der Anthropologie münden, um eine höhere Phase des Selbstbewußtseins als physiologische Psychologie einzuleiten". In der Tat ist nicht einzusehen, welche unmittelbare Bedeutung für die rein juristische Forschung beispielsweise die Kenntnis der mechanischen oder chemischen oder physikalischen Naturgesetze haben könnte. Allein vom praktischen Juristen, vom Richter und Rechtsanwalt, werden wir eine zureichende Allgemeinbildung auch auf diesen Gebieten der Naturerkenntnis schon deswegen fordern müssen, weil ihn das moderne Verkehrsleben jeden Augenblick mit Rechtsverhältnissen in Berührung bringt, deren tatsächliche Voraussetzungen er ohne solche allgemeine Kenntnisse nicht einmal soweit beherrschen könnte, um den sachverständigen Gutachten mit Verständnis folgen zu können. Für Praktiker, von denen einige durch eine vielseitige Betätigung in Rechtsstreitigkeiten aller Art sich oft genötigt sehen, nicht wenig Zeit und Mühe auf die Bewältigung des zur Einsicht in das faktische einer Rechtsfrage zugrunde liegende Material zu verwenden, bedarf diese Bemerkung keiner weiteren Begründung. Dem juristischen Praktiker drängt sich am nachdrücklichsten die Wahrheit der von JUSTINIANs Definition auf, daß unsere ars boni et aequi [die Kunst gut und gerecht zu sein - wp] zugleich omnium rerum humanarum notitia [das ganze menschliche Wissen - wp] ist. Daraus ergibt sich auch die so oft mit einem gewissen Neid von den Vertretern anderer Wissensfächer beanstandete Tatsache, daß der Staat für die höhere Leitung fast sämtlicher Verwaltungszweige (mit Ausnahme des militärischen) seine Auslese fast ausschließlich aus juristischen Praktikern der Verwaltung oder Justiz trifft. Hier, in der höheren Leitung, reicht eben, da es darauf ankommt, das einzelne Glieder der Maschine im richtigen Anschluß mit den übrigen zu erhalten, die einseitige Kenntnis des Spezialtechnikers nicht aus; der letztere kennt nicht nur nicht den juristischen Mechanismus, dem sich beispielsweise der rein technische unterordnet, ihm fehlen in der Regel auch jene vielseitigen Kenntnisse anderer scheinbar seinem Beruf sehr fremder Verhältnisse, über welche ein überall im Kampf der Interessen, sei es nun als Advokat, Richter oder Verwaltungsbeamter erprobter Jurist präsumtiv [vermutlich - wp] verfügt. Daß aber der Geist der sogenannten technischen Wissenschaften dem Geist der rein theoretischen Rechtswissenschaft nicht entgegengesetzt ist, hat wohl am zutreffendsten KAPP in seinem geistvollen Buch "Grundlinien einer Philosophie der Technik" dargelegt, in dessen letztem Kapitel er uns den modernen Staat selber als vollendetsten Ausdruck eigentlich technischer Kunst und zugleich als sogenannte Organ-Projektion des Menschen schildert und "die viel bedeutenden Beziehungen zwischen den beiden großen Gebieten, deren Schöpfer der Mensch ist, zwischen dem machinalen und dem politischen" aufdeckt. Ich greife nur folgenden Satz heraus:
Auch von Jhering in seinem Zweck im Recht, diesem großartig angelegten, leider unvollendet gebliebenen Versuch einer Systematik der menschlichen Zwecke hat diese innere Verwandtschaft der Mechanik und Rechtswissenschaft nicht verkannt; es ist mehr als ein bloßes Gleichnis, wenn er von einer sozialen Mechanik spricht, "es gibt ebensogut eine soziale Mechanik, um den menschlichen Willen, wie eine physikalische, um die Maschine zu zwingen. Diese soziale Mechanik ist gleichbedeutend mit der Lehre von den Hebeln, durch welche die Gesellschaft den Willen für ihre Zwecke in Bewegung setzt, oder kurz gesagt: der Lehre von den Hebeln der sozialen Bewegung." (Zweck im Recht I, Seite 95). Dabei ist freilich die auch allgemein längst erkannte (vgl. z. B. Lotzes Mikrokosmus) Unterordnung des Mechanischen unter das Organische wohl zu beachten; die richtige organische Lebensauffassung, ein wissenschaftlich abgeklärter Vitalismus, schließt die mechanische (materialistische) Anschauung nicht aus, sondern ein; der Mechanismus wird irrtümlich nur durch seine einseitige, ausschließliche Geltendmachung, welche den höheren Zweck, dessen Diener er ist, leugnet. Der Staat, wenn auch noch so unvollkommen oder verkommen, bleibt Organismus und ist nie eine Maschine. Überhaupt bezeichnet das Maschinenmäßige, auf den einzelnen wie auf die Gesellschaft angewandt, meistenteils einen hohen Grad von Gedankenlosigkeit und gewohnheitlichem Schablonentum (2). Staat sein heißt sich als Organismus verhalten. Deshalb kanner er nie ganz mechanisch sein, wohl aber gibt es innerhalb seiner Maschinen, die als Einzelmechanismen vom Einzelorganismus unterschieden sein müssen, die aber als Ganzes im Ganzen der vom Staat selbst tauglich zum Angeeignetwerden zugerichteten Stoffe einer Selbsterhaltung sind." (Kapp. a. a. O., Seite 344) (3) Sowohl BENTHAM wie von JHERING, der zwar BENTHAM nicht erwähnt, aber zweifellos von ihm beeinflußt sein dürfte, gehören zu den größten Meistern, die jemals ihre Lebensarbeit darauf verwendet haben, über Rechtswissenschaft und Gesetzgebungskunst Licht zu verbreiten, und ihr Verständlichkeit für den Laien ist fürwahr kein Nachteil gegenüber der von KOHLER wieder auf den Schild erhobenen unverständlichen Weisheit und Begriffsdialektik eines HEGEL; beider Methode ist es, den Gegenstand von der Grundlage aus aufzubauen, welche dieser in den Tatsachen des menschlichen Lebens hat, und man tut ihnen gewiß Unrecht, wenn man ihr sogenanntes Nützlichkeitsprinzip in einem grobmateriellen Sinn deutet. Die von beiden klargestellte Einsicht, daß die Gesellschaft das Zwecksubjekt der Sittlichkeit und desjenigen erzwingbaren Ausschnitts derselben ist, den die Rechtslehre umfaßt, und daß ein mit diesen Zwecken der Gesellschaft koinzidierender intelligenter Egoismus des Individuums bürgerliche Tugend heißt, läßt sich mit einer höheren Auffassung der Ethik sehr wohl vereinigen. Auch der beiden genannten Staatsdenkern durchaus kongeniale JUSTUS MOESER bezeichnet in seinen Ausführungen über die soziale Zweckmäßigkeit der Religion die letztere als eine notwendige Einrichtung der Politik. Er bemerkt jedoch zutreffend:
Auch die Ethik will als Wissenschaft anerkannt sein. Wenn sie eine Beweismethode, wie der der sogenannten exakten Wissenschaften ausschließt, so liegt es daran, daß ihren Gegenstand Imponderabilien [Unwägbarkeiten - wp] bilden, die wir nicht nur nicht auf die chemische Waage bringen können, sondern die auch für alle Zukunft jeder mathematischen Rechnung, auch der Infinitesimalrechnung entzogen bleiben werden. Gleichwohl aber gibt es moralische Wertmesser, die uns die geschichtliche Erfahrung und die geistige Entwicklung der Zivilisation an die Hand gibt und die durch diese zeitliche Bedingtheit nichts an innerer Autorität einbüßen. Denn die Geschichte ist die immanente Offenbarung des göttlichen Willens. Daran halte ich fest, ungeachtet dessen, daß ich gleichzeitig von der wesentlichen Richtigkeit der heutigen naturwissenschaftlichen Auffassung der Schöpfung, von den kosmologischen Theorien, die man nach KANT und LAPLACE bezeichnet, bis auf DARWIN, HÄCKEL und WEISMANN, überzeugt bin; die theologisch-negative Haltung dieser Philosophen - ungeachtet aller ihrer Angriffe auf die Metaphysik sind auch sie Metaphysiker, soferns sie sich zu negativ apodiktischen Urteilen über das Welträtsel versteigen - kann ich nur soweit verstehen, als sie sich gegen eine kindlich naive buchstäbliche Auslegung der mosaischen Schöpfungsurkunde richtet. Nach meiner Überzeugung kann man ein gläubiger Christ und Theist bleiben unter der Anerkennung aller Forschungsresultate der positiven Naturwissenschaften, insbesondere auch des sogenannten Darwinismus. Ein gewichtiges Beispiel dafür bietet BISMARCK, der in DARWINs Lehre vom Kampf ums Dasein, wie wir aus mehrfach von ihm berichteten Äußerungen wissen, "nichts Gottloses" finden konnte, sowie von JHERING, der sich darüber in seiner Einleitung zum "Zweck im Recht" ausdrücklich geäußert hat. (4) Beide Männer waren zwar keine Philosophen vom Fache, aber sie verfügten über einen hervorragenden gesunden Menschenverstand, der die wichtigste Gabe eines guten Juristen bildet, und dieser gesunde Menschenverstand fordert, wie vortrefflich auch MONTESQUIEU zu Anfang seines immer noch beachtenswerten Werkes "Vom Geist der Gesetze" darlegt, die Voraussetzung eines lebendigen Gottes. Die Schöpfung eines lebendigen Gottes konnte aber kein totes Machwerk sein. Ein großer Dichter, dessen Jahrhundertgedächtnisfeier wir demnächst begehen, sagt:
Entzückende Erscheinung nicht zu stören Läßt Er (der lebendige persönliche Gott) des Übels grauenvolles Heer In seinem Weltall lieben, toben, - ihn Den Künstler, wird man nicht gewahr, bescheiden Verhüllt er sich in ewige Gesetze; Die sieht der Freigeist, doch nicht ihn. Wozu Ein Gott? sagt er ! Die Welt ist sich genug. Und keines Christen Andacht hat ihn mehr, Als dieses Freigeists Lästerung gepriesen." - Schiller, in Don Carlos, III, 10 - Dieser höheren Gerechtigkeit soll auch der Jurist stets eingedenk sein; er hat zwar, wie schon Jesaias sagt, nur zu richten nach dem, was er mit den Augen sieht und den Ohren hört, er sei dabei aber stets eingedenk einer höheren Gerechtigkeit, die da richtet nach dem, was wir nicht sehen, nach unseren Gedanken und Gesinnungen. Für einen so gesinnten Juristen steht die Rechtswissenschaft auch mit der Theologie in einem innerlichen Zusammenhang, als dem bloß äußerlichen des Kirchenrechts. So hat sich uns schließlich die volle Wahrheit der justinianischen Definition der Jurisprudenz bewährt als eine Wissenschaft von den menschlichen und göttlichen Dingen. Vielleicht aber wird man uns nunmehr noch den Einwand nicht ersparen, daß wir so zwar der Jurisprudenz den Vorwurf der "Trockenheit" und wissenschaftlichen Minderwertigkeit nehmen, allein daß dies nur geschehen sei durch eine unerfüllbare Steigerung unserer allzu idealen Anforderungen an das juristische Studium, daß wir ähnlich wie CICERO sich seinen vollkommenen Redner uns den Juristen als einen Polyhistor denken, als einen uomo universale [Universalmenschen - wp] im Sinne der Renaissance, und daß ein solches Ideal zumal bei der heutigen Ausdehnung aller genannten Wissenschaften unmöglich sei. Hierauf erwidern wir: Nicht ohne Grund hat JUSTINIAN in der fraglichen Institutionenstelle notitia statt scientia gesetzt; er fordert damit nicht eine wissenschaftliche Beherrschung aller menschlichen und göttlichen Dinge, nicht eine die menschliche Einzelkraft übersteigende Universalität des Geistes, sondern nur eine allgemeine Kenntnis; und ein vortreffliches Wort hat in dieser Beziehung JOHN STUART MILL in seiner Rektoratsrede gesprochen:
Es möge mir aber zum Schluß noch verstattet sein, hierbei die zur Zeit so brennende Frage zu berühren, welche Schulbildung von demjenigen zu fordern ist, der sich dem Studium einer so charakterisierenden Wissenschaft widmen will. Auf den ersten Blick wird es den Anschein haben, daß wir der humanistischen Vorbildung, wie sie das sogenannte klassische Gymnasium im Gegensatz zum Real-Gymnasium bietet, unter allen Umständen den Vorzug geben müssen. In der Tat ist dies auch unsere Meinung, zumal wir durch diese Art der Vorbildung den geschichtlichen Charakter der Rechtswissenschaft bei ihren Jüngern am besten gewahrt zu sehen glauben. Aber wir können diese unsere Parteinahme für das Gymnasium, für deren weitere Begründung ebenfalls die erwähnte Rektoratsrede MILLs die besten Argumente liefert, nicht ohne Vorbehalt aussprechen. Zufällig entnehme ich einem Gedenkwort meines deutschen Vorgängers an der hiesigen Universität "Zum Jahrestag von Mommsens Tod" (D. Recht VIII, 20) die Notiz, daß der berühmte Historiker die Doktorthese verteidigt hat: "Der Jurist könne vom Philologen lernen, ob dieser von ihm, sei zu bezweifeln." Bei aller gebührlichen Hochachtung vor den Verdiensten MOMMSENs für die Geschichte des römischen Rechts möchte ich lieber die Umkehrung dieser These verteidigen. Daher glaube ich auch, daß unsere humanistischen Gymnasien zum Teil wenigstens - vieles dürfte sich bereits dank der kräftigen Initiative unseres Kaisers, gebessert haben - noch an einem Übermaß philologischer Kleinkrämerei leiden. Gewiß bietet keine der modernen europäischen Sprachen schon in rein grammatischer und syntaktischer Hinsicht eine so wertvolle Schule des Verstandes, wie die lateinische. Der Bau eines jeden Satzes wird hier eine Lektion der Logik; die verschiedenen Regeln der Sytnax nötigen, zwischen dem Subjekt und dem Prädikat eines Satzes, zwischen dem Handelnden, der Handlung und dem Gegenstand der Handlung zu unterscheiden, zu bemerken, wenn ein Gedanke den anderen einschränken oder näher bestimmen oder sich nur mit ihm verbinden will; welche Behauptungen kategorisch, welche nur bedingungsweise sind; ob es die Absicht ist, Ähnlichkeit oder Gegensatz auszudrücken, einer Mehrheit von Behauptungen einen sich verbindenden oder sich ausschließenden Sinn geben; welche Teile eines Satzes, wenn auch grammatikalisch in sich selbst vollständig, doch nur Glieder oder untergeordnete Teile der Behauptung sind, welche durch den ganzen Satz ausgesprochen wird. Solche Dinge machen den Stoff der allgemeinen Grammatik aus; und diejenigen Sprachen, welche diese Dinge am besten lehren, sind diejenigen, welche die bestimmtesten Regeln haben und für die größte Zahl von Unterscheidungen des Denkens besondere Formen bieten, sodaß wir bei Ermangelung scharfer und genauer Aufmerksamkeit auf eine jede derselben nicht vermeiden können, uns eines Sprachfehlers schuldig zu machen. Hinsichtlich dieser Eigenschaften besitzen die klassischen Sprachen eine unstreitige Überlegenheit über alle modernen mit Einschluß der logisch vorzüglich klaren französischen. Besonders das Latein kann daher als vortreffliche Vorschule des juristischen Denkens gelten, ganz abgesehen davon, daß ein Jurist, der nicht einmal die Pandekten im Urtext zu lesen verstände, immerhin eine bedenkliche Erscheinung bilden dürfte. Andererseit aber bietet zweifellos das Realgymnasium inhaltlich erheblich mehr von demjenigen zur allgemeinen Vorbildung des Juristen nach unseren vorstehenden Ausführungen nützlichen und notwendigen Lernstoff, der in den Bereich der Nationalökonomie und der Naturwissenschaften fällt. Seitdem das Latein längst die frühere Bedeutung einer allgemeinen Gelehrtensprache eingebüßt hat, ist auch wenigstens für den über das notwendigste Handwerkswissen hinausstrebenden Rechtsgelehrten die vollständige Beherrschung der wichtigsten modernen Sprachen, vor allem der englischen und französischen unentbehrlich. Es ist nun zwar richtig einerseits, daß eine gute Grundlegung im Lateinischen die gründliche Aneignung dieser Sprachen, vor allem der romanischen Sprachen außerordentlich erleichtert, andererseits, daß eine vollkommene Aneignung dieser Sprachen nur durch einen längeren oder kürzeren Aufenthalt im Ausland selbst erzielt werden kann, ein Aufenthalt, der dem zukünftigen Juristen in unserem Zeitalter des Verkehrs und der Weltpolitik auch aus anderen Gründen nicht dringend genug empfohlen werden kann -; allein, da nicht alle diesem Wunsch entsprechen können, so ist nicht zu unterschätzen, daß das Realgymnasium präsumtiv wenigstens seine Schüler in der Beherrschung der beiden wichtigsten modernen Sprachen weiter fördert, als die sogenannte lateinische Schule. Auch die logische Disziplinierung des Geistes durch die Mathematik, die auf dem Realgymnasium intensiver gepflegt wird, als auf dem humanistischen Gymnasium ist nicht zu unterschätzen, noch weniger aber diejenige der Experimental-Physik. Sehr gut sagt JOHN STUART MILL mit Bezug auf letztere:
Die in der Bekanntmachung der Minister der Justiz und des Unterrichts vom 1. Februar 1902 aufgestellten Grundsätze sind nämlich folgende:
2. Zum Rechtsstudium werden außer Studierenden, welche das Zeugnis der Reife von einem deutschen humansistischen Gymnasium besitzen, auch solche Studierende zugelassen, welche das Zeugnis der Reife von einem deutschen Realgymnasium oder von einer preußischen Ober-Realschule erworben haben. 3. Den Studierenden der beiden letzten Kategorien sowie denjenigen Gymnasialabiturienten, deren Reifezeugnis im Lateinischen nicht mindestens das Prädikat "genügend" aufweist, bleibt es bei eigener Verantwortung überlassen, sich die für ein gründliches Verständnis der Quellen des römischen Rechts erforderlichen sprachlichen und sachlichen Vorkenntnisse anderweitig anzueignen.
1) SCHOPENHAUER charakterisiert sie zutreffend mit seinem kräftigen Stil: "Um die einfachen menschlichen Lebensverhältnisse, die den Stoff (des Rechts) ausmachen, also Recht und Unrecht, Besitz, Staat, Strafrecht zu erklären, werden die überschwänglichsten, abstraktesten, folglich weitesten und inhaltsleersten Begriffe herbeigeholt, und nun aus ihnen bald dieser, bald jener Babelturm in die Wolken gebaut, je nach der speziellen Grille des jedesmaligen Professors. Dadurch werden die klarsten, einfachsten, und uns unmittelbar angehenden Lebensverhältnisse unverständlich gemacht, zum großen Nachteil der jungen Leute, die in einer solchen Schule gebildet werden; während die Sachen selbst höchst einfach und begreiflich sind." (Parerga II, Seite 256) 2) Man vgl. hiermit meine Bemerkung in "Natürliche Grundlagen des Rechts und der Politik", Seite 25, Anm. über die falsche (materialistische) Maschinentheorie des Lebens. 3) Welche Folgerungen sich hieraus für die so sehr umstrittene Konstruktion der juristischen Person ergeben, kann ich hier nicht weiter ausführen. Der denkende Lehrer wird bereits erkennen, daß meine Begriffsbestimmung der juristischen Person ("Von den Pandekten zum BGB", Bd. 1, Seite 176) als einen spezifisch juristisch-technischen Mechanismus durchaus nicht, wie einige Kritiker gemeint haben, mit der sogenannten Fiktionstheorie zusammenfällt, vielmehr der germanistischen Auffassung (GIERKE) von ihrem organischen Charakter lediglich eine sie vom letzten Rest scheinbarer Mystik reinigende Klärung hinzufügt. 4) Vgl. von JHERING, Zweck im Recht (I. Teil, Seite XIII): "Ich meinerseits messe mir kein Urteil über die Richtigkeit der Darwinschen Theorie an, obschon die Resultate, zu denen ich meinerseits in Bezug auf die historische Entwicklung des Rechts gelangt bin, sie auf meinem Gebiet im vollsten Maß bestätigen. Aber wenn die Richtigkeit derselben mir auch felsenfest feststände, ich wüßte nicht, wie mich dies in meinem Glauben an einen göttlichen Zweckgedanken nur im geringsten beirren sollte. In der Monas, die nach Häckel mit Notwendigkeit zum Menschen führen soll, hat Gott den Menschen vorausgesehen, wie der Bildhauer im Marmor den Apollo oder, wie Leibniz bereits sagte, in Adam hat Gott das ganze Menschengeschlecht vorgebildet und gewollt." |