ra-1K. BergbohmJ. BinderA. FeuerbachA. MengerH. Kantorowicz    
 
LUDWIG KUHLENBECK
Die Rechtswissenschaft in ihren
Beziehungen zu anderen Wissenschaften


"Gerecht ist, was der Bildungsstufe des Volkes und der Zeit entspricht."

"Kein Richter oder Anwalt wird ohne zureichendes nationalökonomisches Verständnis eine privatrechtliche Norm in ihrem Zusammenhang richtig erfassen und anwenden können. Denn der nationalökonomische oder zumindest zivilpolitische Zweck bildet den Schlüssel zu ihrem Verständnis."

Sehr geehrter Herr Staatsrat! Gestatten Sie mir zunächst, Ihnen meinen aufrichtigsten Dank für die wohlwollenden Worte auszudrücken, durch die Sie mich soeben ausgezeichnet haben. Die Errichtung eines öffentlichen Lehramts für deutsches Recht an der Universität Lausanne legt Zeugnis ab einerseits zwar für die besonders freundschaftlichen Beziehungen zwischen Ihrem und meinem Vaterland, wie eine solche seit langem im zahlreichen Besuch dieser Universität durch meine Landsleute einen deutlichen Ausdruck gefunden habe, andererseits aber auch von einer vornehmen Auffassung der Rechtswissenschaft überhaupt seitens der Regierung dieses Kantons und seiner Universität. Diese jugendlich aufstrebende Hochschule bestrachtet das Studium der Jurisprudenz nicht unter einem staatlich begrenzten und beschränkten Horizont, sie bezeugt einen weiteren Blick, wenn sie auch dem gerade zur Zeit in so lebhafter Entwicklung begriffenen Recht meines Vaterlandes eine Beachtung zuteil werden läßt, wie solche im Ausland bislang nur dem gewissermaßen internationalen Studium des römischen Rechts gezollt worden ist. Ich gestatte mir diese Bemerkung über den durch ihre nationalen Unterschiede nicht Frage gestellten wissenschaftlichen Wert eines bestimmten positiven Rechts zum Vorwand einiger Betrachtungen zu nehmen über die Stellung der mehr als andere Wissenschaften national gesonderten Rechtswissenschaft überhaupt zu den übrigen Wissenschaften. Es liegt nämlich nahe, auf diesen nationalen Sondergeist und Partikularismus der Jurisprudenz zur Verkleinerung ihres wissenschaftlichen Wertes hinzuweisen unter Anknüpfung an ein bekanntes Wort SCHOPENHAUERs, demzufolge es lächerlich ist, eine bloße "Disziplin", deren Tragweite an den Grenzpfählen endet, zu den ihrem Begriff nach internationalen eigentlichen Wissenschaften im vornehmsten Sinn dieses Wortes zu rechnen.

Meine Damen und Herren!  Eine merkwürdige Abhandlung des großen Philosophen von Königsberg, dessen hundertjährigen Todestag man in diesem Jahr gefeiert hat, eine Schrift von KANT handelt über den sogenannten  Streit der Fakultäten Sie handelt nicht ohne trockene Ironie über einen Rangstreit unter den verschiedenen Wissensfächern einer Universität, und wir erfahren, daß man zu jener Zeit gewissermaßen offiziell zwischen höheren und niederen Fakultäten unterschied, daß man zu ersteren in einer durch die Reihenfolge bezeichneten Abstufung die  Theologie,  die  Jurisprudenz  und die  Medizin,  zu letzteren aber alle diejenigen Wissensfächer rechnete, die man auch heutzutage noch vielfach unzutreffend unter dem Gesamtbegriff der  philosophischen  Fakultät zusammenfaßt. Es bedarf kaum einer Andeutung, daß uns mit KANT dieser Rangstreit ein wenig eitel erscheint. Der einzige Wettbewerb, der innerhalb einer Gelehrtenrepublick zulässig ist, scheint uns derjenige der Forscherarbeit im Dienst der Wahrheit zu sein, und der Name "Universität" selbst deutet auf Solidarität, nicht auf Rivalität der wissenschaftlichen Arbeiten.

Freilich scheint mir KANT selber sich von einer durch jene offizielle Rangordnung gekränkten Gelehrteneitelkeit nicht ganz frei zu bezeugen, wenn er sein Bemühen, der zurückgesetzten  philosophischen  Fakultät den  höchsten wissenschaftlichen  Rang zu vindizieren, in Sätze kleidet, die für die seiner Zeit offizielle als die drei oberen eingeschätzten umso herabwürdigender klingen. Er rechtfertigt jene offizielle Rangordnung höchst ironisch mit der "objektiven Vernunft" der Regierungsweisheit:
    "Nach der Vernunft", schreibt er, "würden die Triebfedern, welche die Regierung zu ihrem Zweck (auf das Volk Einfluß zu haben) benutzen kann, in folgender Ordnung stehen: zuerst eines jeden  ewiges  Wohl, dann das  bürgerliche  als Glied der Gesellschaft, "schließlich das  Leibeswohl  (lange leben und gesund sein)."

    "Durch die öffentlichen Lehrer in Anbetracht des  ersteren  kann die Regierung selbst auf das Inndere der Gedanken und die verschlossensten Willensmeinungen der Untertanen, jene zu entdecken, diese zu lenken, den größten Einfluß haben; durch die, so sich aufs zweite beziehen, ihr äußeres Verhalten unter dem Zügel öffentlicher Gesetze halten; durch die  dritte  sich die Existenz eines starken und zahlreichen Volkes sichern, welches sie zu ihren Absichten brauchbar findet. - Nach der Vernunft würde also wohl die gewöhnlich angenommene Rangordnung unter den oberen Fakultäten stattfnden; nämlich zuerst die  theologische,  darauf die der  Juristen  und zuletzt die  medizinische  Fakultät. Nach dem Naturinstinkt hingegen würde dem Menschen der Arzt der wichtigste Mann sein, weil dieser ihm sein  Leben  fristet, darauf allererst der Rechtserfahrene, der ihm das zufällige  Seine  zu erhalten verspricht, und nur zuletzt (fast nur, wenn es zum Sterben kommt), obgleich es um die Seligkeit zu tun ist, der Geistliche gesucht werden; weil auch dieser selbst, so sehr er auch die Glückseligkeit der künftigen Welt preist, do, da er nichts von ihr vor sich sieht, sehnlichst wünscht, von einem Arzt in diesem Jammertal immer noch einige Zeit erhalten zu werden."
Er fährt dann, indem er von der praktischen Vernunft mit geradezu sarkastischen Worten zur Würdigung der rein wissenschaftlichen Grundlagen übergeht, fort:
    "Der Theologe (als zu oberen Fakultät gehörig) schöpft seine Lehren nicht aus der Vernunft, sondern aus der  Bibel,  der Rechtslehrer nicht aus dem Naturrecht, sondern aus dem  Landrecht,  der Arzneigelehrte seine ins Publikum gehende Heilmethode nicht aus der Physik des menschlichen Körpers, sondern aus der Medizinalordnung. Sobald eine dieser Fakultäten etwas aus der Vernunft Entlehntes einzumischen wagt, so verletzt sie die Autorität der durch sie gebietenden Regierung und kommt ins Gehege mit der philosophischen, die ihr alle glänzenden von jener geborgten Federn ohne Verschonen abzieht und mit ihr nach dem Fuß der Gleichheit und Freiheit verfährt. - Darum müssen die oberen Fakultäten am meisten darauf bedacht sein, sich mit der unteren ja nicht in eine Mißheirat einzulassen, sondern sie weit in ehrerbietiger Entfernung von sich abhalten, damit das Ansehen ihrer Statuten nicht durch die freien Vernünfteleien der letzteren Abbruch leidet."
Ich beabsichtige, im weiteren Verlauf dieser Rede noch an andere Verkleinerer des wissenschaftlichen Wertes der positiven Jurisprudenz anzuknüpfen, und diese Herabwürdigung des von mir vertretenen Wissensfachs zu widerlegen. Zuvor aber möchte ich einen Widerspruch gegen eine andere Bemerkung in derselben Schrift KANTs erheben, die sich auf das Gesetz der Teilung der wissenschaftlichen Arbeit bezieht. Zweifellos gilt das Gesetz der Arbeitsteilung nicht nur für die gewerblichen, sondern auch für wissenschaftliche Arbeiten. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß es sich auf beiden Gebieten einen höheren Gesetz unterzuordnen hat, für welches es lediglich Mittel zum Zweck ist, und dieses Gesetz heißt  Kombination  der  Arbeit.  Nur höchst beschränkte Köpfe laufen  Gefahr,  dies zu vergessen, und es ist ein ebenso geistreich wie wahrer Satz, daß, wer nur sein Fach versteht, auch das nicht versteht. Wenn nun KANT in der gedachten Schrift eine Universität mit einer  Fabrik  vergleicht, so kann ich dieses Gleichnis nur als geschmacklos bezeichnen, wenn es nicht ebenfalls rein ironisch gemeint sein sollte. Er sagt:
    "Es war kein übler Einfall desjenigen, der zuerst den Gedanken faßte und ihn zur öffentlichen Ausführung vorschlug, den ganzen Inbegriff der Gelehrsamkeit (eigentlich die derselben gewidmeten Köpfe) gleichsam  fabrikenmäßig,  durch die Verteilung der Arbeit, zu behandeln, wo, soviel es Fächer der Wissenschaften gibt, soviele öffentliche Lehrer, Professoren, als Depositoren derselben angestellt würden, die zusammen eine Art von gelehrtem gemeinem Wesen, Universität (auch hohe Schule) genannt, ausmachten."
Auch eine Fabrik schafft schließlich doch nur Nutzen und wird überall nur möglich dur die einheitliche Leitung, welche die so vielfach geteilten Arbeiten kombiniert! Wo aber wäre in der  universitas literarum  eine solche höhere Leitung zu finden, wenn nicht das einheitliche Bewußtsein die gelehrten Arbeiter selbst durchdringt und sie sozusagen zu einer kooperativen Tätigkeit, die wiederum bedingt ist durch einen gegenseitigen Austausch der Forscherergebnisse, befähigt?

Gegenüber dieser fabrikmäßigen Auffassung der wissenschaftlichen Arbeitsteilung macht ein anderer deutscher Philosoph, BENEKE, in seiner Schrift "Die Philosophie in ihrem Verhältnis zur Erfahrung, zur Spekulation und zum Leben" mit Recht folgendes geltend:
    "Allerdings wurde, wie in mechanischen Arbeiten eine höhere Kunstfertigkeit erst dadurch erworben werden konnte, daß, von der Gesamtaufgabe für das menschliche Tun, der eine dieses, der andere jenes sich als eigentümliche Aufgabe aussonderte und übernahm, so auch auf dem Gebiet des Geistigen eine höhere Vollkommenheit nur durch eine Teilung der Arbeit möglich. Solange noch der Naturforscher zugleich auch Geschichtsforscher und Selbstbeobachater und Staatsmann und Ökonom usw. war, solange konnte in keinem dieser Erkenntnisgebiete ein bedeutender Fortschritt gewonnen werden; und bis auf unsere Zeiten hin, und vorzüglich gerade im Verlauf des letzten Jahrhunders, sind alle Wissenschaften in immer mehrere Unterabteilungen zerfallen, deren Bearbeitung sich diejenigen Männer, welche sich dafür besonders berufen glaubten, mit Ausschluß aller übrigen gewidmet haben. Aber scon in den mechanischen Künsten sehen wir aus dieser Teilung der Arbeit mancherlei verderbliche Wirkungen für die  Bildung  des Menschen zum Menschen' hervorgehen. Oder, wie könnte sich wohl derjenige wahrhaft zum Menschen ausbilden, welcher in einem ewigen Einerlei täglich sechzehn Stunden lang nichts als einen einzelnen Teil einer Nadel zu fertigen verdammt ist! - Noch bedeutender aber, nicht nur für die arbeitenden Individuen, sondern auch für  das Werk selbst  müssen die Nachteile aus dieser beschränkenden Isolierung auf dem Gebiet des Geistigen werden, wo es ja nicht bloß, wie dort, darauf ankommt,  daß,  sondern in noch höherem Maß  wie  und in  welchem Geist  etwas geschieht, soll es nicht, statt die Erkenntnis weiter zu führen, vielmehr durch einseitige und beengende Vorurteile die Entwicklung derselben vielleicht für lange Zeit hin hemmen und verderben."
Aus diesem Grund erscheint mir ein anderes Bild, das der große Reformator wissenschaftlicher Forschung, BACON, von der  universitas literarum  entwirft, geschmackvoller und zutreffender zu sein, als der kantische Vergleich mit einer Fabrik.
    "Die Verzweigungen und Einteilung der Wissenschaft", sagt er, "sind nicht wie verschiedene Linien, die in einem Winkel zusammenlaufen, und sich nur in einem Punkt schneiden, sondern sie gleichen  Ästen eines Baumes,  die in einem Stamm zusammentreffen, der in seinem Umfang stetig emporwächst, bevor er zur Unterbrechung gelangt, und sich in Äste und Zweige spaltet."
Ich gebe diesem Bild den Vorzug, da es die Gesamtwissenschaft als ein organisches Wesen kennzeichnet und daran erinnert, daß in diesem Baum der Erkenntnis eine Zirkulation der Säfte von der Wurzel aus bin in die Zweige und, da wir ja wissen, daß der Baum noch mehr Stoff, Licht und Wärem durch die Blätter aufnimmt, als durch die Wurzel, auch umgekehrt stattfindet. Auch erinnert mich dieses Bild an einen geistvollen Satz des Rechtsphilosophen FRIEDRICH JULIUS STAHL:
    "Der Fortschritt in der Natur (also auch in der Wissenschaft) ist nicht gleich einer regelmäßigen Linie, wo durch zwei Punkte der dritte bestimmt ist, sondern gleich dem lebendigen Wachstum einer Pflanze, aus deren Keim und Stamm die Blüte und Frucht nicht erschlossen werden kann."
Um den wissenschaftlichen Wert der Jurisprudenz zu bestimmen, müßten wir, um in diesem Bild zu bleiben, die Stelle angeben, an der sie aus diesem symbolischen Baum der Gesamtwissenschaft sich als besonderer Ast abzweigt."

Die berühmte Definition unserer Wissenschaft aus dem Anfang der Institutionen JUSTINIANs als "divinarum atque humanarum rerum notitia, justi atque injusti scientia" [die Wissenschaft von den göttlichen und den menschlichen Dingen, vom Gerechten und Ungerechten - wp], oder aus dem Anfang der Pandekten, woselbst ULPIAN die Jurisprudenz als "vera, non simulata philosophia" [eine wahre und keine nicht bloß vorgetäuschte Philosophie - wp] bezeichnet, ist nicht ohne Widerspruch geblieben, sie hat vielmehr oftmals entgegengesetzte, umso geringschätzigere Bemerkungen hervorgerufen. In seiner zweifellos geistreichen Rede pro MURENA spricht schon CICERO von der Jurisprudenz als von einer  tenuis scientia,  einer schwächlichen oder dünnen Wissenschaft, er macht den Juristen lächerlich als Buchstabengelehrten,  auceps syllybarum,  er erdreistet sich sogar, das ganze römische Recht in wenigen Wochen zu lernen, meint aber, daß es sich nicht der Mühe lohnt. Allgemein bekannt sind auch die Verse, welche GOETHE seinem Schüler in  Faust und Mephisto  in den Mund legt, GOETHE, der doch selbst das juristische Studium hinter sich hatte und eine kurze Zeit lang sogar die Rechtsanwaltschaft in seiner Vaterstadt ausgeübt hat:
    Der  Schüler  sagt:
    "Zur Rechtsgelehrsamkeit kann ich mich nicht bequemen."

     Mephisto: 
    "Ich kann es Euch so sehr nicht übel nehmen:
    Ich weiß, wie es um diese Lehre steht.
    Es erben sich Gesetz und Rechte
    Wie eine ew'ge Krankheit fort!
    Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte
    Und rücken sacht von Ort zu Ort.
    Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;
    Weh dir, daß du ein Enkel bist!
    Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
    Von dem ist, leider! nie die Frage."
Ich darf hierbei wohl nicht einmal allzugroßen Wert darauf legen, daß es der Teufel ist, der sonst im  Faust  uns als innerlicher Verächter, ja als Feind jeder "Vernunft und Wissenschaft" entgegentritt, dem GOETHE diese Verse in den Mund legt; denn wie uns die Tischreden oder Kolloquien Dr. MARTIN LUTHERs berichten, hat leider auch dieser Mann Gottes einmal gesagt: "Studium juris, im Rechten studieren, wäre ein  sordidum,  unflätig und garstig Ding, da man nur Genuß, Geld und Gut mit suchte, daß man reich würde."

Da sprach PETER WELLER, so heißt es weiter, der bei ihm im Hause war und zu Tisch ging: "Er hätte den Sinn nicht, und täte es nicht. Da rief Dr. MARTIN LUTHER überlaut und sprach zu seinem Famulo:  "Wolf,  gehe und laß die große Glocke läuten und bring Wasser her, daß man ihn kühle!" Da er aber darauf bestand und es teuer bejahte, fragte ihn der Doktor: "Ob er allein von wegen der Erkenntnis der Händel, und daß er wissen möge, was Recht ist, oder Lust halben in Jure studierte? So wäre er unsinnig!"

Endlich schrieb vor etwa dreißig Jahren ein ebenfalls nicht ganz unbekannter Philosoph, seinem Beruf nach sogar preußischer Staatsanwalt, JULIUS von KIRCHMANN, eine Abhandlung unter dem Titel: "Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft." - CICERO freilich hat seinen Ausfall gegen die Jurisprudenz, wie es sich auch zumal für einen alten Römer ziemte, wieder gut gemacht, durch vortreffliche Bemerkungen in seinem Buch vom vollkommenen Redner, wo er unserem Studium gegenüber dem Vorwurf der Trockenheit, den man heutzutage noch so oft vernimmt, so gar nachrühmt, daß ihm "mira quaedam in cognoscendo suavitas et delectatio" [da ist eine wunderbare Köstlichkeit und Freude im Erwerb von Wissen - wp] beiwohnt.
    "Mögen auch alle", so schreibt er, "meine Meinung bespötteln: mir scheint das einzige Büchlein der zwölf Tafeln, wenn man die Grundlagen des Rechts und das Wesen der Gesetze ergründen will, sowohl durch das Gewicht seines Ansehens als auch durch die Reichhaltigkeit seines Nutzens ganze philosophische Bibliotheken aufzuwiegen." - "Was kann herrlicher sein, als wenn ein in Ehrenämtern und öffentlichen Diensten ergrauter Mann vollberechtigt ist von sich zu rühmen, daß bei ihm, wie bei jenem Pythischen Apoll des Ennius, wenn nicht Völker und Könige, so doch alle seine Mitbürger Rat suchen, "zuvor unsicher in ihren eigenen Interessen, erlangen sie bei mir Einsicht und Verständnis, so daß sie nicht blindlings in verwickelte Angelegenheiten hineintappen. Denn zweifellos bildet das Haus eines guten Juristen ein Orakel für die Bürgerschaft." (Cicero, de oratore I, 44, 46)
In der Tat bin ich auch der Ansicht, daß der Ekel eines GOETHE, LUTHER und von KIRCHMANN an der Rechtswissenschaft nur dann berechtigt wäre, wenn sie je vergäße, ein Ast am grünen Baum der lebendigen Wissenschaft zu sein und abgetrennt von der Verbindung mit anderen Wissenschaften austrocknen könnte zu einer "grauen Theorie" und Scholastik des gesetzlichen Buchstabens. Daß aber dies nicht geschieht, dafür wird sowohl die Wissenschaft als auch die Praxis einstehen.

In einem interessanten Versuch, den von BACO angedeuteten Baum des Gesamtwissens zeichnerisch darzustellen, den der amerikanische Nationalökonom CAREY im Anfang seiner Sozialökonomie bietet, sehen wir die Jurisprudenz sich ein wenig oberhalb der Biologie und der Sozialwissenschaft als Nebenzweig der Nationalökonomie abgliedern.

CAREY hat die  Geschichtswissenschaft  übersehen. Die positive Rechtswissenschaft ist vor allem eine  geschichtliche  Wissenschaft. Alles wirkliche Recht ist nur als geschichtliches Ergebnis und Entwicklungsprodukt zu begreifen. Nicht nur die wissenschaftliche Rechtfertigung eines Gesetzes, auch die unmittelbar praktische Anwendung, die Auslegung fordert von uns nicht selten den ganzen Aufwand der historischen Kritik. Vielleicht ist eine Zeit von so unaufhörlicher gesetzgeberischer Tätigkeit, wie sie leider der moderne Parlamentarismus, der gewissermaßen von stetigen gesetzgeberischen Neuerungen lebt, mit sich führt, mehr als jede andere in Gefahr, diesen geschichtlichen Charakter der Rechtswissenschaft zu vergessen. So sind fast alle Gesetz des deutschen Reiches von relativ sehr modernem Datum. Gleichwohl müßte ich jede Auslegung dieser Gesetz als banausisch bezeichnen, die sich mit den parlamentarischen Motiven begnügen und vergessen könnte, daß auch die Wurzel des modernsten Gesetzes in einem historischen Untergrund ihre Fasern ausbreitet, den man nur ganz oder gar nicht verstehen kann. So kann insbesondere niemand in den wahren Geist des neuen bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich eindringen, der nicht sowohl dessen germanistische wie dessen romanistische Wurzeln bis in ihre feinsten Fasern verfolgt hat.

Diese, wir wir sehen, auch von SCHOPENHAUER erkannte nahe Beziehung der Rechtswissenschaft zur Geschichte ein für allemal festgeknüpft zu haben, ist das große Verdienst der sogenannten historischen Rechtsschule, als deren glänzendsten Stern wir Deutschen einen SAVIGNY und PUCHTA rühmen dürfen. Zweifellos war diese historische Schule im wahren Sinn des Wortes bei weitem von einem philosophischeren Geist durchdrungen, als die von ihr verdrängte sogenannte naturrechtliche Schule, von deren Irrtümern mir ein KANT auch in dem anfangs gedachten Aufsatz bedenklich angesteckt erscheint, jene Schule des 18. Jahrhunderts, an die auch die abstrakten Theorien eines ROUSSEAU erinnern, welche von einem allgemeinen und notwendigen Recht träumte, das aufgebaut aus sogenannten aprioristischen Maximen unabhängig von Zeit und Raum gleich den Formeln der Mathematik für alle Zeiten und Völker gelten kann. Jenes sogenannte Naturrecht war eine  simulata,  keine  vera philosophia;  seine trockenen formalistischen Deduktionen, zumal in seinen letzten Vertretern sind denkbar unerquicklichste Gelehrtenstubenscholastik, (1) vielfach streifen sie gar das Lächerliche, wie z. B. die kantische Deduktion des ihm zufolge allgemein notwendigen Rechtssatzes: Kauf bricht Miete, zu dessen Gegenteil jetzt das deutsche bürgerliche Gesetzbuch zurückgekehrt ist. (Vgl. meinen Aufsatz "Kant als Rechtsphilosoph" im  Juristischen Literaturblatt  1904, Nr. 153). Jene Schule vergaß eben, daß  alle  Erkennen ein Anerkennen voraussetzt oder, um ein berühmtes Wort KANTs selber zu wiederholen, daß zwar Anschauungen ohne Begriffe blind,  Begriffe  aber ohne  Anschauungen leer sind. 

Übrigens vertrat schon im 18. Jahrhundert MONTESQUIEU mit seinem berühmten Werk "Vom Geist der Gesetze", das immer noch einige Beachtung verdient, insofern eine richtigere Anschauung der Rechtswissenschaft und Politik, als er die historischen, und in Wahrheit natürlichen Bedingungen der Variabilität der Rechtsformen zu ergründen versuchte. Der Hauptmangel seines Werkes besteht, wie STAHL in seiner  Rechtsphilosophie,  Bd. 1, Seite 235 richtig hervorhebt, vor allem in der ungenügenden Würdigung des  Nationalcharakters  oder noch mehr, wie ich selbst in meinem Buch "Natürliche Grundlagen des Rechts und der Politik" betone, in unzureichender Erkenntnis der Bedeutung des  Rassen charakters. Nach MONTESQUIEU ist es, wie STAHL sagt, nur ein Chaos zufälliger Dinge, welche dazu beitragen, die Weise des Denkens und Handelns zu bestimmen, Klima, Gesetze, Staatsmaximen, alte Beispiele, Sitten und Gebräuche, Religion (deren bestimmter Inhalt hier auch als zufällig entstanden angesehen wird). Aus all dem bildet sich für MONTESQUIEU das, was wir Nationalcharakter nennen. -
    "Der Nationalcharakter im wahren Sinn aber ist, was eine Nation als das höchste Ziel ihres allgemeinen Strebens erkennt und will. Er ist ihre totale Gesinnung, ihre sittliche Bestimmtheit. Diese wirkt alle bedeutenden Erscheinungen des Lebens - virtus est actuosa  [Tugendhaft sein heißt aktiv sein. - wp] - und so geht auch das Recht aus ihr als ein Ganzes hervor. Dieses Ziel und dieses Urteil haben ihr nicht zufällige Umstände beigebracht, Klima und alte Gebräuche; sie sind ihr von einer lenkenden Absicht angewiesen. Nationalcharakter ist der göttliche Beruf einer Nation."
Das Verhältnis der Geschichte zur Rechtswissenschaft ist aber auch keineswegs das einer bloß äußerlichen sogenannten  Hilfs wissenschaft etwa so wie man der lateinischen Sprache für das  corpus juris,  der französischen für den  code civil  ihren Nutzen einräumt, obwohl diese Sprachen wieder entbehrt werden können, wenn es genügend Übersetzungen gibt, da sie nicht das, was man wissen muß, selbst sind, sondern nur dazu führen sollen. Man stellt sich hierbei immer die Geschichte, die Vergangenheit bloß als  transitorische  Ursache des Gegenwärtigen vor. Dieses aber ist bloßes Produkt, das einmal entstanden, nichts mehr mit jener Ursache zu tun hat; in der Rechtsübung nun kommt es ja gewiß nur auf das  Jetzige, Geltende  an. In dieser Vorstellungsweise sagt FEUERBACH:
    "Die Geschichte erklärt, wie etwas nach und nach  geworden,  wie und was dieses Etwas  sei,  lehrt die Geschichte nicht. Was der Geschichte angehört, ist schon dem Leben abgestorben."
Allein die Vergangenheit ist nicht bloß eine transitorische, sie ist  immanente  Ursache der Gegenwart, sie ist  als  Vergangenheit, als das was sie war, noch in ihr enthalten. Wie das gegenwärtige Dasein eines Menschen wesentlich Einnerung seines vergangenen ist, und er nicht mehr derselbe sein könnte, ohne sie, so ist  auch  der gegenwärtige Rechtszustand in seinem innersten Wesen zugleich eine Erinnerung des Vergangenen,' die sich bei jedem Menschen wirksam äußert: er ist, um es entschieden auszudrücken, nicht bloß das, was er ist, sondern auch das, was er  war. - Die geschichtliche Kenntnis ist also kein bloßes Hilfsmittel, sie ist ein integrierender Teil der juristischen Kenntnis.' - So betrachtet, kann freilich nur die Geschichte des  geltenden  Rechts eine Seite der Rechtswissenschaft sein; denn nur sie ist ja in seinem Dasein immanent.
    "In der gleichen Art auch eine Kenntnis des indischen, persischen Rechts usw. zu fordern, wie  Thibaut  oder  Feuerbach,  wird man sich nur bewogen finden, wenn man die Rechtsgeschichte nicht als wesentlichen Teil der Rechtsbildung, sondern als ein Bildungsmittel überhaupt betrachtet. Mit Recht beschränkt daher  Savigny  das geschichtliche Studium für uns auf das römische und germanische Recht, denn nur sie sind es, in welchem das Wesen  unseres  Rechts liegt." (F. J. Stahl, Rechtsphilosophie II, Seite 173)
Über die Verschiedenheit der beiden letzteren wichtigsten historischen Faktoren unseres geltenden positiven Rechts und ihres Gegensatzes zum sogenannten Naturrecht kann ich micht nicht versagen, noch folgende ebenso zutreffende wie geistreiche Bemerkungen des zitierten Rechtsphilosophen einzuflechten:
    "Das  römische Recht  erkennt wie das Naturrecht ein Recht des Individuums unabhängig von jeder göttlichen Anforderung über ihm. Wo immer aber ein Mensch sich in irgendeiner Beziehung von dem Zusammenhang losreißt, in dem er geschaffen worden ist, da entsteht ein Mangel an Bildungstrieb und Bildungskraft, und damit abstrakter Charakter. Bei  den alten Germanen obwohl sie an Unabhängigkeit und Liebe derselben die Römer überragten, war dennoch jedes Recht zugleich von der  Pflicht  durchdrungen; die  Ehre - vielleicht nur ein anderer Ausdruck für Freiheit - die ihr Leben beseelt, ist nicht bloß ein unantastbares Gut, sondern auch eine heilige Macht, die zu jeder Tat ebensosehr auffordert, als sie zu ihr bevollmächtigt. Deswegen befindet sich die germanische Rechtsansicht immer in der Totalität des Lebens, jede Befugnis entsteht, bildet sich fort, ändert sich mit den mannigfachen Beziehungen, die um sie herum leidend und tätig an sie rühren, und wird unausgesetzt zugleich mit ihr beurteilt. Es entstehen durch die Wechseldurchdringung mit ihnen immer nur Arten der Anwendung, die keineswegs schon ursprünglich mit ihrem bloßen Dasein bezeichnet waren.

    Das  römische Recht  dagegen, da es jede Befugnis isoliert faßt, hat eben damit von allen lebendigen Verhältnissen abstrahiert, und kann nur das enthalten, was unabänderlich mit dem Begriff gegeben ist. Darin besteht das abstrakte Fortschließen der Römer von den vorhandenen Rechten und Gesetzen, welche deren Inhalt bezeichnen (die logische Geschlossenheit des römischen Rechts!). Mit der Leere des Lebens ist der logische Charakter überall von selbst eingetreten; denn er ist nicht etwas erst zu Erwartendes, sondern nur, was immer noch übrig sein muß. Wenn die Kraft, die Neues bildet, zurückweicht, so bleibt alles, wie es ist, und in einen unverrückbaren Begriff gebannt stehen. Soweit sind das römische Recht und das sogenannte  Naturrecht  übereinstimmend. Allein das römische Recht faßt nur die  schon vorhandene  Befugnis isoliert auf. Sein abstraktes Fortschließen beginnt also erst von  den gegebenen Rechten und Gesetzen.  Diese selbst aber - die Basis der Folgerungen - sind ihm aus der Totalität des Bewußtseins und der Verhältnisse der  Nation  hervorgegangen. Patriotismus, Religion, Familie, Nahrungsweise, diese lebendigen Ursachen haben sie bestimmt, die ihrer Natur nach etwas  positives  wirken, etwas, was sie nicht selbst schon sind, erzeugen müssen. So hat es eine Mannigfaltigkeit von Rechten und Gesetzen, deren jedes sein eigenes Dasein hat, die in keinem Begriff - man mag unterlegen, was man will, enthalten sind.

    Dagegen das sogenannte  Naturrecht  isoliert den Menschen von vornherein. Was sich hier ergibt, ist schon  abstrakt entstanden."  (F. J. Stahl, a. a. O., Bd. I, Seite 105).



Was die Rechtswissenschaft von der Geschichtswissenschaft unterscheidet, ist dies, daß  Klio  [griech. Muse der Geschichtsschreibung - wp] ihren Blick ausschließlich auf die Vergangenheit richtet; einer Rechtswissenschaft aber, die dasselbe tun würde, würde es ergehen wie dem Weib  Lots  [zur Salzsäure erstarren - wp].

Man hat die einseitig-historische Schule nicht ganz mit Unrecht wegen ihres allzu konservativen, um nicht zu sagen, quietistischen [asketisch-mystisch - wp] Charakters getadelt. Es hing dies zusammen mit ihrer fast romantisch zu nennenden Anschauung vom geschichtlichen Werden als einer stillen, geheimnisvollen Entfaltung in aller menschlichen Vorstellungsweise und allen geselligen Zuständen, dem unfaßbaren Wachstum der  Pflanze  ähnlich. Es ist ein Verdienst von JHERINGs durch seine kleine Schrift: "Der Kampf ums Recht" mit dieser einseitigen Geschichtsauffassung gebrochen zu haben. Das Wesen der Geschichte ist die  Tat

Ein berüchtigtes Wort HEGELs: "Was ist, ist vernünftig," wird vielfach als Ausdruck jenes falschen  Positivismus  der rein historischen Rechtsanschauung erwähnt; vielleicht geht man mit diesem Vorwurf zu weit; denn dem Wesen dieser Schule dürfte eher der Satz entsprechen: "Gerecht ist, was der Bildungsstufe des Volkes und der Zeit entspricht." Immerhin war bei der Haltung der historischen Schule ein Mißverständnis ihres Charakters im Sinne des ersten HEGELschen Satzes nichts ausgeschlossen, der eher geeignet sein dürfte, die entgegengesetzte Sentenz des größten Revolutionärs der deutschen Dichtung, GOETHEs  Mephistopheles  zu provozieren, der bekanntlich im  Faust  spricht:
    "Alles, was entsteht,
    Ist wert, daß es zu Grunde geht."
Die richtige Anschauung liegt in der Mitte, man darf niemals vergessen, daß jeder Stillstand Rückschritt ist, und daß wir, um an HERAKLIT zu erinnern, nicht zweimal in denselben Punkt des Zeitstromes tauchen können. Bekannt ist, mit welcher Heftigkeit von SAVIGNY in seiner Broschüre: "Der Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" gegen den schon seiner Zeit mit großem Enthusiasmus von THIBAUT verfochtenen Gedanken eines deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs auftrag. Soviel wahre Bemerkungen auch jene Abhandlung enthält, in der Hauptsache hat doch die Geschichte selbst sich für THIBAUT entschieden, und noch vor Ablauf des Jahrhunderts, dessen Anfang jenen Gelehrtenstreit sah, ist das deutsche bürgerliche Gesetzbuch entstanden, weil das gegenwärtige Geschlecht seiner bedurfte trotz mancher, ihm unzweifelhaft anklebenden menschlichen Unvollkommenheiten.

Nachdem ich das Fehlen der Geschichtswissenschaft an CAREYs Stammbaum der Wissenschaft genügend gerügt haben dürfte, bleibt mir aus dem soeben ausgesprochenen Grund seine Zeichnung umso wertvoller, wenn sie zunächst die nahe Verwandtschaft der Rechtswissenschaft mit der  Nationalökonomie  hervorhebt. Auch der englische Philosoph JOHN STUART MILL, selber ein hervorragender Ökonomist, hat die Bedeutung dieser Wissenschaft für die allgemeine Bildung des Juristen mehrfach vortrefflich beleuchtet. In seiner Rektoratsrede sagt er z. B.:
    "Zu den wichtigsten Hilfswissenschaften (des Juristen und Politikers) gehört die Nationalökonomie; die Lehre von den Quellen und den Bedingungen des Reichtums und des materiellen Wohlstandes für vereinigte Massen menschlicher Wesen. (NB. Ich würde sie im Gegensatz zu dieser kosmopolitien Definition lieber mit  Franz von List  nennen: die Lehre von den materiellen Garantien der  Volks kraft.) Dieses Studium kommt dem Rang einer (exakten) Wissenschaft in dem Sinne, in welchem wir dieses Wort auf die Naturwissenschaften anwenden, näher als irgendein anderes mit Rechtswissenschaft und Politik verknüpftes Fach. Ich darf nicht erst viele Worte machen über die wichtigen Lehren, welche sie für die Lebensführung und für die Wortbestimmung von Gesetzen und Einrichtungen erteilt, noch auch über die Notwendigkeit, all das zu wissen, was sie lehren kann, um vom Verlauf menschlicher Dinge richtige Anschauungen zu gewinnen oder Pläne zu deren Verbesserung zu entwerfen,  welche die Probe der Tatsachen bestehen können.  Dieselben Personen, welche die Logik verschreien, werden Sie in der Regel auch vor der politischen Ökonomie warnen. Sie ist gefühllos, werden sie Ihnen sagen; sie erkennt unliebsame Tatsachen an. Was mich betrifft, so kenne ich nichts Gefühlloseres als das Gesetz der Schwere: es bricht der besten und liebenswürdigsten Person ohne Skrupel den Hals, wenn sie auch nur einen Augenblick vergißt, dasselbe zu beachten. Auch Wind und Wogen sind höchst gefühllos. Würden Sie nun denen, welche auf See gehen, raten, das Vorhandensein von Wind und Wogen zu leugnen, oder vielmehr aus demselben Nutzen zu ziehen und die Mittel zum Schutz vor den Gefahren, welche sie bedrohen, ausfindig zu machen? Mein Rat an Sie ist, die großen Schriftsteller über politische Ökonomie zu studieren und alles, was Sie in ihnen Wahres finden, recht fest zu halten; und verlassen Sie sich darauf: wenn Sie nicht schon selbstsüchtig und hartherzig sind, die Nationalökonomie wird Sie nicht dazu machen."
Der Jurist bedarf dieser Kenntnisse nicht nur, um an der sogenannten Klinke der Gesetzgebung selbst mitzuwirken; kein Richter oder Anwalt wird ohne zureichendes nationalökonomisches Verständnis eine privatrechtliche Norm in ihrem Zusammenhang richtig erfassen und anwenden können. Denn der nationalökonomische oder zumindest zivilpolitische Zweck bildet den Schlüssel zu ihrem Verständnis. So habe ich beispielsweise in meiner Studie über den  Scheck  mich genötigt gesehen, der eigentlichen Aufgabe, die ich mir gesteckt hatte, der Untersuchung seiner  juristischen  Natur, einen fast ebenso umfangreichen Abschnitt über seine  wirtschaftliche  Natur vorauszuschicken, da es mir unmöglich erschien, ohne eine Veranschaulichung der letzteren die erstere darzustellen.

Gegenüber der Nationalökonomie verzeichnet CAREY, ähnlich wie SCHOPENHAUER in seinem System der Wissenschaftslehre, in seinem Bild des Baumes der Wissenschaften als einen Nebenast der Rechtswissenschaft, mit dem sie in unmittelbarster Zirkulation steht, die  Psychologie Zunächst brauche ich nur an die  Beweis fragen zu erinnern, um den praktischen Juristen darauf hinzuweisen, daß er in jedem einzelnen Fall, wo es sich, sei es nun um die Würdigung von Zeugenaussagen oder auch um den sogenannten Indizienbeweis handelt, praktischer Psychologe sein muß. Und ich berühre hier einen Punkt, in dem auch die Theorie selber mehr und mehr erkennen muß und wird, daß sie Fortschritte nur in engerem Anschluß an die moderne, sich nicht unerheblicher Fortschritte rühmende empirische Psychologie erwarten darf. Zunächst scheint es vor allem das Strafrecht zu sein, für welches diese Einsicht in erfreulicher Weise zu dämmern beginnt. Die Verhandlungen des letzten deutschen Juristentages über die Zurechnungsfähigkeit sogenannter minderwertiger Personen unter Mitwirkung hervorragender Psychiater legen dafür Zeugnis ab. Allein der Zusammenhang der Rechtswissenschaft mit der Psychologie reicht über diese verhältnismäßig äußerlichen Anknüpfungspunkt, die in der Praxis den Juristen so oft in Verkehr mit dem Psychiater bringen, weit hinaus. Niemand hat dies vortrefflicher begründet als der schon einmal erwähnte Psychologe BENEKE in seiner Schrift "Die Philosophie in ihrem Verhältnis zur Erfahrung, zur Spekulation und zum Leben", in der er, übrigens nach dem Vorlauf des ARISTOTELES die Psychologie gewissermaßen als das Fundament aller sogenannten Geisteswissenschaften bezeichnet.
    "Allerdings", schreibt er Seite 18f a. a. O., "sind es zunächst und unmittelbar nicht wie in der Moral  Gesinnungen, Gemütsbewegungen, Willensbestimmungen,  welche die Rechtsphilosophie (und das positive Recht) zu betrachten und zu regeln hat; sondern sie hat zunächst und unmittelbar  äußere  Verhältnisse zu betrachten und einzurichten,  Dinge  zu verteilen, zum Besitz und zur Bearbeitung, und mithin allerdings mit Gegenständen zu tun, welche außerhalb des menschlichen Geistes liegen. Aber in  welcher Beziehung  hat sie die selben  aufzufassen und zu ordnen? - Für die Dinge selbst ist es unstreitig gleich, ob sie mir gehören oder einem anderen, ob sie dieser genießt oder jener, ob sie in der einen oder in der anderen Art angewandt und verwaltet werden. Also nur insofern haben Recht und Politik die Dinge und deren Verhältnisse in Betracht zu ziehen, als dieselben für  Menschen  förderlich und hemmend wirken, oder in ihren Beziehungen auf menschliche  Empfindungen, Triebe, Neigungen, Bestrebungen  usw. Oder worum dreht sich aller Streit über  Mein  und  Dein,  wenn nich darum, daß dieser eine gewisse Förderung nicht entbehren will, und jener auch nicht, so daß also durch einen unparteiischen Richter entschieden werden muß, wem diese Entbehrung aufzuerlegen sei. Und ebenso alle übrigen in diesen Kreis von Wissenschaften gehörigen Probleme. Die Einrichtung des Staates bezweckt nichts anderes, als die möglich größte Förderung in jeder Beziehung: in Hinsicht des Physischen und Geistigen, des Vorübergehenden und Dauernden, der Zustände und der inneren Vervollkommnung usw.; und darauf, als auf den gemeinsamen Mittelpunkt, werden zuletzt auch alle Fragen der Politik zurückgeführt werden müssen. Durch ein Vrebrechen ist diese Förderung irgendwo unterbrochen oder gehemmt worden; dies ist, soweit es angeht, rückgängig zu machen, und überdies für die Zukunft zu verhüten: zu verhüten unstreitig, wie man es auch sonst anstellen möge, indem wir auf Menschen, den Gesetzen der menschlichen Natur gemäß, einwirken. In welcher Art auch alle diese Verhältnisse sich häufen und verwickeln mögen, und selbst wenn wir, über den einzelnen Staat hinaus, zu den Verhältnissen zwischen mehreren Staaten fortgehen: überall finden wir nur menschliche Empfindungen, Bestrebungen, Entschließungen, Neigungen, Leidenschaften usw., also, um es mit einem Wort zu sagen,  psychische Phänomene,  welche als solche gewürdigt und behandelt werden wollen. Oder sind es etwa andere Gesetze, nach denen bei einem  Volk  sich gewisse Bedürfnisse erzeugen, gewisse Forderungen befriedigen, diese Forderungen beschwichtigen lassen, als nach welchem es bei  einzelnen  geschieht? Allerdings haben wir dort ausgedehntere, kompliziertere, mannigfaltigere Empfindungen und Gemütsbewegungen, während sich dieselben hier einfacher darstellen; aber die  Grundelemente  und die  allgemeinen Entwicklungsgesetze  sind doch unstreitig die gleichen. Was uns hier also not tut, was durch die gewiß nicht erfreulichen Verhältnisse unserer Zeit besonders dringend gefordert wird, ist eine  höhere moralische Arithmetik,  welche alle jene Komplikationen menschlichen Empfindens und Strebens in einem klaren Licht zu würdigen und Maßregeln anzugeben verstände,  um die unruhige krankhafte Aufregung zu einem gesunden, ruhigen Fortschritt zurückzuführen.  War die Politik bisher überwiegend eine Wissenschaft von  materiellen  Verhältnissen, so muß sie jetzt überwiegend zu einer Wissenschaft von  geistigen  Verhältnissen werden, also zu einer  angewandten Psychologie;  und wenn bis jetzt für die Lösung dieser unendlich wichtigen Aufgaben erst wenige unvollkommene Versuche gemacht werden, wenn jene  moralische und arithmetische Arithmetik  kaum über das erste Addieren und Subtrahieren hinausgebildet ist: so ist dies nur aus der Unvollkommenheit, teils der bisherigen Psychologie, teils der bisherigen historischen Auffassung zu erklären, und es lassen sich mancherlei Vorbereitungen, sowohl vom Abstrakten wie vom Einzelnen aus nachweisen, welche, wenn sie nur erst weitergeführt sein und auf der Bahn ihres Strebens zusammentreffen werden, für die höhere Ausbildung dieser Wissenschaft die erfreulichsten Aussichten eröffnen. Auf jeden Fall wird alles Licht, welches wir dafür zu erwerben hoffen dürfen, nur ein Reflex sein von demjenigen, welches unerschöpflich und ohne Unterlaß von der  Erkenntnis unserer selbst  ausströmt."
Bislang hat wesentlich nur die  pathologische  Psychologie gewissermaß als äußerliches Bindeglied zwischen der Rechtswissenschaft und Medizin gedient und der praktischen Verständigung zwischen dem Richter und seinem psychiatrischen Gehilfen, dem medizinischen Sachverständigen, hat sehr oft auf beiden Seiten ein Mangel rein psychologischen Wissens im Licht gestanden. Es mehren sich erfreuliche Anzeichen, z. B. verweise ich auf die von Herrn Professor Dr. jur. FINGER und Professor Dr. med. HOCHE herausgegebenes  "Juristische psychiatrische Grenzfragen"  und ähnliche Publikationen der letzten Zeit, daß hier mit der Zeit durch gegenseitige Annäherung auf gewissermaßen gemeinschaftlichem Boden ein lebhafter Gedanken-Austausch und - Ausgleich sich anbahnt.

Im übrigen ist ja die sozusagen freundnachbarliche Beziehung der Jurisprudenz zur  Medizin  in der sogenannten gerichtlichen Medizin, die ein Mitglied der medizinischen Fakultät auch zum Mitglied der juristischen stempelt, alten Datums. Hierdurch berührt sich also die  Naturwissenschaft  in ihrem zweifellos praktisch wertvollsten Zweige, zunächst freilich etwas äußerlich, als Hilfswissenschaft mit der Jurisprudenz. Dem erstaunlichen Aufschwung der Naturwissenschaft im letzten Jahrhundert und dem Einfluß, den die naturwissenschaftliche Denkweise auf unsere gesamte moderne Weltanschauung sich erobert hat, dürfte aber noch eine bedeutsamere, sozusagen prinzipiell wissenschaftliche Annäherung gerecht werden müssen, die in letzter Linie in den Gedanken ausläuft, daß nach streng wissenschaftlicher Denkweise auch die Geisteswissenschaften sich von den Naturwissenschaften im engeren Sinne nicht durch absolute Gegensätze, sondern nur durch die größere Kompliziertheit der den Gegenstand der Forschung bildenden Gesetze unterscheiden. Selbstverständlich liegt mir nichts ferner, als den schon von KANT gelegentlich mit Recht getadelten Versuch zu billigen, die wohlbegründeten Grenzen der einzelnen Wissenschaften verwischen zu wollen. Wenn beispielsweise bei einzelnen juristischen Schriftstellern der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts es Mode wurde, mit geistreichen oder geistreich sein sollenden Analogien und "mit der Terminologie der niederen Wissenschaften" zu spielen, so ist das von RUDORFF in der Vorrede zu seiner römischen Rechtsgeschichte mit Recht getadelt worden; bestenfalls konnte eine solche Bildersprache nur zur Belebung des Stils dienen, wenn sie nicht gar dem nüchternen und klaren Erfassen der Begriffe schadete.

Gibt man aber zu, daß die Psychologie als Wissen von den Gesetzen der menschlichen Natur eine Voraussetzung der Rechtswissenschaft bildet, so ist auch eine Berührung mit der  Physiologie  infolge der unstreitigen Wechselbeziehungen zwischen Leib und Seele nicht zu vermeiden, und wenn das Recht ein Erzeugnis des ganzen, geistig-leiblichen Menschen ist, noch weniger mit der  Anthropologie,  deren rein naturwissenschaftliche Basis die  Biologie  überhaupt bildet.

Ein berühmter Vorstoß in diesem Sinne ist nun seitens der durch die Gedanken DARWINs und seiner Nachfolger so außerordentlich angeregten Biologie selber bekanntlich in den letzten Jahren zu verzeichnen, indem vermutlich auf Anregung HAECKELs der verstorbene Groß-Industrielle KRUPP eine nicht unerheblich Summe für Preise über die beste Erörterung der Frage stiftete:  "Welchen Einfluß hat die Deszendenztheorie  [Abstammungslehre - wp]  auf die innere Gesetzgebung und politische Entwicklung der Staaten?"  Die inzwischen unter dem Gesamttitel:  Natur und Staat  in Jena erschienenen Schriften freilich, welche don dem aus einem Zoologen, einem Nationalökonomen und Historiker zusammengesetzt gewesenem Schiedsgericht mit Preisen ausgezeichnet sind, können im Großen und Ganzen nur als Fiasko der hier erzählten Annäherung bezeichnet werden; ich verweise dafür des näheren auf die von mir in der "Polit. Anthropolog. Revue" III, Nr. 7 veröffentlichte Kritik dieser Jenenser Preisschriften, die neben den von hervorragenden Anthropologen wie AMMON, de LAPOUGE, WILSER und WOLTMANN veröffentlichten Kritiken sogar noch als besonders milde erscheinen darf. Während die mit geringeren Preisen bedachten Arbeiten, insbesondere die an zweiter Stelle gekrönte von Dr. MATZAT sich als rechtsphilosophischer Dilettantismus verworrenster Art offenbaren, hat es dem an erster Stelle gekrönten Dr. SCHALLMAYER zwar nicht an umfassender Belesenheit in einer das doch schließlich gestellte gesetzgeberische und politische Problem gar nicht berührenden rein naturphilosophischen Literatur, wohl aber an rechtswissenschaftlichen Vorbedingungen für die Erfassung desselben gemangelt, und es genügt mir, an dieser Stelle darauf hinzudeuten, daß er - das einzige wissenschaftlich ersichtliche Ziel der Kulturentwicklung ist ihm die Verwirklichung möglichst großer  Quantität organischen  Lebens - von seinem Standpunkt aus die  chinesischen  Staatseinrichtungen gewissermaßen als mustergültig hinstellt.

Eine von mir selber vor kurzem veröffentlichte Arbeit über  "Die natürlichen Grundlagen des Rechts und der Politik"  darf ich gewissermaßen als einen Protest gegen diesen Versuch einer krass materialistisch-naturwissenschaftlichen Reform der Rechtswissenschaft und Gesetzgebung bezeichnen. SCHALLMEYER begeht überdies den vom eigenen Ausgangspunkt aus ganz unlogischen Fehler, die  Rassen unterschiede und  Rassen werte in ihrer Bedeutung für Recht und Staat völlig zu übersehen.

Um meine eigene Auffassung der Bedeutung der  Biologie  für das Recht hier einigermaßen anzudeuten, zitiere ich aus meiner erwähnten Schrift (Seite 15f) folgende Sätze:
    "Wir können aus den sogenannten Prinzipien der  Deszendenztheorie  nur insofern etwas für die Gesetzgebung lernen, wie der Mechaniker und Baumeister etwas lernen kann aus den physikalischen Gesetzen, denen das ihnen für die Ausführung ihrer Ideen zur Verfügung stehende Material gehorcht. Die Unkenntnis dieser biologischen Gesetze, vor allem die Nichtbeachtung der entwicklungsgeschichtlich gegebenen  Rassen unterschiede war der Hauptfehler des sogenannten Naturrechts, das also gerade von diesem Standpunkt aus diese Bezeichnung am wenigsten verdiente, ein wahrer  lucus a non lucendo  [Das Wort für "Hain" kommt nicht von "Leuchten". - wp].
Der Erste, der diese schwache Seite des Naturrechts erkannte, war anscheinend MONTESQUIEU, dessen geistreiches Werk  De l'esprit des lois  jedoch über nebensächlichen Einflüssen des Klimas, der geographischen Lage usw. die Hauptsache, nämlich die Differenz der Rassen übersah.

Umgekehrt aber gilt es auch, den Fehler derjenigen Geschichts- und Rechtsphilosophen zu vermeiden, die in geschichtlichen Entwicklungen nichts anderes als Naturprozesse erblicken, und die Eigengesetzlichkeit des menschlichen Handelns verkennen. Wir lehnen damit von vornherein jenen Evolutionismus ab, der jede Entwicklung deshalb, weil sie geschehen ist, auch für notwendig erachtet und der sich dementsprechend vermißt, aus einer überdies dürftigen Erkenntnis der die Vergangenheit beherrschenden Entwicklungsfaktoren die Bahn dieser Entwicklung für die Zukunft mit apodiktischer Gewißheit zu bestimmen. Diese der  Autonomie  des menschlichen Geistes nicht Rechnung tragende Richtung halten wir besonders dann für gefährlich, wenn sie sich mit dem Vorurteil - oder soll ich gar Aberglauben sagen? - eine unbedingten notwendigen  Fortschritts  verknüpft, mit jenem bedenklichen Positivismus, der das Überleben schlechthin, weil es sich rein objektiv als ein Überleben der Passendsten begreifen läßt, für gleichbedeutend nimmt mit einem Überleben der Besten. Die sittliche, wertschätzende Beurteilung soll mit der kausalen zwar verknüpft, aber nicht verwechselt werden.

Es liegt hiernach auf der Hand, daß eine wissenschaftliche Verwertung der sogenannten Prinzipien der Deszendenztheorie für Recht und Politik ihren Ausgang vom Standpunkt des Juristen und Politikers, nicht von dem des bloßen Naturforschers nehmen muß, mit anderen Worten, daß der erstere, nicht der letztere am besten in der Lage ist, zu beurteilen, ob und wie weit diese sogenannten Prinzipien  Rechtserheblichkeit  beanspruchen. Zweifellos können sie diese nur insoweit beanspruchen, als sie  nicht  "Prinzipien" im Sinne KANTs, sondern  Naturgesetze  darstellen, mit denen unsere Initiative, unser "freier Wille" rechnen muß, um die Zwecke (Ideale), die er sich setzt, erreichen zu können.

"Freier Wille ist freilich ein dem Naturforscher anstößiges Wort; wie angeblich LAPLACE geäußert haben soll, er habe mit den besten Fernrohren im Weltall keinen Gott entdecken können, so läßt sich "freier Wille" auch weder mit Tele- noch mit Mikroskopen, auch nicht unter Zuhilfenahme von Röntgenstrahlen nachweisen; aber vielleicht kann dem  naturphilosophischen  Denken doch die Möglichkeit einer derartigen Kraft durch die Analogie der  Variabilität  näher gebracht werden, auf deren Wesen wir in den folgenden Untersuchungen näher eingehen werden. Diese Variabilität braucht nicht als  unbegrenzte  Möglichkeit gedacht zu werden; als solche ist sie nur denkbar unter Zuhilfenahme der Unendlichkeit in räumlicher und zeitlicher Beziehung; neben oder richtiger innerhalb der absoluten Freiheit des Ganzen kann nämlich eine relative (bedingte) Freiheit seiner Teile sehr wohl bestehen. Ich zitiere hier einen Satz aus meinem Aufsatz über den Freiheitsbegriff im "Hochland der Gedankenwelt" (Seite 108), auf welchen ich wegen der näheren, hier zu weit ablenkenden Begründung verweise.

Die menschliche Freiheit ist durch die Kausalität der Natur und durch die Kausalität insbesondere auch der menschlichen  Psychologie  bedingt. Der Charakter des Menschen ist aber  variabel;  die deterministische Behauptung einer Konstanz des Charakters steht auf einer Stufe mit der gerade durch den Darwinismus beseitigten Lehre von der Konstanz der Arten. Freilich die Änderung des Charakters ist, wenigstens in der Regel, an das Gesetz der Stetigkeit gebunden,  natur non facit saltus  [Die Natur macht keine Sprünge. - wp], - und plötzliche "Mutationen" gehören wenigstens zu den Ausnahmen. Sehr treffend sagt Dr. PLOETZ im Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, Bd. 1, Seite 3:
    "Eine Beherrschung, ja auch nur die kleinste Förderung unserer Entwicklung, kann sich erst aufbauen auf einer  Erkenntnis der kausalen Abhängigkeiten in die unser geistiges und körperliches Leben hineingehangen ist."
Nun aber stammen wir, wie schon der alte HOMER sagt, "weder von der Eiche noch von einem Felsen". Vielmehr sind wir alle Entwicklungsprodukte eines uns immanenten biologischen Lebensträgers (der Rasse) im stetigen Kampf mit äußeren Einflüssen. Darum erfordert gesetzgeberische (staatspädagogische) Weisheit nicht minder wie die Pädagogik überhaupt (auch die Selbsterziehung), eine Wissenschaft der biologischen Erfahrungstatsachen und Gesetze. Wir erfüllen also mit ihrer Betrachtung den Wahlspruch, den SOKRATES einer Inschrift in Delphi entnahm: "gnothi seauton" [Erkenne dich selbst! - wp].

Ich unterschreibe somit die Worte GABRIEL TARDEs (Transformations du droit, Seite 100):
    "Es ist notwendig, die physiologische Natur des Menschen zu kennen, nicht um seine gesellschaftlichen Einrichtungen sklavisch danach zu regeln, sondern um diese Kenntnisse bei der Verwirklichung gesellschaftlicher Zwecke, kollektiver Absichten, die sonst chimärisch werden können, zu beachten, sie im Auge zu behalten bei Plänen nationaler oder humanitärer Verbesserungen, wie sie aus der Berührung vereinigter Geister entspringen und sich in anderen ausbreiten können. Aus rein vitalen Trieben entstanden, unterwerfen sich die gesellschaftlichen Funktionen diesen anfangs nur, um sich später von ihnen zu befreien und sie ihrerseits zu unterjochen."
Ich bestreite der sogenannten Naturwissenschaft, die in Wahrheit hier nur eine verkappte materialistische  Naturphilosophie  ist, das Recht, uns neue Moral- und Rechtsprinzipien aufzuoktroyieren, die der bekannten Anti-Moral des unglücklichen Sophisten NIETZSCHE nur zu ähnlich sehen und schließlich darauf hinauslaufen, die Idee der Gerechtigkeit durch diejenige der  raison du plus fort  [das Recht des Stärkeren - wp] (in SCHALLMEYERs Sinn der großen  Masse zu ersetzen.

Scheinbar können sich die Beziehungen der Rechtswissenschaft zu den Natur wissenschaften nicht weiter erstrecken, als die soeben besprochenen biologischen Grundfasern der Biologie und damit der Psychologie, welche letztere ja neuerdings, wie schon längst ein geistreicher Naturphilosoph, KAPP (Grundlinien einer Philosophie der Technik, Seite 5) bemerkt hat, mit der Biologie in einer Verschmelzung begriffen ist, sodaß "beide, nicht wie bisher getrennt, sondern zu einem Lauf vereinigt in das weite Strombett der Anthropologie münden, um eine höhere Phase des Selbstbewußtseins als  physiologische Psychologie  einzuleiten". In der Tat ist nicht einzusehen, welche unmittelbare Bedeutung für die rein juristische Forschung beispielsweise die Kenntnis der  mechanischen  oder  chemischen  oder  physikalischen Naturgesetze  haben könnte. Allein vom  praktischen  Juristen, vom Richter und Rechtsanwalt, werden wir eine zureichende Allgemeinbildung auch auf diesen Gebieten der Naturerkenntnis schon deswegen fordern müssen, weil ihn das moderne Verkehrsleben jeden Augenblick mit Rechtsverhältnissen in Berührung bringt, deren tatsächliche Voraussetzungen er ohne solche allgemeine Kenntnisse nicht einmal soweit beherrschen könnte, um den sachverständigen Gutachten mit Verständnis folgen zu können. Für Praktiker, von denen einige durch eine vielseitige Betätigung in Rechtsstreitigkeiten aller Art sich oft genötigt sehen, nicht wenig Zeit und Mühe auf die Bewältigung des zur Einsicht in das faktische einer Rechtsfrage zugrunde liegende Material zu verwenden, bedarf diese Bemerkung keiner weiteren Begründung.

Dem juristischen  Praktiker  drängt sich am nachdrücklichsten die Wahrheit der von JUSTINIANs Definition auf, daß unsere  ars boni et aequi  [die Kunst gut und gerecht zu sein - wp] zugleich  omnium rerum humanarum notitia  [das ganze menschliche Wissen - wp] ist. Daraus ergibt sich auch die so oft mit einem gewissen Neid von den Vertretern anderer Wissensfächer beanstandete Tatsache, daß der Staat für die höhere Leitung fast sämtlicher Verwaltungszweige (mit Ausnahme des militärischen) seine Auslese fast ausschließlich aus  juristischen  Praktikern der Verwaltung oder Justiz trifft. Hier, in der höheren Leitung, reicht eben, da es darauf ankommt, das einzelne Glieder der Maschine im richtigen Anschluß mit den übrigen zu erhalten, die einseitige Kenntnis des Spezialtechnikers nicht aus; der letztere kennt nicht nur nicht den  juristischen  Mechanismus, dem sich beispielsweise der rein technische unterordnet, ihm fehlen in der Regel auch jene vielseitigen Kenntnisse anderer scheinbar seinem Beruf sehr fremder Verhältnisse, über welche ein überall im Kampf der Interessen, sei es nun als Advokat, Richter oder Verwaltungsbeamter erprobter Jurist präsumtiv [vermutlich - wp] verfügt.

Daß aber der Geist der sogenannten  technischen Wissenschaften  dem Geist der rein theoretischen Rechtswissenschaft nicht entgegengesetzt ist, hat wohl am zutreffendsten KAPP in seinem geistvollen Buch "Grundlinien einer Philosophie der Technik" dargelegt, in dessen letztem Kapitel er uns den modernen Staat selber als vollendetsten Ausdruck eigentlich technischer Kunst und zugleich als sogenannte Organ-Projektion des Menschen schildert und "die viel bedeutenden Beziehungen zwischen den beiden großen Gebieten, deren Schöpfer der Mensch ist, zwischen dem machinalen und dem politischen" aufdeckt. Ich greife nur folgenden Satz heraus:
    "Wir halten jeden Zweifel daran, daß nach dem Zusammenhang von Staats- und Maschinenwesen das eine im anderen sein  höheres Verständnis  gewinne, für beseitigt. Haben doch beide ihr gemeinschaftliches Vorbild an ein und demselben hohen Urbild disziplinarer Vollschlüssigkeit! Denn was auf dem Gebiet der Technik und in dem des Staates die  eine  der paarigen Kongruenz entsprechende Weise der Bewegung, das ist für das leibliche Organ der Zweck, welcher zugleich die einzige Bestimmung des Auges, und so auch vermag weder in der Maschine eines der paarigen Elemente, seiner ursprünglichen kinematischen Form zuwider, auf eine andere Form von Paarschluß einzugehen, noch ist in der sittlichen Welt zu erwarten, der Gehorchende werde zwei verschiedenen Befehlen zugleich genügen können. Über die Bedeutung der  gegenseitigen Beziehung von Staats- und Maschinenwissenschaft  sagt die  Theoretische  Kinematographik: Das ganze innere Wesen der Maschine ist das Ergebnis einer planvollen Beschränkung, ihre Vervollkommnung bedeutet die zunehmende kunstvolle Einengung der Bewegung bis zum vollen Ausschluß jeder Unbestimmtheit. An dieser Steigerung der Beschränkung hat die Menschheit durch Aeonen gearbeitet. Suchen wir eine Parallele hierzu auf anderen Gebieten, so können wir sie wohl in dem großen Problem der menschlichen Gesittung finden. Dieser gehört im Grunde genommen die Entwicklung des Maschinenwesens als ein Faktor an, indem sie zugleich ihr verschärftes Gegenbild vor Augen führt.

    Auch  von Jhering  in seinem  Zweck im Recht diesem großartig angelegten, leider unvollendet gebliebenen Versuch einer  Systematik der menschlichen Zwecke  hat diese innere Verwandtschaft der Mechanik und Rechtswissenschaft nicht verkannt; es ist mehr als ein bloßes Gleichnis, wenn er von einer  sozialen Mechanik  spricht, "es gibt ebensogut eine  soziale  Mechanik, um den menschlichen Willen, wie eine  physikalische,  um die Maschine zu zwingen. Diese soziale Mechanik ist gleichbedeutend mit der Lehre von den Hebeln, durch welche die Gesellschaft den Willen für ihre Zwecke in Bewegung setzt, oder kurz gesagt: der Lehre von den  Hebeln der sozialen Bewegung."  (Zweck im Recht I, Seite 95).

    Dabei ist freilich die auch allgemein längst erkannte (vgl. z. B. Lotzes Mikrokosmus Unterordnung des Mechanischen unter das Organische wohl zu beachten; die richtige organische Lebensauffassung, ein wissenschaftlich abgeklärter Vitalismus, schließt die  mechanische  (materialistische) Anschauung nicht aus, sondern ein; der Mechanismus wird irrtümlich nur durch seine einseitige,  ausschließliche  Geltendmachung, welche den höheren Zweck, dessen Diener er ist, leugnet.

    Der Staat, wenn auch noch so unvollkommen oder verkommen, bleibt Organismus und ist nie eine Maschine. Überhaupt bezeichnet das Maschinenmäßige, auf den einzelnen wie auf die Gesellschaft angewandt, meistenteils einen hohen Grad von Gedankenlosigkeit und gewohnheitlichem Schablonentum (2). Staat sein heißt sich als Organismus verhalten. Deshalb kanner er nie ganz mechanisch sein, wohl aber gibt es innerhalb seiner Maschinen, die als Einzelmechanismen vom Einzelorganismus unterschieden sein müssen, die aber als Ganzes im Ganzen der vom Staat selbst tauglich zum Angeeignetwerden zugerichteten Stoffe einer Selbsterhaltung sind." (Kapp. a. a. O., Seite 344) (3)
Wie sich der Mechanismus (und die sogenannte mechanische, materialistische Weltanschauung) zum richtig verstandenen Vitalismus (und zu einer philosophisch geklärten monistischen Weltanschauung) verhält, so auch insbesondere der so vielfach zu Unrecht verleumdete  Utilitarismus  der Sittenlehre und Rechtslehre eines BENTHAM und von JHERING zu einer im letzten Grund idealistischen Ethik und Rechtsphilosophie. Ich kann hier nicht umhin, meinen ehemaligen Lehrer von JHERING gegen KOHLERs Rechtsphilosophie, Enzyklopädie, Bd. I, Seite 13 zu verwahren, wo der "Zweck im Recht" mit einer "Armenleutestube" verglichen wird, deren Boden mit Sand bestreut, deren Fensterchen mit den dürftigsten Vorhängen versehen, soweit es die Genierlichkeit verlangt, und wo alles zusammengepaßt ist nach dem Nützlichen usw.

Sowohl BENTHAM wie von JHERING, der zwar BENTHAM nicht erwähnt, aber zweifellos von ihm beeinflußt sein dürfte, gehören zu den größten Meistern, die jemals ihre Lebensarbeit darauf verwendet haben, über Rechtswissenschaft und Gesetzgebungskunst Licht zu verbreiten, und ihr Verständlichkeit für den Laien ist fürwahr kein Nachteil gegenüber der von KOHLER wieder auf den Schild erhobenen unverständlichen Weisheit und Begriffsdialektik eines HEGEL; beider Methode ist es, den Gegenstand von der Grundlage aus aufzubauen, welche dieser in den Tatsachen des menschlichen Lebens hat, und man tut ihnen gewiß Unrecht, wenn man ihr sogenanntes Nützlichkeitsprinzip in einem grobmateriellen Sinn deutet. Die von beiden klargestellte Einsicht, daß die  Gesellschaft  das Zwecksubjekt der Sittlichkeit und desjenigen erzwingbaren Ausschnitts derselben ist, den die Rechtslehre umfaßt, und daß ein mit diesen Zwecken der Gesellschaft koinzidierender  intelligenter Egoismus  des Individuums bürgerliche Tugend heißt, läßt sich mit einer höheren Auffassung der Ethik sehr wohl vereinigen. Auch der beiden genannten Staatsdenkern durchaus kongeniale JUSTUS MOESER bezeichnet in seinen Ausführungen über die  soziale Zweckmäßigkeit der Religion  die letztere als eine notwendige Einrichtung der Politik. Er bemerkt jedoch zutreffend:
    "Ja, die Religion ist eine Politik,  aber die Politik Gottes in seinem Reich unter den Menschen.  Und wenn wir Gott dienen, ihn lieben und preisen, so befördern wir damit Gottes Ehre; und Gottes Ehre ist die  Glückseligkeit  seiner Geschöpfe."' (Vgl. meine "Natürlichen Grundlagen des Rechts und der Politik", Seite 106)
Wir sind damit zuletzt auf die enge Verwandtschaft des Rechts mit der  Moral , wie sie auch in SCHOPENHAUERs Stammbaum der Wissenschaft hervortritt, gekommen und haben somit, da im letzten Grund die Ethik nicht ohne Metaphysik gedacht werden kann, auch ihren Anschluß an die  Theologie  erreicht.

Auch die  Ethik  will als Wissenschaft anerkannt sein. Wenn sie eine Beweismethode, wie der der sogenannten exakten Wissenschaften ausschließt, so liegt es daran, daß ihren Gegenstand Imponderabilien [Unwägbarkeiten - wp] bilden, die wir nicht nur nicht auf die chemische Waage bringen können, sondern die auch für alle Zukunft jeder mathematischen Rechnung, auch der Infinitesimalrechnung entzogen bleiben werden. Gleichwohl aber gibt es moralische Wertmesser, die uns die geschichtliche Erfahrung und die geistige Entwicklung der Zivilisation an die Hand gibt und die durch diese zeitliche Bedingtheit nichts an innerer Autorität einbüßen. Denn die Geschichte ist die immanente Offenbarung des göttlichen Willens.

Daran halte ich fest, ungeachtet dessen, daß ich gleichzeitig von der wesentlichen Richtigkeit der heutigen naturwissenschaftlichen Auffassung der Schöpfung, von den kosmologischen Theorien, die man nach KANT und LAPLACE bezeichnet, bis auf DARWIN, HÄCKEL und WEISMANN, überzeugt bin; die theologisch-negative Haltung dieser Philosophen - ungeachtet aller ihrer Angriffe auf die Metaphysik sind auch sie Metaphysiker, soferns sie sich zu  negativ  apodiktischen Urteilen über das Welträtsel versteigen - kann ich nur soweit verstehen, als sie sich gegen eine kindlich naive buchstäbliche Auslegung der mosaischen Schöpfungsurkunde richtet. Nach meiner Überzeugung kann man ein gläubiger Christ und Theist bleiben unter der Anerkennung aller Forschungsresultate der positiven Naturwissenschaften, insbesondere auch des sogenannten Darwinismus. Ein gewichtiges Beispiel dafür bietet BISMARCK, der in DARWINs Lehre vom Kampf ums Dasein, wie wir aus mehrfach von ihm berichteten Äußerungen wissen, "nichts Gottloses" finden konnte, sowie von JHERING, der sich darüber in seiner Einleitung zum "Zweck im Recht" ausdrücklich geäußert hat. (4) Beide Männer waren zwar keine Philosophen vom Fache, aber sie verfügten über einen hervorragenden gesunden Menschenverstand, der die wichtigste Gabe eines guten Juristen bildet, und dieser gesunde Menschenverstand fordert, wie vortrefflich auch MONTESQUIEU zu Anfang seines immer noch beachtenswerten Werkes "Vom Geist der Gesetze" darlegt, die Voraussetzung eines  lebendigen Gottes.  Die Schöpfung eines  lebendigen  Gottes konnte aber kein totes Machwerk sein. Ein großer Dichter, dessen Jahrhundertgedächtnisfeier wir demnächst begehen, sagt:
    "Der Freiheit
    Entzückende Erscheinung nicht zu stören
    Läßt Er (der lebendige persönliche Gott) des Übels
    grauenvolles Heer
    In seinem Weltall lieben, toben, - ihn
    Den Künstler, wird man nicht gewahr, bescheiden
    Verhüllt er sich in ewige Gesetze;
    Die sieht der Freigeist, doch nicht  ihn.  Wozu
    Ein Gott? sagt er ! Die Welt ist sich genug.
    Und keines Christen Andacht hat ihn mehr,
    Als dieses Freigeists Lästerung gepriesen."
    - Schiller, in Don Carlos, III, 10 -
Zu diesen ewigen Gesetzen rechne ich auch den "Kampf ums Dasein", den "Kampf ums Recht"; über ihm waltet aber eine  höhere Gerechtigkeit;  denn die Weltgeschichte ist das Weltgericht!

Dieser höheren Gerechtigkeit soll auch der Jurist stets eingedenk sein; er hat zwar, wie schon  Jesaias  sagt, nur zu richten nach dem, was er mit den Augen sieht und den Ohren hört, er sei dabei aber stets eingedenk einer höheren Gerechtigkeit, die da richtet nach dem, was wir nicht sehen, nach unseren Gedanken und Gesinnungen. Für einen so gesinnten Juristen steht die Rechtswissenschaft auch mit der  Theologie  in einem innerlichen Zusammenhang, als dem bloß äußerlichen des Kirchenrechts.

So hat sich uns schließlich die volle Wahrheit der justinianischen Definition der Jurisprudenz bewährt als  eine Wissenschaft von den menschlichen und göttlichen Dingen. 

Vielleicht aber wird man uns nunmehr noch den Einwand nicht ersparen, daß wir so zwar der Jurisprudenz den Vorwurf der "Trockenheit" und wissenschaftlichen Minderwertigkeit nehmen, allein daß dies nur geschehen sei durch eine unerfüllbare Steigerung unserer allzu idealen Anforderungen an das juristische Studium, daß wir ähnlich wie CICERO sich seinen vollkommenen Redner uns den Juristen als einen Polyhistor denken, als einen  uomo universale  [Universalmenschen - wp] im Sinne der Renaissance, und daß ein solches Ideal zumal bei der heutigen Ausdehnung aller genannten Wissenschaften unmöglich sei. Hierauf erwidern wir: Nicht ohne Grund hat JUSTINIAN in der fraglichen Institutionenstelle  notitia  statt  scientia  gesetzt; er fordert damit nicht eine  wissenschaftliche Beherrschung  aller menschlichen und göttlichen Dinge, nicht eine die menschliche Einzelkraft übersteigende Universalität des Geistes, sondern nur eine  allgemeine Kenntnis;  und ein vortreffliches Wort hat in dieser Beziehung JOHN STUART MILL in seiner Rektoratsrede gesprochen:
    "Unter einer  allgemeinen Kenntnis  verstehe ich nicht einige wenige unbestimmte Eindrücke. Ein ausgezeichneter Mann, der Erzbischof  Whately,  hat zwischen einer  allgemeinen  Kenntnis und einer  oberflächlichen  Kenntnis richtig unterschieden. Eine allgemeine Kenntnis von einem Gegenstand haben heißt, nur die  leitenden  Wahrheiten über denselben wissen, aber diese nicht oberflächlich, sondern gründlich wissen, sodaß man einen richtigen Begriff vom Gegenstand in seinen Hauptumrissen besitzt, während man die genaueren Details denen überläßt, welche derselben zu den Zwecken ihrer besonderen Aufgabe bedürfen. Eine große Anzahl von Gegenständen bis zu diesem Grad zu kennen, ist durchaus nicht unverträglich mit der vollkommenen Kenntnis eines Gegenstandes, wie sie von denjenigen gefordert wird, welche daraus ihre hauptsächliche Beschäftigung machen. Diese Verbindung ist es, welche ein erleuchtetes Publikum gibt, einen Verein  gebildeter Köpfe,  deren jeder durch die Aneignungen in einem eigenen Fach gelehrt worden ist, was wirkliche Wissenschaft ist, und der genug von anderen Gegenständen weiß, um diejenigen herausfinden zu können, welche diese Dinge besser verstehen, als er selber. Das Maß an Wissen ist nicht gering zu schätzen, welches uns zu dem Urteil befähigt, an wen wir uns um ein Mehr zu wenden haben. Da die Elemente der wichtigeren Studien sehr weite Verbreitung haben, so finden diejenigen, welche die höheren Gipfel erstiegen haben, ein Publikum, welches fähig ist, ihre Überlegenheit zu würdigen, und vorbereitet ihrer Leitung zu folgen.  Auf eben diese Weise finden sich auch Geister, welche fähig sind, die öffentliche Meinung hinsichtlich der größeren Aufgaben des praktischen Lebens zu leiten und zu läutern.  (Und eben dies ist der ideale Beruf des Juristen, der ein  oraculum totius civitatis  [göttliche Offenbarung der ganzen Stadt - wp] sein soll!) Das Staatsleben und die bürgerliche Gesellschaft sind die zusammengesetztesten aller Gegenstände, welche dem menschlichen Geist zugänglich sind, und derjenige, welcher in denselben richtig urteilen will, wie ein Denker und nicht wie ein blinder Nachtreter einer Partei, bedarf nicht nur einer allgemeinen Kenntnis der leitenden Tatsachen im Leben, der moralischen wie auch der materiellen, sondern eines in den Grundsätzen und Regeln des gesunden Denkens bis zu einem Grad geübten und geschulten Geistes, wie ihn weder die Lebenserfahrung allein noch irgendeine einzelne Wissenschaft oder ein Zweig der Erkenntnis zu bilden vermag."
Damit bin ich zum Abschluß meiner Ausführungen gelangt, die den Zweck hatten, den Geist zu kennzeichnen, in dem ich mein eigenes Lehrfach auffasse, und die ich zugleich als "einen Beitrag zur Auslegung des § 1 J. I, 1" überschreiben könnte.

Es möge mir aber zum Schluß noch verstattet sein, hierbei die zur Zeit so brennende Frage zu berühren, welche Schulbildung von demjenigen zu fordern ist, der sich dem Studium einer so charakterisierenden Wissenschaft widmen will. Auf den ersten Blick wird es den Anschein haben, daß wir der humanistischen Vorbildung, wie sie das sogenannte klassische Gymnasium im Gegensatz zum Real-Gymnasium bietet, unter allen Umständen den Vorzug geben müssen. In der Tat ist dies auch unsere Meinung, zumal wir durch diese Art der Vorbildung den geschichtlichen Charakter der Rechtswissenschaft bei ihren Jüngern am besten gewahrt zu sehen glauben. Aber wir können diese unsere Parteinahme für das Gymnasium, für deren weitere Begründung ebenfalls die erwähnte Rektoratsrede MILLs die besten Argumente liefert, nicht ohne Vorbehalt aussprechen. Zufällig entnehme ich einem Gedenkwort meines deutschen Vorgängers an der hiesigen Universität "Zum Jahrestag von Mommsens Tod" (D. Recht VIII, 20) die Notiz, daß der berühmte Historiker die Doktorthese verteidigt hat: "Der Jurist könne vom Philologen lernen, ob dieser von ihm, sei zu bezweifeln." Bei aller gebührlichen Hochachtung vor den Verdiensten MOMMSENs für die Geschichte des römischen Rechts möchte ich lieber die Umkehrung dieser These verteidigen. Daher glaube ich auch, daß unsere humanistischen Gymnasien zum Teil wenigstens - vieles dürfte sich bereits dank der kräftigen Initiative unseres Kaisers, gebessert haben - noch an einem Übermaß philologischer Kleinkrämerei leiden.

Gewiß bietet keine der modernen europäischen Sprachen schon in rein grammatischer und syntaktischer Hinsicht eine so wertvolle Schule des Verstandes, wie die lateinische. Der Bau eines jeden Satzes wird hier eine Lektion der Logik; die verschiedenen Regeln der Sytnax nötigen, zwischen dem Subjekt und dem Prädikat eines Satzes, zwischen dem Handelnden, der Handlung und dem Gegenstand der Handlung zu unterscheiden, zu bemerken, wenn ein Gedanke den anderen einschränken oder näher bestimmen oder sich nur mit ihm verbinden will; welche Behauptungen kategorisch, welche nur bedingungsweise sind; ob es die Absicht ist, Ähnlichkeit oder Gegensatz auszudrücken, einer Mehrheit von Behauptungen einen sich verbindenden oder sich ausschließenden Sinn geben; welche Teile eines Satzes, wenn auch grammatikalisch in sich selbst vollständig, doch nur Glieder oder untergeordnete Teile der Behauptung sind, welche durch den ganzen Satz ausgesprochen wird. Solche Dinge machen den Stoff der allgemeinen Grammatik aus; und diejenigen Sprachen, welche diese Dinge am besten lehren, sind diejenigen, welche die bestimmtesten Regeln haben und für die größte Zahl von Unterscheidungen des Denkens besondere Formen bieten, sodaß wir bei Ermangelung scharfer und genauer Aufmerksamkeit auf eine jede derselben nicht vermeiden können, uns eines Sprachfehlers schuldig zu machen. Hinsichtlich dieser Eigenschaften besitzen die  klassischen  Sprachen eine unstreitige Überlegenheit über alle modernen mit Einschluß der logisch vorzüglich klaren französischen. Besonders das  Latein  kann daher als vortreffliche Vorschule des juristischen Denkens gelten, ganz abgesehen davon, daß ein Jurist, der nicht einmal die Pandekten im Urtext zu lesen verstände, immerhin eine bedenkliche Erscheinung bilden dürfte.

Andererseit aber bietet zweifellos das Realgymnasium inhaltlich erheblich mehr von demjenigen zur allgemeinen Vorbildung des Juristen nach unseren vorstehenden Ausführungen nützlichen und notwendigen Lernstoff, der in den Bereich der Nationalökonomie und der Naturwissenschaften fällt.

Seitdem das Latein längst die frühere Bedeutung einer allgemeinen Gelehrtensprache eingebüßt hat, ist auch wenigstens für den über das notwendigste Handwerkswissen hinausstrebenden Rechtsgelehrten die vollständige Beherrschung der  wichtigsten modernen Sprachen,  vor allem der  englischen  und  französischen  unentbehrlich. Es ist nun zwar richtig einerseits, daß eine gute Grundlegung im Lateinischen die gründliche Aneignung dieser Sprachen, vor allem der romanischen Sprachen außerordentlich erleichtert, andererseits, daß eine vollkommene Aneignung dieser Sprachen nur durch einen längeren oder kürzeren Aufenthalt im Ausland selbst erzielt werden kann, ein Aufenthalt, der dem zukünftigen Juristen in unserem Zeitalter des Verkehrs und der Weltpolitik auch aus anderen Gründen nicht dringend genug empfohlen werden kann -; allein, da nicht alle diesem Wunsch entsprechen können, so ist nicht zu unterschätzen, daß das Realgymnasium präsumtiv wenigstens seine Schüler in der Beherrschung der beiden wichtigsten modernen Sprachen weiter fördert, als die sogenannte lateinische Schule.

Auch die logische Disziplinierung des Geistes durch die  Mathematik die auf dem Realgymnasium intensiver gepflegt wird, als auf dem humanistischen Gymnasium ist nicht zu unterschätzen, noch weniger aber diejenige der  Experimental-Physik.  Sehr gut sagt JOHN STUART MILL mit Bezug auf letztere:
    "Ihre ganze Leistung besteht darin, dasjenige richtig zu tun, was wir alle das ganze Leben hindurch und zumeist schlecht tun. Nicht alle Menschen machen darauf Anspruch, Denker zu sein, aber alle behaupten, Folgerungen aus der Erfahrung ziehen zu können, und versuchen es auch wirklich; aber kaum einer, der nicht die Naturwissenschaften studiert hat, beginnt mit einer richtigen Vorstellung davon, was der Prozeß, welcher die Erfahrung bedeutet, wirklich ist. Wenn eine Tatsache einmal oder öfter eingetreten ist und eine andere Tatsache darauf gefolgt ist, so glauben die Leute, daß sie ein Experiment vor sich haben und auf dem richtigen Weg sind, zu beweisen, daß die eine Tatsache die Ursache der anderen ist. Wenn sie nur wüßten, welche unendlich Vorsicht nötig ist, um ein wissenschaftliches Experiment zu machen, mit welcher fleißigen Sorgfalt die begleitenden Umstände herbeigeführt und abgeändert werden, sodaß jedes Agens, ausgenommen das, welches der Gegenstand des Experiments ist, ausgeschlossen wird, oder falls störende Agentien nicht ausgeschlossen werden können, mit welcher minutiösen Sorgfalt ihr Einfluß berechnet und in Abzug gebracht werden muß, damit der Rest nichts enthält, was nicht dem einen der Prüfung unterzogenen Agens zuzuschreiben ist, - würde dies alles in Bedacht genommen, so würden die Leute sich weniger leicht der Befriedigung hingeben, daß ihre Meinungen die Beweiskraft der Erfahrung hätten; eine große Anzahl weitverbreiteter Ansichten und Generalisationen, welche in aller Munde sind, würden für ein gutes Teil weniger sicher gehalten werden, als die Voraussetzung sie annimmt."
MILL verwertet nun diese Frucht der Experimental-Physik in sehr einleuchtender Weise für die  politischen  Wissenschaften und schließt seine Ausführungen mit dem Satz:
    "Alle echte politische Wissenschaft ist in einem Sinn der Redensart  a priori,  da sie aus den Tendenzen der Dinge selber abgeleitet ist, - Tendenzen, die entweder durch unsere allgemeine Erfahrung von der menschlichen Natur erkannt werden, oder als Ergebnis einer Zergliederung des geschichtlichen Verlaufs, der hierbei als eine fortschreitende Entwicklung betrachtet wird.  Sie verlangt daher eine Verbindung von Induktion und Deduktion, und der Geist, welcher ihr gewachsen ist, muß in beiden wohl geschult sein.  Vertrautheit mit dem wissenschaftlichen Experiment leistet nun wenigstens den Dienst, einen heilsamen Skeptizismus gegen die Schlüsse einzuflößen, welche eben nur der oberflächliche Schein der Erfahrung an die Hand gibt."
Aus diesen Erwägungen kann ich diejenigen Voraussetzungen, über die sich die Minister der Justiz und des Unterrichts in Preußen für die Zulassung zum Studium der Rechtswissenschaft geeinigt haben, nämlich die subsidiäre Gleichstellung der Realgymnasien und höheren Realschulen mit den humanistischen Gymnasien, obwohl sie vielfach beanstandet worden ist, nur für ein durchaus gerechtfertigtes Experiment erachten.

Die in der Bekanntmachung der Minister der Justiz und des Unterrichts vom 1. Februar 1902 aufgestellten Grundsätze sind nämlich folgende:
    1. Die geeignetste Anstalt zur Vorbildung für den juristischen Beruf ist das humanistische Gymnasium.

    2. Zum Rechtsstudium werden außer Studierenden, welche das Zeugnis der Reife von einem deutschen humansistischen Gymnasium besitzen, auch solche Studierende zugelassen, welche das Zeugnis der Reife von einem deutschen Realgymnasium oder von einer preußischen Ober-Realschule erworben haben.

    3. Den Studierenden der beiden letzten Kategorien sowie denjenigen Gymnasialabiturienten, deren Reifezeugnis im Lateinischen nicht mindestens das Prädikat "genügend" aufweist, bleibt es bei eigener Verantwortung überlassen, sich die für ein gründliches Verständnis der Quellen des römischen Rechts erforderlichen sprachlichen und sachlichen Vorkenntnisse anderweitig anzueignen.
Zweifellos handelt es sich auch hier zunächst nur um ein Experiment, aber um ein solches, das einer wahrhaft liberalen und modernen Auffassung der Universitätsbildung entspricht und ansich deren Niveau nicht herabzudrücken riskiert. Sollte sich dieses Experiment dadurch bewähren, daß auch aus den Reihen der Realschüler praktisch und theoretisch tüchtige Juristen hervorgehen, welche den vielseitigen Anforderungen des Lebens an die  militia togatae  [Staatsdienst - wp] gewachsen sind, so ist gewiß zu hoffen, daß im Interesse der zunächst freilich dadurch gestörten einheit der deutschen Universitätsvorschriften auch die wenigen einstweilen noch am Erfordernis ausschließlich humanistischer Schulbildung festhaltenden Bundesstaaten nachfolgen werden.
LITERATUR Ludwig Kuhlenbeck, Die Rechtswissenschaft in ihren Beziehungen zu anderen Wissenschaften, Jena 1905
    Anmerkungen
    1) SCHOPENHAUER charakterisiert sie zutreffend mit seinem kräftigen Stil: "Um die einfachen menschlichen Lebensverhältnisse, die den Stoff (des Rechts) ausmachen, also Recht und Unrecht, Besitz, Staat, Strafrecht zu erklären, werden die überschwänglichsten, abstraktesten, folglich weitesten und inhaltsleersten Begriffe herbeigeholt, und nun aus ihnen bald dieser, bald jener  Babelturm in die Wolken  gebaut, je nach der speziellen Grille des jedesmaligen Professors. Dadurch werden die klarsten, einfachsten, und uns unmittelbar angehenden Lebensverhältnisse unverständlich gemacht, zum großen Nachteil der jungen Leute, die in einer solchen Schule gebildet werden; während die Sachen selbst höchst einfach und begreiflich sind." (Parerga II, Seite 256)
    2) Man vgl. hiermit meine Bemerkung in "Natürliche Grundlagen des Rechts und der Politik", Seite 25, Anm. über die falsche (materialistische) Maschinentheorie des Lebens.
    3) Welche Folgerungen sich hieraus für die so sehr umstrittene Konstruktion der  juristischen Person  ergeben, kann ich hier nicht weiter ausführen. Der denkende Lehrer wird bereits erkennen, daß meine Begriffsbestimmung der juristischen Person ("Von den Pandekten zum BGB", Bd. 1, Seite 176) als einen spezifisch juristisch-technischen  Mechanismus  durchaus nicht, wie einige Kritiker gemeint haben, mit der sogenannten Fiktionstheorie zusammenfällt, vielmehr der germanistischen Auffassung (GIERKE) von ihrem  organischen  Charakter lediglich eine sie vom letzten Rest scheinbarer Mystik reinigende Klärung hinzufügt.
    4) Vgl. von JHERING, Zweck im Recht (I. Teil, Seite XIII): "Ich meinerseits messe mir kein Urteil über die Richtigkeit der Darwinschen Theorie an,  obschon die Resultate, zu denen ich meinerseits in Bezug auf die historische Entwicklung des Rechts gelangt bin, sie auf meinem Gebiet im vollsten Maß bestätigen.  Aber wenn die Richtigkeit derselben mir auch felsenfest feststände, ich wüßte nicht, wie mich dies in meinem Glauben an  einen göttlichen Zweckgedanken  nur im geringsten beirren sollte. In der Monas, die nach  Häckel  mit Notwendigkeit zum Menschen führen soll, hat Gott den Menschen vorausgesehen, wie der Bildhauer im Marmor den  Apollo  oder, wie  Leibniz  bereits sagte, in  Adam  hat Gott das ganze Menschengeschlecht vorgebildet und gewollt."