ra-2AristotelesK. GareisE. PieronG. SchmollerGerechtigkeit    
 
PHILIPP LOTMAR
Die Gerechtigkeit

"Recht und Moral ist nicht logische Notwendigkeit - denn z. B. aus dem  Begriff  des Diebstahls folgt keineswegs die Strafe - sie ist auch keine rein natürliche, d. h. ohne menschliches Zutun sich vollziehende Notwendigkeit, wie etwa der Kapuziner in  Wallensteins  Lager meint, wenn er sagt: Auf das Unrecht folgt das Übel, wie die Träne auf die Zwiebel - sie ist auch keine mathematische Notwendigkeit, wie, daß dem größten Winkel im Dreieck die größte Seite gegenüber liegt - sie ist nur praktische Notwendigkeit oder  Zweckmäßigkeit." 

"Daß der Darlehensempfänger dem Darleiher Zinsen zahlt, ist ebenfalls keine Forderung der Gerechtigkeit, da man nicht sagen kann, daß dem Darlehensgeber für seine ihm unter den gegebenen Umständen notwendige Handlung samt ihrer Wirkung, der Kapitalentbehrung, irgend etwas gebührt. Aber der gegen den Darlehensempfänger geübte Rechtszwang zur Zinszahlung ist als zweckmäßig gerechtfertigt, wenn sich zeigen sollte, daß ohne diesen Zwang die Geldbesitzer ihr Geld nicht verleihen, und die Überlassung desselben an Andere von der bürgerlichen Gesellschaft erstrebt wird."

"Alle sind Götzendiener, Einige der Ehre, Andere des Interesses, die Meisten des Vergnügens. Der Kunstgriff besteht darin daß man diesen Götzen eines Jeden kennt, um ihn mittels desselben zu bestimmen. Weiß man, welches für Jeden der wirksame Anstoß ist, so ist es als hätte man den Schlüssel zu seinem Willen."


Geehrte Damen und Herren!

Wer über die Gerechtigkeit einen Vortag zu halten in Aussicht gestellt hat, befindet sich in der drückenden Lage, Erwartungen erregt zu haben, die er nicht zu erfüllen vermag. Denn werden nicht Viele, die von so einem Plan hören, alsbald fragen, was denn über einen Gegenstand Neues zu sagen sein wird, welcher jedem Menschen vertraut, und dessen Name ein mit und ohne Andacht viel gebrauchtes Schlagwort ist (1). Und wer wird nicht auf diese Voraussetzung die Erwartung bauen, daß der Vortragende doch noch etwas bisher nicht Beachtetes oder Hervorgehobenes über die Gerechtigkeit auf dem Herzen hat, das er vor ein Publikum zu bringen die Gelegenheit sucht. Denkt sich der Vortragende seine Zuhörer also vorbereitet und gespannt, so muß er, wie gesagt, in Verlegenheit sein, weil er vor die Wahl gestellt ist, entweder mit dem Anspruch, wirklich etwas Neues zu bieten, aufzutreten, oder aber der erwähnten Voraussetzung mit der gewagten Behauptung entgegenzutreten, daß sein Gegenstand am Ende doch nicht zu den allgemein und genugsam bekannten gehört.

Freilich an der allgemeinen Hochschätzung der Gerechtigkeit fehlt es heute nicht und hat es, scheints, nie gefehlt. Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit! welch' weltumfassender, herzerbender Dreiklang! Wahrheit der Erkenntnis, Schönheit der Empfindung, Gerechtigkeit der Handlung, wer priese nicht diese Ideen und freute sich nicht, wo sie in Erscheinung treten! Auch der Athener, welcher ARISTIDES "den Gerechten" nicht kannte und gleichwohl in die Verbannung schicken half, war kein Feind der Gerechtigkeit, er tat es nur, weil ihm - wie er sagte - mißfile, daß ARISTIDES vor Anderen den Beinamen des Gerechten zu erlangen getrachtet hat (2).

Nein, vom fernsten Altertum bis zur Gegenwart, im Orient wie im Okzident hat Gerechtigkeit als ein köstliches Gut gegolten, dessen Besitz die meisten für sich in Anspruch nehmen oder zu erlangen streben. Und wer auch, bescheiden, sich nicht rühmen mag, in allen Stücken nach der Gerechtigkeit zu leben, oder auch nur ein "gerechter Kammacher" zu sein, der möchte doch als ihr Freund gelten, den Sinn für sie haben und des Gerechtigkeitsgefühls teilhaftig sein. Dieses Gefühl, reagiert gegen die Ungerechtigkeit in wechselnder Stärke, vom leisen Zweifel und der Mißbilligung bis zur Entrüstung und zur Empörung, ist aber dort am meisten ausgebildet, wo es nachhaltig erregt bleibt und durch die von  Anderen  erduldete Ungerechtigkeit ebenso verletzt wird, als ob diese von seinem Träger selber erlitten würde. Für den wahrhaft Gerechten wird dabei auch einerlei sein, ob er für seine Person eine gleiche Ungerechtigkeit zu fürchten hat, oder ob er dagegen gesichert ist.

In jeder Moral - wenigstens der Kulturvölker - so viel sie auch von den anderen abweicht, wird die Gerechtigkeit als  Tugend  gepriesen und ihre Ausübung dringend empfohlen (3). Sie bildet nach einem bekannten Sprichwort das Fundament der Staaten, die wanken und zusammenstürzen, wo die Gerechtigkeit leidet, während sie da am besten bestellt sein sollen, wo die Gerechtigkeit waltet (4). Ihre Verwirklichung soll die eigentliche Aufgabe des Staates (5) wie die Bedingung eines wirklichen Fortschritts der Menschheit sein (6). Und Polytheisten wie Monotheisten erschien die Gerechtigkeit als eine so schöne und erhaben Eigenschaft, daß sie dieselbe vor allem ihren  Göttern  zuschrieben. Was die Menschen an Ihresgleichen so hoch schätzten, mußte im höchsten Maß dem idealisierten Menschenbild gegeben sein (7).

Bei HOMER, dann bei PLATO und ARISTOTELES, in der hebräischen Poesie, im alten wie im neuen Testament und bei Kirchenvätern treffen wir die Gerechtigkeit noch in einem viel weiteren Sinn an, als  wir  mit dem Wort zu verbinden pflegen. Dort ist  der  Gerechte,  der  Tugendhafte, und die Gerechtigkeit erscheint als Inbegriff aller Tugenden. "In der Gerechtigkeit ist jegliche Tugend enthalten", sagt ein altgriechischer Dichter. Und so denkt auch der Psalmist, wenn er singt (I, 6): "Der Herr kennt den Weg der Gerechten, aber der Gottlosen Weg vergeht". Und denselben weiten Sinn haben die Worte JESU: "Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit", und: "Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden". Ebenso ist der Gerechte, dessen Schlaf gerühmt wird und der sich auch seines Viehs erbarmt, der Tugendhafte überhaupt. Es braucht kaum bemerkt zu werden, daß wir uns hier  nicht  mit dieser Gerechtigkeit, als Universaltugend, zu befassen haben (8). Woher die Begriffserweiterung gekommen ist, wäre leicht zu zeigen; inzwischen spricht für den hohen Wert, den man auf die Gerechtigkeit in unserem  engeren  Sinn legt, daß ihr Name zu einem die  ganze  Tugendreihe umspannenden werden konnte.

Die allgemeine Hochschätzung, deren die Gerechtigkeit genießt, überhebt nun zwar denjenigen, der sie zum Thema genommen hat, der Notwendigkeit erst um die Gunst seiner Zuhörer für sie zu werben, oder gar sie gegen Verkleinerungen in Schutz zu nehmen. Vor Anhängern der Gerechtigkeit braucht keine Lobpreisung derselben unternommen zu werden. Auch kann es sich hier nicht um eine Moralpredigt, sondern ausschließlich darum handeln, das wahre Wesen unseres Gegenstandes zu finden und klar zu machen.

Der Name der Gerechtigkeit erinnert zuallererst an das Recht, und die Justiz, die nach der  justitia  oder Gerechtigkeit benannt ist, hat der gemeinen Annahme nach die Aufgabe, durch die Verwirklichung des Rechts die Gerechtigkeit zu pflegen, Gerechtigkeitspflege zu sein. Gilt doch auch THEMIS, die Göttin der Gerechtigkeit, als Schutzpatronin und Wächterin der  Justiz.  Wenn man zuerst wahrnimmt, daß die Gerechtigkeit von der Rechtsprechung erwartet wird, so findet man bald danach, daß die Forderung der Gerechtigkeit nicht auf Urteile beschränkt wird, die in Prozessen oder Rechtsstreitigkeiten von einem staatlichen Gericht erlassen werden, daß vielmehr auch von anderen Urteilen verlangt wird, daß sie gerecht sind. Von einem Zeugen oder einem Sachverständigen wird man freilich nur Wahrheit, nicht Gerechtigkeit fordern. Aber nicht weniger gerecht als des staatlichen Richters, soll des privaten Schiedsrichters Urteil ausfallen. Auch der Examinator und der Rezensent, wie jeder Kritiker und Präsident soll beim Richten und Entscheiden die Gebote der Gerechtigkeit befolgen (9), und selbst vom Poeten, dem eine besondere Lizenz zusteht, verlangt das Publikum, daß er seinen Gestalten Gerechtigkeit widerfahren läßt. Auch in diesem Fall bleiben wir noch in der Nähe der Justiz, wenn wir bedenken, wie der Dichter über seine Geschöpfe zu  Gericht  sitzt, sie siegen oder büßen läßt, ihnen Kränze oder Dornenkronen aufs Haupt legt. Und ebenso stellen sich die Menschen den Gott, den sie als allgerechten preisen, als obersten  Richter  vor, der "wägend mit gerechten Händen" belohnt und verdammt.

Aber wie weit sind wir schon von unserem Ausgangspunkt entfernt, wenn wir von gerechten Vorwürfen, Forderungen und Beschwerden sprechen, wenn eine Gegenwehr, ein Krieg als gerecht bezeichnet wird, wenn Steuern für ungerecht erklärt werden , oder wenn wir Klagen darüber hören, daß die zur Erhaltung der Gesellschaft erforderliche Arbeit, oder die Vorteile des Staatslebens und die Güter der Kultur, oder das Volkseinkommen, oder die Besitztümer und die Macht im Staat ungerecht verteilt sind. Die Gerechtigkeit, welche hier vermißt wird, ist augenscheinlich eine andere, als welche die Justiz zu bewähren hat, und wir können hiernach bis auf weiteres annehmen, daß die Gerechtigkeit nicht bloß in der Rechtspflege oder beim Richten daheim ist, nicht bloß zum Recht einen Bezug hat, daß vielmehr ihr Begriff ein weiteres Geltungsgebiet besitzt.

Wenn sie somit über das Recht hinausragt, so sollte man dafür erwarten, daß ihre Herrschaft im Feld des Rechts vollkommen gesichert ist, d. h. mag auch nicht überall von Recht die Rede sein, wo die Gerechtigkeit in Frage kommt, so muß doch - sollte man meinen - wo das Recht zur Geltung gelangt auch die Gerechtigkeit Siege feiern. Aber nein, häufige Erfahrung belehrt uns eines anderen, und kann uns zur Erkenntnis führen, daß Rechtspflege und selbst rechtmäßige Rechtspflege nicht mit einer Ausübung von Gerechtigkeit zusammenfallen muß.

Wenn ein Richter, wodurch auch immer bestochen, oder aus mangelhafter Kenntnis des Rechts  der  Partei Recht gibt, welche sich im Unrecht befindet, so halten wir seinen Spruch für  ungerecht.  Und dieser Meinung sind wir ganz ohne Rücksicht auf den Ort und die Zeit der Rechtsprechung, indem wir ein Urteil auch dann als ungerecht schelten, wenn es einem Recht zuwiderläuft, unter dessen Herrschaft wir selbst nicht stehen, das anderswo gilt, oder dessen Herrschaft überhaupt der Vergangenheit angehört. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs von Toulouse über die Familie CALAS gilt, wie die VOLTAIRE gebrandmarkt hat, noch heute als ungerecht (10).

Wenn wir von ungerecht da sprechen hören, wo einem sein Recht versagt wird, so sind wir vielleicht geneigt, das Wesen der Gerechtigkeit in der  Rechtmäßigkeit  der Handlungen und namentlich der Richterurteile zu erblicken (11). Hierfür könnte man sich auf den römischen Juristen ULPIANUS berufen, der vor mehr als sechzehnhundert Jahren aussprach:  Gerechtigkeit ist der beharrliche und andauernde Wille  - natürlich der in Taten wirkende -  jedermann sein Recht zu gewähren.  (12) Gerechtigkeit wäre demnach da vorhanden, wo einer unentwegt jedem das ihm zukommende Recht gewährt, oder auf dem Weg des geltenden Rechts beharrt. SPINOZA, der die gleiche Auffassung vertritt, folgert hieraus, daß die Gerechtigkeit bloß von einem Beschluß der höchsten Gewalten, welche das Recht setzen, abhängt, niemand also gerecht sein kann, als der den Beschlüssen jener Gewalten gemäß lebt. (13) Wir aber stehen vor der Frage, ob jene Definition, die uns nicht bindet, unserer Anschauung entspricht und Genüge leistet.

Wo der Richter dem geltenden Recht gemäß geurteilt, überhaupt ein Mensch das vom Recht Geforderte verwirklicht hat, da muß er nach ULPIANs Ansicht Gerechtigkeit geübt haben, und umgekehrt muß nach dieser Ansicht eine Ungerechtigkeit begangen haben, wer dem geltenden Recht zuwider gehandelt hat. Nun sind aber  einerseits  wohl jedem von uns Fälle bekannt, wo völlig dem geltenden Recht gemäß entschieden und gehandelt worden ist, ohne daß doch die Gerechtigkeit zum Ausdruck gekommen wäre. Von den krassesten Fällen dieser Art gilt die grausame Maxime:  Fiat justitia, pereat mundus,  Gerechtigkeit soll herrschen, auch wenn die Welt dabei untergeht. (14) Aus der Reihe der gelinderen Beispiele sei hier nur das Schicksal GALILEIs hervorgehoben. Wegen seiner Verteidigung des kopernikanischen Systems, das hieß damals wegen der Festhaltung und Verbreitung ketzerischer Ansichten ist er von der heilgen Kongregation der Inquisition gemäß dem  Recht  dieses Tribunals gerichtet worden. Aber schon bald danach wurde ein GALILEI befreundeter Erzbischof dahin denunziert, daß er geäußert habe, GALILEI sei  ungerecht  verurteilt worden (15).

Andererseits  hat wohl jeder von uns Beispiele erlebt oder gelesen, in denen ein Richterspruch, überhaupt eine Handlung  gegen  das gerade geltende Recht ausgefallen, und trotzdem als den Forderungen der Gerechtigkeit entsprechend angesehen wurd. Als z. B. am Ende des vorigen Jahrhunderts die englische Regierung aus Furcht vor der französischen Revolution eine Reihe von Gesetzen erlassen hatte, die, wie BUCKLE sagt (16), der freien Erörterung politischer Fragen ein Ziel setzen und den Geist der Forschung, der mit jedem Jahr tätiger wurde, ersticken sollten: da traten die Geschworenen diesen volksfeindlichen Gesetzen dadurch entgegen, daß sie Angeklagte gesetzwidrig freisprachen. Sie folgten damit der Stimme der Gerechtigkeit, wie sie von ihnen und der öffentlichen Meinnung verstanden wurde.

Die Erwägung der beiden Möglichkeiten: einer Rechtmäßigkeit ohne Gerechtigkeit und einer Gerechtigkeit ohne Rechtmäßigkeit muß uns nun gegen die Meinung einnehmen, daß die Gerechtigkeit mit der Rechtlichkeit und Rechtspflege zusammenfällt. Diese Inkongruenz kommt einfach daher, daß es ein ungerechtes Recht, ungerechte Gesetze gibt, Gesetze, welche überhaupt oder im einzelnen Fall nicht den Anforderungen der Gerechtigkeit entsprechen, d. h. für nicht entsprechend gehalten werden. "Es ist, wie JOHN STUART MILL sagt, allgemein zugestanden, daß es ungerechte Gesetze geben kann, und daß folglich das Gesetz nicht das letzte Kriterium der Gerechtigkeit ist, vielmehr der einen Person einen Vorteil zuwenden, oder der anderen ein Übel zufügen kann, welche von der Gerechtigkeit verdammt werden." (17)

Viel unzulänglicher als nach dem Bisherigen wird uns die in Rede stehende Definition des Römers heute erscheinen, sobald wir bedenken, daß keineswegs alle Punkte, über welche sich der Richter auszusprechen hat, im Recht festgesetzt sind. Übt der Richter Gerechtigkeit, insofern er das Gesetz zur Richtschnur nimmt, wonach bestimmt sich dann, ob er Gerechtigkeit geübt hat, in den Fragen, über die das Gesetz nichts verordnet, deren Beantwortung es dem Ermessen des Richters überlassen hat? Nach dem deutschen Strafgesetzbuch ist die Person, welche gestohlen hat, während einer bestimmten Frist gefangen zu setzen, welche von einem Tag bis zu 1826 Tagen dauern kann. Es gibt indessen außer diesen beiden Grenzen weder gesetzliche Vorschriften, noch ein bindendes Herkommen zur Bestimmung der Dauer einer Gefängnishaft für denjenigen, der gestohlen hat. Der Richter, welcher einen solchen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, handelt damit unserem Recht gemäß. Aber wollen wir sein Urteil auch gerecht nennen ohne Rücksicht auf die  Dauer  der Gefängnishaft, die er über den Stehler verhängt, wenn er nur jene Grenzen eingehalten hat? Der Verurteilte hatte ein goldenes Armband entwandt, um mit dem Erlös seine oder der Seinigen Not zu lindern. Wurde hier vom Richter Gerechtigkeit geübt, als er zu vier Jahren Gefängnis verurteilte? oder was dies ungerecht und vielmehr der Gerechtigkeit entsprechend, eine zweimonatige Gefängnisstrafe auszusprechen? Die Lehre, daß die Gerechtigkeit in der Zuteilung des Rechts besteht, versagt hier sichtlich den Dienst, und sie wird dies immer tun, wo es an einer Rechtsnorm fehlt, in deren Befolgung die Zuteilung des Rechts bestehen könnte. Noch weniger erschöpfend wird die ulpianische Definition erscheinen, wenn wir sie der großen Zahl von Fällen gegenüberstellen, in denen gar nicht davon die Rede sein kann, daß einer ein Recht, ein juristisches Recht hat, so daß auch die Gewährung seines Rechts nicht in Frage kommen kann.

Wenn der Herr seinem Diener, der ihn viele Jahre mit Aufopferung treu bedient und gepflegt hat, ein Legat aussetzt, so wird mancher erklären, der Herr habe seinem Diener Gerechtigkeit widerfahren lassen. Aber wer wird hier meinen, daß der Herr dem Diener sein Recht zugesprochen hat? Wenn sich HIOB vor seinen Freunden über die Ungerechtigkeit seines Gottes beklagt, denkt er hier daran, daß irgendwo sanktioniert ist, es müßten ihm die Seinigen samt seinem Hab und Gut unversehrt erhalten bleiben? Wenn wir nicht die Weltgeschichte als das Weltgericht, sondern die Historiker als Geschichtsrichter ansehen, so pflegen wir von ihren Urteilen über Personen und Begebenheiten Gerechtigkeit zu verlangen. Aber wo ist der alle verbindende Rechtskodex, der sie anhält, über Eroberer oder Unterdrücker ein Verdammungsurteil auszusprechen? Und wenn der Kunstrichter oder der Kritiker einer gelehrten Arbeit dem Urheber ein gerechtes Lob oder einen gerechten Tadel spendet, so sieht gewiß niemand die Gerechtigkeit darin, daß dem Künstler oder dem Gelehrten das zuerteilt worden ist, was zu verlangen oder auf sich zu nehmen er von Rechtswegen befugt oder verbunden ist. Und wenn sich schließlich einer beklagt, daß ihm die Genüsse, welche das Leben lebenswert machen, durch seine Armut verschlossen sind, wenn er seine Ausschließung durch Mittellosigkeit für ungerecht erklärt, so meint er damit keineswegs, daß ihm ein staatlich anerkanntes Recht versagt wird.

Aus all diesen Beispielen, wo nach göttlicher, geschichtlicher, literarischer, sozialer - und wie die Arten sonst heißen - Gerechtigkeit gefragt wird, geht zur Genüge hervor, daß die Gerechtigkeit mehr begreift, als die Befolgung des positiven, d. h. des durch die Staatsgewalt anerkannten Rechts.

Zu einer umfassenderen Begriffsbestimmung wäre durch die Weglassung eines Merkmals der bisherigen zu gelangen. Gerechtigkeit ist dasjenige Verhalten, würden wir sagen, bei welchem jedem nicht sein  Recht, ius  suum cuique, sonder jedem  das seine, suum  cuique zugeteilt wird, d. h. dasjenige zugeteilt wird, was ihm gebührt, im guten wie im schlechten Sinne. Mit dieser Definition, welche schon bei den alten Griechen wie bei den Römern (18) und in der Folge öfter z. B. bei ROUSSEAU anzutreffen ist, könnte sich am Ende auch ULPIAN einverstanden erklären, wenn er das Recht, von dessen Zuteilung er sprach, im denkbar weitesten Sinn nahm. Wir wenigstens reden von Recht, wie von Pflicht, auch da, ao staatlicher Zwang, wie er dem wirklichen und positiven Recht eigen ist, gar nicht stattfindet (19), ja selbst in Fällen, wo nur Moral, Sitte, Herkommen und ähnliche Mächte eine gewisse soziale Ordnung stützen und schützen.

Wie weit nun der römische Jurist gedacht haben mag, das können wir umso eher auf sich beruhen lassen, als sich der neuen Definition bedeutende Hindernisse entgegenstellen. Die Zuteilung dessen was einem gebührt, was ihm zukommt, was er verdient hat, ist ein so dehnbarer Begriff, daß er allen Tugenden Platz zu bieten und damit der Gerechtigkeit keinen bestimmten übrig zu lassen droht. Denn gibt nicht beispielsweise der Dankbare, der Wahrhaftige, der Ehrliche, so viel an ihm ist, jedem was ihm gebührt?

Stärker noch, ja unüberwindlich ist das folgende Hindernis. Wer im  suum cuique  das Wesen der Gerechtigkeit erblickt, der will damit nicht einfach das zugeteilt wissen, was die jeweilige Sittlichkeit fordert: denn damit wäre die Gerechtigkeit in den  Dienst  des gerade herrschenden Rechts und der gerade herrschenden Moral gestellt und außerstande gesetzt, ihrerseits dieselben zu kritisieren. Wer aber die Zuteilung des  suum cuique  als das Gerechte ansieht, der denkt dabei letzteres unabhängig von einer gegebenen Sittlichkeit und behält  sich  vor zu entscheiden, ob das jeweilige Recht und die jeweilige Moral das  suum cuique  "Jedem das Seine" realisieren. Da müssen wir dann diesen weiteren Gerechtigkeitsbegriff direkt mit der Frage angreifen: Kann man -  abgesehen  von bestimmten Rechts- und Moralvorschriften (also  ohne  daß solche  vorausgesetzt  werden) - sagen, daß jemandem für sein Tun oder Lassen etwas gebührt?

Diese Frage ist oft bejaht, es ist oft behauptet worden, man könne,  mit Absehung  von gegebenen Rechts- und Moralvorschriften - a priori, wie die Gelehrten sich ausdrücken - sagen, es gebührt jemandem etwas, dessen Zuteilung erst hinterher von Recht oder Moral befohlen wird. Es ist beispielsweise wiederholt aufgestellt worden, daß demjenigen, der eine Übeltat, etwa einen Mord, begangen hat, eine Strafe gebührt, daß ihm ein Übel zuzuteilen ist, er ein solches verdient hat. Und da man die Zuteilung des Gebührenden oder Verdienten als Wesen der Gerechtigkeit ansah, so konnte man auch sagen, daß die Verhängung einer Strafe über den Verbrecher die Ausübung der Gerechtigkeit, ein Ausfluß oder eine Forderung nach Gerechtigkeit ist. Erst  folgeweise  ist dann die Rechtsvorschrift der Bestrafung erlassen worden, da es die Aufgabe des Rechts ist der Gerechtigkeit zu dienen.

Die Prüfung dieser Lehre nötigt zu einem Blick auf die Entstehung unserer Handlungen.

Daß die Handlungen des Menschen, z. B. der Spaziergang, oder die Ermordung, nicht ursachlos aus einem Menschen hervorspringen, sondern daß sie durch eine  Tatsache  hervorgerufen sind, wird eher selbstverständlich als paradox erscheinen. Die Körperbewegung ist selber nur der in die Tat übersetzte, als Tat erscheinende Entschluß des Menschen, dessen Bewegung sie ist: jene Bewegung ist die Außenseite, wie der Entschluß die Innenseite des einen Dings, der Handlung. Aber hinter dem Entschluß muß doch etwas stehen, das ihn verursachte, sonst hätte er nicht zustande kommen und erscheinen können. Wenn der Entschluß, der sich in der Körperbewegung offenbart, nicht durch eine Ursache hervorgerufen worden wäre, so könnte er durch gar nichts hervorgerufen sein, da alles was ein Anderes hervorruft, dessen Ursache ist. Daß aber eine Handlung nicht durch eine Ursache, somit durch gar nichts hervorgerufen wird, ist schlechterdings undenkbar, dem Verstand nicht faßbar. Man vermag sich nicht der Einsicht zu verschließen, daß unsere gewollten Körperbewegungen, unsere Handlungen, ebenso ihre Ursachen haben wie die Bewegungen der Wetterfahne auf dem Dach oder des Schiffes auf dem Wasser. Zeigt doch auch die tägliche Erfahrung, wie sich jedermann nach dem Motiv einer ihn interessierenden Handlung erkundigt und damit Dasein und Wirken eines Beweggrundes als gewiß  voraussetzt.  Daß die Beweggründe für unsere  Handlungen  uns selbst und anderen nicht so vor Augen liegen, wie die Ursachen, welche die Wetterfahne oder das Schiff bewegen, kommt nur daher, daß diese Beweggründe in unserem Inneren stecken, wo sogar einzelne unserem Bewußtsein entgehen können. Allein wenn es der Nervenphysiologie je gelingen sollte, den  Hergang  des Denkens und Empfindens zu demonstrieren (20): dann wird die ursächliche Entstehung der Handlungen für jeden greifbar und der weltdurchdringende Kausalzusammenhang, der dem oberflächlichen Betrachter in seinem Menschenkopf abzureißen scheint, um in ihm wieder neu zu beginnen, in gutem Glauben nicht mehr zu leugnen sein.

Sobald wir, vorderhand auf anderen Wegen, zur Überzeugung gelangt sind, daß unsere Handlungen nicht ursachlos zustande kommen, alsbald haben wir auch schon zugestanden, daß sie durch ihre Ursachen notwendig hervorgerufen werden. Beweggründe sind wie alle Gründe zwingend. Allerdings können wir tun was wir wollen - falls es mit unseren Mitteln ausführbar ist und nichts Äußeres uns an der Ausführung hindert - das bestreitet niemand, so gewiß wir (was tautologisch ist) die Täter unserer Taten sind. Aber wir  müssen  in bestimmter Weise handeln, sobald sich ein zureichender Grund, ein übermächtiger Trieb einstellt. Das gilt von den Handlungen, welche die Billigung, wie von denen, welche die Mißbilligung der Menschen finden. Ich kann an einem Kreuzweg stehend nach rechts gehen, wenn ich will, und ich kann nach links gehen, wenn ich will. Die Frage ist aber, ob es ganz zufällig und durch Nichts bestimmt ist, daß ich nach rechts gehen will oder daß ich nach links gehen will, mit anderen Worten ob gar kein Umstand vorhanden ist, der bewirkt, daß ich mich für den linken Weg entscheiden muß oder daß ich mich für den rechten Weg entscheiden muß, oder aber ob ich durch einen gewissen Umstand, z. B. die Vorstellung von meinem nur auf dem  linken  Weg zu erreichenden  Ziel  so getrieben werde, daß ich nicht umhin kann nach links zu gehen. Und diese letztere Frage ist zu bejahen. Tritt ein Motiv auf, das zum Handeln antreibt, so kann ihm ein anderes gegenübertreten, das zur Unterlassung, oder zu einem anderen Handeln antreibt. Ist aber das erste stärker, so treibt es die Handlung hervor. Der Mensch kann nichts dazu tun und nichts davon tun (21). Man darf sich also die Sache nicht so denken, daß dem Streit der Motive oder Triebe, der Mensch, ihr Wirt oder Inhaber, unbeteiligt zusieht und sich schließlich dem einen oder dem anderen Streiter nach freiem Ermessen wahlverwandtschaftlich zuneigt. Die Sache verhält sich also in Wahrheit nicht so, wie sie in BÜRGERs Ballade vom wilden Jäger poetisch vorgestellt wird, wo dem Grafen der rechte und der linke Mann zureden, er selbst aber imm  "verschmäht  des Rechten Warnen, Und läßt vom Linken sich umgarnen". Die miteinander kämpfenden Triebe stehen nicht außerhalb des Willens, sondern sie sind selbst Willensregungen, der Sieg besteht in der Entwicklung des mächtigeren zum Entschluß, d. h. zum muskelerregenden Denken, welches als Handlung erscheint.

Dieses Verhältnis der Handlung zu den Beweggründen lehrt nicht erst die theoretische Grübelei, sondern schon die alltäglichste Praxis.

Der Staat, so gut wie jeder im Privatleben geht von der Voraussetzung aus, daß die Handlungen der Menschen durch die Beweggründe  hervorgetrieben werden.  Wenn der Staat auf eine Unterlassung z. B. auf die Unterlassung der Steuerzahlung oder der Impfung eine Strafe setzt, so unterstellt er einen  ursächlichen  oder notwendigen Zusammenhang zwischen der von ihm gewünschten Handlung und seiner Strafdrohung, er rechnet darauf, daß die Bürger durch die Unlust am Strafübel zur Steuerzahlung oder zur Impfung unausweichlich getrieben werden. Wenn er dagegen die Menschen als nicht bestimmbar oder berechenbar, sondern als sozusagen sich selbst bestimmend ansähe, dann wäre es sinnlos sie mit Strafen zu bedrohen. Der Staat müßte sich in Tun und Lassen seiner Bürger als Zuschauer  ergeben,  wie man die Launen des Wetters über sich ergehen läßt, das man nicht lenken kann. Noch sinnloser wäre es von ihm, die Strafandrohung auszuführen, da die Strafe das Geschehene nicht ungeschehen machen und künftigem Geschehen nicht vorbeugen könnte.

Nicht minder rechnet auch  jeder Einzelne von uns,  der eines Anderen zur Erreichung seiner Zweck bedarf, z. B. der Zustimmung des Warenbesitzers zum Abschluß eines Kaufvertrages, rechnet darauf, daß der Andere durch gewisse Beweggründe z. B. das Versprechen eines hohen Kaufpreises zur Erteilung seiner Anerkennung notwendig bestimmt werden wird. Der ganze bürgerlich Verkehr, der redliche wie der unredliche, die Erziehung und die Staatsverwaltung, beruhen auf der bewußten oder unbewußten Überzeugung, daß der Mensch, wenn ihm ein ausreichendes Motiv geboten wird, eine bestimmte Handlung vornehmen muß (22).

Die hiermit skizzierte Grundlage der nächstfolgenden Erörterung - daß nämlich die menschlichen Handlungen, ausnahmslos und restlos in die Kausalketten eingegliedert, der allgemeinen Notwendigkeit unterliegen - ist schon seit Jahrhunderten von Denkern der allerverschiedensten Stärken und Richtungen unumwunden anerkannt worden. Die Lehre wird von den Theologen, katholischen wie protestantischen, wie von Naturforschern, von Idealisten wie von Materialisten vertreten. Daß die Zahl ihrer bewußten Anhänger nicht so groß ist, als es dieser einleuchtendsten und zugleich humansten Wahrheit - denn sie erst rückt den Menschen so an den Menschen , daß weder  homo homini deus  [Der Mensch ist des Menschen Gott - wp] noch  homo homini lupus  [Der Mensch ist des Menschen Wolf. - wp] mehr sein kann - zu wünschen ist, kommt hauptsächlich daher, daß ihre eine erklärliche Einbildung oder Selbsttäuschung in den Weg tritt (23), und daß vielen ihre Konsequenzen nicht erträglich scheinen. Daher bringen es, wie schon PRIESTLEY (24), einer der beredtesten Verfechter jener Wahrheit, erkannt hat, und wie man vornehmlich an SCHOPENHAUER sehen kann (25), manche zur Einsicht und glänzenden Darstellung derselben, die dann den Weg verlassen, sobald die Konsequenzen anstehen.

Diese werden Sie wohl schon selbst gezogen haben. Wenn - wie wir sahen - alle Handlungen der Menschen notwendige Ergebnisse sind, wenn ein Mensch nach seinem von Natur gegebenen oder auch durch sein bisheriges Tun und Leiden veränderten Wesen und unter den obwaltenden Umständen nicht anders zu handeln vermochte, als er gehandelt hat, so kann ihm für diese seine Handlung nichts gebühren, weder etwas Gutes, noch etwas Schlimmes. Wir mögen die Tat bewundern oder verabscheuen, den Charakter schön oder häßlich finden, uns des Motivs freuen oder es wegwünschen - aber daß der Urheber etwas für seine ihm notwendige Handlung  verdient  hat, daß ihm dafür etwas  gebührt  oder  zukommt,  können wir nicht sagen. Wie der Baum, der gute Früchte trägt, und der Baum, der schlechte Früchte trägt, nicht deswegen etwas verdienen, da beide nur leisten was ihrer inneren Natur und den auf diese einwirkenden äußeren Umständen gemäß ist und demgemäß zum Vorschein kommen  muß,  ebensowenig  verdient  der Mensch, der durch eine Tat genützt hat, deswegen Lob und derjenige, der durch seine Tat geschadet hat, deswegen Tadel oder Strafe. Lob und Tadel, Verehrung und Abscheu dürfen nur als Konstatierung des erfreulichen oder betrübenden Sachverhalts gemeint sein.

Sieht man nun die Gerechtigkeit darin, daß jedem das zugeteilt wird, was ihm gebührt, oder was er verdient, so kann - wir abstrahieren immer noch von den gerade herrschenden Rechts- und Moralvorschriften - da niemandem etwas für seine ihm notwendigen Handlungen gebührt, niemand wegen derselben etwas verdient: die Gerechtigkeit in diesem Sinne gar nicht stattfinden. Eine der ersten und kräftigsten Stützen der christlichen Kirche, CLEMENS von Alexandria, hatte wohl die zweite, unbrauchbar gefundene Gerechtigkeitsdefinition im Sinn, als er aussprach: "weder die Lobsprüche, noch die Tadelsworte, weder die Ehren, noch die Strafen sind gerecht, da die Seele nicht die Freiheit des Antriebs und der Abneigung hat, sondern die Schlechtigkeit unfreiwillig ist." (26)

Aus der Tatsache, daß die menschlichen Handlungen gleich den übrigen Naturvorgängen Glieder von Ursachenketten sind, folgt für den nicht voreingenommenen Betrachter, daß eigentlich weder von Schuld, noch von Verdienst eines Menschen gesprochen werden kann, da hierbei ein Auchandersgekonnthaben des Menschen vorausgesetzt ist (27). Es war aber nicht sowohl die Verneinung des Verdienstes, als die Verneinung einer ursprünglichen, d. h.  nicht erst menschlich statuierten Verantwortlichkeit,  wovor die meisten, die sich völlig zu einer Notwendigkeit der Handlungen bekannt hatten, zurückscheuten, obwohl doch auch jene Verneinung folgerichtig ist und niemandem weh tut. (28). Man hat sich und anderen den Kopf zerbrochen, um zu zeigen, warum der Mensch für Taten, die er unter den gegebenen Umständen nicht ungetan lassen konnte, dennoch verantwortlich ist. Die Frage wird immer wieder in Angriff genommen, da sie für lösbar und ungelöst gilt, und das Problem spielt nachgerade im Feld der Ethik dieselbe Rolle, wie die Quadratur des Kreises in der Mathematik oder die Herstellung der  perpetuum mobile  in der Mechanik.

Allein aus der Tatsache, daß alle menschlichen Handlungen in jedem Fall mit Notwendigkeit zustande kommen, folgt zwar, daß die Vorteile oder Nachteile, welche dem Urheber derselben als solchem gewährt oder zugefügt werden, nicht auf das  suum cuique,  oder auf die Gerechtigkeit als Zuteilung des Gebührenden gegründet werden können. Daß sie hingegen gar nicht gerechtfertigt sind, ist damit nicht im entferntesten gesagt. Recht und Moral oder die Sittlichkeit (als Hergang) ist nicht logische Notwendigkeit - denn z. B. aus dem  Begriff  des Diebstahls folgt keineswegs die Strafe - sie ist auch keine rein natürliche, d. h. ohne menschliches Zutun sich vollziehende Notwendigkeit, wie etwa der Kapuziner in WALLENSTEINs Lager meint, wenn er sagt: "Auf das Unrecht folgt das Übel, wie die Träne auf die Zwiebel" - sie ist auch keine mathematische Notwendigkeit, wie, daß dem größten Winkel im Dreieck die größte Seite gegenüber liegt - sie ist nur praktische Notwendigkeit oder  Zweckmäßigkeit. 

Der Rechtszwang im Besonderen ist notwendig nur unter der Bedingung, daß ein bestimmter Zweck gesetzt ist, der erreicht werden soll und den erreichen zu helfen er mehr als etwas anderes geeignet ist. Daß z. B. der Mörder bestraft wird, ist keine Forderung der Gerechtigkeit. Aber wenn eine bürgerliche Gesellschaft die Mordtaten entfernt oder ihre Zahl vermindert haben will und findet, daß dieser Erfolg durch die Bestrafung der Mörder am besten erreicht werden kann, dann ist die Bestrafung durch ihre Zweckmäßigkeit empfohlen oder praktisch notwendig. Daß - um auch ein Beispiel aus dem Privatrecht zu geben - daß der Darlehensempfänger dem Darleiher Zinsen zahlt, ist ebenfalls keine Forderung der Gerechtigkeit, da man nicht sagen kann, daß dem Darlehensgeber für seine ihm unter den gegebenen Umständen notwendige Handlung samt ihrer Wirkung, der Kapitalentbehrung, irgend etwas gebührt. Aber der gegen den Darlehensempfänger geübte Rechtszwang zur Zinszahlung ist als zweckmäßig gerechtfertigt, wenn sich zeigen sollte, daß ohne diesen Zwang die Geldbesitzer ihr Geld nicht verleihen, und die Überlassung desselben an Andere von der bürgerlichen Gesellschaft erstrebt wird.

Von diesen Beispielen aus weiter denkend erkennt man, daß Recht und Moral, auch wenn sie nicht als Ausflüsse der Gerechtigkeit bestehen und nicht als Verkörperungen eines Phantasmas, des a priori Gebührenden betrachtet werden, darum keineswegs in der Luft schweben. Das vieltausendjährige Ringen der Menschheit mit den ihrer Wohlfahrt feindlichen Trieben ihrer Angehörigen und die Errichtung von Schutzwehren in den Gewissen wie auf den Gesetzestafel war nach der Artung der Menschen nicht etwas das auch unterbleiben konnte, und so war auch die  Hervorbringung  von Recht und Moral angesichts praktischer Zwecke eine Notwendigkeit.

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß auch die zweite Gerechtigkeitsdefinition nicht befriedigend ist. Die Zuteilung des jedem Zukommenden kann darum nicht das Wesen der Gerechtigkeit ausmachen, weil es ein solches an und für sich Zukommendes nicht gibt. Was einem jeden gebührt folgt vielmehr erst aus den Rechts- und Moralvorschriften. Und dabei kann sich sogar ereignen, daß die Zuteilung des nach der Moral Gebührenden doch nicht als Gerechtigkeit erscheint. "Die Vorschrift Böses mit Gutem zu vergelten - ein Satz der christlichen Moral - ist, wie MILL sagt, niemals als eine Gerechtigkeitsforderung betrachtet worden, sondern als ein Fall, in welchem die Ansprüche der Gerechtigkeit aus Gehorsam gegen andere Rücksichten aufgegeben werden".

So grundlos ansich nun auch das Verlangen ist, jedem das Seine zuzuteilen, so läßt sich doch dadurch der einzelne nicht abhalten und hat sich nach Ausweis der Geschichte niemals abhalten lassen, unbekümmert um die herrschenden Rechts- und Moralvorschriften, Vorgänge und Zustände mit den Prädikaten gerecht und ungerecht zu belegen und die Vornahme von Änderungen, die Herbeiführung von Zuständen im Namen der Gerechtigkeit zu verlangen, wobei immer die Zuteilung des Gebührenden unter Gerechtigkeit verstanden wird. Man findet es z. B. oftmals als gerecht bezeichnet, daß der Acker demjenigen gehört, der ihn bebaut, oder als gerecht gefordert, daß der Arbeiter den Ertrag seiner Arbeit erhält (29). In all diesen Fällen sind die Personen, welche im Bestehenden oder Vergangenen die Gerechtigkeit finden oder vermissen, oder für die Zukunft verlangen, nicht notwendig von der Ansicht geleitet, daß das was sie weg- oder herbeiwünschen, von Rechts- oder Moralwegen zukommt. Auch können sie nur irrtümlich der Meinung sein, daß etwas objektiv, d. h. ansich Gebührendes oder Nichtgebührendes von ihnen erkannt, vermißt oder beansprucht wird. Vielmehr geben sie eigentlich mit ihrer Kritik wie mit ihrer Forderung nur demjenigen Ausdruck, was  in ihren Augen  das Gebührende ist. Naturgemäß fällt hiernach das Urteil über das Suum im Suum cuique, da es der objektiven Grundlage ermangelt, subjektiv d. h. nach den Beurteilern verschieden aus, und ist, wie die Kultur-, namentlich die Rechtsgeschichte lehrt, dem Wechsel in Zeit und Raum preisgegeben. Erst wenn eine Auffassung zur herrschenden durchgedrungen ist, mittels Überzeugung oder mittels Überwältigung, wenn also das als gerecht Gewünschte oder als ungerecht Verworfene einem herrschden gewordenen Moralsatz entspricht bzw. widerspricht, oder gar zum Gebot respektive Verbot eines Rechtssatzes geworden ist, dann erst wird wieder ein allgemeiner, objektiver Maßstab gegeben sein. Die Gerechtigkeit würde dann wieder bestehen in der Zuteilung dessen, was nach dem zur Geltung gelangten Moral- oder Rechtssatz das Gebührende ist. So gilt  heute  als unabweisliche, durch Recht und Moral adoptierte Gerechtigkeitsforderung, daß kein Unschuldiger  statt  des Übeltäters oder  neben  demselben Buße zu erleiden habe, während bei den Hebräern JEHOVAH mit seiner Rache noch die dritte und vierte Generation bedrohte, APOLLO mit der Pest das  Griechenheer  dezimiert, weil seinem Priester CHRYSES AGAMEMNON die Tochter vorenthalten hatte, die Kaiser ARCADIUS und HONORIUS am Ausgang des 4. Jahrhunderts den  Söhnen  von Hochverrätern das Leben zur Pein, den Tod zum Trost gemacht haben wollten, und die mittelalterlichen Päpste  Land und Leute  mit dem Interdikt [Untersagung von gottesdienstlichen Handlungen - wp] wenn auch nur der  Herrscher  sich gegen die Kirche verfehlt hatte. (30)

Hat uns die Gerechtigkeit als Zuteilung des jedem Gebührenden nicht befriedigt, weil das hier Zuzuteilende nicht existiert, so ist die Gerechtigkeit als Zuteilung dessen, was diesem oder jenem als das Gebührende erscheint, ebenso unbefriedigend, weil damit etwas Unfruchtbares, bloß eine Worterklärung gegeben ist.

Nach all dem bleibt für die ethische Beurteilung das Bedürfnis nach einem Merkmal, an welchem allseits das Bedürfnis nach einem Prinzip, an dessen Hand man zur Vergangenheit gewandt das Gerechte vom Ungerechten sondern, auf welches man für die Gegenwart und Zukunft die der Gerechtigkeit entsprechenden Entscheidungen gründen kann.  Was ist die stehende Forderung der Gerechtigkeit?  so lautet die Frage.

Hierauf hat nun schon vor 2200 Jahren in seiner "Nikomachischen Ethik" (Buch 5) der große Aristoteles geantwortet. Dort finden wir die  Gleichheit, die verhältnismäßige Gleichheit  als das Wesen der Gerechtigkeit dargelegt, womit wir noch heute weithin auszukommen und hier zum Ziel zu gelangen vermögen.

ARISTOTELES scheidet die Gerechtigkeit in  austeilende  und  ausgleichende,  welche Arten verschieden sind durch ihr Anwendungsgebiet und durch die Art der Bemessung der Gleichheit. Die austeilende Gerechtigkeit greift bei der Staatslenkung Platz und bemißt vornehmlich die Anteile an den Regierungsrechten, am Besitz und an den Ehren, die den einzelnen Bürgern zu gewähren sind. Diese Anteile sollen zwar gleich sein, aber nicht schlechthin, sondern verhältnismäßig, nach geometrischer Proportion. Wie sich der Bürger  A  verhält zum Bürger  B,  so soll sich des Bürgers  A  Anteil verhalten zu dem des Bürgers  B.  Wird im Widerspruch damit dem  A  zuviel oder zuwenig gewährt, so sind die Anteile verhältnismäßig ungleich, ist die Verteilung ungerecht. Was aber das Verhältnis des einen Bürgers zum anderen bestimmt, was ihn über oder unter den andern stellt, so daß er bei verhältnismäßiger Gleichbehandlung ein Mehr oder Weniger zu erhalten hat, das ist, nach ARISTOTELES, der Wert des Bürgers. Dieser Wert aber wird in den verschiedenen Staatsverfassungen verschieden bestimmt, bald nach dem Reichtum, bald nach dem Adel, bald nach der Tüchtigkeit, und so liefert die austeilende Gerechtigkeit nach den Staatsverfassungen verschiedene Resultate.

Anders steht es um die ausgleichende Gerechtigkeit. Sie ist zwar auch auf die Herstellung der Gleichheit gerichtet, aber diese soll dabei nicht nach geometrischer, sondern nach arithmetischer Proportion bemessen werden. Sie wird gehandhabt vom Richter, geht - im Gegensatz zur distributiven - aus von der Gleichheit der Menschen und trachtet dieselbe, wo sie im bürgerlichen Verkehr verletzt worden ist, ohne das Ansehen der Person wieder herzustellen. Wer einem andern ein Übel getan hat sei es daß er sein ihm gegebenes Wort brach, ihn übervorteilte,, schlug oder schädigte - der hat den andern damit verkürzt und in demselben Maß sich etwas hinzugefügt, und bestünde diese Hinzufügung auch in nichts mehr, als in der Befriedigung seiner Leidenschaft. Der Richter aber, meint unser ARISTOTELES, stellt die durch die Übeltat aufgehobene Gleichheit wieder her, indem er wie bei einer in zwei ungleiche Stücke geteilten Linie demjenigen, der das größere Stück hat, das was die Hälfte überragt, wegnimmt und dem kleineren Stücke zusetzt. Diese Wiederherstellung der Gleichheit würde in Wirklichkeit beispielsweise darin bestehen können, daß dem Übeltäter selber ein Übel, eine Strafe auferlegt wird. Wer sich zu dieser ausgleichenden Gerechtigkeit bekennt, der wird vielleicht versucht sein die Bestrafung für eine Forderung der ausgleichenden Gerechtigkeit zu erklären und damit unser früheres Ergebnis anzufechten, daß die Bestrafung keineswegs von der Gerechtigkeit geboten sie. Diesem Aristoteliker hätten wir aber zu erwidern: Durch die Übeltat wird eine Ungleichheit nicht bloß zwischen dem Betroffenen und ihrem Urheber hervorgebracht, sondern zwischen dem Betroffenen und  allen  anderen, die nicht betroffen worden sind. Es kann sich demnach die ausgleichende Gerechtigkeit nicht damit genug tun, daß sie nur dem Täter einen Abzug macht. Wo sie also dem Betroffenen nicht ersetzen kann was er eingebüßt hat, wie z. B. wenn er geschlagen worden ist, da muß sie, um wirklich auszugleichen, nicht bloß dem Täter, sondern auch allen anderen einen Abzug machen. Ein solches Verfahren aber, bei welchem eine Menge Unbeteiligter sich eine Einbuße gefallen lassen muß, weil ein anderer einem dritten ein Leid zugefügt hat, wird uns als Ungerechtigkeit und nicht als Gerechtigkeit erscheinen.

Wir dürfen aber noch weiter gehen und befinden, daß die ausgleichende Gerechtigkeit, die sich bloß um das arithmetische Verhältnis bekümmert, d. h. nur nach der Gleichheit der Differenzen fragt, oftmals eine schreiende Unterechtigkeit ist. Denken Sie an den Fall, daß  A  dem  B  100 Franken genommen hat. Werden nun dem  A  auch 100 abgenommen, dann ist freilich die Differenz zwischen seinem Jetzt und seinem Vorher gleich der Differenz von  Bs  jetziger und vorhergehender Lage, und damit ist der ausgleichenden Gerechtigkeit Genüge getan. Wenn nun aber  B  von Anfang an 200 Franken,  A  dagegen 100 000 Franken hatte, so ist nachher dem  B  die Hälfte, dem  A  dagegen nur ein Tausendstel genommen worden. Diese der geometrischen Proportion widersprechende, insofern unverhältnismäßige Ungleichheit der Behandlung will uns nicht mehr als Gerechtigkeit erscheinen. Dies dürfen wir darum behaupten, weil sich die noch zu belegende Erfahrung machen läßt, daß der heutigen allgemeinen Anschauung nach die  verhältnismäßige  Gleichheit oder Gleichbehandlung als die Forderung der Gerechtigkeit gilt (31).
LITERATUR - Philipp Lotmar, Die Gerechtigkeit, Bern 1893
    Anmerkungen
    1) JOHN STUART MILL, Utilitarismus, Seite 173, spricht von der "mächtigen Empfindung und der anscheinend klaren Vorstellung, welche das Wort  Gerechtigkeit  mit einer Schnelligkeit und Sicherheit hervorruft, die etwas Instinktmäßiges haben". Und GUSTAV SCHMOLLER, Die Gerechtigkeit in der Volkswirtschaft, Bd. 5, Seite 20) sagt: "Ich habe seit Jahren in der öffentlichen Diskussion wie in den volkswirtschaftlichen Schriften darauf geachtet, wann und wie die Frage der Gerechtigkeit bei volkswirtschaftlichen Dingen mit hereingezogen wird; und ich fand, daß es unwillkürlich fast überall geschieht." Es folgen Beispiele.
    2) - se ignorare Aristidem, sed sibi non placere, quod tam cupide elaborasset, ut praeter ceteros Justus appellaretur. Corn. Nep. Aristides 1, 4.
    3) "Wie ich gesehen habe, ist die Gerechtigkeit etwas so Gutes, daß sie auch sogar unter den Spitzbuben notwendig ist." - Sancho Pansa im Don Quichotte, Buch 10, Kap. 8
      4) "Es ist die große Sache aller Staaten
      Und Thronen, daß gescheh' was Rechtens ist,
      Und jedem auf der Welt das Seine werde;
      Denn da, wo die Gerechtigkeit regiert,
      Da freut sich Jeder, sicher seines Erbes,
      Und über jedem Haus, jedem Thron
      Schwebt der Vertrag wie eine Cherubswache."
      - DEMETRIUS bei SCHILLER, I. Aufzug.
    - Demgemäß eröffnet TIBERIUS, ein Nachfolger JUSTINIANs auf dem byzantinischen Thron einen Erlaß mit den Worten: "Es gibt nichts Größeres als Gott und die Gerechtigkeit." Novella 164, praefatio.
    5) African Spir, Recht und Unrecht, Seite 49
    6) HENRY GEORGE, Fortschritt und Armut, deutsch von GÜTSCHOW, Seite 449, 450. SCHMOLLER, Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft, Seite 62: "Der soziale Fortschritt besteht eben wesentlich darin, daß das Prinzip der Gerechtigkeit Herr wird über die bloße Gewalt."
      7) "Denn gerecht in Himmelshöhen
      Waltet des Kroniden Rat." - SCHILLER, Siegesfest.
      "Er, der einzige Gerechte
      Will für jedermann das Rechte."
      - GOETHE, Westöstlischer Diwan, Talismane.
    8) In der SCHOPENHAUERischen Ethik - Preisschrift über die Grundlage der Moral, Seite 217 - sind die Gerechtigkeit und die Menschenliebe "Kardinaltugenden" genannt, "weil aus ihnen alle übrigen praktisch hervorgehen sich theoretisch ableiten lassen." Ähnlich hat ein byzantinischer Kaiser (Novella 163, praefatio) Gerechtigkeit und Menschenliebe für die höchsten Güter unter den Menschen erklärt.
    9) RUDOLF von JHERING, Der Zweck im Recht, Bd. 1, 2. Auflage, Seite 365, Anm.
    10) Ebenso wie die des Oberrichters COLERIDGE, welchen BUCKLE mit edlem, nachhaltigem Eifer öffentlich der Ungerechtigkeit bezichtigt hat. Siehe "Essays", deutsch ASCHER, Seite 92 - 102 und noch mehr "H. Th. Buckles Leben und Wirken" von HUTH, auszugsweise umgearbeitet von L. KATSCHER, Seite 87 - 105.
    11) "Es kann, glaube ich, kein Zweifel sein, daß die  idée mére,  das ursprüngliche Element bei der Bildung des Begriffs  Gerechtigkeit  die Übereinstimmung mit dem Gestz war": MILL, a. a. O. Seite 180.
    12) Justitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. ULPIAN in JUSTINIANs Dig. I, 1, 10 pr. Den Kern dieser, nicht erst von ULPIAN gegebenen, Begriffsbestimmung finden wir noch in einer Justinianischen Novelle wieder: Nov. 69 praef. vom Jahr 539.
    13) SPINOZA, Tractatus Theologico - Politici cap. XX.
    14) KANT, Zum ewigen Frieden (Ausgabe KEHRBACH), Seite 47 läßt den lateinischen Satz sagen: "Es herrsche Gerechtigkeit, die Schelme in der Welt mögen auch insgesamt darüber zu Grunde gehen." Allein die Schelme in der Welt und die Welt sind nicht gleichbedeutend.
    15) REUSCH, Der Galilei'sche Prozeß, SYBELs historische Zeitschrift, Bd. 34, Seite 133, 138.
    16) BUCKLE, Geschichte der Zivilisation in England, deutsch von RUGE, Bd. 1, Seite 420.
    17) Auch nach vielen Anderen, z. B. MONTESQUIEU, Esprit des loix, liv. I. ch. I, ANSELM FEUERBACH, Über Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnis zur positiven Rechtswissenschaft, Seite 30, LAVELEYE-Bücher, Ureigentum, Seite 524, ist die Gerechtigkeit nicht etwas ohne weiteres durch die Gesetzgebung, also mit der Rechtsetzung Verwirklichtes, sondern etwas vor, über oder neben solcher Satzung Bestehendes, nach welchem die Satzung beurteilt werden kann. Hingegen nach KIERULF, Theorie des Zivilrechts, Seite 17 "fällt der Begriff der Gerechtigkeit  unter  das Gesetz", so daß das Prädikat der Gerechtigkeit auf das Gesetz selbst nicht paßt.
    18) Zahlreiche Belege bei VOIGT, das  Ius naturale, aequum et bonum  und  jus gentium  der Römer, Bd. III, Anm. 1254 und 1255
    19) Viele Beispiele enthält mein Vortrag "Vom Recht, das mit uns geboren ist", Bern 1893
    20) "Die Denkoffenbarungen werden daher solange - aber auch nicht weiter - unbegriffen und für den Wundergläubigen ein Wunder sein, als dem Auge die Verwicklung der Nervenröhren eine labyrinthische bleibt" (KNAPP, Rechtsphilosophie, Seite 68. "Reden wir nicht von Seele, noch von Materie. Bekennen wir offen unsere Unwissenheit. Vertrauen wir auf die Zukunft der Wissenschaft und fahren wir fort in der Erforschung des Wahren." (A. MOSSO, Die Furcht, aus dem Italienischen von FINGER, 1889, Seite 79. - Die Hypothese im Text soll (wie das Vorangehende und das Nachfolgende erkennen lassen) weder "Erklärung" noch "Anweisung auf eine imaginäre Wissenschaft der Zukunft" sein. (WUNDT, Ethik, 2. Auflage, Seite 466. Der Vorwurf, der hier (Seite 465) den Anhängern des von WUNDT sogenannten gewöhnlichen oder vulgären Determinismus gemacht wird, daß sie auf psychologischem Weg die Willenskausalität nicht weiter zurückverfolgen, sondern jeden Willensakt als causa sui erscheinen lassen, ist jedenfalls nicht gegenüber allen und wohl nur gegenüber wenigen begründet. Der vornehmere Determinismus WUNDTs wendet sich gegen die "Substitution der mechanischen an die Stelle der psychischen Kausalität", stellt zunächst beide als gleichberechtigt nebeneinander, geschieden dadurch, daß in jener Äquivalenz von Ursache und Wirkung, in dieser das Prinzip wachsender geistiger Energie gilt - die Leugnung einer solchen Differenz wird als "absurde Meinung" ohne weiteres abgetan - um doch schließlich (Seite 472 und 473) in der Annahme, "daß der Mechanismus der Natur in Wahrheit nur ein Teil des allgemeinen Zusammenhangs einer geistigen Kausalität" oder die "mechanische eine Unterform der geistigen Kausalität" sei, bei der entgegengesetzten "Substitution" und bei der Einheit wieder anzulangen, nur daß diese "allumfassende Kausalität" jetzt die "geistige" ist - all das kraft eines Verfahrens, das hier zu schildern und anzufechten nicht der Ort ist. Gleichwohl soll, soweit bei den Handlungen Nervenerregungen und Muskelaktionen in Frage kommen, die Einordnung in die mechanische Kausalität bestehen bleiben (Seite 474) und doch wieder (Seite 475) die psychologische Determination die einzige bleiben, welche bei der Beurteilung der Willenshandlungen in Frage kommt. Und während WUNDT (Seite 475) auf seinem "deterministischen Standpunkt" die "Willenshandlung aus ihren Bedingungen vorauszubestimmen" scheint, sieht er sich doch (Seite 478) mehr oder weniger "imstande, aus der Kenntnis des Charakters vorauszusagen, wie er auf bestimmte Motive reagieren wird." Wenngleich sich der höhere Determinsmus der Erklärung enthält und, teils auf die uns unmittelbar gegebenen Gesetze geistiger Kausalität, teils wie sein vulgärer Bruder auf die Nerven und Muskeln verweisend, sich in Widersprüche verwickelt, so läßt er doch im Resultat und in der Praxis seine Prätensionen fallen und tritt an der Seite jenes Bruders dem Indeterminismus entgegen. Vgl. unten Note 23 am Ende.
    21) In gebundener Rede findet dies den treffenden Ausdruck bei WILHELM JORDAN, Durchs Ohr, 1. Akt, 5. Auftritt:
      "Ein Märchen ist des Menschen freie Wahl,
      Er will nur da wo Stärkeres befahl."
    22) "Die Daumenschraube eines Jeden finden. Dies ist die Kunst, den Willen Anderer in Bewegung zu setzen. Es gehört mehr Geschick, als Festigkeit dazu. Man muß wissen, wo einem Jeden beizukommen sei. Es gibt keinen Willen, der nicht einen eigentümlichen Hang hätte, welcher nach der Mannigfaltigkeit des Geschmackes verschieden ist. Alle sind Götzendiener, Einige der Ehre, Andere des Interesses, die Meisten des Vergnügens. Der Kunstgriff besteht darin daß man diesen Götzen eines Jeden kennt, um ihn mittels desselben zu bestimmen. Weiß man, welches für Jeden der wirksame Anstoß ist, so ist es als hätte man den Schlüssel zu seinem Willen usw." (BALTHAZAR GRACIANs Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit, übersetzt von SCHOPENHAUER, Nr. 26) "Der wahre staatsmännische Kopf glaubt nicht an die Freiheit des Willens, sondern an die Notwendigkeit der menschlichen Handlungen, daran, daß die Menschen unter diesen oder jenen Umständen und Verhältnissen so und nicht anders denken und handelns werden und können ..." (LUDWIG FEUERBACH, Briefwechsel und Nachlaß II, Seite 327.
    23) Erklärung und Auflösung bei SCHOPENHAUER, Preisschrift über die Freiheit des Willens, Nr. II, "der Wille vor dem Selbstbewußtsein" und ein Teil des folgenden Abschnitts (Seite 43 - 46 der ersten Ausgabe). Ferner gründlicher bei KNAPP, System der Rechtsphilosophie, § 51 und 53. Am anschaulichsten findet sich das Gefühl der Freiheit erklärt bei FEUERBACH an den von JODL, Geschichte der Ethik, Bd. 2, Seite 556, Anm. 70 angegebenen Stellen, siehe namentlich den Brief im Nachlass II, Seite 34 z. B.: "Nun sind aber die Bestimmungen oder Antriebe zu meinen Handlungen, selbst wenn sie in äußeren Ursachen ihren Grund haben, heimische - es ist kein fremdes, anderes Wesen in und bei mir zu Gast,  der Treiber und der Getriebene sind nicht zwei verschiedene Wesen  - wie sollte ich mich also unfrei fühlen?" Siehe auch JODLs Bericht a. a. O., Seite 282. WUNDT, Ethik (2. Auflage) Seite 463: "Auf das Freiheitsbewußtsein aber kann man sich in dieser Frage nimmermehr berufen; denn dies sagt uns, daß wir ohne Zwang, es sagt uns niemals, daß wir ohne Ursache handeln, oder daß die Beweggründe, die uns bestimmen, von ursprünglichen Anlagen und Lebensschicksalen unabhängig seien."
    24) Works (1818) tom. III. Seite 454.
    25) Im Schlußabschnitt seiner genannten Abhandlung, wo er uns zur Annahme der "wahren moralischen Freiheit" zu überreden trachtet, eingestandenermaßen transzendental und mysteriös wird, die kantische Hypothese eines intelligiblen Charakters zu Hilfe nimmt und wider seine im Vorhergehenden befolgte Methode das subjektive Verantwortlichkeitsgefühl als Zeugen für besagte Freiheit vorführt, ohne die Möglichkeit zu berühren, daß dieses Gefühl etwas Sekundäres, nämlich durch fremde Verantwortlichmachung Beigebrachtes sei. Treffende Kritik dieser SCHOPENHAUER'schen Lehre bei FERDINAND LABAN, die Schopenhauer-Literatur (1880), Seite 18 - 20, durch die Anführung einer Stelle von NIETZSCHE.
    26) Der Passus ist im griechischen Urtext in SCHOPENHAUERs Preisschrift im Abschnitt "Vorgänger" angeführt. Unter diesen Vorgängern hat SCHOPENHAUER den Dichter und Philosophen SHELLEY nicht genannt, was eine große Lücke bedeutet, da dessen Anmerkung zu einer Stelle seiner Königin MAB (Seite 104 - 109 der STRODTMANNschen Übersetzung) zum Bedeutendsten gehört was über die Frage geäußert worden ist, und er darin auch SCHOPENHAUER übertrifft, insofern er bei den Konsequenzen keine Hintertür ins Metaphysische eröffnet. Besonders einsichtsvoll sind folgende Worte: "Ein Anhänger der Notwendigkeitslehre handelt wider seine eigenen Grundsätze, wenn er sich dem Haß oder der Verachtung hingibt; zum Mitleid, das er mit dem Verbrecher empfindet, gesellt sich nicht der Wunsch, ihm Böses zuzufügen; er blickt mit erhabener und fruchtloser Ruhe auf die Glieder der allgemeinen Kette, wie sie seinen Augen vorübergleiten, während Feigheit, Neugierde und Wankelmut ihn nur im Verhältnis zu der Schwäche und Unbestimmtheit befallen, mit denen er die Täsuchungen des freien Willens erkannt und verworfen hat."
    27) Der Physiologe MOSSO bekennt daher a. a. O., Seite 58: "Ich glaube nicht, irgendein Verdienst zu haben, wenn ich meine Mutter liebe. Ich erinnere mich dessen, was sie für mich tat, und wenn auch alle unsere Zuneigung nur eine einfache automatische Befolgung der Instinkte wäre, wenn ich auch wüßte, daß wir beide nicht die Freiheit hatten anders zu handeln, so würde es mich geradeso freuen, derart beschaffen zu sein, daß ich die Erregung meines Herzens nicht zurückzuhalten vermag, sobald mir ihr Bild vor den Augen vorüberzieht."
    28) Zwar sagt richtig LUDWIG HALLER, Überzeugungstreue (Bearbeitung des Essay "On Compromise" von JOHN MORLEY, 1879), Seite LXXVI: "Sobald der Verfechter der Wahrheit sich dazu herabläßt, zu beweisen, daß die Wahrheit ungefährlich ist, erkennt er ja damit stillschweigend an, daß es noch etwas Höheres und Wichtigeres gibt, als die Wahrheit, und daß die Wahrheit sich erst darüber auszuweisen hat, daß sie dieses höhere Etwas nicht gefährden wird." Allein wer eine Wahrheit  verbreiten  will, ebnet ihr die Wege, wenn er versichern kann, daß der Anschluß an sie den Anhänger nicht in Nachteil setzt. Denn erfahrungsmäßig ist unter den Menschen der Wahrheitsdrang nicht die dominierende Strebung.
    29) Zum Beispiel RODBERTUS, Das Kapital (hg. von KOZAK), Seite 202: "Heute in einem Zustand mit Grund- und Kapitaleigentum und freier Konkurrenz für die Verwertung der Arbeit daneben, wird dieses Gesetz der natürlichsten und einfachsten  Gerechtigkeit  durch und durch auf das Gröblichste verletzt."
    30) "Ehemals schien es gerecht, die Nachkommen "bis ins zehnte Glied" die Sünden ihrer Väter büßen und die Söhne die vom Vater erworbenen Ehren und Titel genießen zu lassen. Gegenwärtig halten wir für gerechter, diese Solidarität der Nachfolge nicht zuzulassen und jeden für sich nach seinem Verdienst oder Verschulden zu behandeln." Laveleye-Bücher, Das Ureigentum, Seite 42 - "Gewöhnlich erwartet der ganze Stamm eine sofortige Bestrafung durch die Götter, wenn einer von ihnen das Althergebracht verachtet oder Neues beginnt. In späteren Zeiten und in kultivierten Ländern ist jeder nur für seine eigenen Handlungen verantwortlich, und niemand glaubt, daß das Mißverhalten anderer ihm Schuld aufladen kann." WALTER BAGEHOT, Der Ursprung der Nationen, 184, Seite 117 - 119, 161, 182. MAINE, Ancient Law, Seite 127. - WINDSCHEID, Lehrbuch des Pandektenrechts, § 59, Anm. 8 - Die berüchtigte Lex Quisquis in Cod. Just. 9, 8, 5.
    31) "Hält man jedoch, nach aristotelischem Vorgang, aber noch strenger das Wort beim Wort, so ist die Gerechtigkeit, die in unbefleckter Empfängnis den Inhalt des Rechts lebendig gebären soll, nichts anderes als die verhältnismäßige Gleichheit." - KNAPP, System der Rechtsphilosophie, Seite 208.