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JULIUS BINDER
(1870-1939)
[mit NS-Vergangenheit]
Der Wissenschaftscharakter
der Rechtswissenschaft

[1/2]

"Während das Ziel der Wissenschaft ein theoretisches ist, ist das Ziel der Ordnung  durchaus praktisch;  es geht auf die Schaffung einer das soziale Leben der Menschen durchaus durchdringenden, jedem Menschen und jedem Sachgut seinen bestimmten Platz anweisenden, realen Ordnung. Während daher die Bildung von ihrem Gegenstand adäquaten Begriffen den Zweck der Wissenschaft ausmacht, sind die Begriffe für die Jurisprudenz nichts als Mittel zu ihrem ordnenden Zweck; sie will ja gar nicht erkennen sondern normieren; der praktische Jurist darf gar keinen anderen Standpunkt einnehmen; seine Denkakte sind keine Erkenntnisse, sondern Entscheidungen." "Das, was an der Rechtswissenschaft praktisch ist, ist nicht die Wissenschaft, sondern das Recht; die Wissenschaft ist Theorie, nämlich vom Recht als etwas für die Praxis Geltendem. Ist also die Jurisprudenz Wissenschaft, so kann sie nur einem theoretischen Interesse dienen und es vermag daran der Umstand nichts zu ändern, daß ihr Gegenstand aus Normen für die Praxis und die Rechtsprechung besteht. Auch von solchen Normen kann und muß es ein objektiv gültiges Wissen, eine Wissenschaft geben."

Gibt es eine Wissenschaft vom Recht? Daß es in unserem Geistesleben etwas gibt, was Rechtswissenschaft heißt, steht außer Frage; aber ob es diesen Namen einer Wissenschaft vom Recht mit Recht führt, ist seit langem eine bestrittene Sache. Seitdem JULIUS von KIRCHMANN, der Berliner Staatsanwalt und spätere Begründer der "Philosophischen Bibliothek", seine allzuberühmte Broschüre über die "Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" veröffentlichte, ist der Streit über diese Frage nicht zur Ruhe gekommen. So sehen wir auch heute noch, wenn wir von den Juristen absehen, die als beati possidentes [die glücklich Besitzenden - wp] das betreiben, was wir die Rechtswissenschaft nennen, die öffentliche Meinung in zwei Lager geteilt, je nachdem sie den Wissenschaftswert der Jurisprudenz bejaht oder verneint. Dabei bewegt sich die Kontroverse noch immer in den Gedankengängen KIRCHMANNs und ist auch die neueste Apologie der Rechts-Wissenschaft (1) so durchaus durch sie bedingt und auf sie zugeschnitten, daß es uns, wenn wir versuchen wollen, das Problem unsererseits zu lösen, veranlaßt erscheint, zunächst einmal an KIRCHMANN selbst anzuknüpfen.


I.

Wenn KIRCHMANN von der Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft spricht, so liegt darin ein doppeltes Verdikt (2). Es wird nämlich damit nicht nur gesagt, daß diese Jurisprudenz sich mit Unrecht als Wissenschaft bezeichnet, sondern auch, und vor allem, daß das, was sich so nennt, wertlos ist, weil es, was es leisten sollte, nicht zu leisten vermag und zwar gerade wegen seiner wissenschaftlichen Ambitionen. Denn weil die Jurisprudenz Theorie, Wissenschaft sein will, dient sie nicht der Gerechtigkeit, sondern zerstört diese vielmehr. "Ein Volk muß wissen, was das Recht im einzelnen Fall fordert, und es muß mit Liebe seinem Recht ergeben sein. Werden dem Recht diese Momente genommen, so bleibt es wohl ein großes Kunstwerk, aber ein totes, kein Recht mehr!" ... "Selbst der Richter, der Gelehrte, wissen nicht unmittelbar, was im vorgelegten Fall Rechtens ist. Erst müssen dicke Gesetzbücher, staubige Kommentare gewälzt werden, um das zu finden, was in der Brust eines jeden klar geschrieben sein sollte". Und diese letztere Seite seiner Kritik steht, wie dies bei einem praktischen Juristen begreiflich ist, durchaus im Vordergrund, ihre eigentliche Aufgabe ist keine wissenschaftstheoretische, sondern eine praktisch-politische, die auf nichts Geringeres als auf die Beseitigung der gelehrten Jurisprudenz und ihre Ersetzung durch Volksgerichte ausgeht, die dem einzelnen Fall "sein Recht" unmittelbar aus der Volksüberzeugung heraus sprechen und gewähren sollen. Gegenüber dieser grundsätzlichen Tendenz tritt das absprechende Urteil KIRCHMANNs über den Wissenschaftswert der Jurisprudenz an Bedeutung zurück; es hat nur die ergänzende Aufgabe, die vollkommene Überflüssigkeit dieser Disziplin darzutun, indem gezeigt werden soll, daß diese sogenannte Wissenschaft nicht einmal eine wirkliche Wissenschaft ist und so von keinem Gesichtspunkt aus eine Daseinsberechtigung hat. In diesem Zusammenhang fallen KIRCHMANNs viel zitierte Worte von den drei berichtigenden Worten des Gesetzgebers, die ganze Bibliotheken der Juristen zu Makulatur werden lassen. (3), von der Rechtswissenschaft, die "aus einer Priesterin der Wahrheit zu einer Dienerin des Zufalls wird", deren Gegenstand "statt des Ewigen, Absoluten, das Zufällige, Mangelhafte wird". Die Wissenschaft hat es für ihn mit den Gesetzen des Ewigen und Gleichmäßigen zu tun; im Recht gibt es das nicht; es ist dem beständigen Wechsel unterworfen, ist ein Gebilde der frei schaltenden Willkür. Während Fixsterne und Planeten heute wie vor Jahrmillionen dieselben Bahnen ziehen, hat die Rechtswissenschaft das Zufällige zu ihrem Gegenstand und "wird damit selbst zur Zufälligkeit". Es ist die Wissenschaftsauffassung des damals herrschenden naturwissenschaftlichen Positivismus, die hier zu Wort kommt.

Von diesen beiden die Schrift KIRCHMANNs beherrschenden Tendenzen wurde natürlich in der damaligen Zeit - sie erschien im stürmischen Jahr 48 - die erste, die politisch-revolutionäre, vor allem beachtet und so ist es begreiflich, daß auch die Kritik der Zeitgenossen  sie  fast ausschließlich zum Gegenstand ihrer Erörterung macht. Das gilt vor allem von JULIUS STAHLs, des konservativen Rechtsphilosophen und Politikers Gegenschrift "Rechtswissenschaft oder Volksbewußtsein" (4), die das Wissenschaftsproblem durchaus beiseite stellt und ausschließlich die praktischen Postulate KIRCHMANNs bekämpft. (5) Aber gerade infolge der Nichtbeachtung jener anderen, wenn auch untergeordneten Tendenz der Broschüre ist sie in der Folgezeit wirksam geblieben; mit der Beruhigung der politischen Leidenschaften sind ihre praktischen Forderungen sehr bald vergessen worden und heute erweckt der Name KIRCHMANN kaum mehr als die Erinnerung an seinen rechtswissenschaftstheoretischen Skeptizismus. In der Tat hat die Schrift nur in dieser Richtung eine Nachwirkung gehabt, diese aber bis in die jüngste Gegenwart hinein, und zwar, seltsamerweise, obwohl die Zeiten des Positivismus vorbei sein dürften. Dies scheint mir damit zusammenzuhängen, daß jene erste Kritik die theoretische Seite des KIRCHMANNschen Problems außer Acht gelassen hat.

So handelt es sich in der neueren Literatur im Grunde nicht mehr um den Kampf gegen die Jurisprudenz als einer praktischen Disziplin, den STAHL ganz richtig als einen Kampf eher gegen das positive Recht bezeichnet hat, als vielmehr um das theoretische Problem, um die Frage, ob die Rechtswissenschaft den Namen einer Wissenschaft verdient, und, wenn nein, was sie anfangen muß, um sich diesen Namen zu verdienen. Es ist jedoch in dieser Beziehung höchst charakteristisch für den praktischen Sinn der Leute, die sich mit dieser Frage beschäftigen, wie  dieses  zunächst jedenfalls rein theoretische Problem alsbald eine praktisch-politische Seite gewonnen hat. Getragen vom Geist des Positivismus und der Vorstellung, daß nur die Lehre vom ewig sich gleichbleibenden Unveränderlichen, den Naturgesetzen Unterworfenen das Recht habe, sich Wissenschaft zu nennen, hat man alsbald gesucht, dem Recht mit seinen wechselnden, von Menschen geschaffenen Normen einen anderen Gegenstand zu substituieren, der infolge seiner Konstanz geeignet wäre, die Jurisprudenz zur Wissenschaft zu "erheben", hat man eine Wissenschaft von den Gesetzen und Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens der Menschheit postuliert, die ihrerseits die Grundlage für die Jurisprudenz zu bilden hätte. So verdankt dieser Kritik die naturwissenschaftlich orientierte Jurisprudenz und Soziologie ihre Entstehung, wobei sie freilich von der gesamten Zeitstimmung unterstützt worden ist. Es genügt, auf Leute wie DANKWARTH, POST, BÖHM-BAWERK, PACHMANN, GUMPLOWICZ und die ganze moderne Soziologenschule zu verweisen. Wo man aber nicht soweit ging, der Rechts-Wissenschaft einfach einen anderen Gegenstand unterzuschieben, um sie als Wissenschaft zu retten, da war man und ist man noch heute sehr geneigt, diesen Wissenschaftscharakter zu verneinen und der Jurisprudenz bestenfalls den Rang einer  Technik  zuzuerkennen. So etwa CHAMBERLAIN, RUMPF, NUSSBAUM, BAUMGARTEN. Vor allem spricht MAX RUMPF (6), einer der jüngsten Bearbeiter dieses Themas, der Jurisprudenz den Wissenschaftscharakter deshalb ab, weil sie beständig auf Wertungen und Willensentscheidungen angewiesen sei, während Mathematik und Naturwissenschaften "durch ihr wertfreies Verfahren stets eine relativ große Objektivität und Zuverlässigkeit ihrer Arbeitsweise und Arbeitsergebnisse zu erreichen hoffen können". So wird die Wertfreiheit der Naturwissenschaft zur Bedingung ihrer Wissenschaftlichkeit, und damit hängt es zusammen, daß die Geschichte, die RUMPF als wertbeziehendes Denken auffaßt, für ihn günstigstenfalls eine "Halbwissenschaft" ist, deren Objektivität eben durch diese Beziehung auf Werte in Frage gestellt wird (7), sowie weiter, daß für ihn "die Jurisprudenz von strenger Wissenschaftlichkeit noch weiter entfernt ist als z. B. die Geschichte" (8). Denn da das "Rechtssystem" "heutzutage von keienr sehr großen Bedeutung mehr ist" (!) und "die systematisch Auslegung der Rechtsnormen eine vorwiegend praktische Aufgabe verfolgt", kann es für seine Stellungnahme zum Problem der Rechtswissenschaft nicht auf die Rechtssystematik ankommen. Wissenschaftlich in dem Sinn, daß es "volle Objektivität und Allgemeingültigkeit seiner Denkergebnisse erstreben und erreichen kann", ist das juristische Denken für diesen Denker nicht; denn da für den Richter wie für den Gesetzgeber "subjektiv gefärbte Werturteile und Willensentscheidungen" unentbehrlich sind, kann "von einer Allgemeingültigkeit ihres Denkens nicht die Rede sein". So sind ihm die Naturwissenschaften Wissenschaften, die Geschichte eine Halbwissenschaft, die Jurisprudenz "eine Unwissenschaft". Und indem er das "Relative, Opportunistische, ja Willkürliche" betont, das angeblich mit allem positiven Recht und seiner Anwendung verbunden ist, sieht er sich veranlaßt, die Jurisprudenz als eine "Ordnung" zu erklären, und das juristische Denken als "ordnendes Denken" (9) Während das Ziel der Wissenschaft ein theoretisches ist, ist das Ziel der Ordnung "durchaus praktisch"; "es geht auf die Schaffung einer das soziale Leben der Menschen durchaus durchdringenden, jedem Menschen und jedem Sachgut seinen bestimmten Platz anweisenden, realen Ordnung". Während daher für ihn die Bildung von "ihrem Gegenstand adäquaten Begriffen" den Zweck der Wissenschaft ausmacht, sind die Begriffe für die Jurisprudenz nichts als Mittel zu ihrem ordnenden Zweck; sie will ja gar nicht erkennen sondern normieren; und "der praktische Jurist darf gar keinen anderen Standpunkt einnehmen; seine Denkakte sind "keine Erkenntnisse, sondern Entscheidungen" (10). Freilich sieht sich RUMPF genötigt, zuzugeben, daß sich der Theoretiker des Rechts "schon eher theoretisch als der Gesetzgeber und der Richter verhält"; daß er in der Regel "ein deutendes Denken" oder doch ein "diesem nahestehendes Denken" übt. Aber dabei gibt es viele "Nuancen"; wer ein Gesetzbuch kommentiert, steht nach RUMPF dem Richter schon recht nahe; der Gelehrte dagegen, der die Rechtsnormen sowohl wie das Rechtsleben und seine Erscheinungen "kühl und rein theoretisch betrachtet und erforscht", "als etwas, was  ist also den Seinscharakter des Rechts statt seines Geltungscharakters", der kann viel eher als der deutende oder gar der ordnende Jurist hoffen, objektiv richtige Ergebnisse zu erzielen, er kann "mit Fug behaupten, daß seine Arbeit wissenschaftlicher sei als die manches Geschichtsschreibers". Aber man soll das nicht überschätzen: denn dabei besteht die Gefahr, daß einem "auf der Jagd nach solcher Wissenschaftlichkeit jegliche Fühlung mit dem Rechtsleben verloren geht". Es lassen sich gewiß "in dieser reinen Luft" "Wahrheiten finden von ziemlich strenger Objektivität". Aber "es sind im besten Fall diplomatische Wahrheiten (?) die sich dem Forscher offenbaren". (11) -

Sowenig ich das ernste Ringen dieses Autors mit seinem Problem verkenne, so liegt doch für mich wie für die Leser der Kantstudien die Fehlerhaftigkeit seiner Erörterung klar zutage. Der Verfasser fragt ja gar nicht, was Rechts wissenschaft  heißt; für ihn ist der Mann dieser Wissenschaft ohne weiteres der  Jurist,  und Rechtswissenschaft ohne weiteres Identisch - um einen ganz allgemeinen Ausdruck zu gebrauchen - mit "Juristerei", tritt mit dem Anspruch auf, Wissenschaft zu sein; von dieser Voraussetzung aus werden ja allein RUMPFs Ausführungen über das subjektive Element dieser "Wissenschaft", über die Rolle, die "Werturteile und Willensentscheidungen" darin spielen, wird die Gegenüberstellung von "Erkenntnissen" und "Entscheidungen" und seine Theorie vom ordnenden Denken verständlich. Die Frage: wie müßte eine Beschäftigung mit dem Recht beschaffen sein, damit sie als Wissenschaft zu werten wäre, und die weitere Frage: gibt es eine diesem Begriff von Wissenschaft entsprechende Disziplin, taucht überhaupt nicht über dem Horizont des Verfassers auf. Und damit bleibt natürlich das Problem, ob es eine Wissenschaft vom Recht gibt, und was diese Wissenschaft vom Recht ist, ungelöst.

Wissenschaftlich etwas besser fundiert ist das Urteil NUSSBAUMs (12), der der Jurisprudenz gleichfalls den Wissenschaftscharakter abspricht und zwar wiederum unter Anknüpfung an das KIRCHMANNsche Pamphlet, wenn auch der Versuch KIRCHMANNs als "im Großen und Ganzen mißglückt" bezeichnet wird (13). Es berührt den Wissenschaftstheoretiker angenehm, wenn er sieht, wie hier an der Methode KIRCHMANNs Kritik geübt wird, wenn ausgeführt wird, es fehle seiner Arbeit vor allem "an einer scharfen Problemstellung" und die einzelnen Glieder seiner Beweisführung "schlössen sich nicht zusammen", es zeige sich allenthalben "eine schlimme Begriffsverwirrung", insofern einerseits "Rechtswissenschaft, Gesetzgebungspolitik und forensische Praxis, andererseits positives und Naturrecht miteinander verwechselt werden". Und über den schließlichen Vorschlag KIRCHMANNs ist nach NUSSBAUM "kaum ein Wort zu verlieren. Seine Erfüllung würde, wenn sie überhaupt möglich wäre, eine unerhörte Willkür, Ungleichheit und Unsicherheit in der Rechtsprechung herbeiführen". Stimmen wir darin durchaus zu, so müssen wir auch anerkennen, daß er selbst dem Problem um einiges methodischer zu Leibe geht als KIRCHMANN oder irgendein anderer seiner Vorgänger, vor allem auch als der soeben behandelte RUMPF. Er ist sich bewußt, daß man "nicht gleich nach dem Wert oder Unwert der Jurisprudenz fragen muß, sondern sich zunächst über Aufgabe und Methode der Jurisprudenz einigen muß, da davon die Entscheidung über den Wert wenigstens zum Teil abhängt." Aber freilich: seinen weiteren Ausführungen und seinem Schlußergebnis müssen wir doch wieder ablehnend gegenüberstehen, so gern wir manche seine einzelnen Gesichtspunkte, z. B. seine Unterscheidung von Haupt- und Hilfsdisziplinen, annehmen. Denn NUSSBAUM erkennt zwar die Notwendigkeit einer "besonderen theoretischen Rechtslehre" an, aber sie erscheint ihm auch bloß als Mittel für die juristische Praxis (14). Ihre Notwendigkeit ergibt sich für ihn nur "aus den Unvollkommenheiten jedes positiven Rechts, aus den Schwierigkeiten, die sein Rohstoff der Rechtsanwendung entgegenstellt. Denn aus ihm kann häufig "nur mit Hilfe der theoretischen Rechtslehre die Norm gefunden werden, die die Entscheidung des konkreten Falles ermöglicht", und "man bedarf dieser Hilfe in zunehmendem Maße, je komplizeirter sich Rechts- und Lebensverhältnisse gestalten" (15). Hierin erblicke ich den ersten Fehler in der Deduktion dieses Autors. Es ist eine unbewiesene und mit Erlaub irrige Voraussetzung, daß die theoretische Rechtslehre nur im Bedürfnis der Praxis nach einem handlichen Material begründet sei, wobei übersehen wird, daß doch schließlich ein rein objektives Verhältnis zum Recht selbst wie zu irgendwelchen anderen Erscheinungen des Kulturlebens denkbar ist und seine Berechtigung haben muß. Die Kunstgeschichte ist doch schließlich auch nicht nur für die Künstler da. Einen weiteren Fehler seiner Erörterung sehe ich darin, daß er meint, die Jurisprudenz habe der Praxis dadurch ihre Hilfe zu leisten und ihre Aufgabe bestehe also darin, "die in den Rechtsnormen auftretenden Begriffe, die  Rechts begriffe, zu  definieren".  Denn dabei wird vorausgesetzt, daß Rechtsbegriffe Begriffe sind, die in den Normen enthalten, also vom Gesetzgeber vorausgesetzt und verwendet werden, und daß die Rechtswissenschaft diese Begriffe nur zu  bestimmen  hat. Das Verhältnis der Rechtswissenschaft zu den Rechtsbegriffen ist aber ein anderes; und NUSSBAUM wäre in diesen Irrtum nicht verfallen, wenn er sich überhaupt klar zu machen versucht hätte, was Wissenschaft heißt. Denn nicht Begriffe zu definieren ist die Aufgabe der Wissenschaft, die sie irgendwoher empfängt, (16) sondern sie zu  bilden;  die Rechtssätze sind das Material, aus dem die Begriffe zu bilden sind, und Rechtsbegriffe sind nicht in Rechtsnormen enthaltene, sondern aus ihnen zu bildende Begriffe. Darin ist es ja vor allem begründet, daß der Gesetzgeber nicht zu definieren hat. Aus welchem Grund, zu welchem Zweck diese Tätigkeit - der Begriffsbildung - erfolgt, kann dabei zunächst dahingestellt bleiben; es wäre denkbar, daß sie diese Begriffe bildet, um damit der praktischen Jurisprudenz ein handliches Werkzeug zu liefern, aber es ist ebenso denkbar, daß sie sich dieser Aufgabe aus rein theoretischem Interesse, aus der Freude am Begriff und am Begreifen, unterzieht. Wenn wir nun im weiteren NUSSBAUM zugeben, daß wir zur Gewinnung dieser Begriffe - und weiter der "höheren, auf Analogie beruhenden Begriffe" - vor allem "die legislativen Gesichtspunkte" heranziehen müssen, daß wir, "den Zweck berücksichtigen müssen, den der Gesetzgeber verfolgt, und der "ein rein praktischer ist", im Gegensatz zu "Astronomie, Biologie und anderen Naturwissenschaften", deren eigentliche Bestimmung nicht auf praktischem Gebiet liegt, und zu den Kulturwissenschaften, bei denen das praktische Moment "ganz in den Hintergrund tritt", wie bei Sprach- und Geschichtswissenschaft, (17) so vermögen wir ihm doch deshalb nicht auch darin beizupflichten, daß zwar diese beiden Gruppen von Wissenschaften sich die Aufgabe stellen, "auf ihrem Gebiet die Wirklichkeit zu erkennen", während die Jurisprudenz "eine ganz andere Aufgabe" haben würde, insofern ihr Gegenstand nicht die Wirklichkeit, nicht das Sein, sondern "das Sollen" ist, sodaß die Frage nach "der kausalen Verknüpfung der Erscheinungen" "hier überhaupt nicht entstehen kann." (18) Es ist zwar richtig, daß die juristische Theorie nichts weiter wollen kann, als "den Inhalt des ihr gegebenen positiven Rechts näher zu bestimmen". Aber es ist falsch, daß erst durch die Praxis "ein Zusammenhang zwischen juristischer Theorie und Wirklichkeit hergestellt wäre", der darin bestehen soll, daß "die Erscheinungen des Rechtslebens rubriziert werden". Denn gerade dieses positive Recht ist, was der Verfasser infolge seiner voreiligen Gegenüberstellung von Sein und Sollen nicht bemerkt, ein Stück Wirklichkeit, freilich nicht ein Stück der Natur, das es ermöglicht und sogar fordert, eine objektive Erkenntnis von ihm zu erlangen. Und insofern müssen wir die von NUSSBAUM behauptete methodologische Sonderstellung der Jurisprudenz in Abrede stellen. Mit ihr aber hängt nun auch - wobei die Beeinflussung durch KIRCHMANN ersichtlich wird - nach NUSSBAUM "manche weitere Eigentümlichkeit zusammen, die von jeher zu Zweifeln an ihrer Gleichberechtigung im Rang der akademischen Disziplinen geführt hat": vor allem "die Vergänglichkeit der juristischen Gedankenarbeit". Denn "letztere steht und fällt mit dem positiven Recht, dessen Auslegung sie dient". Nur in wenig seltenen Fällen behalten auch nach ihm juristische Arbeiten über den Wechsel der Gesetzgebung hinaus "einen literarischen, rechtsgeschichtlichen oder gesetzespolitischen Wert", und können einzelne Gedanken auch für die Auslegung des neuen Rechts verwendet werden; nämlich "soweit das letztere dem älteren Recht gleichartig ist"; aber "die wesentliche Bedeutung einer juristischen Untersuchung wird durch eine materielle Änderung des Rechts, auf das sie sich bezieht, in der Tat aufgehoben". Darin erblickt also auch NUSSBAUM eine Besonderheit der Rechtswissenschaft. Denn es sind zwar auch "in den der Erkenntnis zugewandten Disziplinen" "selbst die bedeutendsten Schöpfungen der Gefahr des Veraltens ausgesetzt"; aber dadurch wird ihnen ihr wesentlicher Wert nicht genommen: haben sie nämlich überhaupt einmal zum Fortschritt der Wissenschaft beigetragen, so kann ihr die dadurch erzielte Förderung nicht mehr verloren gehen auch wenn das betreffende Werk selbst "jede Aktualität eingebüßt hat". Daß das bei rechtswissenschaftlichen Arbeiten nicht zutrifft, wird von NUSSBAUM nicht bewiesen, sondern vorausgesetzt, und zwar um der Grundvoraussetzung seiner Untersuchung willen, die er mit KIRCHMANN und RUMPF und anderen gemein hat, daß nämlich diese Jurisprudenz eine praktische Disziplin ist, die keinen Erkenntniszweck verfolgt, sondern dem Leben dienen soll: "Die Arbeit, die etwa auf die Auslegung eines älteren partikulären Strafgesetzbuchs verwendet worden ist, und dessen Anwendung damals noch so sehr gefördert hat, ist für den gegenwärtigen Stand der Rechtslehre vergebens getan". Ebenso ist durchaus an KIRCHMANN orientiert seine weitere Ausführung über die der Jurisprudenz angeblich eigentümliche "nationale Beschränktheit", die zur Folge haben soll, daß es "im Grunde so viele Jurisprudenzen gibt, wie theoretisch behandelte positive Rechtssysteme" (19). Aber auch damit greift er daneben: denn es leuchtet ein, daß nur dieses Material der Rechtswissenschaft national verschieden gestaltet ist, und daß sich diese Verschiedenartigkeit in gar nichts von der chaotischen Buntheit des Materials der empirischen Wirklichkeit unterscheidet, das die Naturwissenschaft zu verarbeiten hat. Dagegen erhebt sich NUSSBAUM über KIRCHMANN, indem er, an seine Behauptung anknüpfend, daß die Jurisprudenz wegen dieser Besonderheiten keine Wissenschaft sei, die entscheidende Frage stellt, "was unter Wissenschaft zu verstehen sei". (20) Nur erweist sich leider auch seiner Erörterung zu dieser Frage wieder als ganz und gar unzureichend. Denn er vermag weiter nichts, als "aus der Fülle von Wissenskomplexen, die die Menschheit besitzt", diejenigen als  Wissenschaften  herauszuheben, "deren Gegenstand die Erkenntnis der Wirklichkeit ist" (21), um so einen Begriff von Wissenschaft aufzustellen, "der durch seine Abstellung auf das reine Erkennen und die Ausscheidung des lediglich Praktischen auch inhaltlich befriedigt". Und wenn es daher richtig wäre, daß es die Jurisprudenz mit dem "rein Praktischen" zu tun hat, was NUSSBAUM mit seinen Vorgängern voraussetzt, dann wäre freilich aufgrund dieser Definition der Rechtswissenschaft das Urteil gesprochen. Denn dann "würden zu den Wissenschaften gehören z. B. die Naturwissenschaften, die Geschichte, die Volkswirtschaftslehre (??), die Soziologie, die Psychologie, nicht aber die Jurisprudenz". So bleibt NUSSBAUM nichts weiter übrig, als auf die Frage, was dann aber die Jurisprudenz sei, zu antworten: Das sie auch keine Kunst ist, so könnte man sie "am ehesten" noch methodologisch als Technik bezeichnen, wie dies der unsterbliche Dilettant, HOUSTON STEWART CHAMBERLAIN, in seinen "Grundlagen" schon längst vor ihm getan hat. Denn NUSSBAUM versteht unter Technik eine Disziplin, die sich "die Gewinnung von Regeln für praktisches Handeln, für die  Gestaltung  der Wirklichkeit zum Ziel setzt". Nur ist er feinsinnig genug, zu erkennen, daß ein bedeutsamer Unterschied zwischen der Jurisprudenz und anderen technischen Disziplinen besteht: während Maschinenbaukunde, Strategie, Politik usw.  selbst  die Regeln für das praktische Handeln aufstellen, wird diese Aufgabe nicht von der Jurisprudenz, sondern von der Gesetzgebung besorgt, sodaß der Jurisprudenz lediglich obliegt, "den Inhalt dieser Regeln näher zu bestimmen". Umso auffallender aber ist seine Behauptung am Schluß: es müsse dabei bleiben, daß die Jurisprudenz nicht der Wirklichkeitserkenntnis, sondern dem rein praktischen Zweck der Rechtsanwendung zu dienen habe, und daß sie dadurch zu den Wissenschaften in einen Gegensatz gerate, der "die Methode und Stellung dieser Disziplin im Pripnzip wie in den Einzelheiten entscheidend beeinflusse". Insbesondere müsse es dabei bleiben, "daß die juristisch-theoretische Gedankenarbeit nicht um ihrer selbst willen, sondern nur insoweit eine Daseinsberechtigung besitze, als sie der Praxis zu nützen vermöge", und wenn das Streben nach Erkenntnis höher stehe als das Streben nach praktischen Zielen, der müsse "den Wissenschaften den Vorrang vor der Jurisprudenz einräumen". NUSSBAUM sieht also das Problem nicht, daß seine eigene Erörterung aufdeckt, wenn er den Gegensatz konstatiert, in dem die Jurisprudenz gegenüber den anderen "technischen" Disziplinen steht. Indem sie nicht die Regeln für die Praxis, für die Gestaltung des sozialen Lebens aufzustellen hat, sondern diese Aufgabe dem Gesetzgeber, dem positiven Recht, überlassen und sich selbst darauf beschränken muß, "den Inhalt dieser Regeln näher zu bestimmen", stellt sie sich in einen nicht zu übersehenden Gegensatz zur Technik. Sollte diese Feststellung des "Inhalts von Regeln des positiven Rechts" nicht etwas von Erkenntnis sein? Das wäre die eine Frage, die ich an NUSSBAUM aufgrund seiner Erörterung zu richten habe; und an sie schließt sich alsbald eine zweite: was denn überhaupt mit dem Schlagwort einer "praktischen Disziplin" gesagt sein soll. Liegt nicht in diesem Ausdruck schon ein Widerspruch? Praktisch im eigentlichen Sinn ist wohl nur die Praxis, das  prattein  selbst; die Willensbetätigung als solche. Praktisch ist daher nicht eine Lehre von dieser Tätigkeit und für sie; weder von den wirklichen Willensphänomenen, noch von den Regeln, denen das Handeln unterworfen ist. Diese Regeln müssen vielmehr, ebenso wie die Phänomene des Willens, Gegenstand theoretischer Erkenntnis sein können und daß sie es sind, das bestätigt uns die Rechtswissenschaft. So hätte sie es mit Rechtsnormen als dem Reich der Wirklichkeit angehörigen Inhalten zu tun und bestände nur insofern eine praktische Beziehung dieser ansich theoretischen Disziplin, als diese Normen eben für das praktische Leben der Menschen gelten. Niemals aber könnte dadurch jene Entgegensetzung von praktischem und theoretischem Interesse gerechtfertigt werden, die NUSSBAUM durchführen zu können glaubt: das, was an der Rechtswissenschaft praktisch ist, ist nicht die Wissenschaft, sondern das Recht; die Wissenschaft ist Theorie, nämlich vom Recht als etwas für die Praxis Geltendem. Ist also die Jurisprudenz Wissenschaft, so kann sie nur einem theoretischen Interesse dienen und es vermag daran der Umstand nichts zu ändern, daß ihr Gegenstand aus Normen für die Praxis und die Rechtsprechung besteht. Auch von solchen Normen kann und muß es ein objektiv gültiges Wissen, eine Wissenschaft geben.
LITERATUR Julius Binder, Der Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft, Kantstudien, Bd. 25, Berlin 1920
    Anmerkungen
    1) MAX SALOMON, Grundlegung der Rechtsphilosophie, Berlin und Leipzig 1920. - Dieser Aufsatz möge als Anzeige dieses Werkes in den "Kantstudien" gelten.
    2) Vgl. dazu auch MAX RUMPF, Volk und Recht, 1910, Seite 95
    3) KIRCHMANN, Seite 17
    4) JULIUS STAHL, Rechtswissenschaft und Volksbewußtsein, Berlin 1848
    5) KARL FRIEDRICH BURDACH, Der Mensch nach den verschiedenen Seiten seiner Natur, 1854, Seite 631
    6) RUMPF, a. a. O. Seite 89
    7) Wobei freilich RUMPF eine sehr eigenartige Vorstellung vom Wesen der Wertbeziehung hat, die er von der Bewertung durchaus nicht zu unterscheiden vermag.
    8) RUMPF, a. a. O. Seite 91
    9) RUMPF, a. a. O. Seite 100
    10) RUMPF, a. a. O. Seite 109
    11) RUMPF, a. a. O. Seite 113
    12) ARTHUR NUSSBAUM, Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Bd. IX, 1906, Seite 1f. Vgl. auch RADBRUCH, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1914 ,Seite 203.
    13) NUSSBAUM, Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Bd. IX, 1906, Seite 3
    14) NUSSBAUM, Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Bd. IX, 1906, Seite 6
    15) NUSSBAUM, Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Bd. IX, 1906, Seite 6
    16) Darüber schon ELTZBACHER, Über Rechtsbegriffe, Seite 17, Nr. 7 gegen WINDSCHEID, Pandekten I, § 24 und ZITELMANN, Irrtum und Rechtsgeschäft, Seite 17.
    17) NUSSBAUM, Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Bd. IX, 1906, Seite 9
    18) NUSSBAUM, Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Bd. IX, 1906, Seite 10
    19) Was natürlich nur unter Voraussetzung zutrifft, daß man unter Jurisprudenz einen Gegenstand und nicht eine Methode versteht, was falsch ist.
    20) NUSSBAUM, Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Bd. IX, 1906, Seite 12
    21) NUSSBAUM, Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Bd. IX, 1906, Seite 15