ra-2G. RadbruchSomloO. KrausJ. LukasR. Sohm    
 
OSKAR von BÜLOW
(1837-1907)
Gesetz und Richteramt

"Das Recht ist ein Ergebnis der Erfahrung. Es hat herausexperimentiert werden müssen: es ist ein Erzeugnis bitterer Rechtsnot, die von Fall zu Fall dahin gedrängt hat, den Gut und Leben gefährdenden Widerstreit der menschlichen Selbstsucht und Leidenschaft durch den unparteiischen Rechtsspruch der machtvollen Staatsgewalt schlichten zu lassen."

"Unsere Gesetze sind ja keine einheitlichen Willenserklärungen einzelner Personen! Sie sind Kollektiverklärungen, zu deren Hervorbringung viele und vielerlei Menschen mitwirken. Wollten wir bei ihnen allen einzeln Umfrage halten, was man, was dieser vielköpfige Gesetzgeber eigentlich gemeint oder gewollt habe, nun: so würde zunächst wohl Mancher als ehrlicher Mann die Antwort ganz schuldig bleiben müssen, da er sich nun einmal bei der Gesetzesbestimmung gar nichts gedacht hat, vielleicht den von juristischen Fachworten starrenden Gesetzesentwurf, auch wenn er ihn wirklich durchgelesen haben sollte, gar nicht hat verstehen können. Bei den Übrigen hätten wir uns aber auf die Möglichkeit recht verschiedenartiger Antworten gefaßt zu machen."


Vorbemerkung

Dieser Schrift liegen zwei öffentliche Vorträge zugrunde: die Rede, welche zum Geburtsfest Seiner Majestät des Königs KARL von Württemberg am 6. März des Jahres von mir als dem damaligen Rektor der Universität Tübingen gehalten worden ist, und die Antrittsvorlesung, mit welcher ich mich vor einigen Wochen als ordentlicher Professor an der Universität Leipzig habilitiert habe.

Der geringe Umfang der Schrift wird wohl manchem im Mißverhältnis zur Größe des Gegenstandes zu stehen scheinen. Da ich aber bei den ersten Formgebungen zu einer möglichst knapp zusammenfassenden und zugleich auf allgemeinere Verständlichkeit abzielenden Behandlung des reichen Stoffes genötigt gewesen war, so trug ich Bedenken, diesen nicht ohne einige Schwierigkeit gewonnenen Vorteil alsbald wieder aufzugeben und habe daher, als ich die beiden Vorträge zum Zweck ihrer Vereinigung umarbeitete, wohl auch manchem zu Dank, der Versuchung widerstanden, dieselben zu einem größeren Werk anwachsen zu lassen. Infolgedessen durfte ich mich auch der Beifügung von Literaturnachweisungen für überhoben halten. Jedoch glaubte ich bei der Veröffentlichung von Ansichten, welche der überlieferten Theorie von Grund auf entgegengesetzt sind, darüber Rechenschaft zu geben sollen, auf welchem Weg ich zu ihnen gelangt bin.

Obwohl die Ergebnisse in die allgemeine Lehre von den Rechtsquellen einschlagen, sind sie doch nicht etwa aus Überlegungen hervorgegangen, die auf eine wiederholte Prüfung der Rechtsquellenfrage abgestellt gewesen wären. Vielmehr haben sie sich aus prozessualischen Beobachtungen und Untersuchungen entwickelt, insbesondere solchen, welche das Wesen und die Wirksamkeit des richterlichen Urteils zum Gegenstand hatten.

Aus diesen entsprang zunächst die Überzeugung, daß die richterlichen Rechtssprüche in viel näherer Verwandtschaft zu den objektiven Rechtsbestimmungen stehen, als allgemein angenommen wird. Schon in der Schrift über die Lehre von den Prozeßeinreden und die Prozeßvoraussetzungen 1868, Seite 3, habe ich dies ausgesprochen. Diese Ansicht begegnete sich, zumindest in einer Hauptrichtung, mit der Auffassung des richterlichen Urteils, die in KIERULFFs Theorie des gemeinen Zivilrechts 1839 tiefsinnig entwickelt worden, aber merkwürdigerweise fast völlig unbeachtet geblieben war, wohl infolge des übermächtigen Einflusses, den die von KIERULFFs Auffassung kaum Notiz nehmenden Urteilstheorien PUCHTAs und SAVIGNYs (System des heutigen römischen Rechts, Bd. 6, 1847) ausübten, vielleicht auch deshalb, weil die apodiktisch hingestellten Behauptungen KIERULFFs keinen genügend vorbereiteten Boden des Verständnisses vorgefunden hatten: eine Vermutung, die mir zumindest durch eigene Erfahrung nahe gelegt ist, da mir die Bedeutung der KIERULFFschen Ansicht, ehe ich von prozessualischen Untersuchungen aus zu einem ähnlichen Ergebnis gelangte, gänzlich verborgen, ja unverständlich geblieben war. Sonst war eine verwandte Auffassung meines Wissens bloß noch in den lichtvollen Bemerkungen, mit welchen BÄHRs Rechtsstaat 1864 eingeleitet ist, hervorgetreten.

Jener Grundgedanke gewann allmählich größere Festigkeit und vollere Entfaltung, so daß ich in einem Vortrag, der 1875 in einer wissenschaftlichen Gesellschaft in Tübingen über die unvermeidlichen Abweichungen des in der Rechtsprechung heraustretenden Rechts vom Gesetzesrecht gehalten wurde, schon zu einem Teil der Entwicklungen voranschreiten konnte, die in der vorliegenden Schrift reiflicher durchdacht und besser begründet vorgetragen werden. Von nun an fehlte es auch nicht mehr an Äußerungen von anderer Seite, die mich in der weiteren Verfolgung des eingeschlagenen Weges bestärkten. DEGENKOLB betonte in seiner Schrift über Einlassungszwang und Urteilsnorm 1877 ebenfalls die gesetzesähnliche Beschaffenheit des Urteils, freilich unter mancherlei Vorbehalten und Einschränkungen. Was JHERING in seinem Zweck im Recht 1877, Bd. 1, Seite 327-333 über das "Individualgebot" bemerkte, trug, obwohl ohne Beziehung auf das richterliche Urteil geäußert, zur Ausreifung der Gedanken über die richterliche konkrete Rechtsschaffung bei, nachdem ich längst aus JHERINGs früheren Werken reiche Aufschlüsse über viele Grundfragen erhalten hatte, die für das in Angriff genommene Problem mittelbar von Bedeutung sind.

Gelegentlich der Abhandlung über zivilprozessualische Fiktionen und Wahrheiten 1879 (Archiv für die zivilistische Praxis, Bd. 63, Seite 1 - 96) wurde ich mir sodann über die Unhaltbarkeit eines wichtigen Stützpunktes klar, den die herkömmliche Auffassung des richterlichen Urteilsberufs in der Fiktion der Gesetzmäßigkeit aller Urteile gefunden hatte und habe dort meine Auffassung des Richteramtes in einem Exkurs (Seite 93 und 94) schon etwas schärfer angedeutet. In der Abhandlung über dispositives Zivilprozeßrecht in derselben Zeitschrift 1881, Seite 84, kamen einige weitere Andeutungen hinzu.

Alle diese Andeutungen sind bis jetzt auf keinen Widerspruch gestoßen und dies dürfte vielleicht nach den Erfahrungen, die mit der Aufstellung neuer juristischer Ansichten meistens verbunden sind, als ein hoffnungsvolles Anzeichen gelten. Aber auch ausdrückliche Zustimmung ist nicht ausgeblieben. Am vollständigsten habe ich sie bei KLÖPPEL, die Einrede der Rechtskraft 1882 (insbesondere Seite 60-67) gefunden, der meinen Gedankengang mit tief eindringendem Verständnis erfaßt und selbständig weiter verfolgt hat, während das Buch von A. S. SCHULTZE, Privatrecht und Prozeß, I. Teil, 1883 trotz mancher anscheinender Berührungen mit meinen Ansichten doch Wege nimmt, die von denselben weit abführen. Von den Äußerungen, welche auf Übereinstimmung zumindest mit einem Teil der hier vertretenen Meinungen schließen lassen, hebe ich namentlich hervor: LABAND, Das Staatsrecht des deutschen Reichs, Bd. 3, Abt. 2 (1882) Seite 25, MERKEL, Juristische Enzyklopädie (1885) insbesondere Seite 165-167, WINDSCHEID, Die Aufgaben der Rechtswissenschaft (Rede bei Übernahme des Rektorats an der Universität Leipzig 1884), wo Seite 13 und 14 unter dem unmittelbaren Eindruck hochwichtiger Gesetzesarbeit die Unzulänglichkeit und Ergänzungsbedürftigkeit der Gesetzesbestimmungen eindringlich betont ist.

Hiernach darf ich mich der Hoffnung hingeben, daß der vorliegende weit über die früheren Andeutungen hinausgehende Versuch, eine Theorie der richterlichen Rechtsschaffung zu entwickeln und vollständig zu begründen, nicht zu weit von dem abliegen wird, was auch andere unausgesprochen für richtig halten. Die eigentliche Entscheidung über die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges wird davon abhängen, ob diejenigen, welche diese Schrift am nächsten angeht, die Richter, in dem hier Vorgetragenen das wiederfinden werden, was ihren Beruf erfüllt und beseelt!




Einleitung

Wir leben in einer gesetzesreichen und gesetzesfreudigen Zeit. Die Zuversicht zur Leistungskraft des Gesetzesrechts ist zwar auf ein besonnenes Maß zurückgeführt worden, seit die geschichtliche Rechtsforschung einen tieferen Einblick in das Werden des Rechts eröffnet und die Erkenntnis verbreitet hat, daß es außer der Gesetzgebung noch eine andere, ihr ebenbürtige Art von Rechtsbildung gibt. Aber trotzdem hat es sich so gefügt, daß gerade in unserem Zeitalter das nichtgesetzliche Recht, zumindest so wie es sich nach den Ergebnissen jener Forschung darstellt, das Gewohnheitsrecht, dem Schicksal stärkster Verkümmerung verfallen ist. Rücksichtsloser als je hat die Gesetzgebung sich der Rechtswelt bemächtigt. Dem Gewohnheitsrecht bleibt kaum noch ein dürftiges Plätzchen von Gesetzes Gnaden vergönnt.

Und doch fällt es schwer, sich beim Glauben an die Alleinherrschaft der Gesetzgebung zu beruhigen. Wer die Aufgabe und die Wirksamkeit des  Richteramts  in ihrer vollen großen Bedeutung, namentlich in ihrem Verhältnis zum Gesetzesrecht zu erfassen sucht, kann sich zahlreichen Wahrnehmungen nicht verschließen, welche darauf hindeuten, daß sich im Richteramt eine reiche rechtsordnende und rechtsschöpferische Kraft regt, die inmitten allen Gesetzesrechts erhalten geblieben ist und nie, auch nicht durch die vollständigste und vollkommenste Gesetzgebung wird vertilgt werden können.

Beobachtungen dieser Art sollen hier in knapper Zusammenfassung dargelegt werden. Es ergibt sich aus ihnen für mich die Überzeugung, daß wir uns offen heraus zu einem eigenartigen, neben dem Gesetzesrecht stehenden, auch nicht etwa mit jenem Gewohnheitsrecht zusammenfallenden oder sich von ihm abzweigenden  richterlichen  Recht zu bekennen haben.


I. Verwandtschaft zwischen Gesetz
und richterlichem Urteil

Durch das Gesetz bestimmt die Staatsgewalt, was als Recht gelten soll. In der Vorsorge für die Wohlfahrt des Gemeinwesens vergegenwärtigt sich der Gesetzgeber vorahnend die Möglichkeiten, wie sich in der Zukunft die menschlichen Verhältnisse und Zustände, Begebenheiten und Handlungen werden gestalten können, und legt an sie den Maßstab des unabweisbaren gesellschaftlichen Bedürfnisses, des Rechtsnotwendigen an. Er prüft, bis zu welcher Grenze im Gewirr und Kampf der neben und gegen einander wirkenden Menschenkräfte den auf Förderung des Sonderwohls gerichteten Einzelbestrebungen freie Entfaltung verstattet werden darf, - bis wie weit die Einzelnen zur Mitwirkung für das Wohl der Andern angehalten werden und auch ihrerseits von den Andern Unterstützung und Verstärkung der eigenen Kraft erhalten sollen. Die gefundenen Grenzlinien trägt er mit möglichst klaren und scharfen Zügen in jenes Zukunftsbild ein.

Aber es ist noch kein geltendes Recht, es ist nur ein  Plan,  nur der  Entwurf  einer zukünftigen,  erwünschten  Rechtsordnung, was der Gesetzgeber von sich aus fertigzubringen vermag.

So oft auch die dem Gesetz untergebenen Personen, vom richtigen Gesetzesverständnis geleitet und von gerechter Gesinnung erfüllt, dem Gesetzesgebot von selbst nachleben, so arbeiten doch Unverstand und Nachlässigkeit, Eigennutz und Leidenschaft der Menschenart zusammen, um der Durchführung des gesetzlichen Rechtsplans aller Orten Hemmnisse zu bereiten. So hat sich die Gesetzgebung dabei zu bescheiden, daß sie der Herstellung einer wirklichen Rechtsordnung bloß gebieterisch den Weg weisen kann. Um die Herstellung für alle Fälle zu  sichern,  hält der Staat neben, ja vor allem Gesetzgebungsapparat eine andere Rechtsanstalt, das Richteramt bereit. Die richterliche Tätigkeit hilft das vom Gesetz nur begonnene Rechtsordnungswerk fortführen und vollenden.

Die Tätigkeit des Gesetzgebers macht beim einmaligen abstrakten Rechtsgebot Halt. Erst der unausgesetzten pflichttreuen Berufsarbeit der Richter ist es zu verdanken, daß die Rechtsordnung, soweit menschliche Einsicht und Tüchtigkeit ausreicht, zu dem wird, was sie sein soll: eine über jedem gegensätzlichen Wissen und Wollen erhabene, das Leben der Menschen wirklich beherrschende  Macht

Hierbei steht aber nicht die tatsächliche Machtausübung selbst in Frage. Die Vornahme der Rechtsvollzugshandlungen ist die Folge, nicht der Inhalt der richterlichen Tätigkeit: der Staat weiß sich die Kräfte, deren er benötigt ist um den rechtswidrigen Willen zu brechen, sicherer und schicklicher außerhalb der Reihen seiner Richter zu beschaffen. Nicht das Schwert, sondern die Waage der Gerechtigkeit ist in die Hand des Richters gelegt. Er hat zu erwägen und zu bestimmen, was Rechtens ist. Das Wesen des Richteramtes liegt im  Urteilen. 

Hiernach gewinnt es den Anschein, als wenn die richterliche Tätigkeit eine reine Verstandestätigkeit wie jedes andere Urteilen wäre: eine logische Operation, eine Schlußfolgerung, für welche die gesetzliche Bestimmung den Obersatz, der abzuurteilende Tatbestand den Untersatz bildet. Und hiermit vermeint man auch meistens das Wesen des richterlichen Urteils und sein Verhältnis zum Gesetz richtig gekennzeichnet zu haben.

Wäre dies zutreffend, so würde freilich zwischen Richteramt und Gesetz eine Verschiedenheit in Grundanlage und Zweckbestimmung zum Vorschein kommen, die schlecht mit der nahen Beziehung verträglich sein würde, in welche sie vorhin zueinander gebracht worden sind. Eine nur um die Herausstellung bereits im Gesetz fertig vorliegender Rechtswahrheiten bemühte Denktätigkeit, eine bloße logische Subsumtionsoperation könnte nicht als eine den gesetzgeberischen Willenserklärungen ähnlich geartete, zur Fortführung der vom Gesetz unvollendet gelassenen Rechtsschöpfung bestimmte Betätigung der rechtsordnenden Staatsgewalt gelten: ja es würde in Zweifel kommen, ob denn den Richtern, sofern ihnen nicht zufällig etwa einiger dem Urteilsberuf fremder Staatsdienst als Beiwerk übertragen ist, überhaupt ein Anteil an der Staatsgewalt zugesprochen werden dürfte und es nicht vielmehr das Richtige wäre, ihnen einen Platz unter  den  Männern anzuweisen, die dem Gemeinwesen nur durch ihre Gedankenarbeit, Wissenschaft und Weisheit Dienste leisten, wenn dem Richter auch die sehr ehrenvolle aber auch sehr unbequeme Auszeichnung vor allen anderen Vertretern der Wissenschaft zuzugestehen wäre, daß er auf alle und jede in sein Gebiet einschlagende Fragen mit einem bestimmten "Ja" oder "Nein" antworten und so gar bald antworten muß: daß es für ihn kein Ignorabimus und kein Ignorabimis gibt.

Das, was der urteilende Richter dem Staat und der Rechtsordnung zu leisten hat, ist aber keine bloße Denkarbeit. Das Urteil des Richters ist kein Urteil im gewöhnlichen logischen Sinn des Wortes. Es ist etwas Mehreres, Bedeutenderes, Mächtigeres, als sein Name zu besagen scheint!

Das richtliche Urteil  gründet  sich zwar wie jede besonnene Willensäußerung auf eine Denktätigkeit, es  enthält  und  bedeutet  aber eine Rechtsbestimmung, eine Rechtsanordnung. Es ist eine Willenserklärung und zwar, ähnlich wie das Gesetz, eine von der  Staatsgewalt  erlassene  Rechtswillenserklärung. 

Nicht bloß durch das stumme Wort des Gesetzes verkündet der Staat seine Rechtsgebote, Rechtsermächtigungen, Rechtsverbote, sondern auch und sogar noch viel bestimmter und eindringlicher durch den Mund des Richters. Sowohl der richterliche Rechtsspruch wie das Gesetz sind Akte der rechtsordnenden Staatsgewalt. Wie die gesetzlichen, so sind auch die richterlichen Rechtsbestimmungen von der Macht und Zwangsgewalt des Staates erfüllt. Das richterliche Urteil hat  Rechtskraft:  es trägt die ganze Kraft des Rechts in sich. Der richterlichen Rechtsbestimmung kommt in dem ihr zugewiesenen Bereich die Macht einer unverrückbaren, rechtsverbindlichen Anordnung sogar in noch vollerem Maße, mit noch stärkerer unmittelbarer Wirksamkeit zu, wie der gesetzlich, bloß abstrakten Rechtsnormierung. Die  Rechtskraft  ist  stärker  als die  Gesetzes kraft. Das rechtskräftige Urteile behauptet sich, selbst wenn es dem Gesetz zuwiderläuft. Nicht schon mit dem gesetzlichen, sondern erst mit den richterlichen Rechtsbestimmungen spricht die rechtsordnende Staatsgewalt ihr  letztes Wort! 

Diese rechtsordnende Kraft, nicht der zu seiner Herstellung erforderliche Syllogismus macht die Eigenart, das Wesen des richterlichen Urteils aus. Hierdurch wird es in nahe Verwandtschaft zum Gesetz gebracht, dagegen weit abgerückt von den gewöhnlichen, privaten Denkprozessen, mit denen es unser Sprachgebrauch einen gemeinsamen, für dasselbe wenig bezeichnenden Namen tragen läßt, insbesondere auch von den nichtrichterlichen Rechtsbeurteilungen, wie sie jeder Privatmann, der sich für den Eigentümer einer Sache oder für den Gläubiger einer anderen Person hält, jede Prozeßpartei, die ein Recht behauptet oder bestreitet, tagtäglich vornimmt. Hier wie dort vollzieht sich ja eine auf die Erkenntnis von Rechtswahrheiten gerichtete Denktätigkeit. Aber diese privaten Rechtsurteile sind eben nichts anderes als Denktätigkeiten: der Privatmann kann wohl Rechtsfragen  be urteilen, aber nicht  ab urteilen und niemanden  ver urteilen. Sein rechtliches Urteile ist  ohnmächtig.  Es fehlt ihm die Rechtskraft, die Bedeutung einer staatlichen Rechtsanordnung und damit die Bedeutung des richterlichen Urteils in einem Grad, daß man sich scheut, solche private Rechtserkenntnisse und Rechtsmeinungen mit dem jenen richterlichen Rechtsbestimmungen zugeigneten Prädikat "Urteil" zu belegen, während umgekehrt die Wissenschaft, welche die ganze Lehre von Urteil zum Gegenstand hat, die Logik, ihrerseits wiederum - aus guten Gründen - die wichtige Spezies der richterlichen Urteile mit einer sehr stiefmütterlichen Zurückhaltung zu behandeln pflegt.

Wie unsere Sprachbildung dazu gekommen sein mag, für den richterlichen Rechtsspruch den seine eigentümliche Bedeutung so wenig kennzeichnenden, in seiner Allgemeinheit nur irreführenden Ausdruck "Urteil" zu wählen, und mit so besonderer Vorliebe zu verwenden, darüber wage ich nur eine ungefähre Vermutung aufzustellen.  Urteil, ordâl, ordêl  ist ein altes Wort des deutschen Sprachstammes, welches einstmals ausschließlich für die richterlichen Entscheidungen gebraucht worden ist und, wie so manche damals mögliche und besonders beliebte Mittel, eine solche Entscheidung herbeizuführen (Eid - Gottesurteile), deutlich genug erkennen lassen, durchaus nicht etwa eine besondere Beziehung auf logische Operationen hatte. Je mehr aber im Laufe der Zeit an die richterliche Entscheidung die Anforderung gestellt wurde, daß sie auf eine sorgfältige verstandesmäßige Prüfung gegründet sein soll, desto entschiedener mochte gerade der richterliche Urteilsakt als ein hervorragendes Beispiel wohlüberlegter Schlußtätigkeit erscheinen. In den Gerichtsverhandlungen und Gerichtsberatungen mußte die Schwierigkeit und die große Bedeutung folgerichtiger Ableitung einer Wahrheitserkenntnis aus anderen, schon feststehenden Wahrheiten besonders gewichtig und zugleich mit dramatischer Anschaulichkeit hervortreten. Hier lernte man sich an eine bestimmte Methode der Wahrheitsfindung gewöhnen und den Wert einer solchen Methode schätzen: in der Prozeßordnung hatte man eine vom Gemeinwesen erforderte und sanktionierte Logik vor sich. So ist es vielleicht zu erklären, daß später die Sprache der Wissenschaft, auf der Suche nach einem guten deutschen Wort für den Denkprozeß, auf die ursprünglich demselben ganz fern stehende Bezeichnung "Urteil" verfallen ist.

Bei der Verwendung des anderen in einer ähnlichen Gedankenrichtung liegenden Wortes für den Rechtsspruch, nämlich des Wortes "Erkenntnis" hat die deutsche Sprache ihre Gabe feinfühliger Unterscheidung umso sicherer bewährt, da sie ja  die  private, nicht rechtsverbindliche Erkenntnis einer Wahrheit und  das  richterlicher, mit der Macht des objektiven Rechts ausgestattete Erkenntnis über ein Recht so sorgsam auseinanderhält!


II. Unterschiede zwischen der gesetzlichen
und richterlichen Rechtsbestimmung

Je entschiedener die gesetzesähnliche Natur des richterlichen Urteils hervorgehoben worden ist, umso offener ist auch über den Abstand, der zwischen Gesetz und Urteil liegt, Rede und Antwort zu stehen. Die Unterschiede liegen zunächst im Grad der Bestimmtheit und im verschiedenen Umfang, in welchem jedes von beiden rechtsbestimmend wirkt.

Während das Gesetz vorsorglich in die Zukunft blickt und in diese einzugreifen sucht, liegen dem Richter bestimmte, schon der Vergangenheit angehörende nach Personen, Ort, Zeit und sonstigen Umständen individualisierte Ereignisse und Handlungen zur Aburteilung vor. Weil auf die Zukunft gerichtet, rechnet das Gesetz mit Gattungen tatsächlicher Möglichkeiten, enthält daher bedingte und abstrakte Rechtsbestimmungen. Der Richter wird dagegen immer mit einzelnen, konkreten Tatbeständen befaßt und hat seine Rechtsbestimmungen unbedingt zu treffen. Kurz: die gesetzliche Rechtsbestimmung reicht um vieles  weiter  und wirkt  allgemeiner,  als die richterliche, wird aber von der richterlichen und deren größere  Bestimmtheit  und  unbedingte gegenwärtige Wirksamkeit  übertroffen.

Hierzu kommt aber noch ein Unterschied, der um vieles schwerer ins Gewicht fällt: zwischen der  Freiheit,  mit welcher der Gesetzgeber seine Rechtsanordnung zu wählen die rechtliche Macht hat, und der rechtlichen  Abhängigkeit  des Richters von den Gesetzesbestimmungen, welche ihm die Wahl einer andern als der vom Gesetz bereits vorgezeichneten Rechtsfolge nicht offen läßt.

Hiermit ist der Kernpunkt unserer ganzen Frage berührt, zugleich aber auch ein Punkt, an welchem die ernsthaftesten Zweifel an der behaupteten gesetzesähnlichen, rechtsschaffenden Natur des Richterspruchs auftauchen müssen.

Ist das, worauf der Richter zu erkennen hat, schon vom Gesetz vorausbestimmt - ist es heilige Richterpflicht, auch nicht eine Linie über die gesetzlichen Bestimmungen hinauszugehen oder hinter ihnen zurückzubleiben, so scheint es nicht recht begreiflich zu sein, wie daneben noch für eine eigene rechtsbestimmende und rechtsschöpferische Wirksamkeit des Richters irgendein Raum offen bleiben soll. Stellt sich hiernach das Theorem vom rechtsschöpferischen Beruf des Richteramts nicht doch als ein recht gefährlicher Einfall heraus, nur dazu geeignet, an den Grundfesten der Rechtsordnung und Rechtspflege irre zu machen? Liegt nicht, was der Richter Eigenes und Selbständiges für Staat und Recht zu tun hat, vielmehr ausschließlich darin, daß er festzustellen hat, ob der ihm vorgetragene Tatbestand  wahr  und genau der  gleiche  ist, wie der, mit welchem das Gesetz die von ihm verordnete Rechtsfolge verbunden hat? Ist aber diese Beweis- und Subsumtionstätigkeit denn nicht unbestreitbar eine reine Wahrheitserkenntnis, weit ab von aller Rechtssatzung und Rechtsschöpfung liegend? Kommen wir also nicht auf diesem Weg nur wiederum darauf zurück, uns davon zu überzeugen, daß das Urteil des Richters ein Urteil im rein logischen Sinn ist?

Und wenn dies nun einmal als erwiesen anzunehmen wäre, so würde es auch nicht an einem bequemen Ausweg fehlen, um sich mit der rechtsverbindlichen Kraft, die dem richterlichen Urteil zugeschrieben wird, abzufinden. Ist das Urteil nur aus den gesetzlichen Rechtsbestimmungen entnommen, so müßte eben auch die Rechtskraft des Urteils als etwas lediglich aus der verbindlichen Kraft des Gesetzes Stammendes, als eine Folge oder eine Abart der  Gesetzes kraft angesehen werden. Und wenn auch zuzugeben wäre, daß mitunter im Urteil doch etwas anderes  herauskommt,  als im Gesetzt  steht,  nun - so müßten solche gesetzeswidrige Verirrungen als etwas juristisch eigentlich Unmögliches von Rechtswegen ignoriert und vorsichtig verdeckt werden: das Urteil, wäre zu sagen,  gilt  von Rechtswegen stets als genau dem Gesetz entsprechend, auch wenn es ihm widerspricht.  Res judicata pro veritate accipitur [Eine Sache die gerichtlich entschieden wurde, muß wie eine Wahrheit behandelt werden. - wp]. Die Rechtskraft des Urteils ist ja nach SAVIGNY nichts anderes als "die Fiktion seiner Wahrheit". Warum sollte denn dem Juristen nicht auch hier wie in so manchen anderen Nöten der Zauberstab der Fiktion, der Erdichtung zu Hilfe kommen?

Mit diesen Einwürfen und Zurechtlegungen ist nur diejenige Auffassung des richterlichen Urteilsberufs wiedergegeben worden, die bis vor Kurzem die allgemein herrschende gewesen und auch jetzt noch die am weitesten verbreitete geblieben ist. Bei ihrer Widerlegung, beim Beweis, daß dem Richteramt ein selbständiger Anteil am Rechtsordnungs- und Rechtschöpfungsberuf der Staatsgewalt zukommt, steht aber nichts Geringeres, als die Bedeutung und Würde des Richteramts und in sogar noch höherem Grad auch die der Rechtswissenschaft auf dem Spiel!

Nach jener Auffassung wäre die eigene Arbeit und das eigene Verdienst des Richters auf die tatsächliche Seite der abzuurteilenden Rechtsfälle beschränkt: darauf, daß er sich recht sorgfältig, recht verständig und unparteiisch darüber vergewissert, ob der vom Gesetz als Bedingung seiner Rechtsbestimmung vorgesehene Tatbestand sich im vorliegenden Fall verwirklicht hat. Bezüglich des  Rechtspunktes,  der Frage, welche Rechtsfolge mit jenem Tatbestand zu verbinden ist, bliebe ihm nichts Eigenes oder doch nichts Selbständiges zu tun übrig. Diese wäre ihm ja ohne weiteres vom Gesetz gegeben. Um sie aufzufinden, brauchte er nichts anderes, als eine zuverlässige Ausgabe des Gesetzes, die Kunde des Lesens, Sorgfalt und gesunden, klaren Verstand. Er hätte ja nur die Gesetzesbestimmung in besonderer Beziehung auf den vorliegenden tatsächlichen Fall im Einzelnen zu  wiederholen,  nur den im Gesetzbuch aufgespeicherten Schatz fertiger Rechtsbestimmungen in einzelne kleine, saubere Stücke  auszuprägen  und diese, mit dem Stempel des Staates versehen,  auszugeben. 

Und was würde sich hieraus vollends für die Würdigung der  Rechtswissenschaft  ergeben, die doch, soweit sie nicht etwa für fremde Wissenschaftsgebiete, für Philosophie und Geschichte arbeitet, nur die Erkenntnis der geltenden Rechtsbestimmungen zur Aufgabe hat? Wenn diese Rechtsbestimmungen bereits im Gesetz fertig und vollständig, überdies in so sorgfältiger scharf rechtsbegrifflicher Fassung wie in den Gesetzen unserer Zeit vorliegen, so will es schwer einleuchten, wieso ihre Erkenntnis noch irgendeiner eigentümlichen höher gearteten Geistesarbeit bedürfen sollte. Und könnte man nun einmal doch ohne eine solche Wissenschaft nicht auskommen, wie bequem, wie beneidenswert, aber auch wie  beschämend leicht  wäre ihr Los im Vergleich mit dem aller anderen Wissenschaften! Während die Naturwissenschaften die mühsamste und doch so oft vergebliche Arbeit aufzuwenden haben, um der Natur das Geheimnis ihrer Gesetze abzuringen, bekäme ja der Jurist den Gegenstand seiner Wahrheitserkenntnis, die Rechtsgesetze, ohne jegliche Mühe vom Staat wohlverbürgt, schon klar ausgedacht und grundsätzlich formuliert  geliefert!  Und auch alle übrigen Geisteswissenschaften würden sich vergeblich nach einer so unmittelbaren und zweifellosen Offenbarung der von ihnen herauszustellenden Wahrheiten sehnen, wie sie nach jener Auffassung der Rechtswissenschaft im Gesetz dargeboten ist!

Und ist damit nicht eine Meinung gekennzeichnet, die von vielen dem Juristenberuf fern Stehenden geteilt wird und in so mancherlei anzüglichen, halb neckenden, halb höhnischen Bemerkungen zum Ausdruck kommt, welche der Juristenstand von jeher hat über sich ergehen lassen müssen? Hat doch, von einer solchen Meinung geleitet, sogar mancher große Gesetzgeber gegen das Beginnen der Rechtsgelehrten, das, was im Gesetz schon längst auf das Beste gesagt ist, immer noch besser sagen zu wollen, einen lebhaften Mißmut genährt, vor allen der Weltgesetzgeber JUSTINIAN, der sich ja bewogen gefunden hat, jeden, der sich solches mit seinen Gesetzen unterfangen würde, kurzweg als einen  falsarius  mit schwerer Leibesstrafe zu belegen, einem Schicksal, dem sich freilich die Juristen, obwohl sie es sonst mit der Geltung von JUSTINIANs Gesetzen so genau nehmen, doch mit ihrer bekannten Schlauheit immer und immer wieder zu entziehen gewußt haben!

Nein! Die gewaltige Geistesarbeit, auf welche die Rechtswissenschaft durch Jahrtausende hindurch stolz hinzuweisen hat, läßt erkennen, daß eine Auffassung des Richteramtes, die zu einer solchen Geringschätzung der doch allein mit dem Richteramt arbeitenden und für dasselbe vordenkenden Rechtswissenschaft führt, von  Grund  auf verfehlt sein muß!


III. Der rechtsschöpferische Beruf des
Richteramtes in der Geschichte des Rechts

Wie wenig man der Bedeutung des Richteramtes gerecht werden würde, wenn man ihm den rechtsschöpferischen Beruf abspräche, wird schon durch einen Blick auf die geschichtliche Entwicklung der Rechtsordnung ersichtlich.

Bei allen Völkern ist das Richteramt an der Rechtsbildung wesentlich beteiligt gewesen. Es hat zur Neubildung und Fortbildung des Rechts ebensoviel, ja viel mehr als die Gesetzgebung beigetragen.

Überall hat die Staatsgewalt ihren Rechtsordnungsberuf lange Zeit hindurch sogar ausschließlich durch das Richteramt erfüllt. Jahrhunderte mußten vergehen, ehe der Staat überhaupt zu einem gesetzlich geregelten Recht gelangt ist. Denn nicht vom selbstlosen Drang nach der Erkenntnis abstrakter Rechtswahrheiten ist das jugendliche Volk beseelt. Das Recht ist ein Ergebnis der Erfahrung. Es hat  herausexperimentiert  werden müssen: es ist ein Erzeugnis bitterer Rechtsnot, die von Fall zu Fall dahin gedrängt hat, den Gut und Leben gefährdenden Widerstreit der menschlichen Selbstsucht und Leidenschaft durch den unparteiischen Rechtsspruch der machtvollen Staatsgewalt schlichten zu lassen.

Noch an kein Gesetz gebunden, waltete die richtende Staatsgewalt einst mit derselben Freiheit, wie später die gesetzgebende. Obwohl sie - auch hierin wiederum der Gesetzgebung nur gleichend - unter der Leitung des im Volk pulsierenden, freilich so oft von gegensätzlichen Strömungen durchwogten  Rechtsgefühls  stand, obwohl sie auch allmählich durch die alles soziale Leben wohltätig beherrschende Macht der  Gewohnheit  in beständige Bahnen gelenkt wurde, so entbehrte jene anfängliche rein richterliche Rechtsordnung doch jeder  Rechts schranke: sie war nicht genügend gegen die Gefahr willkürlicher und parteiisch schwankender Rechtsprechung gesichert. Durch die drückende Empfindung dieses Mangels wurden die Völker schließlich zu dem gewaltigen Entschluß gebracht, von der rein richterlichen zu einer gesetzlich geregelten Rechtsordnung überzugehen, in dieselbe freilich das Meiste aus der alten richterlichen Spruchweisheit hinübernehmend.

Mit besonderer Energie und Einsicht haben einst die rechtsbegabten  Römer  diesen Schritt getan, als sie in ihren Zwölf-Tafeln die ganze Rechtsordnung auf einen festen Gesetzesgrund stellten. War aber damit der rechtsschöpferischen Kraft der Rechtspflege etwa ein Ende bereitet? Die wichtigsten und bestverbürgten Tatsachen der römischen Rechtsgeschichte erweisen der Gegenteil!

Es wird uns berichtet, wie sich alsbald die Gerichtsverhandlungen, die  disputationes fori  ans Werk begaben, nicht bloß um den Grundbau der Zwölftafelgesetze ausbauen zu helfen, sondern auch um von ihm so manche Stücke abzubröckeln und neue einzufügen. Und als sodann das Bedürfnis tiefer eingreifender Rechtsänderungen hervortrat, so wurden auch diese, zumindest was die inneren, insbesonere die privaten Rechtszustände anlangt, zum allergrößten Teil nicht etwa durch Gesetze bewerkstelligt, sondern der rechtsumbildenden Arbeit der  Gerichte  überlassen.

Die Gerichtsobrigkeit, die Prätur, nimmt sich fast ein halbes Jahrtausend hindurch dieser Aufgabe an. Es kommt ein Gerichts-, ein Beamtenrecht, ein  jus praetorium  oder  honorarium empor,  welches sich nicht dabei bescheidet, das Gesetzesrecht bloß durchzuführen und zu ergänzen, sondern ihm auch überall mit gegensätzlichen, mit  gesetzwidrigen  Bestimmungen in den Weg tritt und dieselben von Fall zu Fall durchsetzt, bloß durch jährliche Vorausverkündigung der beabsichtigten Rechtsneuerungen je auf Jahresfrist vor allzugroßer Ungleichmäßigkeit und Willkür behütet. Daneben waren aber auch die vom Gerichtsbeamten bestellten Volksrichter nicht behindert, sondern sogar angewiesen, den vielen neuen Bedürfnissen des weit über Rom und Römer hinausgreifenden Rechtsverkehrs und den Anforderungen von Treue und Glauben, von Geschäftsehre und Billigkeit, deren Beobachtung bis dahin bloß eine freie tatsächliche Sitte gewesen war, ohne gesetzliche Anordnung immer entschiedener Rechnung zu tragen, oft im vollen Widerspruch zum starren und engherzigen Gesetzesrecht: eine richterliche Rechtsschöpfung, welcher die moderne dem rechtsschöpferischen Beruf des Richteramts abgewandte Theorie, auch seit sie den Glauben an die Allmacht des Gesetzgebers aufgegeben hat, nicht recht beizukommen weiß, weil sie die schiefe Schablone des Gewohnheitsrechts anlegt.

Jener emsigen, freien und doch maßvollen, von edler Gesinnung erfüllten, von einer genialen Jurispruden geleiteten Arbeit des  Gerichtsrechts  verdankt das römische Recht das Meiste von der Größe, die ihm seine das Römerreich überdauernde Weltherrschaft gesichert hat.

Infolge eben jener Arbeit waren jedoch schon beim Beginn der Kaiserregierung nur noch Trümmer des Gesetzesrechts bestehen geblieben. Wiederum wurden, wie einstmals schon vor der Zwölftafelgesetzgebung, die Mißstände einer nicht gesetzlich befestigten, allzu unsicheren richterlichen Rechtsordnung auf das schwerste empfunden. Aber selbst die neu aufstrebende, Staat und Recht kräftiger zusammenfassende  Kaisermacht  wagte oder vermochte noch immer nicht, sich dem gewaltigen Strom jener Rechtsbildung entgegenzustemmen. Sie beschränkte sich vorerst auf vereinzelte Versuche, ihn hie und da einzudämmen. Den Gutachten der Rechtsgelehrten, denen die Gerichte ohnehin sich gern von selbst zu fügen gelernt hatten, wurde von AUGUSTUS einige Rechtsverbindlichkeit verliehen. Unter den nächstfolgenden Kaisern wurde durch  Senatusconsulta  Einzelnes an der Rechtsordnung gebessert: wie wenig man aber dabei aus den altgewohnten Bahnen des Jurisdiktionsrechts zu weichen gesonnen war, zeigt sich deutlich darin, daß diese Senatserlasse zunächst noch mit Vorliebe als bloße Regulative für die Gerichtspraxis abgefaßt wurden. HADRIAN gebot zwar schließlich der freien Entwicklung des ganzen Beamtenrechts durch sein  edictum perpetuum  Halt. Aber als dann die Kaiser begannen, von sich allein aus mit neuen Rechtssatzungen vorzugehen, beschränkten auch sie sich - der schlagendste Beweis, wie festgewurzelt die richterliche Beschaffungsmethode war - noch fast zwei Jahrhunderte lang darauf, dies gelegentlich anhand einzelner Rechtsfälle, als Verwalter des höchsten Richteramts zu tun. Erst seit KONSTANTIN sind sie offen in die Bahn allgemeiner, in ausgesprochener Gesetzestendenz verkündeter Rechtsanordnungen eingelenkt.

Daneben blieb jedoch immer die Hauptmasse des Rechts in dem gelegen, was die Gerichtspraxis hervorgebracht und hinterlassen hatte, und es ist nicht ohne tiefere Bedeutung, daß dieses Gerichtsrecht vor den anomalen kaiserlichen Rechtsneuerungen, den  leges,  mit dem vollwichtigeren Titel des Rechts,  jus,  ausgezeichnet blieb. Aus jener Hinterlassenschaft war aber der ursprüngliche frische rechtsgestaltende Geist entwichen. Die erleuchtete Rechtswissenschaft, welche die ganze gerichtliche Rechtsbewegung geleitet hatte, war im Ersterben. Zu den kläglichsten Behelfen mußte gegriffen werden, um die ratlosen Richter im Wirrsal der vielgestaltigen Gerichtsrechtsüberlieferung irgendwie zurechtzuweisen.

JUSTINIAN beseitigte schließlich den Notstand. Durch ihn wurde die ganze bisher noch immer flüssige und schwankende Masse des richterlichen Rechts in die starre Form des Gesetzesrechts umgegossen. In seinem großen Gesetzgebungswerk hat die fast ein  Jahrtausend  während gerichtliche Rechtsbildung der alten Kulturwelt ihren endgültigen Abschluß gefunden.

Aber wiederum ein  Jahrtausend  hindurch mußten auch die modernen Völker, vor allem das  deutsche,  ebenfalls den Weg der Gerichtsrechtsbildung beschreiten, bevor sie die Wohltat einer festeren, gesetzlichen Ordnung und zwar - wunderbar genug - gerade durch jenes aus dem richterlichen Recht der alten Welt hervorgegangene Gesetzeswerk empfingen!

Unsere Vorfahren sind der gesetzlichen Rechtsbildung noch entschiedener und beständiger abgeneigt gewesen, als einst das Römervolk. Der unserer gesetzesgewöhnten Zeit so selbstverständliche Gedanke, daß die Staatsgewalt durch allgemein verbindliche Rechtssatzungen für das Wohl des Gemeinwesens zu sorgen verpflichtet ist, fing damals erst an, ungefähr gedacht zu werden. Der mittelalterliche Staat glaubte genug für die innere Rechtsordnung zu tun, wenn er die  richterliche  Gewalt in Bewegung setzte.

Und der Gerichtsherr hatte nicht einmal  selber  zu urteilen. Das Recht wurde von der Gerichtsversammlung, der Gemeinde, von Volksrichtern, Schöffen "gefunden": es wurde ihnen durch den Gerichtsherrn und seine Beamten von Fall zu Fall abgefragt: es war ein "Volkes Vragens Recht", frei vom Bann  staatlicher  Rechtssatzung.

Das Einzige, was dieses richterliche Spruchrecht zusammenhielt, war die tatsächliche, nicht rechtliche Macht der Gewohnheit, die Treue, mit welcher die Urteiler an der von Geschlecht zu Geschlecht sich fortpflanzenden Spruchweisheit hingen. Die Forschungen unseres Jahrhunderts haben sich jenem Recht wieder mit treuer Liebe zugewendet und zutage gefördert, welcher Reichtum sinniger, gesunder und kluger Rechtsgestaltung im alten deutschen Spruchrecht verborgen ist. Aber es waltete über ihm nicht das Glück des römischen Rechts! Nirgends ist die vom Gesetzeszwang unberührte richterliche Rechtsschaffung in einer solchen Reinheit, nirgends aber auch ihre Unzulänglichkeit mit solcher Deutlichkeit zum Vorschein gekommen, wie in unserem mittelalterlichen Recht.

Der gesetzlichen und sogar der gerichtsherrlichen Zucht entbehrend, ohne die Leitung eines rechtsgelehrten Berufsstandes, ja sogar ohne festen staatlichen Mittelpunkt, zerfiel unser einheimisches Recht in unzähliges Dorf-, Stadt- und Standgerichtsüberlieferungen, die zäh und eigensinnig festgehalten, auf die Dauer außerstande waren, den Umwandlungen der sozialen Verhältnisse und Bedürfnisse gerecht zu werden und aus sich selber heraus von einem altbäuerlichen Recht den schweren Übergang zu einer dem Aufschwung des Handels und der Gewerbe entsprechenden Rechtsordnung zu vollziehen. Als nun vollends seit dem 13. Jahrhundert sowohl die Kaiser wie die Landgerichtsherren immer weniger die zur Durchführung der Urteile notwendige Macht aufzubieten vermochten, brach ein Zeitalter trostloser Rechtsverwirrnis und Rechtsunsicherheit an, in welchem die ohnehin fern genug liegende Möglichkeit, das einheimische Recht durch kräftig durchgreifende  eigene  Gesetze umzugestalten, vollends unerreichbar wurde. Deutschland konnte sich nicht selber aus der Not seines Gerichtsrechts helfen!

Da kam ihm die Rettung über die Alpen her, durch eben jenes Gesetzbuch, welches einst der Not des römischen Gerichtsrechts ein Ende zu machen bestimmt gewesen war! Deutschland verzichtete auf sein freies und buntes richterliches Recht, um die Wohltat eines festen und allgemein geltenden Gesetzesrechts zu erhalten. Freilich um einen schweren Preis! Für das eigene warmblütige, auf das innigste mit dem deutschen Wesen verwachsene Recht mußte es ein in fremder Sprache geschriebenes, in fremdem Geist gedachtes totes Recht, das Gesetzbuch eines längst untergegangenen Volkes hinnehmen!

Und auf welche Weise, durch welche "Rechtsquelle" wurde diese gewaltige, das nationale Leben auf das tiefste erschütternde Rechtswandlung hervorgebracht? Einzig und allein durch die  Gerichte,  durch die  rechtsumbildende Macht  des  Richteramtes! 

Kein deutsches  Gesetz  hat die römischen Gesetze eingeführt. Als gegen Ende des 15. Jahrhunderts die römischen Kaiser deutscher Nation sich gelegentlich mit der Anwendung jener von hren "Vorfahren am Heiligen Reich" erlassenen Gesetz einverstanden erklärten, - als Kaiser FRIEDRICH der Dritte damals der neu gegründeten Tübinger Universität in seinem Bestätigungsbrief den Wunsch mit auf den Weg gab, es möchten jene Gesetze dort "den Ohren seiner Untertanen immer besser eingeträufelt werden", war ihre Geltung in Deutschland schon ausgemacht und zum großen Teil vollzogen.

Die Einführung des römischen Rechts wurde von Rechtspruch zu Rechtsspruch aus der Mitte der Gerichte durch ihren eigenen freien Entschluß bewerkstelligt. Männer, die auf italienischen, später auch auf deutschen Universitäten im römischen Gesetzesrecht unterwiesen waren, sagten sich als Richter von der verworrenen und zerfahrenen einheimischen Rechtsspruchweisheit los und wandten statt derselben lieber das wissenschaftlich abgeklärte, den Bedürfnissen jener Zeit so vielfach entgegenkommende justitianische Gesetzesrecht an. Und die Rechtsuchenden selber zogen es vor, sich an diese der fremden Rechte gelehrten Richter zu wenden. Die Gerichtsplätze, an denen bisher die Schöffen unter freiem Himmel getagt hatten, verödeten. Hohn und Spott wurden den "Heckenrichtern" mit ihrer verkommenen bäuerlichen Rechtsweisheit nachgerufen, die es selber nicht allzuschwer nahmen, sich des ererbten Rechts zu entäußern: so mancher von ihnen haschte nach bequemen Hilfsmitteln, um sich einige Kenntnis vom beliebt gewordenen fremden Gesetzesrecht zu verschaffen und es den gelehrten Richtern gleichtun zu können, bis schließlich auch diese Pfuscher das Feld räumen mußten.

Dieser ganze Vorgang ist die deutlichste aller Offenbarungen freier richterlicher Rechtsbestimmungsmacht. hier zeigt es sich, daß diese Macht sich sogar zur Verschmähung und Verdrängung der eigenen festgewurzelten Rechtsüberlieferung steigern kann.

Das Gebaren jener treulos vom einheimischen zum fremden Recht abfallenden Richter muß für jeden ein Rätsel bleiben, der vom rechtsschöpferischen Beruf des Richteramtes nicht wissen will und, in den heutigen Gesetzesrechtsanschauungen befangen, es für ausgemacht hält, daß über den Richtersprüchen stets eine sie leitende und bindende fertige abstrakte Rechtsnorm stehen muß. Nur dieses Vorurteil trägt die Schuld daran, daß unsere Theorie es so schwer gehabt hat, die Rezeption des römischen Rechts juristisch zu begreifen. Auf welche Notbehelfe ist man verfallen, um für die Rechtssprüche, durch welche das römische Recht zur Herrschaft über das deutsche Rechtsleben gelangt ist, irgeneinen legitimierenden abstrakten Rechtssatz ausfindig zu machen! Zu diesem Zweck wurde einst das Märchen von der gesetzlichen Einführung des römischen Rechts erfunden und lange geglaubt. Seit dieser Glaube unhaltbar geworden ist, mußte die andere neu entdeckte "Rechtsquelle", das Gewohnheitsrecht als Auskunftsmittel herhalten. Um jenem Vorurteil Genüge zu tun, hat man es über sich vermocht, eine Rechtsumwälzung, die den schroffsten Bruch mit der Rechtsüberlieferung, die  Lossagung  von allem  gewohnten  Recht enthält, für ein  Ergebnis  des  Gewohnheitsrechts  zu halten!

Die einfache Lösung des Rätsels ist durch die rechtsproduktive Kraft des Richteramtes von selbst gegeben. In der Rezeption des römischen Rechts hat die von keinem Gesetz und überhaupt von keinerlei abstrakten Rechtssätzen beschränkte und gelenkte richterliche Rechtsfortbildungsmacht ihren vollständigsten und höchsten Triumpf gefeiert. Freilich auch ihren  letzten!  Indem sie ihn feierte, begab sie sich bereits selber unter das Joch des Gesetzesrechts!


IV. Das richterliche Recht innerhalb
des heutigen Gesetzesrechts

Ist nun aber, - werden unsere Gegner einwerfen - seit die Gerichte sich der Herrschaft des Gesetzes unterworfen haben, vollends seit der moderne Staat seinen Gesetzgebungsberuf immer besser, selbständiger und vollständiger zu versehen gelernt hat, nicht wenigstens  jetzt  die Stellung des Richteramtes so völlig verändert, daß ihm von seinem ehemaligen rechtsschöpferischen Beruf nichts mehr übrig geblieben und der Richter auf die bescheidenere Aufgabe einer rein logischen Rechtsubsumtionsarbeit zurückgedrängt ist?

Unumwunden ist zuzugestehen, daß die ursprüngliche  volle  rechtliche Freiheit der richterlichen Rechtsschaffung entschwunden und wohl auf alle absehbare Zeit dahin ist.

Je entschiedener, einsichtiger, vorsichtiger die Gesetzgebung die Rechtsordnungsaufgabe zu erfüllen sucht, in desto engere Bahnen ist der Richter beim Erlaß seiner Rechtsbestimmungen gewiesen: desto mehr ist die Rechtsordnung vor individueller richterlicher Willkür und Rechtsneuerungslust, vor Unsicherheit und Verwirrung behütet. Eben darin besteht ja der Segen, welchen uns die mit der Aufopferung des einheimischen Rechts errungene gesetzliche Rechtsordnung gebracht hat und der sich noch dadurch erhöht, daß die Gesetzgebung nunmehr für eine unendlich große Zahl von Rechtsfällen die einzig mögliche Entscheidung mit einer zweifellosen Sicherheit im Voraus erkennen läßt, die den Rechtsstreit von vornherein abschneidet und daher, zumindest in Zivilsachen, das Bedürfnis nach einer richterlichen Rechtsbestimmung gar nicht aufkommen läßt.

Aber dadurch und deshalb ist dem Richteramt der Beruf einer eigenen Rechtsfindung und Rechtsschaffung nur  beschränkt,  nicht  entzogen.  Innerhalb der Schranken des Gesetzes eröffnet sich dem Richter noch immer ein  weiter Spielraum selbständiger Rechtsbestimmung,  ein viel weiterer und freierer, als der dem inneren Getriebe des Gerichtslebens ferner Stehende zu ahnen vermag, wenn ihm nicht etwa doch einmal die Freiheit richterlicher Rechtsbewegung plötzlich daran klar werden sollte, daß er selber in einen Prozeß gerät, in welchem ihm das in der einen Instanz zugesprochene Recht später von einem höheren Gericht aus gerade entgegengesetzten Rechtsgründen vielleicht unter Berufung auf eben dieselben Gesetzesparagraphen, auf die sich das Urteil der vorigen Instanz gestützt hat, doch noch abgesprochen wird, so daß er die lebhafte Neigung verspürt, sich denen anzuschließen, welche dem Recht außer Schwert und Waage auch noch ein drittes, ein  wächsernes  Symbol anheften wollen.

Auch die vollkommenste Gesetzgebung vermag es nicht die Rechtsordnung schon allein von sich aus fertig zu stellen. Nicht einmal den Plan zu einer solchen kann sie bis in alle Einzelheiten hinein vollständig entwerfen. Das Gesetz muß Vieles und Wichtiges der selbständigen, genauer und bestimmter ins Einzelne eindringenden Rechtsordnungsarbeit der anderen Rechtsanstalt, des Richteramtes überlassen.

Denn die Gesetzgebung hat für eine ungewisse Zukunft zu sorgen: das Gesetz ist ein  Stück irdischer Vorsehung  und es hat reichlich an sich zu erfahren, wie  beschränkt,  wie  schwach,  wie  trügerisch  dieselbe ist!

Tag für Tag spottet das wirkliche Leben der gesetzgeberischen Voraussicht. Immer und immer wieder lehrt seine unerschöpfliche Mannigfaltigkeit, wie vermessen die Hoffnung wäre, der Gesetzgeber könne alles, was die Zukunft bringen wird, überblicken, vorbedenken und in seine starren, toten Regeln zwängen.

Der Gesetzgeber ist zwar durch die Jahrtausende alte Erfahrung der Gerichte und der Gerichtsrechtsbildung auf eine große Zahl  gewöhnlicher, typischer  Rechtsfälle gewappnet. Aber nicht die reichste Erfahrung, nicht die größte Vorsicht, nicht die lebhafteste Phantasie ist dem bunten Spiel gewachsen, welches der frei strebende menschliche Wille, der erfindungsreiche Erwerbssinn, die Schlauheit des Egoismus und des Verbrechens im Bund mit dem sich jeder menschlichen Voraussicht entziehenden Walten des Zufalls treibt, um die sonderbarsten und verwickeltsten Rechtsprobleme zu schaffen, Probleme, an welche der Gesetzgeber gar nicht hat  denken;  für die er also auch keine Lösung hat  wollen,  noch weniger sie  bereitstellen  können.

Wie viele neue Rechtsnormierungsaufgaben sind noch in unseren Tagen schon allein infolge der erstaunlichen Vervollkommnung der Verkehrsmittel aufgetaucht, die verschiedensten eigenartigen Rechtsfragen des Eisenbahn-, Post-, Telegraphen-, Telefonverkehrs, über die im Gesetz nichts "stand" und nicht stehen konnte! So manche Jahre vergingen, ehe die Gesetzgebung mit neuen Rechtsbestimmungen nachzuhinken imstande war. Inzwischen waren aber die neuen Verkehrsgestaltungen schon längst in vielen, oft den schwierigsten Rechtsfällen an die Gerichte herangetreten mit dem unabweisbaren Verlangen nach  sofortiger  Entscheidung, das heißt nach dem unverweilten Erlaß richterlicher Rechtsbestimmungen. Erst durch diese belehrt und vorbereitet konnte man die Gesetzgebung zum Erlaß allgemein verbindlicher Rechtsbestimmungen vorschreiten. So hat noch jetzt die richterliche Rechtssatzung oft der gesetzgeberischen voranzugehen und den Weg zu bahnen!

Aber nicht etwa bloß angesichts solcher außergewöhnlicher, überraschender Umwandlungen der Lebenswege tritt die Unzulänglichkeit des gesetzgeberischen Rechtsordnungsvermögens zutage; sie wird auch in den gewöhnlichsten Rechtsfällen offenbar, in jedem Rechtsstreit, in welchem sich die Parteien  bona fide [in gutem Glauben - wp] mit entgegengesetzten Rechtsgründen bekämpfen, - mit größter Deutlichkeit, wenn die rechtliche Beurteilung des Tatbestandes auch bei Gericht von Instanz zu Instanz Wandlungen erfährt. Jede dieser unzähligen Rechtsstreitigkeiten stellt ein  eigentümliches Rechtsproblem  dar, für welches sich die zutreffende Rechtsbestimmung im Gesetz noch nicht fertig vorrätig vorfindet und, wie eben die Erfahrung so schmerzlich lehrt, sich auch nicht mit der absoluten Sicherheit eines zwingenden logischen Schlusses aus den gesetzlichen Bestimmungen ableiten läßt.

Nicht bloß für den Gesetzgeber, sondern auch für den Richter fehlt es an einer logischen Notwendigkeit des Zusammenhangs zwischen Tatbestand und Rechtsfolge. Der Gesetzgeber kann aber dem Richter sämtliche Rechtsgedanken schon aus dem Grund nicht  vor denken und  aus denken, weil im einzelnen Rechtsfall verschiedenartige Tatbestandselemente sich miteinander verbinden und verwickeln, einander entgegentreten und kreuzen, welche in einem notwendig auf Isolierung der Tatsachenarten angewiesenen Gesetze in dieser besonderen Zusammensetzung nicht vorgesehen und daher auch nicht mit einer auf sie gerichteten Rechtsbestimmung bedacht sein können.

Selbst wenn dieselben Personen, die zum Erlaß des maßgebenden Gesetzes zusammengewirkt haben, zum Richter über den einzelnen Rechtsfall berufen werden würden, vermöchten sie die zutreffende Entscheidung nicht mit absoluter Sicherheit zu finden: oft würden sie, einzeln angegangen, zu verschiedenen Ergebnissen gelangen, auch selbst wenn sie das Gesetz einmütig beschlossen hätten.

Und es wäre eine völlig verfehlte Hoffnung, wenn die Gesetzgebung etwa glaubte, der Selbständigkeit und den Schwierigkeiten der richterlichen Rechtsfindung dadurch vorbeugen zu können, daß sie selber möglichst aufs Einzelne und Besondere einging. Die vielbändigen kasuistischen Gesetzbücher haben sich längst als die schlimmsten, verworrensten und verwirrendsten, als die unzulänglichsten erwiesen. Wollte der Gesetzgeber jenes Ziel erreichen, so bliebe ihm nichts anderes übrig, als daß er sich dazu erbietet, auf Anfrage der Gerichte ihnen die zutreffende Entscheidung selber von Fall zu Fall zu geben: wenn er also unter der Maske des Gesetzgebers den  richterlichen  Beruf  selber  versähe. Das ist ja auch das verzweifelte Auskunftsmittel, welches einst JUSTINIAN in einer eifersüchtigen Überschätzung der Gesetzgebungsgewalt feierlich ankündigte, ohne sich klar darüber zu werden, daß er damit nur die Unfähigkeit der Gesetzgebung zur genügenden Regelung und Ordnung des Rechts eingestanden hat.

Infolge vieler trüber Erfahrungen ist dann auch die neuere Gesetzgebung schließlich immer mehr an ihrer Allwissenheit und Allmacht irre und bange geworden. Sie verzichtet oft und gern auf die vergebliche Mühe, der Fülle und Mannigfaltigkeit des wirklichen Rechtslebens vollständig Herr zu werden. Es ist eine häufig angewandte und wohlerprobte Methode der Gesetzgebung geworden, die Gerichte in vielen und wichtigen Beziehungen ausdrücklich zur freien Wahl zwischen mehreren Rechtsnormierungen zu ermächtigen und es der Rechtseinsicht und dem richtigen Rechtsgefühl der Richter anheim zu geben, daß sie die den besonderen Umständen des Falles am besten entsprechende Rechtsfolge selber ausdenken, aussuchen und rechtsverbindlich feststellen mögen. In diesen zahlreichen  dispositiven  Rechtssätzen ist der eigene rechtsbestimmende Beruf des Richteramtes auf das Offenste anerkannt und vom Gesetzgeber selber laut zu Hilfe gerufen.

Daneben stehen freilich zahlreiche absolute, zwingende, dem Richterermessen keinen Raum eröffnende Gesetzesbestimmungen, und auch soweit ein solcher Raum durch dispositive Gesetzesbestimmungen eröffnet ist, bleibt er doch von unübersteiglichen gesetzlichen Grenzen eingeschlossen. Ferner gibt es doch viele Rechtsstreitigkeiten, deren Tatbestand nichts von besonders verwickelten Umständen enthält, sondern einfach und vollständig unter die Bestimmungen einzelner Gesetzesparagraphen fällt. Ist nun nicht wenigstens im Bereich solcher Rechtssätze und Rechtsfälle die eigene und selbständige Rechtsfindung des Richters völlig beseitigt?

Auch dies ist zu verneinen! Die Erfahrung lehrt, daß auch in Fällen jener Art die individuelle Rechtsbestimmungsmacht des Richters sich reichlich betätigt.

Gelegenheit hierzu wird vor allem durch die Unvollkommenheit, die Unsicherheit und Zwiespältigkeit geboten, die nicht selten dem Gesetzesgedanken  und Gesetzes willen selber  anhaftet.

Unsere Gesetze sind ja keine einheitlichen Willenserklärungen einzelner Personen! Sie sind  Kollektiverklärungen,  zu deren Hervorbringung viele und  vielerlei  Menschen mitwirken. Wollten wir bei ihnen allen einzeln Umfrage halten, was "man", was dieser vielköpfige Gesetzgeber eigentlich gemeint oder gewollt habe, nun: so würde zunächst wohl mancher als ehrlicher Mann die Antwort  ganz  schuldig bleiben müssen, da er sich nun einmal bei der Gesetzesbestimmung gar nichts gedacht hat, vielleicht den von juristischen Fachworten starrenden Gesetzesentwurf, auch wenn er ihn wirklich durchgelesen haben sollte, gar nicht hat verstehen können. Bei den Übrigen hätten wir uns aber auf die Möglichkeit recht verschiedenartiger Antworten gefaßt zu machen. Wie oft treten gegensätzliche Auffassungen des gemeinsam beschlossenen Gesetzes in den Gesetzgebungsverhandlungen offen ausgesprochen hervor!

Unter diesen Umständen beschränkt sich die Einheit der gesetzgeberischen Willenserklärung auf den  Wortausdruck.  Unter der trügerischen Verhüllung des gleichen Gesetzeswortes liegt eine Vielheit von Rechtsmeinungen und Rechtswillensrichtungen verborgen! Welche von ihnen die richtige ist, darüber spricht sich das  Gesetz  nicht aus. Dem  Richter  bleibt es überlassen, aus jener Vielheit eine innerliche Einheit herauszustellen oder vielmehr diejenige Rechtsbestimmung zu wählen, die ihm als die durchschnittlich richtigste erscheint. Und so pflichtmäßig und sorgsam er hierbei auch alle zugänglichen Auskunftsmittel zu Rate zieht, so ist ihm hierfür doch keine Gesetzesanweisung gegeben und bei der Wahl keine  Rechts schranke gesetzt.  Jedes  Ergebnis, zu dem er gelangt, ist im Voraus vom Staat als das  richtige genehmigt,  mit  Rechtskraft  bedacht!

Möglich, daß das Ergebnis keiner einzigen von den beim Gesetzeserlaß beteiligten Personen in den Sinn gekommen war! Welche feinen und tiefen Rechtsgedanken finden sich unter der Versicherung, daß sie eben das, was schon im justitianischen Gesetzesrecht enthalten ist, wiedergeben sollen, in unseren Pandektenlehrbüchern und -vorträgen. Die Richter, die nach diesen Lehrsätzen urteilen, sind überzeugt und müssen überzeugt sein, daß sie nach JUSTINIANs Recht richten. Und doch, wer wollte glauben, daß JUSTINIAN und seine Gehilfen alle diese auserlesene Rechtsweisheit schon in ihren Köpfen beherbergt, vom größten Teil dieser Rechtsgedanken auch nur eine Ahnung gehabt hätten? Wie vertrüge sich denn überhaupt die vielbegehrte und vielgerühmte "Neuheit" einer juristischen Lehrmeinung mit ihrer Richtigkeit, wenn bloß das, was der Gesetzgeber schon längst gedacht hat, Rechtens wäre?

Gewiß: das Gesetz ist oft klüger als sein Urheber, das Gesetzbuch weiser als der Gesetzgeber! Mit anderen, nüchterneren Worten und wohl noch schärfer zutreffend: den  Richtern  wird oft eine  größere  und  bessere Rechtseinsicht  zugemutet und zugetraut als dem  Gesetzgebungspersonal! 

Ja es ist viel häufiger, als man vermuten möchte, daß der Gesetzgeber den Richtern dieses Vertrauen offen entgegenbringt: daß er selber von einer eigenen Auffassung und Deutung des Gesetzeswortes Abstand nimmt und es lieber dem Richter anheimstellt, den wahren Sinn ausfindig zu machen und das für richtig Erkannte den Beteiligten, die sich über den Sinn des Gesetzes nicht einigen können, als endgültige staatliche Willensmeinung zu verkünden.

Dies geschieht stets, wenn der Gesetzgeber eine überlieferte Rechtsbestimmung in der herkömmlichen Abfassung, ohne sich über ihre wahre Bedeutung schlüssig zu machen, in sein Gesetzbuch aufnimmt lediglich deshalb, weil sie sich bisher bewährt hat und daher die Hoffnung begründet ist, daß sie sich auch fernerhin bewähren wird. Und ist dies nicht die Art, wie jedes Gesetzbuch zur Aufnahme ganzer großer Gruppen von Rechtssätzen und nicht gerade der unwichtigsten und am wenigsten gelungenen gelangt? Haben denn etwa die Verfasser der justitianischen Rechtsbücher, als sie die erhabene Juristenweisheit der Vorzeit zum Gesetz erhoben, diese voll in ihr Inneres, in ihr rechtliches Denken und Wollen aufgenommen? Hätten sie es während einer kaum dreijährigen Arbeitsfrist "in tanta legum compositione quae immenso librorum numero collecta est" [Die Zusammensetzung dieser Gesetzesvorschriften ist eine Montage einer immensen Anzahl von Rechtsbüchern. - wp] auch nur annähernd vermocht? Ist nicht auch gerade in unseren Zeiten in den Motiven der Gesetzesentwürfe oft genug zu lesen, daß der wahre Sinn diser oder jener herkömmlichen Bestimmung vorerst dahingestellt bleiben und seine Herausstellung den Bemühungen der, unter solchen Umständen gern bestens um Hilfe angesprochenen "Wissenschaft" überlassen werden soll?

Bei diesem häufigen Verfahren weist aber die Gesetzgebung, statt selber einen Rechtssatz neu hervorzubringen, die zur Rechtsanwendung berufenen Personen an, ihn aus der  Rechtsvergangenheit  zu entnehmen, meistens aus einer Vorzeit, in welcher die Rechtsbildung noch gar nicht in die Fesseln des Gesetzeswortes geschlagen, sondern noch der freien Gestaltung durch die Rechtsprechung der Gerichte überlassen war. So nimmt der Gesetzgeber, der vermeintlich der richterlichen Rechtsschöpfung ein Ende bereitet hat, doch selber immer noch seine Zuflucht zu ihr. Der Richter wird, um zu erfahren, was Rechtens ist, vom Gesetz wiederum an den  Richter  verwiesen!

Die selbständige Rechtsbestimmungsmacht des Richteramts vermag aber endlich sogar im  Widerspruch  zum wirklichen, fest bestimmten Gesetzessinn, im  Gegensatz  zum Wollen und Hoffen des Gesetzgebers siegreich zum Durchbruch zu kommen. Es wird dies durch die vielen Schwierigkeiten ermöglicht, die sich dem richtigen Verständnis des Gesetzes wortes  entgegenstellen können.

Denn der Gefahr, die jedem Gedanken beim Versuch, ihn durch äußere Mittel kund zu geben, droht, - der Gefahr, daß er nicht vollständig und sicher erkennbar zum Ausdruck gebracht wird, unterliegt auch der gesetzgeberische Gedanke und mag er noch so sorgfältig und genau in Worte gefaßt sein! Er ist ihr umso mehr ausgesetzt, weil das stumme Gesetzeswort sich nicht dem jeweiligen Verständnis des Einzelnen anpassen kann, sondern sich gleichförmig an Millionen von Menschen, oft an eine lange Reihe von Menschengeschlechtern wendet.

Wenn es nun deshalb oft genug vorkommt, daß richterliche Urteile dem wahren Sinn und Willen des Gesetzes zuwiderlaufen, so ist dies gewiß ruhigen Mutes als ein unvermeidliches Geschick zu erdulden, als ein Tribut, welchen die Gesetzgeber und Richter der Schwäche des menschlichen Mitteilungs- und Erkenntnisvermögens zollen. Aber weder diese entschuldigende Überlegung noch irgendein juristisches Kunststück kann uns über die offen vorliegende Wahrheit hinweggleiten lassen, daß alle die vielen Abweichungen der richterlichen Rechtssprüche von der gesetzlichen Rechtssatzung dennoch durch die Staatsgewalt  rechtlich bestätigt  werden. Der Staat ist  genötigt,  sie sich  gefallen zu lassen,  auch  sie  mit dem Stempel der Rechtskraft zu versehen. Auch das  gesetzwidrige  Urteil ist doch  rechtsverbindlich.  Es ist wie jedes richterliche Urteil eine vom Staat ausgehende, vom Staat gebilligte, vom Staat mit seiner Zwangsgewalt ausgestattete Rechtsbestimmung!

Damit ist aber nichts anderes gesagt, als daß der Richter vom Staat  ermächtigt  ist, auch solche Rechtsbestimmungen vorzunehmen, die nicht im Gesetzesrecht enthalten, sondern lediglich vom  Richter  gefunden,  ja er funden, von  ihm, nicht vom Gesetz gewählt und gewollt sind! 


V. Schlußbetrachtungen

Es hat sich gezeigt, wie es mit der vermeintlichen Vollständigkeit, Bestimmtheit, Festigkeit, Untrüglichkeit des Gesetzesrechts bestellt ist. Überall stößt die rechtsordnende Macht der Gesetzgebung auf unübersteigliche Schranken. Um ihre Aufgabe erfüllen zu können, ist sie beständig auf die Mitarbeiterschaft des Richteramts am staatlichen Rechtsordnungswerk angewiesen. Gesetz und Richteramt teilen sich in den Rechtsschaffungs- und Rechtsbestimmungsberuf der Staatsgewalt.

Daß unsere Wissenschaft sich bisher noch nicht zum Bekenntnis dieser Wahrheit hat entschließen wollen, wird nur durch ein tief eingewurzeltes Vorurteil erklärlich, welches die Rechtstheorie unserer Zeit aus den Zeiten des übertriebensten Gesetzeskultus beruhigt übernommen und festgehalten hat.

Wohl ist zu Beginn unseres Jahrhunderts unter der Führerschaft SAVIGNYs der Kampf gegen den Glauben an die allmächtige Kraft der Gesetzgebung begeistert aufgenommen und siegreich durchgeführt worden. Mit dem unwiderleglichen Beweis, daß die Gesetzgebung nicht die einzige, allein herrschende Art der Rechtsbildung ist, eröffnete die "historische Schule" ihre großen Erfolge. Aber trotz aller Feindschaft gegen die überlieferte Gesetzestheorie blieb man in einer irrigen Vorstellung befangen, die eben jener Theorie entstammt und ist auch jetzt noch in ihr befangen geblieben. Noch immer wird als ausgemacht, ja als selbstverständlich angenommen, daß auch die nichtgesetzliche Rechtsbildung ähnlich wie die gesetzliche nur durch die Schaffung  abstrakter, allgemeingültiger  Rechtsbestimmungen vor sich gehen kann.

Solche gesetzesartigen Rechtsbestimmungen vermag der Richter allerdings nicht zu erlassen: Seine Rechtsbestimmungen vermag allerdings der Richter nicht zu erlassen: seine Rechtsbestimmungs- und Rechtsordnungsmacht reicht nicht über das einzelne abzuurteilende Rechtsverhältnis hinaus. Aber nur jene durch die klarsten Zeugnisse der Rechtsgeschichte widerlegte, bloß durch die Analogie des Gesetzesrechts verursachte, durch die falsche Gleichstellung des richterlichen Urteils mit dem logischen Urteil und überdies durch die Fiktion "der Wahrheit des Urteils" beförderte Annahme, daß eine Rechtsordnung bloß durch abstrakte, allgemein verbindliche Rechtsgebote hergestellt werden kann, vermag einen Grund dafür abzugeben, daß die konkreten richterlichen Rechtsbestimmungen nicht als rechtsordnende Akte der Staatsgewalt angesehen werden sollten und dürfen! Sicherlich ist ja eine Rechtsordnung, die sich der Staat ausschließlich durch einzelne richterliche Rechtssatzungen herzustellen und zu unterhalten angelegen sein läßt, eine recht unvollkommene, vielerlei Unsicherheiten und Schwankungen ausgesetzte. Aber trotz aller Mängel ist und bleibt doch auch  sie  eine  Rechtsordnung.  Und auch bevor die konkreten richterlichen Rechtsbestimmungen schließlich unter die Leitung und Regelung abstrakter, gesetzlicher Rechtsbestimmungen geraten sind, hatte die der Menschennatur tief eingepflanzte glückliche Neigung zur sozialen Akkomodation, die Macht der Gewohnheit, dafür gesorgt, daß dieses richterliche Spruchrecht einen hohen Grad von Beständigkeit annahm, die überdies noch dadurch sehr befördert wurde, daß die noch nicht durch die Autorität des Gesetzes geleiteten und geborgenen Richter sich damals auf das Lebhafteste dazu gedrungen fühlen mußten, für das auf eigene Verantwortung frei zu schöpfende Recht durch eine sorgsame Berücksichtigung der Sitte und Übung des Rechtsverkehrs zumindest einigen festen Halt zu gewinnen, sei es auch nur in der Hoffnung, ihren Rechtssprüchen auf diese Weise die Billigung der Rechtsgenossen zu verschaffen.

Zu dieser nebensächlichen und, wie die Rezeption des römischen Rechts mit besonderer Deutlichkeit zeigt, rein  tatsächlichen,  nicht rechtlichen Eigenschaft des nichtgesetzlichen Rechts hat denn nun unsere Theorie ihre Zuflucht genommen, um, jenem Vorurteil entsprechend, auch im nichtgesetzlichen Recht den Anschein abstrakter Normierung finden zu können. Die Nebeneigenschaft ungefährer Beständigkeit ist für seine Haupteigenschaft gehalten und infolgedessen sein wahres Wesen als richterliches Recht verkannt worden. So ist es gekommen, daß die richterliche Rechtsschöpfung unter der falschen, nach dem Muster des Gesetzesrechts zugeschnittenen Hülle des Gewohnheitsrechts so lange versteckt und verborgen geblieben ist.

So erklärt es sich auch, wie unsere Rechtstheorie so wenig empfänglich für die Würdigung desjenigen nichtgesetzlichen Rechts hat bleiben können, welches sich beständig auch noch  inmitten alles Gesetzesrechts  in lebensvoller unversieglicher Kraft entfaltet. Unter das Schema irgendeiner abstrakten Rechtssatzung wollte das heutige richterliche Recht schlechterdings nicht passen, auch nicht einmal in dem doch weitbauschig genug angefertigten Gewand des "Gewohnheitsrechts" ein Unterkommen finden. Zwar sind einige Rechtsgelehrte bemüht gewesen, aus dem Stoff des Gewohnheitsrechts ein "Juristenrecht" oder ein "Recht der Wissenschaft" anzufertigen. Aber auch diese Bemühungen mußten, weil sie lediglich auf die Gewinnung abstrakter, allgemein verbindlicher richterlicher Rechtssatzungen abzielten, verfehlt bleiben und haben mit Recht die entschiedenste Zurückweisung erfahren. Somit blieb der Theorie nichts anderes übrig, als die Existenz des richterlichen Rechts zu ignorieren. Ein merkwürdiges Beispiel seltenster, immerhin unbewußter Selbstverleugnung! Eine Rechtswissenschaft, die vom richterlichen Recht nichts wissen will, spricht sich selber die Existenzberechtigung ab!

Wer sich von jenem Vorurteil loszusagen vermag, muß sich freilich dazu verstehen, seinen Vorstellungen von der Grundanlage der Rechtsordnung eine etwas andere Richtung zu geben, als sie aufgrund der Theorie von der Notwendigkeit einer abstrakten Rechtsproduktion angenommen hatten.

Es stellt sich heraus, daß selbst das Gesetz nicht unmittelbar Recht zu schaffen vermag. Das Gesetz ist nur eine Vorbereitung, ein  Versuch zur Bewirkung einer rechtlichen Ordnung.  Das Gesetz erteilt nur eine  Anweisung,  wie die Rechtsordnung eingerichtet werden soll. Diese Anweisung ist zunächst an die Beteiligten selber gerichtet, an die Personen, um deren rechtliche Verhältnisse es sich handelt. Je einsichtiger, bestimmter und klarer die Gesetzesweisung, noch mehr aber, je tüchtiger und gesünder der das Volk erfüllende Rechtssinn ist, desto häufiger wissen die Beteiligten die zutreffende Rechtsbestimmung von selber zu finden und fügen sich ihr, mit einander im besten rechtlichen Einvernehmen lebend, ohne daß ein Eingreifen der Staatsgewalt stattzufinden hat. Gelingt dies aber nicht, so muß erst noch das Richteramt in Bewegung gesetzt werden, um die erforderliche Rechtsbestimmung im Namen des Staates zu erlassen! Hierbei hat der Richter sich zwar innerhalb der vom Gesetz vorgezeichneten Rechtsgrenzen zu halten, ähnlich wie die Gesetzgebung in die Schranken der Staatsverfassung gebannt ist. Aber in keinem von beiden Fällen ist die Rechtsbestimmung schon unmittelbar vom Gesetz gegeben: sie wird dort erst von den  Beteiligten,  hier erst vom  Richter gefunden.  Das Gesetz weißt beiden nur den Weg richtiger Rechtsfindung!

Erst nach der Beseitigung jenes Vorurteils, erst durch die klare Erkenntnis, daß und weshalb den Gerichten ein wesentlicher Anteil an der rechtsschöpferischen Tätigkeit der Staatsgewalt zukommt, tritt endlich die volle Bedeutung, die hohe Aufgabe des Richteramts und damit auch der Rechtswissenschaft, die ja nur die Seele der ganzen Rechtspflege ist, deutlich ans Licht!

Weder die Einsicht, noch die Macht der Gesetzgebung reicht bis an das wirkliche Rechtsleben heran. Das abstrakte stumme Gebot des Gesetzes vermag der vielgestaltigen stürmischen Bewegung des menschlichen Gemeinlebens nicht völlig Herr zu werden. Das vermag es nur im Bund mit der lebendigen  Macht  eines unmittelbar ins Leben eingreifenden Willens. Die Gesetzgebung denkt den Rechtsgedanken noch nicht fertig. Erst die rechtsbeteiligten Personen und, wenn diese nicht einmütig werden, erst die Richter denken ihn zu Ende. Im Gesetz kommt der rechtsordnende Wille der Staatsgewalt noch nicht zum Abschluß:  vollendet  tritt er erst in den  richterlichen Rechtssprüchen  heraus.

Deshalb  kann die Rechtsbildung um so vieles eher des toten Gesetzeswortes entbehren, als der  viva vox  [lebendigen Stimme - wp] des Richteramtes.  Deshalb  hat die Staatsgewalt so lange Zeit hindurch ihren Rechtsordnungsberuf  ohne  Gesetzgebung zu versehen vermocht. Ohne ein  Richteramt hat  sie es nie und  wird  sie es nie können!  Deshalb  hat auch durch das Emporkommen der Gesetzgebung die rechtsschöpferische Macht des Richteramtes nicht  verdrängt,  sondern nur unter die  Leitung  der Gesetzgebung gestellt werden können.

Während der Richter früher seine Rechtsbestimmungen aus dem frei sprudelnden, freilich auch oft träge versumpfenden Born des Volksrechtsgefühls zu schöpfen hatte, ist jetzt die Quelle seiner Rechtsfindung von der Staatsgewalt vorsorglich fester  umschlossen,  klarer  gefaßt,  sicherer  geborgen.  Nur noch aus dieser vom Gesetz gewiesenen und bewachten Quelle darf er das Recht holen.

Aber nicht das Gesetz selber ist die Quelle! Der Gesetzgeber bringt nicht selber die Rechtssubstanz hervor. Er gibt nur die Weisung, wo sie zu finden und wie sie zu formen ist. Das Recht liegt nicht für Jedermann bequem erreichbar auf der Oberfläche: es ist im Ganzen des Volks- und Staatslebens verborgen, tief eingesenkt in die Vergangenheit des Volkes, der Völker!

Ernster Arbeit, reichen Wissens bedarf es um das Recht von dort hervorzuholen, scharfen und geschulten Geistes um es nach dem Maß des Gesetzes zu formen, seiner und zarter Rechtsempfindung um innerhalb der Gesetzesgrenzen die richtige Rechtsbestimmung zu treffen, eines fest und beständig auf das Rechte gerichteten Willens um dieses verantwortungsvollen hohen Berufes gerecht und unparteiisch zu walten!

Die rechtsschöpferische Einsicht und Fähigkeit wird durch die rechtswissenschaftliche Bildung gewonnen. Die gerechte Gesinnung ist die Errungenschaft sittlicher Charakterbildung. Glücklich das Land, dessen Richter sich beides ganz zu eigen gemacht haben! Ein Volk, welches sich nicht auf die Rechtseinsicht und die Gerechtigkeit seines Richterstandes verlassen kann, ist trotz der besten Gesetze verdorben und verloren.

Denn nicht das Gesetz, sondern  Gesetz und Richteramt  schafft dem Volk sein Recht!
LITERATUR Oskar von Bülow, Gesetz und Richteramt, Leipzig 1885