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HEINRICH GOMPERZ
Die Wissenschaft und die Tat
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"Ob die Einführung dieser oder jener Abgabe, dieses oder jenes Monopols, die Erhöhung oder die Ermäßigung eines Zolles, einer Arbeitslosenunterstützung die Wirtschaft beleben oder ersticken, mehr Gutes wirken oder mehr Unheil anrichten werde, weiß niemand so recht: die Erfahrungen widersprechen einander, der Erwartung des Einen steht die Befürchtung des andern entgegen, die Ansichten sind geteilt. Dennoch muß das eine wie das andere entweder geschehen oder unterbleiben. Ein Drittes gibt es nicht. Die Ratschläge der Wissenschaftler gehen auseinander und auch wo sie zusammenstimmen, mögen sie irrig sein und späterer Berichtigung harren. Allein eine Entscheidung muß jetzt und hier fallen, es muß gehandelt oder nicht gehandelt werden. Geschieht das Schädliche, so gibts ein Unglück; unterbleibt das Nützliche, nicht minder. Die eine oder die andere Gefahr also muß in Kauf genommen werden. Gedanklich ist die Tat nicht reif, allein dennoch muß sie gesetzt werden; der Augenblick erzwingt sie."

I.

Auf die Frage nach dem Verhältnis der Wissenschaft zur Tat wird man im allgemeinen Antworten von dreierlei Art erhalten.

Jene der ersten Art besagen: die Wissenschaft  dient  der Tat, sie ist ein Mittel, dessen sich der Wille, der Glaube, die Wertung bedient. In alter Zeit ist die Philosophie als die  Magd  der Theologie bezeichnet worden; heute fassen viele die Wissenschaft überhaupt als Dienerin der Staats- oder Volks-, der Klassen- oder der Rasseniele auf. (1)

An alledem ist eines sicherlich richtig: das  Werden einer Wissenschaft, ihre ursprüngliche Zielsetzung, setzt durchaus ein zielsetzendes Interesse voraus.

Allein die Wissenschaft ist eine störrische Magd, sie führt die ihr aufgetragenen Arbeiten so aus, wie es  ihrem  Wesen entspricht, nicht so, wie sichs vielleicht der Auftraggeber gedacht und erhofft hat. Die Sprachwissenschaft beginnt mit dem Suchen nach dem "richtigen" Ausdruck und endet mit dem Atlas der Mundarten; die Sagenforschung hebt an mit dem Wunsch, die seelische Kindheit des eigenen Volkes nachzufühlen und endet mit mehrbändigen mythologischen Handbüchern. Auch dem Paläographen [Schriftkundler - wp] gerät die Verherrlichung Gottes, dem Textkritiker die materialistische Geschichtsauffassung, dem Diplomatiker die völkische Gesinnung einigermaßen außer Sicht. Auch die Rassenforschung, von der Rassenpolitik in Gang gebracht oder doch beflügelt, wird schwerlich alles erfüllen, was jene sich von ihr erwarten mag.

Eine zweite Art von Antworten lautet: Wissenschaft ist von einer Tat völlig unabhängig, sie trägt ihren Wert in sich selbst. Wie es in Frankreich hieß: l'art pour l'art [Kunst um der Kunst willen - wp], so könnte man auch sagen: la science pour la science. Das heißt: die Wissenschaft entspringt aus dem Wissentrieb, und ihn befriedigt sie; ihr Ziel ist die Wahrheit, deren Ermittlung ihre Aufgabe. Können sich Menschen für ihr Tun des so Ermittelten bedienen, umso besser für sie! Aber der Wissenschaft bleibt das äußerlich und zufällig, für sie ist es ohne Belang.

Und gewiß ist das die Art, wie die Wissenschaft vorgeht, wie sie sich selbst betrachtet. Ja, man darf diesen ihren Wesenszug ihrer Begriffsbestimmung dienstbar machen: nur ein Denken solcher Art  nennen  wir ein wissenschaftliches; nicht nur eine Anklage- oder eine Verteidigungsrede, auch ein Kochrezept ist kein Erzeugnis der Wissenschaft.

Allein dennoch bedarf auch diese Antwort zumindest  einer  folgenreichen Einschränkung; mag die Ermittlung der Wahrheit das alleinige Ziel jeder Wissenschaft sein, so liegt darin noch nicht, daß sie auch Hoffnung hätte, es zu erreichen.

Um dies darzutun, bedarf es heute keiner weitschichtigen Untersuchungen über die Möglichkeit einsichtiger Erkenntnis. Liegt es doch zutage, daß gerade in den Wissenschaften, die sonst im Besitz einer solchen zu sein vermeinten, "Krisen" aufgetreten sind, die ihre Grundlagen berühren, daß etwa der "alten" Logik eine "neue" entgegentritt, ja daß sogar Sätzen, die noch vor wenigen Jahren weithin als "denknotwendig" galten, wie vor allem dem Satz von der allgemeinen Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens, ihre tatsächliche Geltung aufs ernstlichste bestritten wird. In den einzelnen Gesetzes-, also vor allem in den Naturwissenschaften aber ist es doch schon so gut wie allgemein anerkannt, daß sie nur  Annahmen  aufstellen können, die zwar durch die Tatsachen "widerlegt" (richtiger: zur Ergänzung durch Hilfsannahmen vergleichsweise verwickelter Art genötigt), dagegen niemals endgültig bewahrheitet werden können, so daß ihre Geltung im besten Fall eine bloß vorläufige bleibt. Und was endlich die Wissenschaften von einzelnen Tatsachen betrifft, zu denen ja zumeist die sogenannten Geisteswissenschaften, vor allem jene geschichtlicher Art, gehören, so läßt sich leicht zeigen, daß es um ihre Sätze nicht anders bestellt ist: auch diese nämlich sind vorläufige Annahmen und als solche auf eine Bewahrheitung angewiesen, die ihnen zwar wieder und wieder, jedoch niemals letztmalig und endgültig, zuteil werden kann. (2)

Damit soll keineswegs einer Philosophie des grundsätzlichen Zweifels das Wort geredet, nicht das soll behauptet werden, alle menschlichen Meinungen seien gleich wahr oder gleich falsch, wir sollten uns deshalb allen Urteilens, und d. h. zuletzt aller Wissenschaft, enthalten, da sie uns der Wahrheit ja doch nicht näher bringe. Vielmehr ganz im Gegenteil, daß sie uns der Wahrheit zwar  näherzubringen,  indessen doch niemals uns  in ihren sicheren Besitz zu setzen  vermöge: jenes schon darum, weil ja mit jeder widerlegten Annahme das Feld möglicher Irrtümer eingeengt und damit die Wahrscheinlichkeit, auf haltbare Annahmen zu stoßen, erhöht wird.

Jene ganze, hier eingefügte Betrachtung soll vielmehr eine Doppelerkenntnis ganz anderen Inhalts zeitigen: sie betrifft die Haltung, in der Wissenschaft um ihrer selbst willen getrieben, und die Art der Befriedigung, die von ihr erhofft werden kann. Jene Haltung nämlich muß die stete Bereitschaft einschließen, jedes Ergebnis wieder in Frage gestellt zu sehen, auf jeden, auch auf jeden scheinbar abgeschlossenen, Gedankengang zurückzukommen. Nicht aller  Meinungen  wird sich der Wissenschaftler als solcher enthalten, wohl aber jeder  Festlegung  auf eine bestimmte Meinung. Er wird aufgeschlossen bleiben müssen für jede neue Tatsache, für jeden Einwand, für jeden neuen Gegengrund. Eben in dieser beständigen Bereitschaft, jede Frage neuerlich zu erwägen, jedes Ergebnis neuerlich in Frage zu ziehen, besteht die eigentlich wissenschaftliche Haltung. Und daraus folgt, daß von der Wissenschaft als solcher, nämlich von der um ihrer selbst willen getriebenen Wissenschaft, nicht Freude am Besitz der Wahrheit, vielmehr Freude am Erfassen und Durchdenken schwieriger Fragen, am Ersinnen von Lösungsversuchen und deren Abwägung gegeneinander, mit zwei Worten: Freude am Denken und Forschen, erwartet werden darf. Nicht der Wissens-, sondern der Forschungstrieb macht den Wissenschaftler aus. Gewiß ist dieser in Wirklichkeit auch Mensch und wird als solcher auch von Rechthaberei und Ehrgeiz nicht frei sein. Ja seelenkundlich betrachtet mag häufig gerade eine gewisse Verbissenheit der Vertiefung in den Stoff, damit aber auch dem Erschauen neuer Gedanken und Möglichkeiten und so mittelbar sogar dem Fortschritt der Wissenschaft selbst zugute kommen. Dem Wissenschaftler aber, sofern er eben dies ist, muß es gleich gelten, ob er eine eigene oder eine fremde Meinung widerlegt, eine eigene oder eine fremde Behauptung zu Ehren bringt. Die Welt ist ihm ein Inbegriff von Rätseln und die Arbeit an deren Lösung ist seine Wonne. Wenn LESSING gesagt hat, ließe ihm Gott die Wahl zwischen der Wahrheit und dem Streben nach der Wahrheit, er würde das letztere wählen, denn die Wahrheit sei ja doch nur für Gott allein, so hat er damit auf das treffendste die Geistesart desjenigen gekennzeichnet, der um ihrer selbst willen Wissenschaft treibt.

Eine dritte Antwort besagt: Wissenschaft ist  Voraussetzung  der Tat. Sie stellt das Wissen bereit, dessen mögliche Tat bedarf und eben hierin besteht ihr gesellschaftlicher Nutzen. Wissenschaft, rein um ihrer selbst willen getrieben, wäre bloße Liebhaberei. Allein die Wissenschaft leistet mehr: sie stellt zusammen, was jeweils über den Zusammenhang von Zwecken und Mitteln bekannt ist. So setzt sie den, der einen Zweck verfolgt, in den Stand, die Mittel anzuwenden, die ihn verwirklichen können. Das heißt aber: sie  ermöglicht  ihm die Tat. Vom Gesichtspunkt der Gesellschaft, ja der Menschheit aus betrachtet, liegt die letzte Rechtfertigung der Wissenschaft darin, daß sie  tätiger Anwendung  fähig ist.

Die Berechtigung dieser Ansicht scheint sich auf einem ganz ungeheuren Gebiet der "angewandten Wissenschaft", auf dem der "Technik" im weiteren Sinn, ohne weiteres zu bewähren. Mathematik, Physik, Chemie jagen uns über die Erde, geleiten uns auf dem Meer, tragen uns durch die Luft, sie leuchten, sie tönen, bauen, schlagen Brücken, bestellen die Felder, sie spinnen und weben, sie schreiben und rechnen für uns. Anatomie, Physiologie, Pathologie bemühen sich, unsere Gesundheit zu erhalten oder doch wiederherzustellen. Auf Nationalökonomie und Soziologie, ja auf Geschichtsphilosophie, gründet sich jeder Versuch, die Wirtschaft in ihrem Gang zu erhalten oder doch wieder in Gang zu bringen, ein geordnetes Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen und zu fördern. So wie die deutschen Hochschulen bisher eingerichtet waren, mag ja in den theologischen Fakultäten der "Dienst am Wort", in den philosophischen die "reine Wissenschaft" die leitende Zielvorstellung abgegeben haben - in den medizinischen wie in den rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultäten, in den technischen, den landwirtschaftlichen, den Handels-Hochschulen lag die Hinordnung des Wissens aufs Tun unverhüllt vor aller Augen.

Auch die vordem oft aufgeworfene Frage, ob es nicht Ausnahmefälle gebe, in denen es der reinen Wissenschaft an der Möglichkeit tätiger Anwendung voraussichtlich immer fehlen werde, wird heute kaum mehr jemand bejahen wollen - heute, da RIEMANNs Traum eines "gekrümmten Raumes" zum Alltagswerkzeug der Naturlehre geworden ist und da EDDINGTON es als "einen gangbaren Weg zur Messung der Masse eines Elektrons" bezeichnen kann, "astronomische Beobachtungen betreffend die Entfernung und die Geschwindigkeit der Spiralnebel anzustellen".

Auch der gesunde Menschenverstand scheint diese Auffassung des Verhältnisses der Wissenschaft zur Tat vor allem zu empfehlen. Denn auch im Leben des Einzelnen geht zwar in der Regel das Forschen dem Handeln voraus, ist aber - zumeist wenigstens - doch darauf gerichtet. Wir sagen dann, es diene der Anpassung an die Umwelt, "der Orientierung". Ist es also nicht das Einfachste und Nächstliegende, die Wissenschaft - sei es nun durchaus oder doch vorzugsweise, denn nicht darauf kommt es hier an - als den Inbegriff alles solchen, auf mögliche Anwendung hingeordneten Denkens, gewissermaßen als eine große Gesamtorientierung anzusehen - sozusagen als die Errichtung und den Ausbau jener ungeheuren Vorratskammer, in der die Menschheit alles Wissen sammelt und aufbewahrt, das jemals irgendwer brauchen mag, um eine Tat darauf zu gründen?

Hier aber stoße ich nun auf eine große Schwierigkeit, ja nur um diese recht deutlich hervortreten zu lassen, ist eigentlich alles bisher Gesagte vorgebracht worden.  Wenn die Wissenschaft niemals zum Abschluß gelangt, wie läßt sich,  unabgeschlossen wie sie ist,  eine Tat auf sie gründen? 

Wissenschaft ist Vorbereitung von Taten. Allein diese Vorbereitung kommt, solange die Welt steht, nie zu Ende. Taten aber lassen sich nicht bis zum jüngsten Tag hinausschieben:  die Tat verlangt Entscheidung in einem bestimmten, gegebenen Augenblick. 

Die Wissenschaft hört auf, Wissenschaft zu sein, sowie sie sich auf eine bestimmte einzelne Antwort endgültig festlegt, sich den Rückweg zur Wiedererwägung jeder Frage, zur Berichtigung ihrer Mutmaßungen, zur Zurücknahme ihrer vorläufigen Annahmen nicht offen hält. Die Tat dagegen kann, ihrem Wesen nach, niemals zurückgenommen werden. Wie also kann Wissenschaft tätig angewandt, wie vermag sie Grundlage der Tat zu werden?

Es liegt hierin nicht etwa nur eine gedankliche Schwierigkeit, eine Haarspalterei, der man mit dem Hinweis auf die verschiedenen Aufgaben des Denkenden und des Handelnden begegnen könnte oder gar nur mit dem auf begriffliche Unterscheidungen, indem man etwa sagte: Der Eine denkt, der Andere handelt; auch der Wissenschaftler handelt, aber nicht als Wissenschaftler, sondern als Mensch. Es handelt sich um ganz andere, um sehr ernste Dinge, und namentlich um drei, wie mir scheinen will, sehr folgenreiche Einsichten.


II.

Die erste Einsicht: Entscheidungen sind auch dort unvermeidlich, wo ihre Voraussetzungen der gedanklichen Klärung noch entbehren. Und zwar unvermeidlich insbesondere auch darum, weil in solchen Fällen planmäßiges Unterlassen, gewolltes Nichttun, meist ebenso eine tätige Entscheidung bedeutet wie das Tun. - Da gibt es also keinen Ausweg: die Wissenschaft schweigt oder gibt auf die ihr gestellten Fragen doch nur stammelnd eine vorläufige, unsichere Antwort; das Leben aber stellt den Menschen vor eine Wahl und auch indem er nicht wählt, wählt er. So muß er sich entscheiden, auf die Gefahr hin, zu irren. Weder dem Irrtum noch der Verantwortung für den Irrtum kann er sich entziehen. Was immer er tue oder nicht tue, er muß sie tragen. Ich gebe ein paar Beispiele.

Ob die Einführung dieser oder jener Abgabe, dieses oder jenes Monopols, die Erhöhung oder die Ermäßigung eines Zolles, einer Arbeitslosenunterstützung die Wirtschaft beleben oder ersticken, mehr Gutes wirken oder mehr Unheil anrichten werde, weiß niemand so recht: die Erfahrungen widersprechen einander, der Erwartung des Einen steht die Befürchtung des andern entgegen, die Ansichten sind geteilt. Dennoch muß das eine wie das andere entweder geschehen oder unterbleiben. Ein Drittes gibt es nicht. Die Ratschläge der Wissenschaftler gehen auseinander und auch wo sie zusammenstimmen, mögen sie irrig sein und späterer Berichtigung harren. Allein eine Entscheidung muß jetzt und hier fallen, es muß gehandelt oder nicht gehandelt werden. Geschieht das Schädliche, so gibts ein Unglück; unterbleibt das Nützliche, nicht minder. Die eine oder die andere Gefahr also muß in Kauf genommen werden. Gedanklich ist die Tat nicht reif, allein dennoch muß sie gesetzt werden; der Augenblick erzwingt sie.

Kaum wird von etwas heute so viel geredet, kaum wär' auch etwas bedeutsamer als die Verbesserung des menschlichen Stammes, die Erzeugung einer gesunden, wohlgeratenen, leistungsfähigen Nachkommenschaft. Was für Eltern müssen, welche dürfen, zusammenkommen, um eine solche zu sichern, das Gegenteil zu verhüten? Wie wirkt große Ähnlichkeit, wie große Unähnlichkeit des Vaters und der Mutter? Welche Eigenschaften kennzeichnen die Kinder von Eltern ähnlicher, welche die von solchen sehr verschiedener Stammesmischung? Wie wirkt es auf die Nachkommen, wenn vor allem Liebe, wenn Überlegung, wenn Berechnung die Vorfahren zusammengeführt hat? Soviel Fragen, so wenig gesicherte Antworten! Allein die Verantwortung sowohl des Gesetzgebers wie auch des einzelnen Freiers und der einzelnen Braut wird dadurch nicht geringer. Unwissend wirkt der eine durch seine Maßregeln, der andere durch seine eigene Wahl künftigen Segen oder künftigen Fluch. Doch auch das Tun dessen, der nichts verordnen, nichts wagen wollte, wäre nicht minder bedeutungsschwer: auch an seine Unterlassung knüpft sich die Geburt solcher, deren Dasein ein Fluch, das Nichtsein solcher, deren Andenken ein gesegnetes wäre. Wie immer die Menschen handeln, von welchen Beweggründen, Erwägungen, Grundsätzen sie sich bestimmen lassen mögen - auf die Entscheidung der Wissenschaft kann keiner warten: ohne sich auf ihren Wahlspruch berufen zu können, muß er jetzt und hier - handelnd oder nicht-handelnd - seine Tat setzen, muß er selbst die Verantwortung für sie auf sich nehmen und tragen.

Kaum in einer anderen Wissenschaft wandeln sich die Ansichten - oder, wenn man will, die Erkenntnisse - so rasch und weitgehend wie in der Heilkunde. Der Aderlaß: vor 100 Jahren ein allgemein als wirkungskräftig anerkannter, tausendfach erprobter, immer wieder angewandter Heilbehelf; vor 50 Jahren verlacht und vergessen; heute in gewissem Umfang wieder geübt und geschätzt! Der Gebrauch der natürlichen Heilquellen: vor 100 Jahren fast das Um und Auf der ärztlichen Kunst; vor 50 von den Aufgeklärtesten, Weisesten mit mildem Augurenlächeln eben noch geduldet ("Warmes Wasser wie jedes andere, aber ganz heilsam der guten Luft, der regelmäßigen Lebensweise wegen ..."); heute, seit der Erkenntnis ihres Radiumgehaltes, mit einem Mal wieder in Ehren! Man mache sich nur überhaupt einmal klar, wie die "wissenschaftlich" begründete, an "Erfahrungen" bewährte Heilkunde des 19. Jahrhunderts - ohne jede Ahnung von den Hormonen, den Vitamen! - das Wesen der Lebensvorgänge verkannt haben muß! Und was dürften wir der Vorhersagung entgegenhalten, daß unseren Enkeln  unsere  Wissenschaft in eben diesem Licht erscheinen werde? Keine Rede also davon, daß die ärztliche Wissenschaft zu einem Abschluß gekommen wäre, daß sie und endgültige, unbedingt verläßliche Erkenntnisse betreffend die erfolgreichste Bekämpfung einer bestimmten Krankheit oder auch nur betreffen Nutzen und Schaden eines bestimmten Heilverfahrens überliefern könnte! Allein was hilft das alles dem Arzt am Krankenbett? Der Mensch, der da vor ihm liegt und leidet, muß behandelt oder seinem Schicksal überlassen werden - auf die Gefahr hin, daß die Behandlung nicht hilft oder sogar schadet, daß die sich selbst überlassene Krankheit unnötig schmerzhaft oder auch tödlich verläuft. Gewiß wird der gewissenhafte Arzt die Umstände erwägen, wird, soviel an ihm liegt, die Gefahr eines großen Schadens nicht da in Kauf nehmen, wo ihm nur die Aussicht auf einen kleinen Nutzen entgegensteht, wird überhaupt das Ausmaß dessen, was er aufs Spiel setzt, nach Möglichkeit herabzudrücken suchen, - allein seine Verantwortung bleibt eine gewaltige und er muß sie tragen, er kann sie der Wissenschaft nicht zuschieben. Denn auf die "griechischen Kalenden", an denen sie alle Fragen gelöst haben wird, kann er nicht warten: er muß handeln - und wo er nicht  be handelt, da handelt er erst recht.

Am geringsten erscheint der Vorsprung der Tat vor der Wissenschaft dort, wo wir von der "Technik" im engeren Sinn zu reden pflegen. Hier wird ja, so möchte man denken, die Tat erst durch die Wissenschaft möglich und zugleich bewährt sich die Wissenschaft eben dadurch,  daß  sie die Tat ermöglicht, erweist sich gewissermaßen als die "Tangente", welche die Wahrheit wenigsten an diesem einen Punkt berührt. Unterdessen wird bei einer solchen Betrachtung doch ein Doppeltes übersehen. Daß durch ein gewisses Verfahren ein gewisser Erfolg erzielt wird, besagt noch nicht, daß er nicht durch ein anderes noch besser, und besagt nocht nicht, daß er nicht durch irgendwelche Ausgestaltung jenes Verfahrens weit sicherer und gefahrloser erzielt werden könnte. Auch auf diesem Gebiet also hat niemals die Wissenschaft ihr letztes Wort gesprochen. Keiner kann es darum abwarten. Wer ein von ihr ersonnenes Verfahren anwendet, ist dafür verantwortlich, daß er kein besseres, daß er nicht einmal jede mögliche Verbesserung und Sicherung des gewählten Verfahrens abgewartet hat. Auch sind das keineswegs bloß Ausgeburten des Gedankens, irgendwelche weit hergeholten Möglichkeiten. Täglich, ja stündlich vielmehr fallen die Opfer jener unverbesserten, ungesicherten Verfahren: sie werden aus Kraftwagen geschleudert, in Eisenbahnzügen zermalmt, beim Fall aus den Lüften zerschmettert, in Fabriksräumen zerfleischt oder verstümmelt. Ihre Zahl geht in die zehn-, ja in die hunderttausende. Gegen alle diese Gefahren mag die Wissenschaft mit der Zeit Sicherungen ersinnen, das "Denken der Menschheit" mag ihnen zuletzt gewachsen sein. Allein die Einzelnen können die Ergebnisse dieses Denkens nicht abwarten. Sie müssen die Verfahren, wie sie jetzt sind, entweder anwenden oder unangewandt lassen. Darüber, ob dieses oder jenes vorzuziehen sei, läßt sich streiten. Allein der Einzelne muß diesen Streit für seine Person entscheiden. Die Wissenschaft kann ihm dabei nicht helfen. Er muß wählen - und muß für seine Wahl die Verantwortung tragen.

Ich fasse diese erste Einsicht zusammen. Man kann sie schon in dem alten Wort finden: "ars longa, vita brevis" [Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang. - wp]. Die Wissenschaft wird nie fertig, ist nie am Ziel, die Tat dagegen fordert die Entscheidung, Abschluß. Mit den Augen der Wissenschaft angesehen wird dieser wohl stets als ein vorzeitiger, voreiliger erscheinen. CARTESIUS war der Meinung, all unsere Irrtümer rührten daher, daß wir eine Frage bejahen oder verneinen, ohne diese Entscheidung einsichtig begründen zu können, daß wir also von unserer Freiheit voreilig Gebrauch machen. Allein es zeigt sich nun: zuletzt ist, in diesem Sinne, fast  jede  Entscheidung voreilig. Und das klingt zwar seltsam, ist aber nicht wunderbar. Endgültige Einsicht, unumstößliche Erkenntnis ist ein Grenzbegriff; er leuchtet der Wissenschaft, dem Denken der Menschheit, auf ihrem jahrtausendelangen Weg als Ziel voran. Die Tat dagegen ist dem Einzelnen, in einzelnen Augenblicken seines kurzen Erdendaseins, aufgegeben. Er müßte ganz auf sie zu verzichten, wollte er abwarten, bis jenes Ziel erreicht ist. Eine Tat, die ihre volle Rechtfertigung im Denken fände, würde nie getan.


III.

Die zweite, und eine - so denke ich - dem Wissenschaftler besonders schmerzliche Einsicht ist die, daß wissenschaftliche Gesinnung allein noch keine zulängliche Lebensauffassung darstellt. Die Freude am Erfassen und Durchdenken ungelöster Fragen und an der Welt als deren unerschöpflichem Stoff, sie kennzeichnet zwar die Haltung des vollkommenen Wissenschaftlers, allein sie reicht auch für  sein  Leben nicht aus, denn sie gibt ihm keine Richtschnur für das Tun in die Hand. Zum Teil ist das ja ein Gemeinplatz. Das Wissen geht auf das Sein und vom Sein zum Sollen vermag bloße Denkstrenge keinen Weg zu bahnen. Die letzten Ziele des Handelns also vermag Wissenschaft für sich allein gewiß nicht zu weisen; sie müssen auf andere Art gesetzt werden: durch den bewußtlosen Trieb, durch die blinde Gewohnheit, durch freie Entscheidung. Allein man durfte denken, da und soweit wenigstens, als diese Ziele kraft der allgemeinen Menschennatur, durch die besondere geschichtliche und gesellschaftliche Bestimmtheit oder aufgrund persönlicher Eigenart festliegen, weise doch die Vernunft zu ihrer Erreichung den Weg; zugleich aber breite wissenschaftlich Gesinnung ein Gefühl ruhiger Sicherheit, gerichteter Tätigkeit, schrittweisen Gelingens über das Leben aus, ausreichend, ihm zugleich Halt und Licht zu geben. Ich wenigstens bekenne, an eine allgemeine, weltanschauliche Bedeutung der wissenschaftlichen Haltung als solcher geglaubt zu haben. Im Laufe des Lebens nämlich hatte sich in mir die Meinung (richtiger vielleicht: das Gefühl) festgesetzt, daß wissenschaftliche Gesinnung - vielleicht dürfte ich dagen: daß das Ethos der Wissenschaft - nicht bloß für das Leben des Wissenschaftlers Bedeutung habe, daß sie es vielmehr verdiene, auch über den Kreis der Forscher hinaus verbreitet, besonders auch in die Seelen der Jugend gepflanzt zu werden. Es schien mir, man solle den jugendlichen Hirnen nicht zu früh und nicht zu viele Überzeugungen einhämmern, sie vielmehr bei Zeiten und nach Kräften mit dem Wissen um die Begrenztheit unseres Wissens erfüllen. Denn bewußte Unwissenheit bedeutet nicht nur Bescheidung und Verzicht, sie birgt auch eine reiche Fülle des Heilsamen, ja des Beglückenden. Das ehrfürchtige Staunen über die Vielfalt und den Reichtum des Seins, über die Verwicklung der Dinge, die Schwierigkeit der Rätsel, die sie uns aufgeben, das Bewußtsein der Fragwürdigkeit aller Lösungen, verbunden mit dem Gefühl, jenen Rätseln doch nicht ganz und gar macht- und aussichtslos gegenüberzustehen und mit der Hoffnung, ja der Gewißheit, wenigstens Schritt für Schritt in das Dickicht des Unbekannten und Unerklärten eindringen zu können, aber freilich nur bei höchster Anspannung aller Geisteskraft, bei sorgsamstem, verantwortungsbewußtestem Vorherbedenken jedes Trittes, bei gewissenhaftester Abwägung und Prüfung jedes Fundes - - das alles, so schien es mir, gibt dem Leben eine Tiefe und eine Fülle, beglückender als jede vorschnelle und darum auch nur scheinbare Klarheit, segensreicher als irgendein einseitiges, sei es auch noch so zuversichtliches und hoffnungsreiches Vorurteil. Freilich ließ sich nie verkennen, daß auch in unserer Zeit das beschaulich Leben nicht wohl zugleich auch ein tätiges, daß der vor den Rätseln des Daseins fromm erschauernde Betrachter schwerlich zugleich auch ein leidenschaftlicher Kämpfer - vielleicht sogar nicht einmal ein streitbarer Forscher - sein wird. Noch weniger, daß auch jenen Betrachter seine Versenkung in die Schwierigkeiten, von denen die Wirklichkeit starrt, so wenig wie den Mystiker das Gefühl gottinniger Allverbundenheit, dazu befähigen wird, in den Stürmen des Lebens, dort, wo sich vor seinem Wollen ein klares Entweder - Oder aufrichtet, seinen Mann zu stellen, sich zu einem erlösenden Ja oder Nein durchzuringen. Allein ich tröstete mich mit der Hoffnung, daß natürliche Triebsicherheit, zielklares Denken oder doch ein ruhiges Pflichtgefühl jene von der Beschaulichkeit unabtrennbaren Mängel ausgleichen, wenigstens innerhalb der angedeuteten Grenzen der "Erziehung zur Beschaulichkeit" ihr Recht wahren könne. Auch möchte ich von alledem nichts geradezu zurücknehmen. Allein seine Bedeutung wird doch umso mehr herabgesetzt, je deutlicher es sich zeigt, daß die lebensbestimmende Kraft der Wissenschaft, kurz und derb gesagt: ihre Bedeutung fürs Leben, noch geringer ist, als von vornherein vorausgesetzt werden durfte. Denn zur Beschaulichkeit, und d. h., zu allseitiger Betrachtung, zu sorgfältiger Abwägung, zu gewissenhafter Prüfung werden wir mit unso unruhigerem Gewissen erziehen, je weniger wir uns darüber täuschen können, daß der Mensch täglich und stündlich in Lagen gerät, in denen ihn die Vernunft im Stich läßt und vor Fragen gestellt wird, zu deren rascher, zeitgerechter Beantwortung ihn noch eher die Gewohnheit, die Leidenschaft, ja das Vorurteil in den Stand setzt als die kühle und gerechte, aber mit ihren Untersuchungen nie zu Ende kommende Wissenschaft, Vernunft an und für sich leisten  könnten,  leisten sie nicht; auch die Aufgaben, die sie in Angriff zu nehmen vermögen, bringen sie doch vielfach nicht zu Ende. Die Wirksamkeit der nicht-vernünftigen Triebfedern reicht weiter und tiefer, ihre Bedeutung ist eine noch mächtigere, als wir es gewöhnlich wahr haben wollen. Nicht nur an den großen Kreuzwegen des Lebens, auch im engeren Lebenskreis seiht sich der Tätige immerfort vor Schwierigkeiten, zu deren Bewältigung sich das Denken unzuständig zeigt. Denn immer wieder bedarf die Tat auch außerwissenschaftlicher Bestimmungsgründe. Auch auf Gebieten, die wissenschaftlicher Fragestellung  nicht  von vornherein fern liegen, fordert das Leben auch andere als wissenschaftliche Entscheidungen.

ARISTOTELES hat es tief empfunden. Er, der vielleicht wie kein anderer die Seligkeit des reinen Denkens (der theoria) gepriesen und in ungelösten Fragen (in aporia) geschwelgt hat, gerade er hat es doch ausgesprochen, daß ein solches Leben reiner Betrachtung für einen Menschen zu "schön" wäre. "Denn so wird er nicht leben, sofern er Mensch ist, sondern sofern ihm etwas Göttliches innewohnt." (3) Der Mensch nämlich wird immer wieder vor Fragen gestellt, auf die die Wissenschaft entweder überhaupt keine oder doch nur eine offenkundig unsichere, bloß vorläufige Antwort erteilt. Von was für Beweggründen soll er sich in solchen Lagen bestimmen, von was für Grundsätzen soll er sich leiten lassen?

Eine Erörterung dessen, was geschehen  soll,  wird vor dem Richterstuhl der Wissenschaft immer höchst fragwürdig erscheinen. Sprechen wir, solange es möglich ist, nur von dem was geschehen  kann! 

Was tut der Mensch, wenn er der Gewähr für die Auswirkung seines Tuns ermangelt?

Wer kein Ergebnis der Wissenschaft für endgültig hält, erklärt sie deswegen noch nicht für wertlos. Allein in der Einsicht, daß sie als Richtschnur des Handelns betrachtet, einer Ergänzung bedarf, stimmt er doch mit dem grundsätzlichen Zweifler überein. Welche Ergänzungen die drei großen griechischen Skeptiker da ins Auge faßten, wird darum auch für ihn nicht ohne Belang sein. Nur wird er, der veränderten Geisteslage der Neuzeit gemäß, ihren mehr auf die Gemeinschaft als Ganzes zielenden Gedanken auch eine mehr auf den Einzelnen passende Deutung geben dürfen.

PYRRHON leugnete jede Möglichkeit des Wissens. Im Leben aber wird der Weise einfach der  Gewohnheit,  dem  Herkommen  folgen. So ist es die Überlieferung, der Herdentrieb, auf den er den Zweifler, wo es die Tat gilt, verweist. Für den Einzelnen mag dem dann wohl der ungebrochene eigene Trieb, das sichere eigene Gefühl, an die Seite treten. PYRRHONs Auskunft hat KIERKEGAARD die furchtbare Frage entgegengehalten, ob denn die Verantwortung für die unzulänglich begründete  Tat  leichter zu tragen sei als die für das unzulänglich begründete  Urteil?  Welch seltsame Gewissenhaftigkeit, meinte er, vor diesem zurückzuscheuen, vor jener aber nicht! KIERKEGAARD hatte ganz recht; nur daß es eben dem Menschen  möglich  ist, sich (innerhalb gewisser Grenzen) des Urteils zu enthalten,  unmöglich  dagegen, auf die Tat (wenn sie die Unterlassung einschließt) zu verzichten: der Verantwortung für jenes  kann  er sich entziehen, die Verantwortung für diese  muß  er tragen!

ARKESILAOS riet dem Zweifler, sich in seinem Tun an die  vernünftig scheinenden,  die  glaublichen,  die  überzeugenden  Grundsätze (kurz, an das  eulogon  [gutes Wort - wp]) zu halten. Wenn ich ihn recht verstehe, meinte er damit die Grundsätze der platonischen Sittenlehre, die ihm als maßgebend, wenngleich nicht als streng beweisbar galten. Mit anderen Worten: wo das Wissen versagt, vermag dafür der Glaube einzutreten; und was für die Gemeinschaft - es sei nun die Kirche, die Partei, die Richtung - der Glaube, das ist für den Einzelnen seine Überzeugung.

KARNEADES dachte verstandesmäßiger als seine beiden Vorgänger. Zwar sollte auch ihm zufolge das Denken, die Wissenschaft, endgültig gesicherter Erkenntnisse nicht fähig, aber doch sollte es für das Handeln maßgebend sein. Von den Ergebnissen des Denkens nämlich machten uns manche den Eindruck der Wahrheit, erschienen und  glaublich, überzeugend;  manche davon hätten sich überdies insoweit  bewährt,  als sie bisher nicht widerlegt worden seien; einige aber seien nicht nur tatsächlich bisher unwiderlegt geblieben, sie seien vielmehr auch aus einer eigens zu diesem Zweck angestellten Untersuchung oder  Erprobung  unwiderlegt hervorgegangen. Je höher nun auf dieser dreistufigen Leiter (Glaublich, Unwiderlegt, Erprobt) eine Meinung steht, desto höher sei auch ihr Anspruch, das Tun zu bestimmen. Wir würden heute sagen, maßgebend für die Tat solle vor allem der jeweilige Stand der Wissenschaft, oder aber, für jeden Einzelnen, sein eigenes, reiflich erwogenes Urteil sein. Und zugunsten dieser karneadeischen Regel läßt sich ja mit vieler Scheinbarkeit auch die Erwägung anführen, bei ihrer Befolgung werde - wenn sich die Wissenschaft anders auch nur allmählich der Wahrheit nähert - doch in der Mehrzahl der Fälle das Richtige geschehen. Doch sollte wohl auch das Gewicht dieses Grundes nicht überschätzt werden. Denn abgesehen davon, daß jene Regel nicht immer befolgt werden kann (wer entscheidet im Einzelfall über den "Stand der Wissenschaft"? Muß reifliches Nachdenken immer zu einem bestimmten Urteil führen?), ist ihr doch auch das Folgende entgegenzuhalten. Auch die Überlieferung, der Trieb, der Glaube und das Gefühl sind in einem gewissen Maß der Bewährung und Erprobung fähig. Und haben sie sich in langer Übung als heilsam für die Gemeinschaft oder auch nur für den Einzelnen erwiesen, so mag das Gewicht dieses Zeugnisses dem der wissenschaftlichen Erprobung kaum nachstehen. Und überdies: je gewichtiger, je selbstwertiger uns eine Einzelfrage erscheint, desto schwerer entschließen wir uns dazu, bei ihrer Beantwortung die Rücksicht auf andere Fälle mitsprechen lassen, den einen Fall gleichsam als  eine  Einheit unter anderen in eine Gesamtabrechnung einzusetzen: wer möchte, wo das Leben unserer Nächsten, der Bestand unseres Volkes auf dem Spiel steht, der Erwägung Raum geben: Mag ich auch diesmal mein Ziel verfehlen, viele andere, die so handeln, wie jetzt ich, mögen doch dereinst das ihre erreichen? Nur soviel dürfte man vielleicht sagen, daß auf dem, der von den Ratschlägen, die ihm die Wissenschaft nach ihrem jeweiligen Stand erteilt, bewußt und planmäßig abweicht, eine besonders große und schwere Verantwortung lastet.

Die Wissenschaft will Voraussetzung, will Grundlage der Tat sein. Allein in dem Augenblick, da die Tat gesetzt werden muß, ist die Wissenschaft nicht fertig (denn sie kommt nie zu Ende). Daher kann sie die Tat nur teilweise bestimmen, die Tat bedarf neben ihr auch anderer Bestimmungsgründe. Dies etwa ist es, was bisher gezeigt wurde. Nun aber ist hinzuzufügen - und darauf zielt die vorhin angekündigte dritte Einsicht -, daß auch die Wissenschaft, von den Forderungen der Tat bedrängt, es kaum vermeiden kann, sich für fertiger auszugeben, als sie wirklich ist. Teils darum nämlich, weil die Wissenschaft beständig zur Vorbereitung von Taten und das heißt von tätigen Entscheidungen, herangezogen wird, teils darum, weil das Wissenschaftstreiben selbst ein Tun ist, vermag die Wissenschaft die Unabgeschlossenheit, die doch zu ihrem Begriff gehört, selbst nicht streng durchzuführen. Ein Geist des Abschließens, des Entscheidens, der Festlegung auf bestimmte Ergebnisse dringt in sie ein - oder richtiger: behauptet sich in ihr - der ihrem eigentlichen Wesen fremd ist. (4) In dem Gang, den sie nimmt, in den Ansprüchen, die sie erhebt, ja selbst in nicht wenigen der Begriffe, deren sie sich bedient, gesteht sie den Forderungen der Tat gar vieles zu, was die Schranken des reinen Denkens durchbricht, ja was zuletzt seinem Wesen widerstreitet.
LITERATUR: Heinrich Gomperz, Die Wissenschaft und die Tat, [Vortrag in etwas gekürzter Fassung gehalten in der Philosophischen Gesellschaft zu Wien am 12. Januar 1934], Wien 1934
    Anmerkungen
    1) Der Auffassung der Wissenschaft als "ancilla politicae" [Magd der Politik - wp] gedenkt, worauf mich Kollege KAINZ freundlichst aufmerksam gemacht hat, (in Beziehung auf Sowjet-Russland) auch WILLIAM STERN, Theorie und Wirklichkeit als metaphysisches Problem, Heidelberg 1932, Seite 19f, Anm.
    2) Zumindest gilt dies von allen Sätzen, die ein  Ergebnis  wissenschaftlicher Forschung aussprechen. Denn wenn es, wie manche glauben, einfachste, der Bewahrheitung nicht bedürftige Sätze geben sollte (etwa von der Form: "Jetzt hier rot"), so wären dies jedenfalls Ausgangs-, nicht Zielpunkte der Wissenschaft. - Im übrigen gilt das hier von der wissenschaftlichen Erkenntnis Gesagte natürlich von der Alltagserkenntnis in noch höherem Grad.
    3) Vgl. Die Lebensauffassung der griechischen Philosophen und das Ideal der inneren Freiheit, Seite 287, wo ich jedoch dem Tiefsinn der aristotelischen Äußerung nicht gerecht geworden bin.
    4) Als Antrieb zur Forschung mag freilich die Einseitigkeit, ja sogar die Verranntheit, eines gewissen ("heuristischen") Wertes nicht entbehren.