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AUGUST STADLER
Zur Klassifikation der Wissenschaften

"Die Vergleichung ist nicht bloß das  mächtigste  innere Lebenselement der Wissenschaft, sondern die psychologische conditio sine qua non aller Begriffsbildung, somit allen Denkens, somit aller Wissenschaft."

"Einfachheit wird von allen menschlichen Handlungen gefordert und ihr Fehlen als eine Weitschweifigkeit oder Künstelei getadelt. Einfachheit bedeutet Ersparen von Arbeit; Arbeitsersparnis ist Vermehrung von Wohlfahrt und diese ist doch Zweck jeden Tuns."

"Es leuchtet ein, daß die Tätigkeit des Beschreibens einerlei ist mit der des Denkens.  Denken  heißt sich das zu Bewußtsein zu bringen, was verschiedenen Erscheinungen gemein ist. Das ist aber nichts anderes als Vergleichen."

"Alle Wissenschaft ist beschreibend, es gibt nicht  erklärende  und  beschreibende  Wissenschaften. Was man Erklären nennt, ist nur das Beschreiben größerer Zusammenhänge, allgemeiner Gleichheiten. Was man sonst Beschreiben nennt, z. B. in dem Ausdruck  beschreibende Naturwissenschaften,  ist nur der Anfang einer möglichst genauen Beschreibung."

Die neuere Forschung befaßt sich verhältnismäßig selten mit der Frage der Einteilung der Wissenschaften. Und doch werden wir durch theoretische wie durch praktische Interessen fortwährend zu diesem Problem geführt. Einerseits bilden ja die vorhandenen Wissenschaften den Gegenstand der logischen Betrachtung, sie sind die Tatsachen, deren Möglichkeit die Erkenntniskritik darzutun hat. Die Gewähr, daß sie ihre Aufgabe vollständig gelöst hat, erlangen wir bloß durch eine systematische Anordnung dieser Tatsachen. Andererseits fordern die Schwierigkeiten, die sich aus der zunehmendenn Teilung der wissenschaftlichen Arbeit ergeben, immer dringender eine erneute Prüfung des Begriffs der allgemeinen Bildung. Wie sollen wir uns aber über die Allgemeinheit einer Bildung und die Möglichkeit ihrer Durchführung einigen, wenn wir nicht erst einen Grundplan des Gesamtgebietes der Wissenschaft entworfen und zur Anerkennung gebracht haben?

Den jüngsten Versuch einer Einteilung der Wissenschaft, den ich kenne, enhält das Buch von RAOUL de la GRASSERIE: "De la classification objective et subjective des arts, de la littérature et des sciences" (Paris 1893). Diese Arbeit interessiert uns hier nur, soweit sie sich auf die Wissenschaft bezieht. Der Verfasser erstattet zunächst Bericht über seine Vorgänger von PLATON bis zu WUNDT und unterwirft die Gesichtspunkte, von denen sie bei ihren Klassifikationen ausgingen, einer ausführlichen Kritik. Was sich bei dieser Prüfung als brauchbar bewährt, nimmt er in seine eigene Darstellung auf. So will er die Wissenschaften klassifizieren: mit HERBERT SPENCER in konkrete, abstrakt-konkrete und abstrakte; mit WUNDT in Einzelwissenschaften und die allgemeine Wissenschaft der Philosophie, sowie in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften; mit PLATON, ARISTOTELES, BACON, BENTHAM und d'ALEMBERT in Wissenschaften, die sich auf verschiedene Fähigkeiten des Geistes, und solche, die sich auf verschiedene Zwecke beziehen; mit PLATON und andern will er ferner den Wissenschaften die Kunst zur Seite stellen. Für die Einzelheiten sollen sich ihm die Unterscheidungsmerkmale des Qualitativen und Quantitativen, der Aufeinanderfolge und des Zusammenseins, der Zeit und des Raums, der Masse und des Moleküls als fruchtbar erweisen.

Dazu kommen folgende  neue  Gesichtspunkte. "Innere" und "äußere" Klassifikation sollen unterschieden werden. Bisher habe man zwar die Wissenschaften voneinander gesondert, sei dagegen den Verzweigungen innerhalb der einzelnen Wissenschaft nicht genügend nachgegangen.

Er unterscheidet ferner eine objektive und subjektive Klassifikation. Kein Einteilungssystem sei vollständig objektiv. Die letzten Gestaltungen der äußeren Klassifikation seien subjektiv. Subjektiv könne die Einteilung auf zwei Arten sein: entweder beziehe sie sich auf die Entwicklung der Menschheit oder auf die Erziehung des Kindes. Im ersten Fall geht sie vom einfachsten Gegenstand zum zusammengesetztesten, im zweiten vom konkreten zum abstrakten. Die objektive Klassifikation richtet sich nach den Gegenständen und macht das einfachste Objekt zum Ausgangspunkt. Dazu fügt unser Autor eine dritte "subjektiv-objektive" Einteilung: Je nach der Seite des Geistes, auf welche die verschiedenen Objekte wirken, erkennen wir das Schöne, das Wahre oder das Gute. Diesen Gesichtspunkten entsprechen die großen Gruppen: Kunst und Literatur, positive Wissenschaften, Geistes- und Sozialwissenschaften.

Eine weitere Ausdehnung erfährt das Gebiet der Klassifikation dadurch, daß jede dieser Gruppen eine Serie theoretischer und eine Serie angewandter Wissenschaften umfaßt.

Das Kriterium "subjektiv-objektiv" macht sich weiterhin auch zwischen den einzelnen Wissenschaften geltend. Es gibt objektive und subjektive Wissenschaften. Eine Wissenschaft ist objektiv wenn sie ein bestehendes Objekt als solches behandelt; sie ist subjektiv, wenn sie das Wissen von diesem Objekt auf uns bezieht. So ist die Mathematik objektiv, sofern sie die Zahlen als solche betrachtet; in der Begründung ihrer Sätze dagegen bedient sie sich eines subjektiven Elements und bezieht sich auf die subjektive Wissenschaft der Logik. Solcher subjektiver Wissenschaften gibt es drei: Logik, Ästhetik und Moral.

Daneben sind besondere und allgemeine Wissenschaften zu unterscheiden. Die Grammatik z. B. bildet die Grundlage für alle Zweige der Literatur.

Ein weiteres Merkmal ist der Grad der Einfachheit einer Wissenschaft.

Ferner kommt die Art in Betracht, wie der Mensch zur Wissenschaft gelangt, ob er sie selbst erzeugt, oder nachbildend in sich aufnimmt, oder ob sie ihm durch den Unterricht überliefert wird. Diese Einteilung kreuzt sich mit allen übrigen.

Durch die Mannigfaltigkeit seiner Gesichtspunkte glaubt nun de la GRASSERIE den Grundfehler all seiner Vorgänger überwunden zu haben. Diese klassifizieren nur in einer einzigen Richtung, die manchmal gut, aber stets mit Ausschluß jeder anderen gewählt ist; genauer ausgedrückt, klassifizieren sie in der Form einer Linie oder einer Fläche, nicht aber in der eines Körpers, das heißt in allen Dimensionen. Und doch ist diese vollständige und allseitige Klassifikation die allein wahre. Es handelt sich nicht bloß darum zu wissen, ob eine bestimmte Wissenschaft abstrakt oder konkret ist, um ihr ihre Stelle anzuweisen; man muß gleichzeitig untersuchen, ob sie subjektiv oder objektiv, Einzelwissenschaft oder allgemein, einfach oder komplex ist, ob ihr Medium die Zeit oder der Raum sei, ob sie auf die eine oder auf die andere der menschlichen Fähigkeiten Bezug hat. Erst durch die Vereinigung all dieser Koordinaten läßt sich ihre natürliche und notwendige Lage bestimmen.

Eine solche "Klassifikation in allen Dimensionen" will nun der Verfasser entwerfen. Wir begleiten ihn nicht weiter auf seinem Gedankengang. Obwohl er mit großem Fleiß durchgeführt ist und manche treffende Charakteristik einzelner Wissenszweige bietet, so lassen uns doch schon die ersten Schritte unbefriedigt; denn wir sehen bald, daß die Lücken, die wir bei der grundlegenden Betrachtung empfunden haben, sich im Verlauf der Anwendung nicht ausfüllen wollen. Die Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte verwirrt, weil ihr Ursprung, die Methode der Auswahl und das Prinzip ihres Zusammenhangs unerkannt bleibt. Wir stehen vor einem System, ohne sein Gefüge zu begreifen. Es fehlt uns die Idee des Ganzen, als dessen Teile wir die empirisch gegebene Mannigfaltigkeit erfassen sollen. Wir möchten zunächst das Subjekt bestimmt wissen, welches teils subjektiv, teils objektiv, teils abstrakt, teils konkret usw. ist. Wir finden uns trotz einzelner Erörterungen im Unklaren über das gegenseitige Verhältnis der Gesichtspunkte: ob sie sich ausschließen oder ob sie teilweise zusammenfallen, ob sie voneinander unabhängig oder wechselseitig durcheinander bedingt sind. Läßt sich zwischen objektiv und subjektiv, zwischen konkret und abstrakt, zwischen allgemein und speziell usw. eine Grenze ziehen? Ist das Konkrete zugleich einfach, das Allgemeine abstrakt, das Logische subjektiv? Sind diese Einteilungsgründe vollständig aufgezählt oder können sie sich im Fortschritt unseres Erkennens vermehren? Dies führt zur Frage nach ihrer Abstammung. Entspringen sie der empirischen Beobachtung oder einer apriorischen Überlegung? Auch hierüber gibt der Autor so ungenügenden Aufschluß, daß man versucht ist zu glauben, er habe seine Gesichtspunkte teils nach subjektivem Gefallen den Vorgängern entnommen, teils verdanke er sie mehr oder weniger glücklichen Einfällen.

Daß ein Einteilungsversuch, der "nach allen Dimension" vorgeht, mehr Einwürfen ausgesetzt ist, als die "einseitige" Klassifikation der Vorgänger, liegt auf der Hand. Aber das systematische Hauptbedenken macht sich auch gegen diese geltend, daß sie nicht vom Begriff des Ganzen, d. h. von einer erkenntnistheoretischen Betrachtung ausgehen. Ich will hier nur die Klassifikation von WILHELM WUNDT hervorheben, die mir den Vorzug zu verdienen scheint. (1)

Nach WUNDT muß jeder Einteilungsversuch auf die natürliche Entwicklung der Arbeitsteilung Rücksicht nehmen. Nichts ist verkehrter, als wenn man so verfährt, "als seien die Objekte, die man klassifizieren soll, selbst erst zu schaffen". Das wird man WUNDT ohne weiteres zugeben, daß der Logiker die Gegenstände der Klassifikation nicht schaffen, sondern als Tatsachen sammeln soll. Allein eine andere Frage ist, ob er nun die Ordnung, in die er diese Tatsachen zu bringen hat, ebenfalls aus der Erfahrung ablesen soll. Dies ist offenbar abhängig vom Zweck, den wir bei unserer Einteilung im Auge haben. Klassifizieren wir die Wissenschaften, um ihre Geschichte zu schreiben, so wird der empirisch-historische Ausgangspunkt der richtige sein. Klassifizieren wir sie dagegen, um dem systematischen Vernunftbedürfnis Genüge zu tun, d. h. um die Wissenschaft als eine Einheit und ihre Gliederung als eine logisch notwendige zu begreifen, so werden wir zwar ebenfalls die Erfahrung zugrunde legen müssen, aber nicht die zu einer bestimmten Zeit tatsächlich gegebene Erfahrung, sondern den  Begriff  der Erfahrung. Denn historisch haben sich die Wissenschaften doch nicht nach einem Plan, sondern nach äußeren Bedürfnissen und unter oft ganz zufälligen Einflüssen entwickelt. Somit kann uns die "natürliche Entwicklung" im allgemeinen nicht über die systematische Zusammengehörigkeit aufklären. Erst wenn wir eine logische Klassifikation besitzen, können wir bestimmen, in welchem Umfang sich die natürliche Spezifikation mit der erkenntnistheoretischen deckt.

Weiterhin erklärt es WUNDT - von seinem Standpunkt aus ganz folgerichtig - als "Verwechslung", wenn man verlangt, daß sich die Einteilung statt nach den Wissenschaften nach den Gegenständen richten soll, mit denen die Wissenschaften sich beschäftigen. Nun trifft es sich zwar vielfach, daß sich die Wissenschaften selbst nach den Gegenständen sondern, aber das ist keineswegs überall der Fall. Das bestimmende Motiv für die Scheidung ist vielmehr die Verschiedenheit der Gesichtspunkte, unter denen die Objekte betrachtet werden. Sie richtet sich nicht unmittelbar nach den Gegenständen, sondern nach den Begriffsbildungen, welche durch die Gegenstände angeregt werden. Sie wird veranlaßt durch die auf den verschiedenen Gebieten erforderlichen verschiedenen Tätigkeiten: demnach hat sie ihren Ursprung nicht direkt im Objekt, sondern im erkennenden Subjekt. Die Art der wissenschaftlichen Arbeit richtet sich überall nach den Methoden, deren man sich zur Lösung der Probleme bedient, und die Methode werden durch die Art der Begriffsbildung bestimmt, welche der betreffenden Wissenschaft zugrunde liegt. So kann sich z. B. die Mathematik auf die allerverschiedensten Objekte erstrecken, aber alle ihre Begriffe werden durch die "Art der Abstraktion", die bei ihnen obwaltet, klar von den in sämtlichen anderen Wissenschaften vorkommenden Begriffsbildungen geschieden. Erst bei der engeren Scheidung der Einzelgebiete wird das Objekt mehr und mehr maßgebend auch für die Bearbeitung desselben. So hat die Naturgeschichte im allgemeinen ihre Objekte mit der Mathematik, Physik und Chemie gemeinschaftlich, aber die einzelnen Zweige der Naturgeschichte, Mineralogie, Botanik usw. teilen sich unter die verschiedenen in der äußeren Natur vorkommenden Objekte.

Somit stellt WUNDT zwei Einteilungsbegriff auf: einen subjektiven, die Methode, für die allgemeine Gliederung, einen objektiven, die Gegenstände, für die Scheidung der Einzelgebiete.

Auch hier kann uns die klare und anregende Durchführung nicht über das Ungenügende der prinzipiellen Begründung hinweghelfen. Die Einteilung soll bestimmt sein durch den Unterschied der Begriffsbildungen auf den verschiedenen Gebieten. Aber wo liegt die Ursache dieses Unterschieds? Wo und warum entspringt überhaupt eine Mehrheit von Begriffsbildungen? Das ist nicht einleuchtend gemacht. Es wird wiederholt ausgesprochen, daß sie veranlaßt werden durch die Objekte. Diesem Satz gegenüber drängt sich immer wieder die Frage auf, warum denn nicht einfach die Objekte zum Einteilungsgrund erhoben werden. Wenn die Verschiedenheit der Begriffsbildungen durch die Mannigfaltigkeit der Objekte "veranlaßt" wird, beruth dann die Gliederung der Wissenschaften nicht in letzter Lnie auf dieser Mannigfaltigkeit? Die Bejahung dieser Frage dürfte wenigstens für diejenigen unvermeidlich sein, welche sich über das "Veranlassen" im Sinne der kritischen Philosophie Rechenschaft geben. In diesem Sinne würde ich sagen, daß unsere Wahrnehmungen bestimmte, fundamentale Begriffsbildungen veranlassen, nämlich die Bildung der Kategorien. Indem die Wahrnehmungen durch das Formmittel der Kategorien zu einem klaren und deutlichen Bewußtsein erhoben werden, befestigen sie sich uns zu Objekten. Die Wahrnehmung eines chemischen Vorgangs z. B. wird dadurch objektiv, daß sie durch den Substanzbegriff auf ein System von Atomen bezogen wird; die in dieser Wahrnehmung gegebene Zeitfolge wird dadurch objektiv, daß wir uns durch den Kausalbegriff die Notwendigkeit der Bewegung dieser Atome zu Bewußtsein bringen, usw. Die Begriffsbildungen sind also das eigentlich Objektive in unseren Wahrnehmungen, die Objekte sind nichts anderes als zu Begriffen gebildete Anschauungen. Beruth also die Klassifikation auf den Begriffsbildungen, so beruth sie auf den Objekten.

Daß in der Tat die Objekte das natürliche Prinzip der Einteilung der Wissenschaft bilden, wird sich uns nun auf einem ganz anderen Weg ergeben. Wir gehen aus vom Begriff des Ganzen, als dessen Teile sich die Wissenschaften nach erfolgter Klassifikation darstellen sollen. Wir legen uns in erster Linie die Frage vor, was unter Wissenschaft überhaupt zu verstehen sei. Es läßt sich erwarten, daß durch die Beantwortung dieser Frage eine Reihe von Einteilungsgründen von vornherein ausgeschlossen werden. Denn, nachdem wir die Merkmale gelernt haben, die allen Wissenschaften gemein sind, werden wir solche Merkmale nicht zu Kennzeichen einer einzelnen Wissenschaft machen. Stellt sich z. B. heraus, daß alle Wissenschaften in der Methode übereinstimmen, so ist die Methode als Klassifikationsprinzip unbrauchbar.

Worin besteht nun die Aufgabe der Wissenschaft? Diese Frage muß sich allgemein beantworten lassen, wenn wenigstens "Wissenschaft" nicht bloß ein Wort, sondern ein Begriff ist.

Ich beantworte diese Frage so: die Wissenschaft hat die Aufgabe, die Gesamtheit der dem menschlichen Bewußtsein gegebenen Erscheinungen so genau wie möglich zu beschreiben.

Diese Definition ist eine Erweiterung der bekannten KIRCHHOFFschen Definition der Mechanik: "Die Mechanik ist die Wissenschaft von der Bewegung; als ihre Aufgabe bezeichnen wir: die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen  vollständig  und  auf die einfachste Weise  zu beschreiben." (2)

Man hat diese Definition häufiger zitiert als verstanden (3). Sie zerstört, so glaubte man vielfacht, endgültig den Wahn der Wissenschaft "erklären zu können, und zeige, daß ihr lediglich "Beschreibung" beschieden ist. Denn "Erklärung" sei der Nachweis von Kausalität. KIRCHHOFF erläutert aber im Vorwort seine Definition mit den Worten. "Ich will damit sagen, daß es sich nur darum handeln soll, anzugeben,  welches  die Erscheinungen sind, die stattfinden, nicht aber darum, ihre  Ursachen  zu ermitteln." Aus diesem Satz darf man jedenfalls soviel folgern, daß sich der Ansicht KIRCHHOFFs nach "Beschreibung" und "Ermittlung der Ursachen" spezifisch voneinander unterscheiden.

Ob es nun außerhalb der Mechanik eine Ermittlung von Ursachen gibt, darüber äußert sich diese Stelle nicht; also durfte man nicht aus ihr schließen, KIRCHHOFF habe die Kausalität abgeschafft.

Demgegenüber behauptet nun die obige Definition, die Wissenschaft, also nicht bloß die Mechanik, habe überall keine andere Aufgabe, als die gegebenen Erscheinungen zu beschreiben. Wenn es somit irgendwo Beruf der Wissenschaft ist, Ursachen zu ermitteln, welche altmodische Ansicht ich in der Tat vertrete, so folgt, daß auch die Ermittlung der Ursachen nichts anderes ist als Beschreibung.

Was sollen wir unter "Beschreibung" verstehen? Sagen wir mit KIRCHHOFF: angeben, was die Erscheinungen sind, die stattfinden. Was heißt aber "angeben, welche die Erscheinungen sind"? Angeben heißt nichts anderes als "sagen", "mitteilen". Sagen, welche die Erscheinungen sind, heißt sagen: diese gegebene Anschauung ist die und die Erscheinung und nicht die und die andere Erscheinung. Das heißt aber nichts anderes als mitteilen, daß die gegebene Anschauung mit gewissen früher gegebenen übereinstimmt und von gewissen anderen früher gegebenen verschieden ist. Das Beschreiben besteht also zunächst in der Handlung des Vergleichens (4).

Aber Vergleichen ist noch nicht Mitteilen. Das Verglichene wird erst "angebbar" dadurch, daß ich es bezeichne. Ich muß die gegebene Anschauung mit einem Zeichen verknüpfen, und dieses Zeichen muß übereinstimmen mit den Zeichen identischer Anschauungen, und sich unterscheiden von den Zeichen anders beschaffener Anschauungen. Das Angeben, "welches" die Erscheinungen sind, besteht schlechterdings nur in der Aussage: es sind "die und die", aber nicht "die und die anderen". "Die und die" und "die und die anderen" sind aber nichts anderes als Sprachzeichen oder Naen. Verglichenes bezeichnen heißt benennen. Also heißt beschreiben schlechthin benennen.

Die Wissenschaft hat also die Aufgabe, die Gesamtheit der dem menschlichen Bewußtsein gegebenen Erscheinungen so genau wie möglich zu benennen. KIRCHHOFF sagt "vollständig". Allein das ist, wörtlich genommen, zuviel verlangt; in Definitionen soll man aber doch die Ausdrücke wörtlich nehmen können. Eine Erscheinung wäre vollständig benannt, wenn ich sie nicht nur als Ganzes, sondern auch in allen ihren Teilen bezeichnet hätte. Nun ist jede Erscheinung als zeitliche und räumliche Anschauung gegeben; daher geht die Möglichkeit ihrer Teilung ins Unendliche und der Grad ihrer Zusammengesetztheit ist jederzeit nur relativ erkannt. Dieser unüberwindlichen Relativität der Vollständigkeit trägt unsere Bestimmung "so genau wie möglich" Rechnung.

Genau ist eine Beschreibung, wenn nur gleiche Erscheinungen gleiches und nur verschiedene Erscheinungen verschiedene Zeichen erhalten; sie ist so genau wie möglich, wenn jeder Unterschied gegebener Erscheinungen, der nach den subjektiven und objektiven Bedingungen eines bestimmten Zeitpuntes überhaupt wahrnehmbar ist, seinen Namen erhalten hat.

Damit ist die wissenschaftliche Beschreibung von den Beschreibungen des praktischen Lebens unterschieden; letztere brauchen nicht so genau wie möglich, sondern nur so genau wie nötig, d. h. so genau zu sein, daß einem bestimmten empirischen Zweck genügt wird.

Das genaueste Beschreibungsmittel ist die Mathematik: es gibt ja keinen noch so kleinen Größenunterschied, neben dem sie nicht noch einen kleineren nennen könnte. Damit ist aber zugleich ausgesprochen, daß auch die mathematische Beschreibung nur relative Grenzen erreicht. Trotzdem sie über unbestimmt viele Benennungsmittel verfügt, kann auch die Mathematik eine Erscheinung nie vollständig benennen. Aber eine Beschreibung hat den erreichbar höchsten Grad der Genauigkeit erworben, wenn sie mathematisch ist. Eine Erkenntnis nähert sich also dem ideal der Wissenschaft umso mehr, je mehr Mathematik sie zur Anwendung zu bringen vermag. Nun gelten uns aber auch Erkenntnisse, die sich nicht in eine mathematische Form bringen lassen, als Wissenschaften, und auch solche müssen von der Definition der Wissenschaft umfaßt werden. Auch dieser Forderung genügt sie durch die Bestimmung "so genau wie möglich". Die Literaturgeschichte hat ihre wissenschaftliche Pflicht so gut getan wie die Physik, wenn ihre Beschreibung so genau ist als (ihr) möglich ist; der Unterschied des Verhältnisses beider zur mathematischen Genauigkeit mag so groß sein wie er will.

Den KIRCHHOFFschen Zusatz "und auf die einfachste Weise" lasse ich weg; denn er unterscheidet das wissenschaftliche Beschreiben in keiner Weise vom Beschreiben des praktischen lebens. Einfachheit wird von allen menschlichen Handlungen gefordert und ihr Fehlen als eine Weitschweifigkeit oder Künstelei getadelt. Einfachheit bedeutet Ersparen von Arbeit; Arbeitsersparnis ist Vermehrung von Wohlfahrt und diese ist doch Zweck jeden Tuns.

Wer entscheidet darüber, ob eine Beschreibung so genau wie möglich ist? In erster Linie der Forscher, der den betreffenden Vergleich angestellt hat; denn bevor er diese Entscheidung getroffen hat, wird er seine Beschreibung nicht mitteilen. Nachher wird es sich dann zeigen, ob er die Zustimmung der anderen erhält. Was besitze ich aber für ein Kriterium, um eine solche Entscheidung zu treffen? Kein anderes, als die Wirkung, welche die Beschreibung auf mein Bewußtsein ausübt. Ich muß also während der Beschreibung zugleich auch den Zustand meines Bewußtseins, sein intellektuelles Wohlgefallen oder Mißfallen, den Grad meiner Überzeugung, die Festigkeit meines Glaubens an den Bestand meiner Benennung in Betracht ziehen. Ich kann mir bewußt sein, daß die Beschreibung als eine Tatsache schlechthin aufgestellt ist: ich bezeichne sie als Wirklichkeit; oder daß sie keiner anderen meinem Bewußtsein gegebenen widerspricht: sie ist möglich; oder daß ich überhaupt zur Zeit keine andere Art, diese Erscheinung zu beschreiben, kenne: sie ist wahrscheinlich; oder daß jede andere Art einer in meinem Bewußtsein bereits vorhandenen Beschreibung widersprechen würde: sie ist notwendig. Man kann die Beschaffenheit des Bewußtseins hinsichtlich seiner Zustimmung zu einer gegebenen Beschreibung seine Modalität nennen. Die Bestimmung "so genau als möglich" involviert also auch die Forderung, bei einer Beschreibung die begleitende Modalität des Bewußtseins anzugeben.

Es bleibt mir noch übrig, unsere Definition gegen den Einwurf zu schützen, daß sie die Ermittlung der Ursachen nicht einschließt. Unter "ermitteln" kann ich mir nichts anderes vorstellen als  aufsuchen, ausfindig  machen. Diese Tätigkeit hat aber nichts Kennzeichnendes für die Wissenschaft der Ursachen. Jeden Gegenstand der Untersuchung muß ich mir erst geben, ich muß jeden erst suchen, und wenn dieses Suchen auch nur darin bestände, ihn in eine für die Betrachtung günstige Lage zu versetzen. Auch die Bewegungen, die ich beschreiben soll, muß ich erst, entweder in der Natur ausfindig machen oder in der reinen Anschauung konstruieren. Diese vorausgehende Tätigkeit braucht die Definition nicht als selbstverständlich anzunehmen. Zwischen dem Aufsuchen einer seltenen Pflanze und dem Aufsuchen einer Ursache besteht also bloß der Unterschied, daß die Pflanze mit bereits gegebenen Erscheinungen in einem bloß begrifflichen, die Ursache aber mit einer gegebenen Erscheinung auch in einem zeitlichen Zusammenhang steht. Die gegebene Erscheinung sei z. B. das periodische Steigen und Fallen des Meeres. Das Ermitteln ihrer Ursache besteht darin, daß ich in der Natur eine andere Erscheinung aufsuche, mit deren Eintreten jene regelmäßig gegeben wird. Ich finde sie im regelmäßigen Eintreten des Mondes in gewisse Phasen seiner Bahn. Nun habe ich mir das Objekt meiner Untersuchung gegeben, einen Zusammenhang zweier Erscheinungen, den Zusammenhang von Mond und Flut. Aber der Gegenstand der Erkenntnis ist doch nicht selbst schon Erkenntnis. Wissenschaft gewinne ich nun erst, indem ich alle Bedingungen angebe, unter denen das Zusammentreffen beider Erscheinungen stattfindet; indem ich diese Wirkungsart des Mondes mit seinen anderen mir bekannten Wirkungsarten vergleiche; indem ich diese Beobachtung durch lange Zeiträume fortsetze und die zu verschiedenen Zeitpunkten gemachten Beobachtungen wieder miteinander vergleiche usw. Ist das aber etwas anderes als Beschreibung? Ich kann mir unter der Ermittlung von Ursachen schlechterdings nichts anderes vorstellen, als die Beschreibung des regelmäßigen Zusammenhangs zweier Veränderungen. Die Täuschung, daß da noch eine andere Tätigkeit vorliegt, entspringt aus der mystischen Auffassung des Kraftbegriffs. Man gibt ja solchen Beschreibungen gewöhnlich die Form: Flut und Ebbe werden durch die Anziehungskraft des Mondes bewirkt. Da glaubt man dann, das sei nicht mehr bloß die Angabe eines äußeren, sinnlich wahrnehmbaren Zusammenhangs, sondern das Aufdecken und Denken eines "inneren" und den Sinnen verborgenen Verhältnisses. Dieses gedankliche Eindringen ins Innere der Natur sei doch eine vom bloßen Beschreiben verschiedene Tätigkeit. Allein wenn man sich klar und deutlich zu Bewußtsein bringen will, was "Kraft" und was "Wirken" bedeutet, so merkt man bald, daß diese Wörter durchaus nichts anderes sind, als Namen verglichener äußerer Zusammenhänge. "Anziehungskraft" ist lediglich ein abkürzender Ausdruck zur Bezeichnung der Tatsache, daß Veränderungen in der gegenseitigen Lage zweier Körper regelmäßig verbunden sind mit bestimmten Veränderungen ihrer Geschwindigkeit. "Wirken" ist nichts als eine Benennung der Tatsache, daß zwei Erscheinungen gesetzmäßig aufeinander folgen. Der Begriff der Ursache ist somit nicht ein eigenartiges logisches Instrument, dessen Anwendung eine eigene Methode begründen und dessen Vorhandensein eine Erweiterung unserer Definition erfordern würde. Die Ursache ist vielmehr selbst ein Phänomen, nur ein zusammengesetztes, ein Zusammenhang von Erscheinungen, der wie jede einzelne Erscheinung beschrieben werden muß. Wieviele Irrtüer sind in der Erkenntnistheorie schon daraus entstanden, daß man die Ursache in dunkler Weise der Erscheinung gegenüberstellte, statt sie selbst als Erscheinung zu fassen!

Es leuchtet ein, daß die Tätigkeit des Beschreibens einerlei ist mit der des Denkens. Denken heißt sich das zu Bewußtsein zu bringen, was verschiedenen Erscheinungen gemein ist. Das ist aber nichts anderes als Vergleichen. Die Ergebnisse der Vergleichung können wir nicht anders im Bewußtsein festhalten als durch Benennung. Denken ist also Benennen und wissenschaftliches Denken gesetzmäßiges oder möglichst genaues Benennen. Begriffe sind Anleitungen zum Benennen oder Regeln der Beschreibung. KIRCHHOFF hätte also ebensogut sagen können: die Mechanik hat die Aufgabe, die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen zu denken, und zwar vollständig und auf die einfachste Weise zu denken. Aber während man sich bei "denken" nichts zu denken pflegt, hat seine ungewöhnlichere Formulierung den Gedanken angeregt: wo bleibt denn das Denken, wenn die Wissenschaft "bloß" beschreibt? Das zwingt dann die wissenschaftliche Gemeinde wieder einmal zur Bereinigung ihres logischen Grundbesitzes. So kann ein neues Wort für eine alte Sache zum Weckruf aus einem dogmatischen Schlummer werden.

Mit dieser Definition ausgerüstet können wir nun von vornherein einige Einteilungsgründe für die Klassifikation der Wissenschaften abweisen. Sie behauptet die Einheitlichkeit der Methode aller Wissenschaft: somit läßt sich die Einteilung nicht auf einen fundamentalen Unterschied der Methode gründen. Alle Wissenschaft ist beschreibend, es gibt nicht erklärende und beschreibende Wissenschaften. (5) Was man Erklären nennt, ist nur das Beschreiben größerer Zusammenhänge, allgemeiner Gleichheiten. Was man sonst Beschreiben nennt, z. B. in dem Ausdruck "beschreibende Naturwissenschaften", ist nur der Anfang einer möglichst genauen Beschreibung.

LITERATUR - August Stadler, Zur Klassifikation der Wissenschaften, Archiv für systematische Philosophie, Bd. 2, Berlin 1896
    Anmerkungen
    1) WILHELM WUNDT, Über die Einteilung der Wissenschaften", Philosophische Studien, Bd. 5, Seite 1f
    2) KIRCHHOFF, Vorlesungen über mathematische Physik. 2. Auflage Leipzig 1877. Vorrede und Erste Vorlesung § 1.
    3) Vgl. hierzu den anregenden Vortrag von Prof. MACH "Über das Prinzip der Vergleichung in der Physik", Allgemeine Zeitung, Beilage 1894, Nr. 269. "Als KIRCHHOFF vor 20 Jahren die Aufgabe der Mechanik dahingehend feststellt, die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben", brachte er mit diesem Ausspruch eine eigentümliche Wirkung hervor. Noch 14 Jahre später konnte BOLTZMANN in dem lebensvollen Bild, das er von dem großen Forscher gezeichnet hat, von dem allgemeinen Staunen über diese neue Behandlungsweise der Mechanik sprechen, und noch heute erscheinen erkenntnistkritische Abhandlungen, welche deutlich zeigen, wie schwer man sich mit diesem Standpunkt abfindet. Doch gab es eine bescheidene Zahl von Naturforschern, welche sich KIRCHHOFF mit jenen wenigen Worten sofort als ein willkommener und mächtiger Bundesgenosse auf erkenntniskritischem Gebiet offenbarte. - - - "Woran mag es nun liegen, daß man den philosophischen Gedanken des Forschers so widerstrebend nachgibt, dessen naturwissenschaftlichen Erfolgen niemand die freudige Bewunderung versagen kann? Wohl liegt es zunächst daran, daß in der rastlosen Tagesarbeit, die auf den Erwerb neuer Wissensschätze ausgeht, nur wenige Forscher Zeit und Muße finden, den gewaltigen psychischen Prozeß selbst, durch welchen die Wissenschaft wächst, genauer zu erörtern. Dann aber ist es auch unvermeidlich, daß in den lapidaren KIRCHHOFFschen Ausdruck nicht manches hineingelegt wird, was derselbe nicht meint, und daß andererseits nicht manches in demselben vermißt wird, was bisher als ein wesentliches Merkmal der wissenschaftlichen Erkenntnis gegolten hat. Was soll uns eine bloße Beschreibung? Wo bleibt die Erklärung, die Einsicht in den kausalen Zusammenhang?"
    4) Die Vergleichung ist also nicht bloß das "mächtigste innere Lebenselement der Wissenschaft", sondern die psychologische  conditio sine qua non  aller Begriffsbildung, somit allen Denkens, somit aller Wissenschaft.
    5) Wie ich selbst in einem früheren Klassifikationsversuch glaubte aufstellen zu müssen. "Über die Aufgabe der Mittelschule", München 1887, Seite 64.