ra-2F. Dahnvon Jheringvon Kirchmannvon RümelinO. GierkeGuy Oakes    
 
EMIL LASK
Rechtsphilosophie

Das Recht erzeugt den Begriff der juristischen Person, eine Fiktion und Konstruktion des wissenschaftlichen Denkens.

Den Ausgangspunkt aller neueren rechtsphilosophischen Spekulation bildet die auch von KANT angenommene Begriffsbestimmung, daß das Recht die äußere Regulierung menschlichen Verhaltens zur Erreichung eines inhaltlich wertvollen Zustandes sei. Auf dieser gemeinsamen Grundlage hat sich eine doppelte Möglichkeit der Einordnung des Rechts in Wertzusammenhänge ergeben.

Entweder wurde sein Endzweck ausschließlich in der Vollendung der ethischen Persönlichkeit gesucht, und der Sinn des Gemeinschaftslebens allein an der Erfüllung dieses einen Ideales gemessen. Oder es herrschte die Ansicht vor, daß der Ordnung und den Einrichtungen der menschlichen Gemeinexistenz eine eigene Herrlichkeit, ein eigentümlicher nicht erst irgendwie vom individualethischen abgeleiteter Wert innewohne. Der Gegensatz dieser Weltanschauungen schien gerade für die Rechtsphilosophie eine entscheidende Bedeutung haben zu müssen.

Das Recht seiner  empirischen  Stellung nach zweifellos in den Bereich der "sozialen" Institutionen. Nur wenn es einen eigenartigen "sozialen" Werttypus neben dem individualethischen gibt, kann darum die unbestrittene empirisch-soziale Bedeutung des Rechts auch ein Korrelat in der Sphäre des absoluten Wertes erhalten. Nur in diesem Fall steht es nicht lediglich in einer mechanischen Beziehung zu einem seiner eigenen sozialen Struktur fremden individualethischen Werttypus. Erst jetzt ist prinzipiell einzusehen, daß es als "soziales" Gebilde  selbst  innerhalb der Sphäre des Wertvollen liegen kann. Wenn es also  soziale  Endzwecke gibt, deren Mittel das Recht ist, dann wird es nicht mehr  bloß  Mittel, sondern gleichzeitig Mitglied oder Bestandteil in einem gegliederten Bau des "objektiven Geistes" sein dürfen.

Der rechtsphilosophische Hegelianismus, wie man die über den Individualismus Kants und des achtzehnten Jahrhunderts hinausgehende Spekulation nennen darf, hat darum den ethischen Individualismus als  gesellschaftsphilosophischen  Atomismus  charakterisieren zu können geglaubt. Wenn nämlich wie bei KANT der Wert ungeachtet seiner überindividuellen Geltung  ausschließlich  an der einzelnen Persönlichkeit haftet, so werden damit alle den isolierten Wertpunkten etwa überbauten  Zusammenhänge  aus der Region des absoluten Wertes prinzipiell ausgeschlossen.

Gegenüber einem solchen rein personalistischen Wertsystem kennzeichnet sich die neue Weltanschauung zunächst als eine Verkündigung transpersonaler Werte, sie stellt dem personalen Werttypus einen gleichsam sachlichen gegenüber. Nicht an Willen und Tat der Persönlichkeit ergeht die absolute Anforderung, sondern, wie schon bei Platon, an die gegenständliche Ordnung der "sittlichen Welt" selbst. Ihre, nicht des einzelnen Menschen Vollendung ist der Endzweck des gesellschaftlichen Daseins. Mit dieser antiken Idee einer "substantiellen Sittlichkeit" hat HEGEL den Individualismus des Christentums und der Neuzeit in einer höchsten Synthese zu vereinigen gesucht.

Das Recht der individuellen Freiheit soll bei ihm anerkannt sein, aber nur als ein aufgehobenes "Moment", als ein in den Bau des Ganzen sich notwendig einfügendes Glied. Die gesamte Rechtsphilosophie des neunzehnten Jahrhunderts hat sich damit abgemüht, einen eigenen absoluten Sinn der sozialen Zusammenhänge zu behaupten, ohne dabei die vom achtzehnten Jahrhundert erkämpfte Anerkennung des Individuums als eines absoluten Selbstzweckes preisgeben zu müssen.

In der Gegenwart ist der Kampf dieser Weltanschauungen noch keinen Schritt seiner Entscheidung näher gebracht. Ungelöst sind insbesondere all die Fragen geblieben, ob der transpersonale Wert des gesellschaftlichen Lebens dem ethischen Werte als Unterart anzugliedern, ob er den übrigen Werten zu koordinieren oder endlich in eine besondere Gruppe von "Kulturwerten" einzureihen ist. Alle Diskussionen über Individual- und Sozialethik, über die soziale Frage, über Individual- und Sozialethik, über die soziale Frage, über Staat und Recht, über Nationalismus und Kosmopolitismus, alle Ansätze einer Kulturphilosophie haben sich im Grunde darum gedreht, ob dem Werttypus des Sozialen eine selbständige Stelle in einem umfassenden Wertsystem gebührt.

Als Musterbeispiel eines rechtsphilosophischen Kantianismus darf in der Gegenwart STAMMLER angesehen werden. Ein so großes Gewicht er auch darauf legt, das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen als einen eigentümlichen, durch besondere methodologische Kategorien konstituierten Gegenstand einer spezifisch sozialwissenschaftlichen Erkenntnis zu begreifen, das soziale  Ideal  und die absolute Aufgabe der Rechtsordnung will er trotzdem  ausschließlich  in den Dienst der individualethischen Norm stellen.

Bei ihm findet sich das entscheidende Argument des Kantianismus: da das unbedingte Gesetz für den Menschen der freie, nur durch das Pflichtbewußtsein motivierte Wille ist, kann auch das Endziel des sozialen Lebens nur in der Vereinigung des pflichtmäßigen Wollens aller, in der "Gemeinschaft frei wollender Menschen" bstehen. Als das Absolute an allen sozialen Institutionen gilt so die "Gemeinschaft" im Sinne einer bloßen Koexistenz von individualer Sittlichkeit, einer Verschmelzung dessen, was an den Bestrebungen der Gemeinschafter als allgemeingültig angesehen werden darf.

Hier herrscht dieselbe Anschauung, auf Grund derer die individualistische Rechtsphilosophie aller Zeiten den Vertrag als die Willensübereinstimmung ethisch autonomer Wesen zum einzigen Rechtfertigungsprinzip der sozialen Gebilde erhoben hat. Der empirischen Struktur des Sozialen, deren Eigentümlichkeit STAMMLER im methodologischen Interesse so sehr unterstreicht, korrespondiert keine eigentümliche Wertstruktur.

Durch diese Unterscheidung zwischen empirischer und Wertstruktur des Sozialen fällt auch Licht auf die neueren Versuche, den Sozialismus an den "Gemeinschaftsgedanken" der Kantischen Ethik anzuknüpfen. Sie konnten nur deshalb gelingen, weil das, was man hierbei für eine sozialistische Weltanschauung ausgab, noch in keiner Hinsicht den individualistischen Gedankenkreis überschreitet. "Menschheit" bedeutet bei Kant nicht die konkrete Menschengemeinschaft, sondern den abstrakten Menschenwert. Nicht daß wir alle Nebenmenschen als  Glieder,  sondern daß wir sie als  Repräsentanten  der Menschheit hochhalten, verlangt die Kantische Ethik. Aus ihr folgt kein anderer "Gemeinschaftsgedanke" als der STAMMLERs. Und ebenso  kann  sich die ganze Kontroverse über individualistische und sozialistische Wirtschaftsordnung als eine interne Angelegenheit einer rein individualistischen Weltanschauung abspielen.

Daneben gibt es allerdings auch sozialistische Systeme, in denen die Forderung einer zentralistischen Wirtschaftsorganisation gerade als Konsequenz einer auch im Sinnes des Wertes "sozialen" Weltanschauung auftritt. LASSALE und RODBERTUS begründen als Anhänger von FICHTE und HEGEL das Eingreifen des Staates in das Wirtschaftsleben damit, daß das Menschengeschlecht als  Ganzes  seine nur durch die Gattung, nicht durch die einzelnen realisierbaren Aufgaben zu erfüllen habe. Hier wird an ein selbständiges Urbild des Gemeinlebens geglaubt, eine eigene Pracht und Vollendung des menschlichen Gesamtdaseins ersehnt.

Um die Notwendigkeit einer rechtlichen Regulierung des Gemeinschaftslebens zu zeigen, kann man zunächst die Idee einer restlosen Wechseldurchdringung von individueller sittlich Betätigung und objektivem Ethos fingieren. In dem Idealzustande einer vollendeten Ausgeglichenheit der menschlichen Gemeinexistenz müßten die einzelnen die Endzwecke der Gesamtheit in jedem Augenblicke intuitiv erkennen und in unwandelbarer pflichtmäßiger Gesinnung freiwillig erfüllen.

In der theoretischen Philosophie dient die hiermit vergleichbare kritisch ersonnene Fiktion des intuitiven Verstandes dazu, die uns allein beschiedene Art der Bewältigung des theoretischen Zieles, nämlich die Spaltung des Erkennens in allgemeine Begriffe und konkrete Wahrnehmungen, desto schärfer hervortreten zu lassen. Analog mag das praktische Idealbild uns daran erinnern, daß alle erfahrbare Gemeinschaftsordnung sich nur durch die Aufstellung formaler, die sittliche Komplikation des Einzelfalles nicht berücksichtigender Vorschriften aufrecht erhalten läßt.

Die Sicherung des Bestandes der sittlichen Welt erfordert aber außerdem die Erzwingbarkeit und Äußerlichkeit der rechtlichen Imperative, und diese Merkmale ergeben zusammen mit der Abstraktheit zugleich den starren traditionellen Charakter des Rechts, der es zu einer die Generationen und geschichtlichen Wandlungen eines Volkes überdauernden Lebensgestaltung macht. Aus der Abstraktheit geht ferner hervor, daß die Rechtsordnung den Ideengehalt des Gemeinethos nicht in seinem vollen konkreten Bestande, sondern nur in seinen äußeren dürftigsten Umrissen auszudrücken vermag.

Dadurch also, daß das Recht zwar die abstrakteste und formalste Gestalt innerhalb des sozialen Werttypus, aber doch immerhin schon ein  Minimum  des Gemeinethos repräsentieren soll, ist bereits der entscheidende Schritt über die bloß  negative  Charakterisierung der Kantischen Rechtsphilosophie hinaus getan.

Gerade bei den Denkern also, die ein konkretes Urbild des Gemeinlebens postulieren, mußte von jeher die Tendenz bestehen, die Rechtsordnung wegen ihres lediglich regulativen und organisatorischen Charakters für ein bloßes Surrogat des sozialen Ideales zu halten. Wie oft ist der Ausspruch PLATOs zitiert worden, daß das abstrakte Gesetz, das durchaus Sichselbstgleiche, ungenügend sei, die Ungleichheit und das Niemals-Ruhe-Halten der menschlichen Dinge gerecht zu ordnen.

Alle Revolutionen und Staatsstreiche hat man mit FICHTEs Argument zu verteidigen gesucht, daß die rationalen und systematisierbaren Formen der Gesellschaftsordnung, die Güter, in deren Besitz die Zeitalter, "gläubig fortgehen auf der angetretenen Bahn", nur Mittel, Bedingung und Gerüst dessen sind, "was die Vaterlandsliebe eigentlich will, des Aufblühens des Ewigen und Göttlichen in der Welt". Mit FICHTE oft übereinstimmend hat LAGARDE in dem unpersönlichen, die Tatkraft der Männer und der Nationen lähmenden Zwang der Gesetze, in der Herrschaft von staatlichen Institutionen und Konstitutionen, diesem "caput mortuum [wertloses Überbleibsel - wp] der Menschheit", das Unheil der Gegenwart erblicken wollen.

In unserer Zeit hat TÖNNIES die Abstraktheit des Rechts nicht bloß als ein methodologisches Problem behandelt, sondern in ein Gesamtbild der sozialen Welt einzuzeichnen gesucht. Ähnlich wie HEGEL schildert er das spätere Rom: Die Herrschaft über den Erdkreis nähert alle Städte der einen Stadt, schleift alle Unterschiede und Unebenheiten gegeneinander ab, gibt allen gleiche Mienen, Geld, Bildung, Habsucht. Das Recht erzeugt den Begriff der juristischen "Person", eine Fiktion und Konstruktion des wissenschaftlichen Denkens, eine "mechanische Einheit", die der konkreten Vielheit nicht wie die Einheit des organischen Wesens zugrunde liegt, sondern über ihr wie eine begriffliche Gattungseinheit, eine  Universitas post rem  und  extra res  steht.

Immer mehr streift in den letzten Jahrhunderten das Recht seinen organischen Charakter ab, und immer ausschließlicher dient es dem Prinzip der "Gesellschaft", das heißt einem Zustande, in dem die von allen ursprünglichen und natürlichen Verbindungen losgelösten Individuen nur durch die abstrakt vernünftigen Erwägungen gegenseitigen Nutzens und Entgeltes in Beziehungen zueinander treten. Durch diese Konstruktion des sozialen Rationalismus erhält der in der spekulativen Würdigung HEGELs auch für die Philosophie so einflußreich gewordene Gesellschaftsbegriff der klassischen Nationalökonomie seine extremste philosophische Formulierung.

Dem System der gesellschaftlichen Abstraktionen stellt Tönnies die "Gemeinschaft" als organischen Typus des Sozialen gegenüber. Sie ist ihrer Struktur nach das Analogon zu Hegels Begriffen des substantiellen Geistes und der sittlichen Totalität, unterscheidet sich jedoch von Hegels ganz kulturphilosophischer Tendenz durch eine viel naturalistischere Färbung, durch die Betonung des Naturhaften und Ursprünglichen. Während alles Gemeinschaftsleben auf der Universalität, der ungebrochenen Einheit der Lebensinteressen beruht, schafft das Recht die technischen Formen für die Isolierung und gesonderte Verfolgung einseitiger, z.B. rein wirtschaftlicher Zwecke, die erst den Grund für den Zusammenschluß wesentlich getrennter, nur in diesem einen Punkt übereinstimmender Willkürsphären abgeben.

Die Emanzipation der Individuen aus allen ursprünglichen Gemeinschaftsbanden, die allgemeine Auflösung und Nivellierung, deren bereites Werkzeug auch innerhalb der christlichen Kultur das Recht - insbesondere das römische - war, hat nach TÖNNIES ihre höchste Verkörperung im modernen Staat gefunden, der sich aus einem echten Gemeinwesen in eine gesellschaftlich-kapitalistische Vereinigung verwandelt habe.

Auch SIMMEL, der jedoch das Recht nur in gelegentlichen Ausführungen berücksichtigt, hält es ähnlich wie TÖNNIES für ein Symptom der gerade in der Gegenwart immer mehr um sich greifenden Rationalisierung des Lebens. Vergleichbar mit der Intellektualität einer - und mit dem Geld andererseits zeige es die Gleichgültigkeit gegen individuelle Eigenart und ziehe aus der konkreten Ganzheit der Erlebnisse einen abstrakten, allgemeinen Faktor heraus. Allein Simmel glaubt,d aß der moderne Entpersonalisierungsprozess nur die Außenseiten des Lebens ergreift, daß also die Persönlichkeit sich zwar mit gewissen Partikelchen ihres Wesens immer mehr unpersönlichen Organisationen unterordne, dagegen desto schärfer ein nicht zu verdinglichender Persönlichkeitskern sich von allen seinen absplitterbaren Bruchteilen unterscheide und unangreifbar erhalte.

Neben solcher Neigung, im Rechte die Verkörperung eines Formalismus zu sehen, der aller Ursprünglichkeit der einzelnen und der Kultur feindlich ist, hat sich stets die spekulative Anerkennung einer eigentümlichen positiven Wertbedeutung des Rechts aufrechterhalten und in der Gerechtigkeitsidee von jeher ihren allgemeinen Ausdruck gefunden. Es wäre aber vergeblich, eine einheitliche Definition der Gerechtigkeit versuchen zu wollen. Denn da dieser Terminus einfach die Absolutheit und Apriorität des Rechts als solche aussagen will, so sind in ihm all die Anforderungen zusammengedrängt, die nach verschiedenen Weltanschauungen an das Recht gestellt werden.

Wofern Gerechtigkeit wirklich eine eigentümliche und in sich wertvolle Idee ausdrücken soll, wird durch die Einführung dieses Begriffs die ausschließliche Persönlichkeitswertung zugunsten einer Idealisierung des Gemeinlebens im Prinzip bereits durchbrochen. Selbst jede Rechtsphilosophie des Kantianismus - auch die von Kant selbst - enthält darum die Ansätze zu einem Hinausstreben über den sozialphilosophischen Personalismus.

Deutlich zeigt sich das bei dem Kantianer COHEN. Wie das Recht sachlich in der Ethik begründet ist, so soll nach ihm methodisch die Ethik an der Rechtswissenschaft orientiert werden. Rechts- und Staatswissenschaft liefern das "methodische Vorbild" für die ethischen Begriffe der reinen  Werteinheit, der Einheit der Handlung und der Person, der "echten Einheit des Willens". Da nämlich bei der "juristischen Person" die Vermengung mit dem sinnlichen Substrat, das hier aus einer Mehrheit von Individuen besteht, schwerer fällt, als bei der Einzelpersönlichkeit, so kann sie als Muster dienen für den Gedanken einer rein ideellen "Allheit", die sich als selbständige Einheit von ihrer diskreten, in sinnliche Einzelheiten zerfallenden Wirklichkeitsunterlage abhebt.

Ganz im Sinne Hegels sollen die Partikularitäten der Rassen und Stände als Vertretungen der lediglich gesellschaftlichen "Mehrheit" oder Kollektivität und als in letzter Linie bloß naturhafte Elemente der "bezwingenden Einheit des Staats" unterworfen werden. COHEN geht sogar so weit, die ethischen Grundbegriffe "mit ausschließlicher Rücksicht auf Recht und Staat" konstruieren zu wollen. Die ethischen Handlungen des Staates selbst vollziehen sich in den Gesetzen, die in ihrer Heiligkeit und ausnahmslosen Allgemeinheit als unersetzliche Leitbegriffe für das Selbstbewußtsein des reinen Willens zu gelten haben.

Der Formalismus des Rechts wird bei COHEN gerade zum Symptom seiner absoluten Werthaftigkeit, seiner Reinheit, seines Apriorismus, Recht und Gerechtigkeit sind das eigentliche Reich der überempirischen Zwecke, sie gewähren die Erlösung des Wollens von seiner Zwiespältigkeit und Unberechenbarkeit, von den Schranken des Eigensinns und der Selbstsucht. Recht und Staat sind Gebilde des Geistes, ethische Kulturbegriffe, das Volk dagegen ist ein Produkt der Natur, und deshalb bewahrt selbst der Patriotismus trotz der Erhabenheit des Kulturbegriffs "Vaterland" noch den naturalistischen Beigeschmack der bloßen "Affekterweiterung". HEGELs reinen Kulturbegriff des Volkes lehnt COHEN ab. Der formale Gerechtigkeitsgedanke triumphiert bei ihm über das konkretere Werten.

So gehen in der Gegenwart die Ansichten über die absolute Bedeutung des Rechts noch weit auseinander, und seine Eingliederung in ein System der Kulturwerte bleibt der Philosophie der Zukunft überlassen.

Um den wertsystematischen Charakter der Rechtsphilosophie noch einmal hervortreten zu lassen, mag darauf hingewiesen werden, daß der wenn auch noch so "konkret" gefaßte Hegelsche Begriff der sozialen Welt in doppelter Hinsicht einen lediglich formalen Sinn hat. Zunächst muß beim "objektiven Geist" als bei einem  Wertbegriff von aller "Konkretheit" des  Empirischen  abgesehen werden: das Wort "konkret", vom Werte gebraucht, enthält nur ein Gleichnis, deutet nur eine gewisse Wertfärbung symbolisch an, woraus gleichzeitig hervorgeht, daß auch aus dem konkreten Wert die  empirische  Besonderheit nicht rationalistisch konstruiert werden kann.

Zweitens aber unterscheidet sich das Soziale auch der der vorher erwähnten "Wertindividualität", und zwar dadurch, daß es wegen seines systematischen Charakters als ein Inbegriff idealer Anforderungen von allem denkbaren Gemeinschaftsleben, von jeder beliebigen sozialen Wirklichkeit zu gelten beansprucht. Das Soziale ist somit formal gegenüber dem empirischen Wertsubstrat und formal gegenüber der Wertindividualität. Es nimmt im Reiche der Werte eine eigentümliche Zwischenstellung ein. Konkret erscheint es als eine Welt neuer transpersonaler Werte im Verhältnis zur exklusiven Einförmigkeit des individuellen Persönlichkeitstypus und abstrakt oder formal als systematisierbarer Wert im Unterschiede zur Wertindividualität.

Aus dieser mittleren Stellung folgt, was WINDELBAND hervorgehoben hat, daß die gesellschaftlichen Werte inhaltlich vom Standpunkt der Pflicht des einzelnen, dagegen formal gegenüber der jedesmaligen individuellen Gesamtbestimmung der Gesellschaft selbst. Das vorzüglichste historische Beispiel für ebendasselbe Verhältnis bietet die Platonische Sozialethik dar. Als ein Muster konkreter Staatsauffassung verharrt sie dennoch in den Schranken des Griechentums, ohne zur Vorstellung der einmaligen Offenbarung absoluter Wertverwirklichungen vorzudringen, die - zuerst von SCHELLING - als ein Spezifikum der christlichen Spekulation bezeichnet worden ist.

Mit der "Konkretheit" des sozialen Werttypus kehrt dieselbe Komplikation wieder, die bei der Verquickung Wertindividualität und dem Historismus vorlag, und es wird nunmehr erklärlich, warum der Historismus, der ja nur von der Vermengung der empirischen mit der Wertkonkretheit lebt, gerade auf rechts- und sozialphilosophischem Gebiet so verführerisch geworden ist. Was der Historismus als unreflektierte Wertungsart im Sinne hat, das tritt explizit und in Dogmen gefaßt als Philosophie der Restauration auf. Nach dieser bilden die empirische erwachsenen legitimen staatlichen Organisationsformen die unverrückbare Schranke, an der alle Kritik und Messung mit absoluten Wertmaßstäben verstummen muß.

Den schroffsten Gegensatz zu solcher Verabsolutierung der politischen Gegebenheit stellt die Lehre Hegels dar mit ihrem unerbittlichen Kampf gegen die Leerheit der bloßen Endlichkeit, gegen die Unvernunft der einzelnen empirischen Diesheit, und darum sollten niemals die Worte in Vergessenheit geraten, in denen KUNO FISCHER am Schluß seines Werkes über HEGEL gezeigt hat, daß man während des gesamten neunzehnten Jahrhunderts den politischen Tendenzen der Restauration nichts Tieferes entgegenzusetzen wußte, als die Hegelsche Philosophie, die Entwicklung des Weltgeistes in seiner bewußten, logisch entfalteten Form.
LITERATUR - Emil Lask, Rechtsphilosophie (1905) in "Die Philosophie im Beginn des 20.Jahrhunderts". Festschrift für Kuno Fischer. Hrsg. Wilhelm Windelband, Heidelberg, 1907