ra-2Hans CorneliusKarl Scheffler    
 
OTTO HILFERDING
Die Ehre

"Derjenige, der die natürliche Schlichtheit und Unmittelbarkeit seiner Ehre sich bewahrt und nicht gleichsam einen Beruf aus ihr gemacht hat, indem er in ihr bloß eine Befriedigung seines die Verdienste sich selbst bezahlenden Stolzes sieht, der wird lieber auf diese problematische Erkenntnis seiner Persönlichkeit verzichten und in einem naiven Nichterkennen Befriedigung finden; dies umso eher, als bescheidene Gemüter gemeinhin zu religiöser Gläubigkeit inklinieren, wo reicher Ersatz in dieser Beziehung auf sie wartet. Demnach ist die Bescheidenheit der Verzicht auf eine Erkenntnis seines geistigen Selbst, die nicht adäquat sein kann, und so wechseln die Rollen der Bescheidene entsagt stolz, wo der Ehrsüchtige zugreift."

"Die Ehre ist eine natürliche Notwendigkeit, eine Funktion des Egoismus und dessen Regulator. Indem sie ihn zugleich mildert, erweitert und vertieft, leitet sie ihn in das ideale Reich des Sittlichen hinüber und gestaltet das Ego zu einer Persönlichkeit, welche dann vom Gesetz verallgemeinert zum Inventarium der unveräußerlichen Rechte der Menschheit erhoben wird."



I.

Es gibt Worte, die jedermann im Munde führt, die von jedermann verstanden werden, deren soziale Bedeutung überall und allgemein anerkannt und als ein hohes menschliches Gut geschätzt ist, dessen Verletzung sogar von der Jury geahndet wird, und dennoch sind sonderbarerweise die Begriffe, welche jenen Worten entsprechen, unklar und nebelhaft geblieben, von der Wissenschaft wievom unbefangenen Bewußtsein gleichsam als ein herrenloses Gut betrachtet, das jeder einzelne nach seinem Gutdünnken bewerten darf. Ja, man kann, ohne fehlzugehen, behaupten, daß, selbst wenn diese Gattung von Worten einer kritischen Beleuchtung teilhaftig werden sollte, diese an der willkürlichen Bewertung jener Begriffe nichts ändern würde. Gleichwie die physiologische Kenntnis unserer organischen Funktionen diese ganz unberührt läßt, scheint ein gleiches Schicksall über jene Begriffsarten zu herrschen und sie in ein ewiges Dämmerlicht zu hüllen. Schon dieser Umstand kann füglich auf ihre Genesis einiges Licht werfen; sie werden gemeiniglich ihre Entstehung nicht der Erfindung, einer konventionellen Erzeugung der Menschen verdanken, welche auch unterbleiben könnte, vielmehr haben sie ihre Wurzel in der natürlichen, notwendigen Entwicklung des Menschen, welche von der Erkenntnis unabhängig ist. Eine kritische Beleuchtung dieser Wortarten wird mithin diese ihnen eigentümliche Unklarheit als ein Korrelat ihrer Wesenheit mitzuerklären haben und damit gewissermaßen die Probe auf ihre Richtigkeit liefern.

Aus der nicht unbeträchtlichen Zahl solcher Begriffe sei hier zunächst der der Ehre herausgegriffen, da es dieser an Aktualität niemals gebricht, und des sei zugleich der Versuch gemacht, sich zurückzubesinnen, was an jenen Begriffen die Jugend des Menschengeschlechtes in heller Gegenwärtigkeit erkannte, und was von ihnen die Zeit seitdem verdeckt und die Gewohnheit abgestumpft hat.

Daß der Mensch in früher Jugend schon, insofern er sich zur Selbsthilfe primitiver Werkzeuge bediente, bestrebt war, über sich selbst hinauszugehen, seine Persönlichkeit räumlich und zeitlich auszudehnen, ist eine ihn auszeichnende Eigentümlichkeit, die tief in seiner Natur physiologisch begründet ist und dem Werde- und Bildungsprozesse der menschichen Gesellschaft sowie deren ethischen, ästhetischen, intellektuellen, pädagogischen und technischen Leistungen, allen Erfindungen, zunächst der Dichtung und Religion (die Ausdehnung der Flugweite in das Transzendente) zugrunde liegt, sie ist der formale, Richtung gebende Trieb aller Triebe. Sobald jedoch dieser Trieb, etwa in Ermangelung ausreichender äußerer Gelegenheiten, an bestimmten Zielen kein Genüge findet, äußert er sich in selbstherrlicher Weise als Selbstzweck in der Form des Ehrbedürfnisses oder des Ehrgeizes. Es könnte mithin die Ehre als eine Art Seelenwanderung, eine Art Besitzergreifung eines Territoriums in der Seele des Mitlebenden definiert werden. Eine vielleicht weniger feine, man möchte fast sagen, weniger platonische, aber umso edlere Betätigung dieses Triebes war beispielsweise das pädagogische Bedürfnis im hellenischen Zeitalter, wo es die edelsten Blüten trieb und zu einer Kunst gedieht, die jedoch später ausartete (Knabenliebe) und, schon von den Sophisten herabgewürdigt, ihres Adels entkleidet wurde (Lehrlohn), uns jedoch völlig entfremdet und abhanden gekommen ist. Der moderne Lehrer zielt in selbstverleugnender Weise nach Entfaltung der schlummernden, wenn auch ihm selbst nicht eigentümlichen Kräfte seines Zöglings zu einer Individualität, um ihnen hierdurch die Richtung zur Förderung des eigenen und seiner Mitmenschen Wohles zu geben. Er leistet wesentlich Hebammenarbeit. Hierzu im Gegensatz ergoß der antike Lehrer die Fülle seines Geistes, seine abgeklärte Persönlichkeit auf seinen Schüler und lebte ein mehrfach gesteigertes Leben, er leistete wesentlich imprägnierende, okulierende [veredelnde - wp] Arbeit. Eine ähnliche Bewandtnis hat das Verhältnis moderner Freundschaft zu der der Alten, eine reich entwickelte, intensive Seelengemeinschaft hier, eine geschäftliche, mehr auf eine äußere Förderung gerichtete Freundschaft dort, was wiederum für die Verselbständigung des Individuums und Hervorkehrung des Vernunftwesens im Menschen förderlich ist. In diesem geschichtlichen Umschlag des Eroberers in den objektiven Würdiger, des Übermenschen im Menschen in einen selbstverleugnenden Pflüger ist jedoch weniger eine Schranke des ersteren als dessen potenzielle Erhebung zu einer Neubelebung, zu einer selbstlosen Schöpfung einer Individualität gelegen, worin in jener Trieb zur Erweiterung des eigenen Ich um so transzendenter, vielseitiger und kraftvoller zur Realisierung gelangt. Die Verhältnisse bloß haben sich im Lauf und Drang des Geschehens geändert, sind verwickelter geworden, wodurch der ursprüngliche Trieb zur Ausweitung der Machtsphäre seines Selbst zwar verdeckt, aber in gleicher Weise tätig ist. Gleichwie die Konstanz der ursprünglichen Kraft in der beschleunigten Bewegung dem besonnenen Beobachter sich offenbart, so entdeckt er jenen sich selbst gleichbleibenden Trieb auch dann, wenn scheinbar das Resultat ein anderes, ein entgegengesetztes geworden ist.

Ein klassisches Beispiel für den völligen Wechsel der Tendenzen gleicher Triebkräfte und ihre scheinbare Heteronomie in der Weltgeschichte sind alle die Erfindungen, welche zur Vervollkommnung der Kriegswaffen gemacht worden, deren Tragweite und Zielsicherheit nach den überraschenden Ausführungen des jüngst verstorbenen russischen Staatsrates BLOCH mittelbar nicht den kriegführenden Völkern zugute kommen, sondern internationalen Sicherheit und dem Völkerfrieden dienen. Und wer kann voraussagen, welche Bedeutung dann die aufgelösten Militärkolonnen für die Lösung der sozialen Frage haben dürften?

Alle möglichen Entwicklungen auszudenken und darzustellen, welche der Mensch, ausgerüstet mit organisierten Kräften, mit dreifachen Flügeln, des Denkens, Fühlens und Wollens, die insgesamt ins Weite streben, nehmen könnte, würde vielleicht keinen unwürdigen Stoff für die Dichtung abgeben. Die notwendige Wirklichkeit jedoch kennt nur einen Entwicklungsgang, und auf diesem begegnen wir schon früh der Entstehung der Gesellschaft. Mögen neben dem erwähnten Drang nach Kraftentfaltung die Impulse, welche diese organisierten Wesen zu einem Organismus höherer Ordnung zusammenschließen und fortwährend zu noch höherer Entwicklung drängen, wie auch immer geartet sein, eine mehr oder minder ausgebildete öffentliche Meinung geht überall mit dieser Entwicklung Hand in Hand, in welcher die Wertschätzung jedes einzelnen Mitgliedes eine gewisse Kurshöhe erlangt, die als Produkt dieses potenzierten Organismus, auch als eine notwendige Funktion desselben betrachtet werden könnte wie etwa die Entstehung von Wärme durch Reibung. Ebenso wirkt jedes Mitglied auf Erstarkung und Förderung der Gesellschaftsbildung unzweifelhaft zurück. Es ist hierbei gewiß von Interesse zu bemerken, wie das Problem, wie sich eine Vielheit von Meinungen und Urteilen zu einem Resultat, zu einem resultierenden Gesamturteil verdichtet, seine Lösung findet. Denn die öffentliche Meinung, durch welche der Gesamtwert vieler Handlungen und Eindrücke eines Individuums zum Ausdruck kommt, sammelt sich im Gemüt dieses Individuums wie in einem Brennpunkt und wird in seinem Bewußtsein als Ehre empfunden, so daß das Renommee der betreffenden Persönlichkeit den ihr zugehörigen Ton bedeutet und von ihr empfunden wird. Nur in dieser Form des Zurückströmens des eigenen Wertes aus dem Verständnis und den Gefühlen anderer Mitglieder der Gesellschaft zu seinem Ausgangspunkt, entsteht das persönliche Selbstbewußtsein. Die Werte und Vorzüge wie Schönheit und Güte einer Person werden von dieser nicht direkt als jener Zauber empfunden, welcher das Gemüt anderer entzückt, sondern in Ermangelung eines scharfen gerechten Sinnes für die eigene Trefflichkeit sieht der Mensch nur im allgemeinen Urteil über sein Leben seine eigene Persönlichkeit und genießt sie im Hochgefühl der Ehre, die ihm ein persönliches Selbstbewußtsein bedeutet.

Die Ehre ist somit dem Selbstbewußtsein gleichbedeutend. Insofern jedes Gesellschaftsglied kraft des ihm innewohnenden Triebes nach Erweiterung seines Kraftgebietes sich eine Meinung über jedes andere bildet, und dieses andere seinerseits in das geistige Innere seines Nebenmenschen überzugreifen bestrebt ist, entsteht durch die Begegnung einander entgegenkommender Bestrebungen eine Spannung, welche Ehre zur Folge hat. Diese ist gleichsam als ein von der Person entbundener Satellit zu betrachten, der sie durchs Leben begleitet, Licht und Glanz über sie breitend, selbst dann, wenn sie selbst im Reich der Schatten untergegangen ist.

Es ist eine bekannte psychologische Tatsache, daß bei Männern, welche zur Selbstgefälligkeit oder zur Reue und Selbstvorwürfen neigen, das Ehrgefühl matt und herabgestimmt ist, hingegen Männer mit stark ausgeprägtem Ehrgefühl ihr Gewissen selbst von einem begangenen Verbrechen nicht allzu schwer belastet fühlen, was mit unserer Auffassung der Ehre trefflich übereinstimmt.

Das Leben ist eine Kette von Beziehungen. Das Milieu, aus dem alles individuelle Leben hervorgeht, empfängt in dem Maße, wie dieses sich auslebt, die Anregungen, die es gegeben hat, in gewandelter Form zurück und reflektiert dieselben in der Form von Schätzungsstrahlen, die als Ehrgefühl wiederum neue Anregungen auslösen.

Die Erfahrung lehrt, daß bei Individuen von hochentwickelter Herrschsucht, Ehrgeiz mit Menschenverachtung sehr oft gepaart ist. Der scheinbare Widerspruch, daß der heiß angestrebte Nimbus in der Öffentlichkeit gleichzeitig diese als wertlos erachtet, löst sich in Harmonie auf, wenn man bedenkt, daß das angestrebte Gut nicht in der öffentlichen Meinung als solcher vielmehr in der Erfassung der eigenen Persönlichkeit liegt, was mit einer Verachtung des Ortes, an dem sie zutage kommt, sehr wohl vereinbar ist. Die Fülle von Impulsen zu einem inhaltsreichen Leben, welche die tatkräftige, starke Persönlichkeit unter die Menge verstreut, begegnet in der Regel einer energielosen Bewunderung, nur selten einer inneren, geistigen Aufraffung zu einem männlichen, selbstherrlichen Handeln. Kraft des hohen Rechts, das dem Kraftmenschen zukommt, genießt er jedoch gerne die Bewunderung, die ihm zuteil wird, während er der Menge und ihres Ersterbens in Verehrung sich bloß als Folie bedient, um sein bevorzugtes Ich desto heller leuchten zu lassen.

Selbst der überragende, seiner Zeit vorauseilende, von seinen Zeitgenossen nicht anerkannte und gewürdigte Geist ist entweder naiv und hat überhaupt nicht das Bewußtsein seines Wertes oder sein Genius spiegelt ihm den späterhin unausbleiblichen Ruhm der Unsterblichkeit vor. Für sein persönliches Selbstbewußtsein gilt daher die Voraussetzung der Kongruenz der Begriffe von Ruhm und Unsterblichkeit. Ihn mag die Vorstellung beglücken, daß der wahre Inhalt seines Lebens, seine Gedankenschöpfungen von allgemeiner Bedeutung, die Schranken des Individuums, in dem sie entstanden, durchbrechen und, wieder an andere Individuen gebunden, unabhängig von der Person, durch die sie sich entwickelt hatten, ein allgemeines, unpersönliches, überpersönliches Leben fortführen werden.

Durch die Definition des Ehrbegriffs als Selbsterkennung ist der geschichtliche Heroenkultus überwunden: Wenn es wahr wäre, daß das Volk nur die träge Masse ist, der der Berufene die Ordnung, Staatsform, Recht, Sitte, Selbstbestimmung und Moral zuführt, so könnte sie höchstens diese Güter genießen, niemals aber sie würdigen, niemals könnte die Gesamtheit jedem Einzelnen, auch dem Genie, außer dem Inhalt seiner Schöpfungen auch sich selbst genieße und, hierdurch angespornt, das vornehme Muster dem Volk gibt, wie Jedermann es anstellen soll, seinen Egoismus seinem besseren Ego zu unterwerfen. Mithin schafft das Milieu, das lebendige Volk, die Persönlichkeit, welche das Mitgenießen des eigenen Wertes in sich schließt.

Wer dem Ehrerfolg keine Empfänglichkeit entgegenbringt und sich über ihn hinwegzusetzen vermeint, möge sich die wetterwendische Wandelbarkeit vergegenwärtigen, welche sein Gemüt während des psychischen Prozesses der Inspiration, Inkubation und Produktion durchmacht, wie dem Beseeligungsgefühl der auftauchenden, einander auslösenden Gedankenfülle, die fast mit einem mechanischen Zwang zur Produktion in Schrift oder in anderen Ausdrucksmitteln drängt, gar bald die Abspannung folgt, so daß die eben noch lebendigen und belebenden Ideen ihm nun nüchtern, flügellahm und schal erscheinen, er wird dann vielleicht in den spätgeborenen Vaterfreuden der Ehre doch einigen Trost finden; freilich des tragikomischen Eindrucks wird er sich kaum entschlagen können, welchen ein über Ruinen schwebender Schmetterling gewährt.

Zufolge des eben analysierten Ehrbegriffs ist es einleuchtend, daß die allgemein verbreitete Unklarheit desselben in der Natur seines Wesens begründet ist.

Die Ehre ist ein Universallohn für alle Verdienste oder, nach unserer Definition, ein Universalbild für alle Inhalte des persönlichen Selbstbewußtseins, so verschieden sie in Benehmen, Ansprache, Orden, Titeln usw. auch zum Ausdruck kommen möge. Die Verdienste hingegen, denen sie entsprechen soll, sind individuell und äußerst differenziert. Dieser Widerspruch zwischen Leistung und Lohn, diese Diskrepanz zwischen Bild und Original tut der logischen Auffassung Gewalt an, daher die allgemein herrschende Unklarheit und zugleich die allgemeine Verständlichkeit dieses Begriffs, gleichwie schon die Begriffsbestimmung des Geldes, dem in gleicher Weise, wenn auch in geringerem Maße, jener Widerspruch innewohnt, dem gewöhnlichen Auffassungsvermögen bei aller Verbreitung etwas schwer zugänglich zu sein pflegt. Bevor wir den theoretischen Teil dieser Untersuchung verlassen und uns der praktischen Seite zuwenden, wie die Ehre als Gefühl im Leben zur Geltung und zur Entfaltung kommt, möchten wir noch auf einen erhöhten Standpunkt aufmerksam machen, von dem aus ein tieferer und erweiterter Ausblick in das ideale Leben des Menschen gewonnen werden dürfte.

Wir haben den Menschen mit seiner dreidimensionalen Psyche - Denken, Fühlen, Wollen - in die äußere Welt hineinstürmen sehen, sie zwar messend, genießend, umgestaltend, aber seiner eigenen Persönlichkeit, gleichsam seiner vierten Dimension, nicht Herr werdendend, bis er sie in einem zweiten idealen Ich, in der Wertschätzung seitens seiner Mitmenschen zu finden sich abzufinden bescheidet. Aber einerseits die Hast, mit der er sich der Erjagung dieses Gutes hingibt, andererseits die Zufälligkeit der ungünstigen Umstände, die das heißeste Bemühen fruchtlos verlaufen lassen, dazu noch die innere Diskrepanz zwischen seinem metaphysischem Bedürfnis, das nach einem idealen Grund seiner Persönlichkeit und seines Verhältnisses zur Welt dürstet, und dem berauschenden, aber nicht sättigenden Ehrgefühl, alle diese Mängel und Dürftigkeiten haben einen neuen Aufschwung seines prometheischen Wesens zur Folge - die Schöpfung eines persönlichen Gottes. Das Hinausgehen über sich selbst, das Sichnichtbegnügen mit der wirklichen, gegebenen Welt ist eine Funktion unserer Organisation wie der Verstand; wie dieser in unmeßbaren Fernen astralischer Welten sich heimisch fühlt, so die religiös gestimmte Phantasie im Raum- und Zeitlosen. In Gott leben heißt dem Menschen soviel wie seine eigene wahre, vollkommene, adäquate, gesicherte Persönlichkeit leben, zum Unterschied zu einem schattenhaften, vergänglichen, unadäquaten Sein, wie er es im Gefühl der Ehre lebt. Die geschichtliche Tatsache, daß der Mensch seinem Glauben und seiner Ehre zuliebe am leichtesten bereit ist, sein irdisches Leben zu opfern, weist auf eine beiden gemeinsame Quelle hin. Seinem zweiten Ich, seiner Persönlichkeit, die er im religiösen Gefühl und im Gefühl der Ehre erkennt und genießt, glaubt er im Tod nicht zu entsagen, im Gegenteil sie erst recht in ihrer wahren Heimat zu genießen. Der Beruf des Kriegers, bei dem das Ehrgefühl am subtilsten ausgebildet ist, ist ein Sterbeberuf und dem Sterbeberuf ist die Idee der Unsterblichkeit am natürlichsten. Ehre oder Glaube ist dem Menschen der antizipierende Genuß seiner persönlichen Unsterblichkeit. Die Ehre als Massenbewußtsein, das sie gleichfalls mit dem religiösen Gefühl gemein hat, soll noch im Verlauf dieser Betrachtung erläutert werden, aber ein Zug tieferen Zusammenhangs und gemeinsamer Abstammung dieses Schwesternpaares sei hier noch besonders hervorgehoben: die Symbolisierung. Von jeher hat das religiöse Bedürfnis seinen Inhalt an Ideen in Zeremonien oder Symbolen festgeprägt. Das Ehrbedürfnis gestaltet seinen Inhalt mehr in willkürlichen, vergänglichen Formen, aber auch an Zeremonien hat es niemals gefehlt. Dort Taufe, hier Ritterschlag, Sterne, Orden, Wappen sind Symbole, die gleichfalls in kirchlichen Gebräuchen ihre Parallele haben. Speziell im Schwert hat sich das Hochgefühl des Priesterstandes der Ehre verdichtet. "Schwört auf mein Schwert", sagt der Geist, HAMLETs Vater, und bekundet hiermit, daß auch im Reich der Schatten das Schwert in seinem vollen Wert geschätzt wird, entsprechend unserer Sitte, dem verstorbenen Offizier das Schwert auf dem Sarg mitzugeben. Dem lebenden Offizier sollte man es nachfühlen, wie das Bewußtsein seiner Persönlichkeit beim Umgürten des Schwertes wächst, beim Ablegen hingegen abebbt. Konsequenterweise fordert der Ehrenkodex vom Offizier, im Fall der Kränkung seiner Ehre die prompte Bereitschaft, bei seiner Unsterblichkeit Revanche und Ersatz zu suchen. Dieser Gedanke ist nicht offen ausgesprochen, liegt aber gleichwohl dem Duelle zugrunde, ist dessen eigentliche Pointe und das Geheimnis seiner Macht über die Gemüter.

Auf diesem Gedankengang begegnen wir einem in mehrfacher Beziehung interessanten Ehrbegriff, der Frauenehre. Es dürfte kaum ein Wort im deutschen Sprachschatz geben, das einen ideellen Begriff mitsamt seinem körperlichen Objekt in einem Wort zusammengefaßt hätte, wie dies im Sinne der Frauenehre in dem Wort  Jungfräulichkeit  der Fall ist, wie etwa zwei Gefangene aus verschiedenen Himmelsstrichen, die keine andere Gemeinschaft miteinander haben, als daß ihnen gemeinsam eine Handschelle angelegt worden ist. Mögen solche gewaltsame Verquickungen verschiedener Begriffe zur Zeit roher Sprachbildung in der Natur des noch ungebildeten Menschen begründet sein, so werden sie doch infolge grammatischer Zucht und fortgeschrittener Erfahrung immer mehr ausgeschieden werden, so daß wir heute nur noch im psychischen Leben kulturloser Völker eine derartige Begriffsverwirrung antreffen und in der Anbetung geistiger Mächte im Fetisch vorfinden. Umso befremdender ist es, daß ein Rest des Fetischkultus, wie die Verkörperung der Keuschheit in der Jungfräulichkeit bei hochkultivierten Völkern sich erhalten konnte, was darauf hinweist, daß sich die Ansichten des Kulturmenschen in sexuellen Angelegenheiten am schwersten von der rohen Natur losmachen. Zwar ist auch in dieser Beziehung ein Aufleuchten der feineren Kultur an den Peripherien der sozialen Gliederung nicht zu verkennen. Beim Arbeiterstand sowohl wie beim Adel ist ein merkliches Loslösen aus diesem grob materiellen Empfinden bereits sichtbar, aber in den breiten Schichten der Bevölkerung spukt noch der Naturmensch, wobei die materialistische Bewertung der Frau seitens der Kirche den Hauptanteil hat.

So anachronistisch und entlegen jedoch, gleichsam wie ein weit zurückreichender geologischer Fund diese grobsinnliche, inkarnierte Sittlichkeit uns auch anmuten, so werden ihre Ausläufer zwar nicht den Verstand, umso mehr aber unser Gemüt versöhnen. In der Tat ist die Überwindung des naiven Fetischismus, die Ablösung des idealen Inhaltes vom Stoff die Bedingung jeder Gefühlsschätzung. Die Bewunderung des Schönen kommt zustand, indem die Psyche die Dinge um sich weiter wegrückt in eine Ferne, wo sie von der gemeinsinnlichen Wahrnehmung weniger gestört wird, um deren eigentlichen Inhalt hingebungsvoll nachzuhängen, gleichsam um den Text aus einer Melodie herauszufinden und mit ihr zu verschmelzen, die sie im Komplex der Erscheinungen verehrt, weil ihr hinter der Form der ewige Geist entgegenstrahlt. Der Kunstsinn der Griechen hat noch Melodie und Text auseinandergehalten. Der Hellene hat hinter jeder Pflanze, hinter jedem Flüßchen einen Gott gesehen, der sie schützend pflegte, dessen Wesen nach Versiegung des Flüßchens, nach Verdorrung der Pflanze vollkommen sich selbst gleich bliebt.

Der Fortschritt der Zivilisation hat jedoch die Kunst von transzendenten Vorstellungen emanzipiert und den Geist der Dinge immanent erfaßt. Die Emanzipierung und Verselbständigung der Kunst ist unweigerlich ein Fortschritt, aber hier noch mit einem Rückschritt zum Materialismus behaftet. Erst eine weitere Kritik hat die Wertschätzung, die wir gewissen Dingen entgegenbringen, nicht in diesen, sondern im anschauenden Subjekt gesucht und zu finden gemeint.

Es ist in dieser historischen Entwicklung nicht sowohl eine philosophische Würdigung des Ästhetischen, vielmehr eine Entwicklung unseres Schönheitssinnes selbst zu sehen, der im Abstreifen des Sinnlichen und in der Verselbständigung des Ideellen seine wesentliche Betätigung bekundet. Es ist der parallele Prozeß, den auch unser Verstand durchmacht, indem er alle stoffliche Bewegung auf mathematische Gesetzmäßigkeit zurückzuführen bestrebt ist und hierdurch die Erscheinung zur Wissenschaft erhebt. Es ist klar, daß auf diesem Standpunkt alles Schöne und alle Wertschätzung unseres Gemütes ein Ausfluß unseres dichtenden Subjekts, unserer Organisation, eines Dichtungsapparates ist, der im Zusammenstoß mit den Dingen Werte schafft. Eine Folge und zugleich ein Beweis dieser Anschauungsweise ist die Tatsache, daß die schöne Persönlichkeit betreffs ihrer eigenen Schönheit unpersönlich bleibt, daß sie zum Vollgenuß der ihr inhärierenden Schönheit nicht kommen kann, weil sie eben als Trägerin der Schönheit diese als Objekt nicht dichten kann, weil ihr reales Sein sich nicht in Dichtung umsetzen läßt, ohne in Widerspruch mit sich selbst zu geraten. Wie weit diese Unpersönlichkeit des Schönen mit Bezug auf das Interesselose im Schönen ästhetisch zu verwerten wäre, sei hier nicht weiter erörtert, nur so viel sei hier noch erinnert, daß die Erklärung der Bescheidenheit an diesem Punkt anzusetzen hat. Denn notwendigerweise muß dem Innewerden des Persönlichkeitswertes aus zweiter Hand im Gefühl der Ehre nur ein problematischer Wert innewohnen, insofern die Person selbst, der dieser Wert zukommt, von diesem kein unmittelbares Gefühl hat.

Derjenige, der die natürliche Schlichtheit und Unmittelbarkeit seiner Ehre sich bewahrt und nicht gleichsam einen Beruf aus ihr gemacht hat, indem er in ihr bloß eine Befriedigung seines die Verdienste sich selbst bezahlenden Stolzes sieht, der wird (bei sonst günstiger Konstitution) lieber auf diese problematische Erkenntnis seiner Persönlichkeit verzichten und in einem naiven Nichterkennen Befriedigung finden; dies umso eher, als bescheidene Gemüter gemeinhin zu religiöser Gläubigkeit inklinieren, wo reicher Ersatz in dieser Beziehung auf sie wartet. Demnach ist die Bescheidenheit der Verzicht auf eine Erkenntnis seines geistigen Selbst, die nicht adäquat sein kann, und so wechseln die Rollen der Bescheidene entsagt stolz, wo der Ehrsüchtige zugreift.

Einen Schritt weiter in dieselbe Richtung tut die Demut. Indem sie die ihr von außen zuteil werdende Ehre als Dichtung, welche nicht der objektiven Wahrheit ihres Bewußtseins entspricht, durchschaut, dichtet sie selbst anderen Vorzüge an und ist bezüglich anderer für einen Trugschluß blind, für welchen sie bezüglich ihrer selbst hellsehend ist.

Einen Gegensatz zur Demut bildet die Koketterie. Diese ist bezüglich der Erkenntnis der Gefühle, die sie anregt, der Bescheidenheit verwandt; auch sie sieht ein, daß jene Gefühle nicht in Einklang mit ihrer Person stehen, vielmehr auf einem Blendwerk der Phantasie beruhen, aber sie bedient sich derselben zu ihrem Vorteil, indem sie ihr durch eine Art Pseudosittsamkeit reichlich Gelegenheit zur Betätigung bietet, welche dazu beiträgt, den Trugschluß von einem äußeren Schein auf objektives Sein zu nähren und zu verstärken.

Diese psychologische Exkursion würde ihrer Weitläufigkeit wegen kaum zu entschuldigen sein, wenn sie nicht gleichsam ein Miniaturbild für ganze Kunstepochen abgäbe, die hierdurch dem Verständnis sehr nahegeführt und, wie in einer  Camera obscura  eingefangen, wiedererkannt werden.

Die Ausführung dieser Gedanken und die Bedeutung der Rolle, welche der Ehre in sozialer Beziehung zukommt, mögen einem zweiten Artikel vorbehalten bleiben.


II.

Den Ausgangspunkt dieser Erörterung bildete das Prinzip der Erweiterung des Kraftgebietes des Menschen in geistiger und physischer Beziehung, ein Prinzip, welches für die kulturelle Entwicklung von ebenso universeller Bedeutung ist wie das Prinzip der Erhaltung der Kraft für das physische Geschehen. Ebenso wurde die Bedeutung dieses Prinzips für die Gesellschaftsbildung bereits erwähnt, auf welche hier näher einzugehen gestattet sein möge, wodurch das Gebiet der vorliegenden Abhandlung, welche der sozialen Bedeutung der Ehre gewidmet ist, abgegrenzt werden und der fernere Aufbau derselben sich leicht und klar erheben dürfte.

Kurz und trocken kann man theoretisch die Gesellschaft definieren als einen natürlichen, notwendigen Zusammenschluß von Individuen, von denen jedes das eigentümlich geistige Bild jedes anderen seiner Bekanntschaft in sich trägt, so daß der einzelne sich in so vielen Abbildern wiederholt, wie er Bekannte zählt. Jedes Individuum ist daher nicht ausschließlich ein selbständiges Wesen, sondern zugleich auch Träger von mehr oder weniger genauen Abbildern seiner Mitlebenden. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie unvollkommen und arm die Sprache beim primitiven Naturmenschen, wie lebendig hingegen, fast wild die Affekt desselben, andererseits wie wenig differenziert, gewissermaßen charakterlos die Züge seiner äußeren Erscheinung gewesen sein mochten, so wird man mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen dürfen, daß im physiognomischen Ausdruck, in Stellungen und Gesten des primitiven Menschen am meisten und lebendigsten die jeweilige Erregung zum Ausdruck gekommen ist, so daß plastische, mit physiologischer Notwendigkeit ausgelöste Bilder von Jedermann nicht bloß verstanden, sondern auch im Gemüt innerlich aufgenommen und fixiert würden, weit lebendiger als dieses mittels der Sprache, mit Worten hätte geschehen können, welche, zum mitgeteilten Inhalt beziehungslos, in keinem inneren Kontakt zu ihm stünden.

Der Austausch gegenseitiger Regungen mittels Worte setzt bereits durch vorangegangene Übung geahnte Hirnleitungen voraus, so daß nunmehr auch Worte als bloße Anweisungen auf Inhaltswerte schon verstanden werden; doch die gebahnten Wege selbst dürften nur auf dem Weg unmittelbarer Mitteilung, von Gemüt zu Gemüt,  in natura  gegeben und empfangen, entstanden sein und, wenn einmal festgesetzt, eine Art immanenter Verwandtschaft zur Folge haben, die, auf funktioneller Basis sich aufbauend, die Gemüter in einem innigen Verhältnis erhalten dürfte. Ein ähnliches Verhältnis der Entwicklung beobachten wir bei der Erfindung der Schrift. Auch der Lautschrift ist zeitlich die Bilderschrift stets vorangegangen, welche durch Bilder oder charakteristische Merkmale den mitzuteilenden Inhalt nicht bloß bezeichnete, sondern auch bedeutete, eine Entwicklungsstufe, die bei den Chinesen sich noch bis heute erhalten hat. Diese Vorstufe der Äußerung innerer Vorgänge sehen wir also bei der Erfindung der Schrift in geschichtlich helleren Zeiten als eine notwendige Vorbereitung zur Abstraktion in der Lautschrift vermittelnd wiederkehren, welche über bloß kennzeichnende, aber nichts bedeutende Symbole verfügt. Damit ist nicht etwa gemeint, als gehörte diese physiognomische Sprache einer prähistorischen Vergangenheit, vielmehr gehört sie als psychologischer Prozeß auch der Gegenwart an, sie gehört in die Kinderstube, wo sie der Lautsprache als vorbereitende Phase vorangeht und sie erst möglich macht. (Es wäre ein psychologisch-philologisches Desiderium, zu untersuchen, ob man nicht von blindstumm Geborenen wie von taubstumm Geborenen sprechen kann; a priori ließe sich annehmen, daß der Tastsinn und der Sinn für hohe und tiefe Töne bei Blindgeborenen bei der Sprachbildung die Funktion des Gesichtssinns übernimmt, und statt des letzteren eine aus Tast- und Tonbildern gebildete Physiognomie die vorbereitende Phase für die Wortbildung herstellt. Ist doch ohnedies und aus ganz anderen Gründen die Völkerpsychologie veranlaßt anzunehmen, daß der Gesang dem Sprechen der Zeit nach vorangegangen sein dürfte.)

Kehren wir nach dieser vielleicht nicht ganz überflüssigen Abschweifung zu unserem Thema zurück. Wie soll also da nicht Gesellschaft entstehen, wenn ihre Tendenz in reicher Keimfülle in den Vorstellungen jedes einzelnen vorhanden ist? Betrachten wir nun diese psychologische Vorstufe einer Gesellschaftsbildung isoliert von den äußeren, historisch wirklich eingetretenen Impulsen, welche ihr eine ganz andere Richtung geben, so würde sich infolge des vorzüglich durch die Phantasie vermittelten Gedankenaustausches eine Gemeinschaft der Glieder ergeben, die sich weit weniger auf dem Egoismus des Besitzes als vielmehr auf einer Interessengemeinschaft aufbauen würde, in welcher die Leistung des einen allen und die Gesamtleistung aller Mitglieder einem jeden einzelnen zugute käme. Denn diese kommunistische Tendenz allein würde den im Gemüt eines jeden einzelnen aufgespeicherten Vorstellungen von der Individualität seiner Mitlebenden entsprechen, weil jeder einzelne und seine Zeitgenossen schon durch die ihnen gemeinschaftliche Vorstellungsverwandtschaft zu dieser Art Gemeinschaft prädestiniert sind.

Die Bedeutung der Ehre aber in einer kommunistischen Gesellschaft ist sehr verschieden von derjenigen in einer auf dem Eigentumsrecht begründeten Gesellschaft. Dort, wo der Privatmann vom Mann der Öffentlichkeit kaum zu trennen ist, schwindet der Begriff der Ehre fast zur Wesenlosigkeit. Wo einer für alle und alle für einen arbeiten, da ist für die Bewunderung einer besonderen Leistung und Hingebung für das öffentliche Wohl kein Platz. Hingegen sind diese Tugenden in einer Gemeinschaft, die auf individuellem Besitz basiert, eine Seltenheit, Eigenschaften, welche die Schätzung herausfordern, eine Schätzung, welche die Erkenntnis voraussetzt, daß der Egoismus, auf den Thron allgemeiner Geltung erhoben, zwar eine historische Entwicklungsnotwendigkeit sein mag, aber darum nicht weniger eine üble Notwendigkeit ist.

In dieser Entwicklungsphase der Gesellschaft stellt sich die Ehre gewissermaßen als eine Stimme des öffentlichen Gewissens dar zugunsten der Wertschätzung der Gleichheit des Menschen, wie sie im kommunistischen Leben verwirklicht ist, in welchem die Hingebung für das Allgemeine eine selbstverständliche Privatsache ist. Im Akt und im Gefühl der Zollung von Ehre gibt sich gleichsam ein Gefühl der Sehnsucht kund nach dem idealen Zustand menschlicher Gemeinschaft. Die Zollung der Ehre ist eine prinzipielle Anerkennung, der Rest der im Hintergrund des Gemütes stets wach gebliebenen Sympathie, im Gegensatz zu einem allgemein herrschenden Egoismus. Es ist ein bemerkenswertes Charakteristikum, daß zu Zeiten, wo das Eigentumsrecht am kräftigsten ausgebildet und erstarkt war, auch die aufopfernde Mannesehre und ihre Anerkennung im Schwange gewesen ist, wie z. B. im römischen Staat. Ebenso war zu Zeiten, als die Herabwürdigung ganzer Volksklassen die Lebensnorm im Staat war, die allgemeine Verehrung für die Vorzüge einzelner Individualitäten fast bis zum Kulturs übertrieben worden, wie im ägyptischen Pharaonenreich.

Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, dürfte eine wenig schmeichelhafte Diagnose der gegenwärtig im Schwand begriffenen Reaktion kaum zu vermeiden sein. Der Begriff der Ehre hat in der Gegenwart eine Erweiterung gefunden, welche vergangenen Perioden unbekannt war. Die Erweiterung betrifft ein Abstraktum, eine Ehre ohne Verehrer, eine Ehre, die abgesehen von Momenten der Selbstüberhebeung immer latent bleibt und nur auf Beleidigung reagiert. Diese Erweiterung ist daher zugleich eine Beschränkung, und die zarteste Blüte der Organismen wird so zu einer Karikatur verunstaltet, dem Gegenteil der Ehre eher als dieser gleichend.

Gleichsam wie Zinsen zum Kapital hat die Ehre allen Zeiten als ein unmittelbares Ergebnis seltener Tugend, hervorragender Charakterstärke, hingebender Kraft zur Förderung von Wahrheit und Schönheit gegolten. Anders aber als in früheren Zeiten malt sich der Gegenwart die Welt der Werte. Diese zu beschneiden und auch die Ehre abzuschneiden, gilt ihr vorzüglich als Verdienst. Ein Hoch dem materiellen Egoismus! im Privatleben wie in der Politik. Ehre demjenigen, der es darin am weitesten gebracht hat. "Ote-toi de la que je m'y mette" [Hebe dich hinweg, damit ich deinen Platz einnehmen kann! - wp] ist der oberste Grundsatz, ein der Menge sehr verständlicher, sehr einleuchtender Satz. Die Majorität ist ihm sicher. So wie der Körper durch Speise, so baut sich das persönliche Selbstbewußtsein durch Schneidigkeit, durch brutales Hervorkehren seines Selbst auf; man erweitert seine Persönlichkeit, man gewinnt und nimmt zu an Popularität, alles besitzt Ehre und - nur die Ehre ist unehrenhaft. Wer sich durch Schimpfen, Demagogentum besonders hervortut, dem ist auch die Anerkennung sicher. Eine verwandte, höhere Art von Ehre ist die Abwehr von Beleidigungen, "eine ritterliche Ehre" bei Lebensansichten, die mit dem Rittertum nichts gemein haben (1).

Alles Geschehen, alle geistigen und stofflichen Wandlungen, die bedeutungsvollen, aus denen sich die Geschichte aufbaut, wie die unbedeutenden, die sie unbeachtet läßt, sind in ihrer Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge, in ihrer Besonderheit und Totalität für das Gewissen moderner Wissenschaft Vorgänge einer natürlichen Notwendigkeit, die gemäß ewigen, sie umfassenden und ihnen innewohnenden Gesetzen vor sich gehen. Der Ursprung dieser Gesetze selbst hat für das metaphysische Bedürfnis Reiz und Interesse; aber auch die exakte Forschung, falls sie an diese Frage heranzutreten sich veranlaßt fühlen sollte, würde sich mit der Meinung abfinden können, welche die Gesetze in derselben Weise entstehen läßt, nach welcher noch heute die Entwicklung der Dinge, vorzugsweise der organischen Wesen, stattfindet. Im wilden, anarchischen Zustand der Elemente mußten sich im Laufe unmeßbarer Zeiträume aus den unendlichen Bewegungsmöglichkeiten diejenigen herausbilden, welche dem Gleichgewicht der Elemete und ihrer Atome günstig waren und dank diesem Umstand herrschende Bewegungsnorm für alle fernen Zeiten bleiben. In ähnlicher Weise, wie der Fortschritt zu einer höheren Entwicklungsstufe der Organismen durch den Kampf ums Dasein sich noch heute entwickelt, mußte aus dem Chaos gesetzloser Zustände eine Gesetzmäßigkeit entstehen und zu einem feststehenden, dauernden Benehmen der Dinge führen, so daß sie sich zueinander in bestimmten Verhältnissen zu einer beziehungsvollen Mannigfaltigkeit gestalteten, welche Verhältnisse sich in unserem zusammenfassenden und abstrahierenden Verstand als Naturgesetze spiegeln.

Aber nicht mit gleicher Wärme umfaßt unser Interesse das Vielerlei der Erscheinungen. Der Dichtungsapparat unserer Organisation organisiert und bewertet sie nach Maßgabe der Zweckmäßigkeit, wandelt Mechanik in Schönheit, Egoismus in Ideale, blindwaltende Kräfte zu vernünftigem Handeln. DEMIURGs stoffliche Welt schafft die Phantasie in eine ideale Götterwelt um, in die sie auch das menschliche Handeln einzuordnen in Sehnsucht erstrebt. Doch so weit kommt es nicht, vielmehr schwindet der Phantasie, je mehr sie sich der Wirklichkeit nähert, das Element, worauf sich ihr Flügelschlag stützen muß. Das Reich der Ideale ist nicht von dieser Welt und die Bretter, die die Welt bedeuten sollen, sie zeigen erst recht, wie himmelweit der Schein vom Sein ist. Die Heiligkeit des Heiligen ist ihnen nur angedichtet, und die besten der menschlichen Institutionen tragen nur die Züge des Guten, die vor einem historisch-kritischen Blick erlöschen, der das gewöhnliche Gerüst des Hungers und der Liebe hinter den Kulissen gewahrt.

Aber so fremd und fern auch die Wirklichkeit dem Ideal gegenübersteht, entfernter als der gestirnte Himmel, so leuchtet es doch in unser Inneres, in dessen Dunkel es erzeugt war, so strahlend rein, daß das Dunkle unseres Wesens schwindet und bloß noch als Gefühl der Verehrung zurückbleibt. Die Distanz zwischen Ideal und Wirklichkeit empfinden wir als Sehnsucht, welche diese Kluft mildert und zugleich präzisiert. Je nach dem Grad und der Lebendigkeit der Verehrung erwächst der Mensch zur Freiheit. Diese besteht in der Erkenntnis dieser beiden Welten und der Prävalenz [Überwiegen - wp] des Ideals. Zugleich soll die Freiheit den Menschen die Grenzen dieser Welten lehren, ihn belehren, daß die Verehrung, die er den Idealen zollt, samt diesen selbst seine eigenen Dichtungsgeschöpfe sind und sie demnach nicht zu fiktiven Persönlichkeiten erheben darf, die etwa ein außerweltliches Dasein hätten, denn diese Erhebung würde nicht allein zu seiner eigenen Erniedrigung, sondern auch zu der der Ideale ausschlagen, insofern er den eigensten, edelsten Produkten der Phantasie Wirklichkeit vindizieren und sie zu Fetischen umwandeln würde. Ob man aus Gold, Edelsteinen, aus morschem Holz, uralten Reliquien oder aus der inneren Stimme und Abstraktionsbegriffen einen Gott oder Götter konstruiert, in jedem Fall betet man seine eigene Schöpfungan. Sieht man näher zu, so wiederholt sich im Akt der Ehrzollung dieselbe Unnahbarkeit, aber in verkleinertem Maßstab, etwa  en miniature,  wie beim Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Ideal, nur hat hier der meteorhafte Splitter, aus dem fernen Reich der Dichtung in dei prosaische Wirklichkeit fallend, die Sehnsucht in eine Bewunderung in eine Art Scheu gewandelt, die man dem Fremdling aus einer anderen Welt entgegenbringt.

Das Gefühl der Scheu ist der Ehre wesentlich, ein charakteristischer Zug, welcher sie vor anderen Schätzungsgefühlen, wie Liebe und Freundschaft, auszeichnet, welche allesamt im engen Kreis, in intimer Nähe ihr Dasein, ihre Befriedigung und Nahrung finden, während die Würde und Höhe, welche die Ehre an sich trägt, jede Vertraulichkeit fernhält. Eine der eigentümlichsten Bewandtnisse in der Natur der Ehre ist es eben, daß ihr zentrifugales Wesen, sich ausbreitend, die Massen der mit- und Nachlebenden fortreißt und zur Bewunderung zwingt, weder der Grenzpfähle der Heimat noch der kurzen Lebensdauer des Rumgekrönten achtend. Der Ruhm als Makrokosmos, der Zeit und Raum besiegt, ist gleichsam ein Gegenstück zum Mikrokosmos des menschlichen Geistes, in dem die Welt, ihre Mannigfaltigkeit sich konzentrierend spiegelt. Freilich jene Gipfel der Menschheit, die das Weltbild nicht bloß spiegeln, sondern auch verklären, sind vereinzelt, und die Geschichte zählt ihrer weit weniger als Könige. Wer denkt hier nicht an PLATON, den Lehrer im Ideal, der vor Jahrtausenden die Originalität fast aller kommenden großen Geister vorwegnahm. -


III.

Als Ebenbild Gottes wollen wir, wenn auch
nicht angebetet, so doch verehrt werden.


Es ziemt sich, die vorstehenden Bemerkungen nicht zu schließen ohne mit wenigen Worten auf die Bedeutung der Ehre zur Ethik einzugehen.

Allmählich erweitert sich der Horizont des Grundgedankens, von dem wir ausgingen, bis auch die ethischen Konsequenzen sichtbar werden und durch ihre Einfachheit sich unseren Blicken aufdrängen.

Einleitend möge hier der Unterschied zwischen Lob und Ehre ganz kurz hervorgehoben werden. Schon die Tatsache, daß Ehrgeizige selten empfindlich gegen Lob und Beleidigung sind, weist auf einen wesentlichen Unterschied hin. Lob ist ein subjektives, körperlich angenehmes Empfinden, während die Ehre nie erröten macht, vielmehr im Gefühl einer objektiven Beziehung besteht, die zwischen einem Individuum und dessen Mitlebenden, welche in irgendeinem Verhältnis zu demselben stehen, tatsächlich obwaltet. Parallel zu diesem Unterschied soll noch ein anderer einleitend hier Erwähnung finden: Der Egoismus kann nicht über sich selbst hinaus. Wie das Muscheltier sein Gehäuse, so schließt der Egoismus das ganze Weltgebäude in die Sphäre seiner Empfindungen und Interessen ein. Hingegen weist das sittliche Bewußtsein des Menschen auch über sich selbst hinaus. Hingegeben dem großen fesselnden Weltbild gewahrt es an einer bestimmten hervorragenden Stelle seine eigene Interessenssphäre, das eigene Ich, und erkennt seine Bestimmung nicht darin, die Masse der Existenzen als Gebrauchsgegenstände zu behandeln, vielmehr sie seinem Geist und Ordnungssinn adäquat zu machen. Diese beiden, die Handlungen des Menschen bestimmenden Faktoren wohnen im Streben nach Ehre leidlich im Frieden beeinander. Es ist, als käme im Gefühl der Ehre der Egoismus zur Besinnung, als würde er von einem Ernst ergriffen, der ihm sonst fremd gewesen ist, was auf einen verborgenen ethischen Hintergrund hinzuweisen scheint. Während der Mensch physisch in streng umschriebenen Formen organisiert ist, und auch seine Sinne nur in bestimmte gemessene Fernen reichen, dehnt die Persönlichkeit im Gefühl der Ehre sich zauberhaft ins Weite, zieht unbestimmte Kreise, in denen das Ich mithineinspielt, in denen es mitlebt. Die Ehre ist die Sphäre, in der die Seelen einander begegnen, so daß die Identität von Ich und Du zwar nicht klar im Bewußtsein erfaßt, umso stärker aber unter der Schwelle des Bewußtseins festgehalten wird, bis sie in irgendeiner Form als selbstverständlich aufblitzt und als Moral fortlebt. Wir erleben uns selbst im anderen. Um jeden einzelnen schlingt die Ehre einen magischen Kreis, den Zauberkreis seines Ich, als zögen die Seelenatome der Menschen einander an. Wir erleben uns selbst in den anderen. Dies mag zur Einleitung genügen, doch noch hinzugefügt werden, daß, wenn, wie bereits ausgeführt, das unmittelbare Erkennen seiner selbst dem Menschen von Natur versagt oder nur verworren zugänglich ist, während von der Erkenntnis der Mitmenschen in Vergangenheit und Gegenwart der Geist ein klares Bild zu schauen imstande ist, sich das Bedürfnis wie von selbst aufdrängt, im klaren Bild des Nebenmenschen den Ort des eigenen Ich aufzusuchen und in dessen Wertschätzung auch zu finden. Denn anders als das flüchtige Spiegelbild im Auge des Nächsten ist das eigene Wertbild ein beharrendes, selbst nach dem Tod fortdauerndes, das in Ehren zu erhalten, zu verschönern und zu heben ein erstrebenswertes Gut, ja manchen als das Gut aller Güter deucht. Hierdurch erscheint aber die trennende Wand zwischen dem Ich und dem Du nicht nur verdünnt, vielmehr deren Identität potenziell mitbegriffen. Es ist gewissermaßen, als sähe jeder, der einen anderen ansieht, auch sich selbst; es ist die Weltseele, mit der der einzelne sich eins fühlt im Gefühl der Ehre, und zwar nicht in dem Sinne, als habe jeder einzelne Mensch einen bestimmt abgegrenzten Anteil an der Weltseele, der den Verschiedenheiten der Individuen entspräche, vielmehr im Sinne einer sozialen Teilung, daß alle Individuen einen gemeinsamen Besitz in allen Teilen der Weltseele haben. Das Du und das Ich, beide vom Bedürfnis nach Ehre befangen, sind in der Dämmerung der Gemeinsamkeit umhüllt und aufgelöst, so daß jedes Individuum seine Meinung und Handlungsweise nach den Gedanken seiner Mitmenschen zu formen nur natürlich findet und sich daran gewöhnt. Auf dem Weg einer geschichtlichen Entwicklung, auf welcher verschiedene Gefühlserlebnisse und Auffassungen der Ehre zur Geltung gelangen, geht langsam aber sicher das Ich in das Du, der Egoismus in das Geselligkeitsbedürfnis der Denk- und Gefühlsgemeinschaft über. Der Egoismus, der nicht angeboren, vielmehr ein Kind frühester Erfahrung ist, nähert sich wieder dem natürlichen, ursprünglichen Zustand der Ichlosigkeit. Erst nachdem der kindliche naive Egoismus im erlebten Ehrgefühl abgestreift wurde, ist die Bedingung für die Entstehung der Morals als solcher erfüllt, der bewußten Moral im Gegensatz zum bewußten Egoismus. Denn jetzt erst, nachdem sich die Moral mit Hilfe der Ehre gegen den Egoismus durchgesetzt hat, ist sie zur erprobten Tugend geworden, die ursprünglich als Instinkt, als unerprobte Ehrbarkeit zur Welt gekommen ist.

Die durch die Wertschätzung der Nebenmenschen geförderte Erkenntnis des eigenen Ich ist das formale Prinzip des Persönlichkeitsbewußtseins. Indem die Persönlichkeit oder die Erkenntnis der eigenen Individualität nur mittels der Mitmenschen erworben wird, welche den objektiven Wert zu würdigen imstande sind, so liegt auch die Einsicht nahe, daß jedem Subjekt die Erkenntnis der eigenen Individualität, die ihm zuteil wird, auch gebührt, daß daher jeder Mensch eine Individualität repräsentiert, die nicht allein toleriert werden soll, sondern auch auf Ehre Anspruch hat. Was sind mithin die Mitmenschen anderes als die Ergänzung des Individuums, dessen bessere Hälft, welche es sich durch Verdienste abgerungen hat.

Beim Umschlagen des mit physiologischer Notwendigkeit sich ergebenden Egoismus zur idealen Gesinnung ist zu bemerken, daß Mittel und Ziel wie bei jeder natürlichen Metamorphose von ein und derselben Art sind. Denn die Ehre oder die Erkenntnis der eigenen Persönlichkeit kann nur dann hervorbrechen, wenn das Individuum die eigenen Angelegenheiten zu den Interessen der Menschheit erweitert und die Leiden der Menschen in seinem Busen aufnimmt.

Eine wunderbare Blüte entkeimt dem Ehrbedürfnis, die Ehre als ein Kind der Eigenliebe und doch wieder der Selbstvergessenheit. Das wahre Dasein ist der andere, der andere. - Die Ehre ist nicht der Lohn, den andere für geleistetee Dienste abstatten, auch nicht wie etwa der Stolz, mit dem man sich selber seine Verdienste belohnt; vielmehr ist die Ehre ein Sichselbstfinden, der Fund der eigenen Persönlichkeit, welche die Schätzung der Mitmenschen erzeugt, die Entdeckung des Selbstbewußtseins im Bewußtsein des anderen, des Ich im Nichtich. Das Ich wird gleich dem anderen zum Objekt der Erkenntnis. Es ist im Grunde ein ähnlicher Prozeß, der die weibliche Psyche gemütvoller und hingebener macht als die des Mannes. Denn auch die weibliche Psyche gelangt durch die Vermittlung des Nebenmenschen, hier des Mannes, zum Bewußtsein ihres Wertes, der ihre Eigenschaften, ihre Schönheit zu würdigen veranlagt ist, während sie selbst vom eigenen Wert eine indolent verworrene Vorstellung hat, welche zur Bildung von Selbst- und Persönlichkeitsbewußtsein nicht ausreicht und ungeeignet ist.

Entsprechend dem Verhältnis der Gegenseitigkeit von Ich und Du wird auch die allgemeine Maxime, welche vom Standpunkt der Ehre die sittlichen Handlungen umfaßt, eine Gegenseitigkeit auszudrücken haben. Die ethische Formel, welche den wesentlichen Erfordernissen der Ehre entsprechen würde, wird daher etwa lauten: "Liebe dich selbst wie du deinen Nächsten liebst"; "wie" besagt: in derselben Weise der Hingebung und Selbstlosigkeit. Die Ehre, dieses feine Sublimat gegensätzlicher Triebe, ist der Punkt, worin zwei mächtige Motore (der egoistische und der moralische) wie Anziehung und Abstoßung sich neutralisieren. Aus der Verbindung, welche Egoismus und Moral in unserer Organisation eingehen, wird die Ehre erzeugt, die dann wiederum auf ihre Erzeuger zurückwirkend diesen das Verständnis und das Gefühl ihrer Wesenheit aufgehen läßt. Es ist dasselbe Wechselspiel der lebendigen unsichtbaren Kräfte in uns und außer uns, die unser Dasein sind, die uns alle erschaffen, entwickeln und verzehren.

Die Ehre kann definiert werden als die Folge oder Funktion einer guten Tat oder guter Handlungen, die gleichsam wie Nährmittel durch die Vermittlung anderer die Selbsterkenntnis fördern, so daß das eigene Gedeihen durch Selbstverleugnung erzielt wird. Die Verdienste um den Nebenmenschen kommen dem eigenen Selbst zugute. Die Tendenz geht somit dahin, den Egoismus soweit zu stärken, daß er schöpferisch wird, sich die Seele anderer unterwirft, um in ihnen seine Heimat, sich selbst zu finden. Die Ehre ist eine natürliche Notwendigkeit, eine Funktion des Egoismus und dessen Regulator. Indem sie ihn zugleich mildert, erweitert und vertieft, leitet sie ihn in das ideale Reich des Sittlichen hinüber und gestaltet das Ego zu einer Persönlichkeit, welche dann vom Gesetz verallgemeinert zum Inventarium der unveräußerlichen Rechte der Menschheit erhoben wird.

Die Tatsache der Konstruktion zweier feinfühliger psychischer Motore von ungleicher Stärke in jeder Menschenbrust, welche die Handlungen mittels des Nervenapparates nicht bloß veranlassen, sondern ihnen in verschiedener Richtung auch Ziel und Charaktermarke geben, scheint nicht auf gegenseitige Hemmung oder auf zwiespältige doppelte Buchhaltung angelegt, vielmehr auf ein fernes Ziel hinzudeuten, das auf eine Einheitlichkeit der Handlungsweise, auf eine innere Durchdringung gerichtet ist, und zu dessen allmählicher Annäherung eine lange Entwicklungskette führt, worin als bedeutungsvoller Ring die Ehre zu betrachten ist.

Daß CÄSAR den Thron als letzte Sprosse des Ruhms erklimmen will, die jedoch unter ihm bricht und ihn begräbt, in seinem Tod jedoch noch so mächtig ist, daß Rom ihm langsam nachstirbt, bekundet, welche ethische Macht im Ehrgeiz verborgen ist, das Leben gering achtet, um in der Nachwelt fortzuleben.

Nicht nur die Liebe, auch die Ehre ist stärker als der Tod; was aber über sich hinausgeht, ist nicht Egoismus, ist sittliches Ideal.

LITERATUR: Otto Hilferding, Die Ehre, Archiv für systematische Philosophie, [Neue Folge der "Philosophischen Monatshefte"] Bd. 15, Berlin 1909
    Anmerkungen
    1) Die Verhältnisse und die Ursachen aufzufinden und zu bewerten, welche das Rittertum bedingten, mag dem Geschichtsschreiber überlassen bleiben, aber so viel ist sicher, daß es von einem Bewußtsein von Pflichten und vom sittlichen Wert seiner Gesellschaftsauffassung begleitet war. Die heutige, sogenannte ritterliche Ehre hingegen beruth wesentlich auf Ansichten, nach denen Interessenpolitik die Pflicht verdränt und der Rassenhaß Taten auslöst, welche jedem ritterlichen Bewußtsein als Schande gegolten hätten und sich nur deshalb am hellichten Tag zeigen dürfen, weil die herrschende Tendenz auf ihre Billigung gestimmt, die öffentliche Meinung gefälscht und korrumpiert ist. Die Abschaffnung der Schande aber ist gewiß noch nicht Ehre, umso gewisser jedoch ihr Gegenteil.