ra-2F. AdickesE. DahnA. LassonA. RossE. Ehrlich    
 
GEORG FRIEDRICH PUCHTA
(1798-1846)
Das Gewohnheitsrecht

"Der Zustand der Rechtsquellen nach Abfassung der Zwölf Tafeln war der Hauptsache nach folgender. Einerseits waren natürlich viele Rechtssätze nicht aufgezeichnet worden, welche nicht weniger galten und auch in Zukunft gelten sollten, als die niedergeschriebenen, denn niemand wird glauben, daß die damaligen Römer mit den Rechtssätzen hätten ausreichen können, die auf wenigen Tafeln zusammengeschrieben waren."


Vorrede

Der Plan des ganzen Werks, dessen erste Hälfte dem Publikum hiermit vorgelegt wird, ist folgender. Die Einleitung zum Ganzen bildet das römische Gewohnheitsrecht für sich betrachtet, also abgesehen vom Einfluß, welchen die römischen Ansichten auf die Folgezeit ausgeübt haben. Darauf folgt die Theorie des Gewohnheitsrechts, wie sie sich als das Resultat unserer gesamten juristischen Vorzeit für die Gegenwart ergibt. Darin findet dann die neuere Geschichte ihren Platz, so aber, daß sie mit der systematischen Darstellung verbunden und an die einzelnen Glieder des Systems angeschlossen wird, was der literarische Charakter derselben zu fordern schien. Dieser Darstellung ist folgende Ordnung gegeben. Ihren ersten Abschnitt, oder den zweiten des Ganzen, jene Einleitung mit inbegriffen, bilden die allgemeinen Lehren (Buch II): Begriff, Gültigkeit und Wert des Gewohnheitsrechts. Der zweite Abschnitt der Theorie (Buch III) enthält die speziellen, die Lehren von den sogenannten Erfordernissen, den Erkenntnismitteln, der Wirkung und dem Beweis des G. R.; den Schluß bildet schließlich die Betrachtung unserer Rechtsquelle in ihrem Verhältnis zu den einzelnen Rechtsteilen: dem Kirchenrecht, Kriminalrecht, Prozeßrecht, Staatsrecht (Buch IV). Der gegenwärtig erscheinende erste Teil enthält das erste und zweite Buch, die beiden anderen Bücher werden den zweiten Teil bilden.

Ein beträchtlicher Teil dessen, wofür ich jetzt die Geneigtheit des Lesers anspreche, liegt schon jahrelang vor mir. Ich habe diese Zeit nicht ungenützt verstreichen lassen; aber es schien mir für den Fortgang des Werkes dienlicher zu sein, einstweilen die Untersuchungen, welche dieser erste Teil enthält, mitzuteilen, als sie noch länger und bis zur Vollendung des Ganzen zurückzuhalten. So habe ich wenigstens die Hoffnung, statt in der Prüfung meiner Ansichten wie bisher allein auf mich verwiesen zu sein, die Belehrungen anderer über den Inhalt des ersten Teils für den zweiten benutzen zu können, und wie auch ihre Form und die Gesinnung ihrer Urheber gegen meine Person beschaffen sein mag, so werde ich nicht ermangeln, dieselben nach Vermögen zu würdigen. Man möge also die einstweilige Erscheinung dieses Teils wenigstens nicht ganz jener schriftstellerischen Ungeduld zuschreiben, die SENECA auch heutzutage, wie in seiner Zeit, zu sagen veranlassen würde:  quemadmodum omnium rerum, sic literarum quoque intemperantia laboramus.  [Wie an der unmäßigen Sucht nach allem anderen, so leiden wir an einer unmäßigen Sucht auch nach Gelehrsamkeit. - wp]


Erstes Buch
Einleitung
Das römische Gewohnheitsrecht

Erstes Kapitel
Von der ältesten Zeit Roms

Über die Formen, in welchen das Recht entsteht, darf man in den ältesten Geschichtsquellen keine genügende Nachricht erwarten. Denn gerade diejenige Form, welche man als die ursprüngliche anerkennen muß, ist von der Beschaffenheit, daß sie sich nicht schon dem natürlichen Auge und der leiblichen Anschauung, sondern erst einer geistigen Forschung vollkommen offenbar, und was diese letzte als die reine, nackte Wahrheit erkennt, das ist zumindest der Form und dem Gewand nach der ältesten, poetischen Auffassungsweise nicht angemessen. Überhaupt wird daher die Sage das, was wir als das Erzeugnis einer natürlichen Verwandtschaft des Sinnes und Willens, eines Volksgeistes, erkennen, die Bildung einer gemeinsamen Sprache, einer Verfassung, einer gemeinsamen rechtlichen Überzeugung, übereinstimmender sittlicher und religiöser Gesinnungen, sofern sie diese Gegenstände berührt, keineswegs in dieser innerlichen Gestalt darstellen; sie wird die Entstehung jener Erscheinungen vielmehr zu einem Gegenstand poetischer Anschauung und Erzählung verkörpern, sei es, daß sie jene Besitztümer ihrem Volk durch die Mitteilung eines Gottes, oder Weisen, oder durch ein anderes bestimmtes, sichtbares Faktum, je nach der verschiedenen geistigen Eigentümlichkeit der Völker zukommen läßt. Dazu kommt aber noch, daß teils die Sagen, besonders wenn sie nicht mehr einen rein mythischen Charakter haben, teils die ältesten urkundlichen Überlieferungen die Rechtsbildung seltener zu ihrem unmittelbaren Gegenstand zu haben pflegen. Dies alles gilt nun inbesondere von demjenigen, was über die Quellen der ältesten römischen Geschichte bekannt ist, und daraus ergibt sich, auf welchem Weg und wie weit der älteste Zustand der Rechtsquellen, und namentlich derjenigen, von welcher in dieser Schrift gehandelt werden soll, bestimmt werden kann. Es kann dies nämlich nur so geschehen, daß das was über das Rechtsbewußtsein der Völker überhaupt erforscht werden mag, mit demjenigen in Verbindung gebracht wird, was wir vom ältesten Zustand des römischen Volkes mit größerer oder geringerer Gewißheit wissen.

Seit NIEBUHR seine Untersuchungen über die römische Geschichte zum erstenmal mitteilte, ist unter den Juristen die Ansicht herrschend geworden, daß der Unterschied zwischen Patriziern und Plebejern sich auf eine Stammesverschiedenheit gründet, was dann auch durch die neueren Untersuchungen NIEBUHRs, so verschieden ihre Resultate teilweise von denen der früheren ausgefallen sind, vollkommen bestätigt worden ist. Beide Stämme sind aber hiernach auch verwandte, und zwar näher, als dies etwa bei den meisten italienischen Völkerschaften untereinander im allgemeinen der Fall ist. Denn das latinische Element findet sich bei den Patriziern nicht weniger als bei den Plebejern, nur war es bei jenen zur Zeit der latinischen Einwanderungen, durch welche die Plebs wahrscheinlich gebildet worden ist, schon vom sabinischen durchdrungen, so wie später vielleicht noch eine etruskische Einwanderung auf die Nationalität dieses latinisch-sabinischen Stammes Einfluß gehabt hat. Wenn wir nun unter dieser näheren Bestimmung eine verschiedene Nationalität derjenigen Bestandteile des römischen Gemeinwesens annehmen, welche man wenigstens später unter dem Namen  Patrizier  und  Plebejer  einander entgegensetzt, so liegt darin allerdings auch die Annahme eines bis auf einen gewissen Grad verschiedenen Rechtsbewußtseins, weil der materielle Begriff der Nationalität eben in einer Verwandtschaft und Eigentümlichkeit des Geistes nach seinen verschiedenen Richtungen besteht. Es fragt sich nun, inwieweit jene Verschiedenheit des Rechts bei der Aufnahme der latinischen Einwanderer noch geltend blieb? Aus der verschiedenen Nationalität können wir nur auf die größere oder geringere Verschiedenheit der rechtlichen Überzeugung, die aber eben wegen jener Verwandtschaft nicht zu groß angenommen werden darf, schließen, eine natürliche Verschiedenheit, die, wie sich von selbst versteht, so wenig durch die äußere Verbindung unmittelbar aufgehoben werden konnte, wie die natürliche Verwandtschaft zweier Menschen willkürlich gelöst oder erzeugt wird. Eine andere Frage aber ist, ob und inwieweit diese eigentümliche rechtliche Überzeugung der Einwanderer in Rom anerkannt wird? Dies läßt sich nur aus speziellen historischen Tatsachen beanworten.

Hier ist nun erst einmal gewiß, daß die Plebejer negativ ein besonderes Recht hatten, indem sie der Gemeinschaft mancher partrizischer Rechtsinstitute erweislich entbehrten. Dahin gehören die Possessio am Ager publicus [Gemeindeland der Stadt Rom - wp], das jus gentium [Stammesrecht - wp] im alten Sinn des Wortes (Recht der patrizischen Gentes), und soviel im Familienrecht von diesem abhing; von manchem läßt es sich zumindest höchst wahrscheinlich machen, daß die Plebejer dessen nicht fähig waren, besonders von demjenigen, was eine Stellung im römischen Staat vorauszusetzen scheint, wie sie dieselben nicht genossen. Damit ist allerdings jene Frage noch nicht bejaht, denn es wäre möglich, daß die Plebejer dennoch nach patrizischem Recht lebten, nur daß eine größere oder geringere Zahl von Rechtsverhältnissen für sie nicht existiert hätten. Erwägt man jedoch, daß die Plebs gegen die Bürger politisch abgeschlossen existierte, ferner das Recht und die Verfassung in den alten Zeiten sehr nahe und dem natürlichen Sinn untrennbar zusammenhingen, daß schließlich die Übertragung des Rechts auf einen anderen, besonders einen untergeordneten Stamm zu den Ansichten der alten Völker gar nicht paßt, die vielmehr einen zu großen Wert auf ihr Recht legten, als daß sie dasselbe als Gegenstand freigiebiger Mitteilung an minder Geachtete hätten ansehen können, so möchte wohl eine formelle Trennung des eigentümlichen Rechts der Einwanderer als fortdauernd anzunehmen sein. Dies würde sehr unterstützt werden durch die Annahme einer höchst wahrscheinlichen Vermutung NIEBUHRs (1), über welche ich mich an einem anderen Ort weiter geäußert habe (2), wonach die Einwanderer, also die ältesten Plebejer Klienten des Königs geworden wären. Sie wären dann umso abgesonderter gewesen, und es hätte umso weniger einen Anstand haben können, sie nach ihrem eigenen Recht zu richten, da sie dann in diesem ältesten Zustand mit patrizischen Richtern in keine unmittelbare Berührung gekommen wären.

Das Resultat für die erste Zeit der äußeren Verbindung jener beiden Stämme wäre mithin folgendes. Materiell bestand eine große Übereinstimmung in den Rechtsansichten der Patrizier und Plebejer, aber daneben waren auch als in den Rechten unterschiedener Stämme spezielle Verschiedenheiten. Formell lebte jeder nach seinem Recht, der Plebejer unter dem König als klientelarischem Richter, oder unter demjenigen, welche dieser, und wenn jene Vermutung begründet ist, gewiß aus den Plebejern verordnete, denn wie sollte ein Patrizier dazu gebraucht worden sein, über die Klienten des Königs zu richten?

Die weitere Geschichte dieses Rechtszustandes hängt von den nationalen und politischen Schicksalen der Plebs ab. Was zuerst die letzteren anlangt, so war es bekanntlich das Streben der Könige, die Plebejer dem Gemeinwesen näher zu bringen, ein Streben, dem bis auf einen gewissen Grad auch die Bürger nicht entgegen sein konnten, da ihnen die Plebs als ein fremder, lediglich vom König abhängiger Bestandteil viel gefährlicher scheinen mußte, als wenn sie in nähere politische Verhältnisse zu ihnen kam. Nur über die Art und Weise, wie dies geschehen sollte, konnte Streit sein, da sich hierin das Interesse des Königs mit dem der Aristokraten kreuzte. Wir finden nun, daß SERVIUS TULLIUS nicht allein die Verfassung der Plebejer selbst regelte (3), sondern sie durch die Zenturieneinrichtung zu wirklichen Bürgern machte. Dadurch mußte die formelle Trennung der beiden Stämme auch in Bezug auf ihr Recht aufhören, das Gericht, unter dem die Plebejer standen, war kein patronatisches mehr, sondern in jedem Fall, selbst wenn anzunehmen wäre, daß plebejische Judizes für Plebejer nach den Gesetzen des SERVIUS sein sollten (4), ein bürgerliches, oder, um mich eines deutschen analogen Ausdrucks zu bedienen, kein Hof- sondern ein Volksgericht. Diese Veränderung in der Form wurde durch den Inhalt des Rechts auf das Vollkommenste unterstützt. Wenn schon von Anfang an unbezweifelt eine sehr bedeutende nationale Verwandtschaft der Stämme und ihrer Rechte bestand, so nahm diese gewiß durch die, wenn auch nur äußere Vereinigung derselben bedeutend zu, und so wie die etwaigen partikulären Verschiedenheiten unter den Plebejern verschiedener Herkunft selbst bald verschwanden, so konnte auch eine immer größere Annäherung des plebejischen an das patrizische und auch wohl umgekehrt in vielen Punkten nicht ausbleiben. So geschah es dann, daß sich allmälich  ein  Recht, das römische  Jus civile  bildete, in welchem die Verschiedenheiten nur noch als besondere Standesrechte der Patrizier zurückblieben, eine Vereinigung, welche durch jene politische, wenn sie auch wahrscheinlich zu ihrer Zeit noch nicht vollendet war, doch sehr beschleunigt werden mußte. Ein bestimmter Zeitpunkt kann dafür so wenig, wie für irgendeine andere, auf natürlichem Weg erfolgende Änderung angegeben werden. Das aber läßt sich in Erwägung der Länge der Zeit, der räumlichen Nähe und des dadurch erzeugten Verkehrs, schließlich der politischen Einrichtungen behaupten, daß jene Koalition früh begonnen und schon vor den Zwölf Tafeln eine gewisse Vollendung erreicht hat (5).

Ich komme nun zu der Form, in welcher das Recht in jenen alten Zeiten entstanden ist, als dem eigentlichen Gegenstand dieser Untersuchung. Es gibt eine Form der Rechtsentstehung, welche die unmittelbare genannt werden kann, insofern das Recht hier wirklich die nationale Überzeugung über die rechtliche Freiheit ist, diese also für sich und ohne ein künstliches Medium wirksam wird. Dieses natürliche Recht, wie man es deshalb nennen könnte, macht sich auf ebenso natürlichem Weg geltend, nämlich durch den Einfluß, welchen die Volksüberzeugung auf die Handlungen der einzelnen Glieder des Volks ausübt. Diese Handlungen heißen, insofern sie durch diesen Einfluß bedingt werden, Sitte; und jenes unmittelbare, natürliche Recht, pflegen wir, da es sich zunächst durch diesen Einfluß äußert, Gewohnheitsrecht zu nennen. Es fragt sich nun, ob für das Bestehen dieses Rechts und seine Geltendmachung vor dem Richter in jenen alten Zeiten (denn daß wirklich solches Recht existiert hat, braucht nicht bewiesen zu werden) besondere Einrichtungen und Organe nachgewiesen werden können, oder ob wir uns bei der allgemeinen Annahme seiner Existenz beruhigen müssen? Als ein solches Organ für die Festhaltung, Sicherung und Erkennbarkeit des Rechts ist vor allem die Beschaffenheit des ältesten Rechts selbst, in seinen symbolischen und doch einfachen Solennitäten [Feierlichkeiten - wp] zu erwähnen (6), durch welche das Recht selbst ein verkörpertes Dasein gewann. Diejenigen, welche wir kennen, beziehen sich besonders auf die bürgerliche und pontifische [päpstliche - wp] Verfasssung; wie es mit dem ältesten plebejischen Recht in dieser Beziehung gestanden haben mag, ist nicht zu erforschen, wie ich auch überhaupt glaube, daß nach dem Stand unserer Kenntnisse darüber für das älteste römische Gewohnheitsrecht kaum mehr als das allgemeine zu sagen ist, was wir auch für die ältesten Rechte anderer Völker sagen können. Das zweite ist, daß die richterlichen Urteile vermöge des öffentlichen Vertrauens und der gemeinsamen Überzeugung vom richtigen Rechtsbewußtsein des Richters als Niederlagen des Rechts gebraucht werden, und dadurch noch eine weitere Wirksamkeit, als die der Entscheidung des einzelnen Rechtsstreites erhalten. Wir kennen aus den späteren Zeiten der freien Republik die Einrichtung, wonach dem Richter Assessoren zur Seite waren, welche namentlich für jene Zeit, wo die vollständige Rechtskenntnis schon allmählich begann, Eigentum eines besonderen Standes zu werden, den Prätoren und Judizes teils den Mangel derselben ersetzten, teils der mehreren Autorität und der Sitte wegen zugezogen wurden. Diese Einrichtung bestand vielleicht in irgendeiner Form schon in früheren Zeiten, um ähnlichen Bedürfnissen zu entsprechen. Dazu kam dann noch die Publizität des Verfahrens, um jenes Vertrauen auf die  Res judicatae  [rechtskräftige Entscheidungen - wp] und ihren Gebrauch als Erkenntnismittel des Rechts zu begründen. Aufzeichnungen schließlich, nämlich solche, die nicht eigentliche Gesetze waren, werden ebenfalls erwähnt. Wer zu Hypothesesn geneigt wäre, könnte in einer Stelle des DIONYSIUS (7) vielleicht sogar eine bestimmte Hindeutung auf etwas ähnliches, wie die späteren  Edicta magistratum  finden. DIONYSIUS erzählt nämlich, SERVIUS habe die königliche Gewalt durch die Anordnung beschränkt, daß der König künftig nur noch über die Staatsverbrechen richten soll, für alle anderen Fälle habe er besondere Richter gesetzt. Diesen nun habe er aufgetragen, seine Gesetze zu befolgen, oder wie man nun dies in der Voraussetzung, daß der Grieche eine ihm vorliegende Quelle mißverstanden hat, nehmen könnte, er habe ihm Vorschriften gemacht, wie späterhin die Cäsaren an ihre Legaten Mandata erließen. Die Gesetze, von denen DIONYSIUS spricht, sind die fünfzig über Verträge und Rechtsverletzungen (8), aber er bezeichnet sie a. a. O. selsbt als Volksschlüsse, uns wäre es mehr als verwegen, von dieser seiner Äußerung in Bezug auf die Richter den angegebenen Gebrauch zu machen. Übrigens sind allerdings unter den Verordnungen jener Zeit sicherlich solche gewesen, die nicht Volksschlüsse, sondern Edicta der Könige waren, denen das  Jus edicendi  [Magistratsrecht - wp] gewiß nicht weniger zustand, als den späteren Magistratus. In welchem Verhältnis aber diese Verordnung zum bestehenden Recht standen, darüber ist nichts einigermaßen sicheres bekannt. Eine nicht gesetzliche Rechtsverzeichnung hat man in den Ritualbüchern der Etrusker finden wollen, indem man die Notiz davon bei FESTUS ihres Inhalts wegen auch auf Rom bezogen hat. Dergleichen Verzeichnungen religiöser, auch die politische Verfassung betreffender Vorschriften konnten allerdings zugleich mit den Einrichtungen, welche in ihnen beschrieben waren, nach Romen gekommen und daselbst auch weiter ausgeführt worden sein, und auch Rechtssätze mögen wegen ihres Zusammenhangs mit der Verfassung darin gestanden haben, aber das alles ist nach jener Nachricht so prekär und unsicher, daß hier besser gar kein weiterer Gebrauch davon gemacht wird. Auch was wir aus anderen Nachrichten von pontifischen Schriften wissen, wohin namentlich auch das  Jus civile papirianum  [ausschließlich für die röm. Bürger - wp] gehört, ist von der Beschaffenheit, daß sich nur sehr unbestimmte Vermutungen darauf bauen lassen würden. (9)

Somit reduziert sich dasjenige, was über das Bestehen des Gewohnheitsrechts in der ältesten zeit gesagt werden kann, ziemlich auf dasjenige, was wir im allgemeinen aus dem Zustand des Volks und Rechts überhaupt schließen können. Die zweite Rechtsquelle, welche in jener Zeit neben der Quelle des Gewohnheitsrechts schon vorhanden war, die Gesetzgebung, in welcher die rechtliche Überzeugung des Volks nicht als solche, sondern als der Ausspruch des durch die Verfassung bestimmten Organs des allgemeinen Willens auftritt und gilt, hat in Bezug auf unsere historische Erkenntnis vor jener ersten gar nichts voraus. Zwar weiß DIONYSIUS viel von geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen des ROMULUS (10), und noch mehr von den unter seinen Nachfolgern zustand gebrachten zu erzählen, und ist also hier so wenig in Verlegenheit, als wenn er den König in einer studierten Rede vor dem Senat die Vor- und Nachteile der drei Regierungsformen zur beliebigen Wahl auseinandersetzen läßt, nicht weniger weiß auch PLUTARCH Bescheid, und selbst LIVIUS spricht ziemlich bestimmt davon. Aber es darf jetzt als entschieden betrachtet werden, daß die Angaben, welche die Rechtsgesetzgebung betreffen, fast gänzlich aus höchst unsicheren Quellen geschöpft und mithin völlig unzuverlässig sind (11). Auch die Urteile über das gesetzliche Recht überhaupt, und so auch über sein Verhältnis zum Gewohnheitsrecht müssen daher hauptsächlich aus demjenigen geschöpft werden, was sich aus der Natur alter Völker und Staaten im allgemeinen entnehmen läßt.


Zweites Kapitel
Von der Rechtsbildung
nach den zwölf Tafeln

Die Bildung des römischen Rechts nahm eine eigentümliche Wendung, nachdem am Anfang des vierten Jahrhundertes der Stadt das Recht und die Verfassung aufgezeichnet, und in der Form eines Volksschlusses publiziert worden war. Es sind nicht vorübergehende Bedürfnisse gewesen, welche diese Aufzeichnung erzeugt haben; und so hat sie dann auch kein bloß temporäres Bestehen gehabt. Vor allem war es nicht etwa die Masse und Mannigfaltigkeit des Rechts, welche schon damals eine Festhaltung durch den Buchstaben erfordert hätte. Vielmehr war das Recht damals noch sehr einfach, sein Wachstum und seine Ausdehnung fällt erst in die Zeit nach den Zwölf Tafeln. Diese sind die Grundlage für die folgende Rechtsbildung geworden, und indem sich dieselbe an das Gesetz anschloß, ist es geschehen, daß dieses, welches selbst in einer noch ganz unwissenschaftlichen Zeit entstanden war, auch auf die entferntesten Juristen, welche in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung zur vollendeten wissenschaftlichen Ausbildung des Rechts mitwirkten, einen nicht zu berechnenden Einfluß geübt und durch alle Zeiten des römischen Reichs gedauert hat. Und zum Verständnis der Zwölf Tafeln selbst, und ihres Verhältnisses zum späteren Recht ist eben jener Umstand von besonderer Wichtigkeit, daß sie durchaus nicht aus einer wissenschaftlichen Behandlung hervorgegangen sind. Dies ist etwas allgemein bekanntes, da sich augenscheinlich erst später eine Art szientifischen Betriebes in Rom zeigte und noch weit später die eigentlich so zu nennende wissenschaftliche Zeit begonnen hat, aber diese Wahrheit wird im einzelnen und in der Anwendung (namentlich auch bei den Restitutionsversuchen) so häufig aus den Augen gesetzt, daß es notwendig scheint, immer von neuem wieder daran zu erinnern.

Der Zustand der Rechtsquellen nach Abfassung der Zwölf Tafeln war der Hauptsache nach folgender. Einerseits waren natürlich viele Rechtssätze nicht aufgezeichnet worden, welche nicht weniger galten und auch in Zukunft gelten sollten, als die niedergeschriebenen, denn niemand wird glauben, daß die damaligen Römer mit den Rechtssätzen hätten ausreichen können, die auf wenigen Tafeln zusammengeschrieben waren. Andererseits aber muß man doch auch nach den uns zugekommenen Nachrichten, ja schon nach den überlieferten Fragmenten annehmen, daß die Verzeichnung in gewisser Art vollständig war, das heißt, daß nicht bloß diese oder jene Rechtssätze bei welchen etwa vorzugsweise eine schriftliche Festsetzung ein Bedürfnis schien, von den Decemvirn [10 gewählte Männer - wp] aufgenommen wurden, sondern daß sie überhaupt das geltende Recht, so weit es geschehen konnte, verzeichnen wollten. Dadurch eben wurde es möglich, daß das Gesetz in Form und Inhalt die Grundlage des gesamten römischen Rechts wurde, fons omnis publici privatique juris [Quelle des gesamten öffentlichen und privaten Rechts - wp]. Die Römer hatten nun nach der Abfassung des Gesetzes zum Teil gesetzlich festgesetztes Recht, zum Teil solches, das lediglich in der Überzeugung des Volks und in der Sitte ohne Aufzeichnung bestand. Beides aber war dem Inhalt nach nicht verschieden, beides war aus derselben noch unberührten Nationalität hervorgegangen und betraf dieselben Gegenstände. In dieser Beziehung wird nun (denn das Märchen von der Verfälschung des römischen Rechts durch eine Einschwärzung des griechischen in die Zwölf Tafeln kann man heutzutage wohl auf sich beruhen lassen) die Ansicht wichtig, welche man von der Fortdauer der nationalen Trennung der Patrizier und Plebejer hat, indem diejenigen, welche den Zwölf Tafeln die Gemeinsammachung zweier bis dahin getrennter Volksrechte zuschreiben, mit jener Behauptung nicht vollkommen einverstanden sein können. Denn in diesem Fall würde das Gesetz teilweise für die beiden Parteien wirklich neues Recht enthalten haben, nicht bloß in dem Sinne, daß es der einen gewisse Vorrechte der andern mitgeteilt hätte. Ich berufe mich deshalb und zur Begründung der Behauptung von dieser Seite, auf das, was darüber im ersten Kapitel vorgekommen ist. Ferner wurzelte das Recht der Zwölf Tafeln nicht weniger in der Volksüberzeugung, aus welcher es ja genommen war, als das übrige, so daß also auch in dieser Beziehung kein Unterschied zwischen beiden bestand. Auch hier ist eine Ansicht zu erwähnen, welche diesem Satz entgegen steht. Derselbe kann nämlich von denjenigen nicht zugegeben werden, welche die Zwölf Tafeln für den Sitz eines bisher dem Volk geheim gehaltenen Rechts halten; aber man hat niemals versucht, auch nur die Möglichkeit eines solchen Geheimnisses darzutun, geschweige denn die Tatsache selbst zu erweisen, wenn man nicht etwa das für einen Beweis gelten lassen will, daß es kaum möglich ist, sie ernsthaft zu widerlegen.

Diese Identität des geschriebenen und durch den Volksschluß festgesetzten Rechts mit dem nichtgeschriebenen hatte noch für die Ansichten der späteren Römer die wichtige Folge, daß der Gegensatz zwischen gesetzlichem und Gewohnheitsrecht bei ihnen durchaus nicht die Wirksamkeit erhielt, welche ihm in unserer Zeit zuteil geworden ist. Zunächst aber und für die Zeit, von der jetzt die Rede ist, hatte sie die Wirkung, daß äußerlich das Recht der Zwölf Tafeln gewissermaßen als das alleinige erschien, und das übrige, jetzt schon bestehende und fernerhin sich bildende, nur als die Fortsetzung des geschriebenen Rechts betrachtet wurde. Dieses nämlich ist es, was die Römer unter dem Ausdruck  interpretatio  verstehen, wenn sie damit das nach den Tafeln außer denselben bestehende, das unaufgeschriebene Recht bezeichnen (12).

Es gibt gewisse Organe, an welche sich das entstandene Recht anknüpft, und durch welche die rechtliche Überzeugung auch wohl eine bestimmte äußere Gestalt erhält. Dergleichen gibt es allgemeinere, wohin die Übung, die Sitte überhaupt gehört, teils speziellere, welche für das Gewohnheitsrecht besonders wichtig sind, da dieses zu seiner Sicherheit am ehesten deren bedarf. Jene  interpretatio  führt uns nun von selbst auf die Frage nach jenen Anknüpfungspunkten für die Zeit, in welcher wir jetzt stehen, und diese Tätigkeit ist es eben, welche zunächst näher zu bestimmen ist.

Zuerst einmal ist gewiß, daß das Wort  interpretatio  nicht eine unmittelbare Volkstätigkeit bezeichnen kann. Das durch das Volk selbst und unmittelbar entstehende Recht stand nach dem, was oben bemerkt worden ist, schon ansich in derselben engen Verbindung mit dem Recht der Zwölf Tafeln, wie mit sich selbst, ebendeshalb aber würde jener Ausdruck, welcher ein Identischmachen, eine mit Bewußtsein geschehene Anfügung andeutet, für dieses innerliche und natürliche Verhältnis des übrigen Rechts zum aufgezeichneten sehr unpassend gewesen sein. Auf der anderen Seite wäre es ebenso irrig, wenn man den Sprachgebrauch unserer Kompendien auf diese römische Interpretation anwenden, und diese Tätigkeit für eine lediglich exegetische nehmen wollte. Es ist auffallend, daß DIRKSEN dieser wunderlichen Ansicht wenigstens dem Anschein nach zugetan ist (13). In der Tat würde dadurch die ganze Geschichte der folgenden Zeiten eine sehr veränderte Gestalt erhalten. Denn wenn man annimmt, daß die bloße Exegese des Gesetzes eine so beträchtliche Rechtsquelle gewesen ist, wie die Historiker von demjenigen behaupten, was sie mit dem Wort  interpretatio  bezeichnen, so muß man auch für die damalige, unmittelbar nach den Zwölf Tafeln folgende Zeit schon eine wissenschaftliche Behandlung des Rechts, und somit einen besonderen Juristenstand voraussetzen, durch welchen das Recht auf jene Weise fortgebildet worden wäre. Der Stoff für jene Exegese würde dann nur einerseits durch den Inhalt des Gesetzes, andererseits durch die Rechtsbegriffe der Juristen gebildet worden sein, und das Gewohnheitsrecht bei dieser Vorstellung leer ausgehen, da doch die Quellen unter Lex und Interpretatio das gesamte Recht begreifen. Eine so frühe Ausbildung der Wissenschaft ist aber auch allem, was wir über jene und die spätere Zeit wissen, so sehr zuwider, daß man dann notwendig ein Wiederabsterben der Jurisprudenz bis zum ciceronischen Zeitalter annehmen müßte. - Vielleicht ist die Sache so zu denken (14).

Ich muß wiederumg auf die Sätze zurückgehen, welche schon oben vorläufig aufgestellt worden sind. Das Recht war ohne Zweifel damals noch im gemeinsamen Besitz des ganzen Volkes, und zwar ohne Standesunterschied der Plebejer sowohl als der Patrizier. Die Meinung von einer ausschließenden Rechtskenntnis der Priester oder der Patrizier ist so beschaffen, daß man nicht glauben kann, diejenigen, welche noch jetzt derselben anhängen, hätten sich diese ihre Ansicht selbst recht anschauich gemacht. Denn hatte dieser ausschließliche Besitz und diese Unkenntnis des Volkes oder des größten Teils desselben von jeher bestanden, so konnte das Recht nicht durch die Überzeugung des Volkes entstanden sein, und so führt diese Ansicht wieder auf eine ursprüngliches gesetzliches Recht zurück, welches bei den älteren Juristen allerdings auch die Quelle derselben war, und zwar auf eine Gesetzgebung, welche von allem nationalen gänzlich entkleidet ist; oder es wird wenigstens damit angenommen, daß der plebejische Stamm entweder kein rechtliches Bewußtsein gehabt hat, also auch kein Stamm, sondern etwa eine Herde aus allen Ecken der Welt zusammengelaufenen Gesindels gewesen ist, oder daß wenigstens sein Recht in Rom niemals zu irgendeiner Gültigkeit gekommen und deshalb bald ganz untergegangen ist, die Plebs selbst aber ebendeshalb aus einem durch innere Verwandtschaft zusammenhängenden Ganzen zu einem gestalt- und gehaltlosen Pöbel geworden ist. War aber die Sache anders, und das Recht in der gemeinsamen Überzeugung des Volkes begründet, so läßt sich nicht begreifen, wie die Priester oder die Patrizier sich der Rechtskenntnis so bemächtigen konnten, daß sie dieselbe den Plebejern entzogen, zumal wenn man die Öffentlichkeit, mit welcher gerichtliche und außergerichtliche Geschäfte vorgingen, und die Abneigung des ältesten Rechts gegen Stellvertretungen in und außerhalb des Gerichts bedenkt. Im Lauf der Zeiten geschieht zwar etwas ähnliches, indem das Rechtsbewußtsein mehr oder weniger auf einem besonderen Stand, den der Juristen übergehen, aber hier ist es die Beschaffenheit des Rechts, seine Mannigfaltigkeit und die daraus entstehende Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Erkenntnis, und die Beschaffenheit dieser Erkenntnis selbst, welche nicht die Sache eines Jeden ist, es ist der natürliche Gang der Geschichte, welcher jene Veränderung hervorbringt. - Von dieser Kenntnis des Rechts selbst, welche man hiernach ansich jedem mannhaften Civis Romanus zutrauen kann und muß, ist jedoch eine besondere Art von Kenntnissen zu unterscheiden, von welchen dies nicht gilt, und die auch in jener Zeit schon eigentlich erlernt wurden (15). Sie betrafen die Formen des gerichtlichen Verfahrens und mancher außergerichtlicher Geschäfte, auf deren Beobachtung mit Genauigkeit und Strenge gehalten wurde. Hätten wir eine Detailkenntnis vom alten römischen Gerichtsverfahren, wie wir sie nicht besitzen, so würden wir gewiß sehen, daß auch diese Seite des öffentlichen Lebens durchaus im genauesten Zusammenhang mit den religiösen Einrichtungen stand, so wie wir dies speziell von der Zeitrechnung und daher auch von allen prozessualischen und Rechtssätzen wissen, die davon abhängen. All das setzt sonach priesterliche Kenntnisse voraus, welche in jener Zeit lediglich beim Patrizierstand waren (16), und dieser Teil des Rechts ist es also, welcher dem Bewußtsein des Volks entzogen war. Dies ist nun aber auch der Punkt, in welchem eine Einwirkung Einzelner auf das Recht, wie die Interpretatio sie voraussetzt, möglich war.

Die Anwendung und Realisierung der rechtlichen Überzeugung durch die Gerichte ist das bestimmte, spezielle Organ, durch welches überall das Recht ein vollkommen äußerliches Dasein erhält, und Gegenstand der Anschauung wird. In Rom wurden nun noch lange nach den Zwölf Tafeln die richteramtlichen Stellen von Patriziern eingenommen, auch die Assessoren und Patrone gehörten diesem Stand an. Ob und inwieweit im Zivilverfahren die Plebejer am Judicium teilhatten, ist zur Zeit noch nicht gehörig ermittelt; wie dem aber auch sei, und allerdings waren wohl die Plebejer vom Judicium nicht ausgeschlossen, so beziehen sich wenigstens die uns bekannten Formen des Verfahrens hauptsächlich auf den Anteil des Magistratus an demselben, und jener Anteil der Plebejer kann auf keinen Fall die folgenden Sätze bedeutend modifizieren. - Somit waren wirklich gewisse Personen und ein gewisser Stand nach diesem ihrem Einfluß auf die Rechtsanwendung für die Rechtsbildung besonders tätig, und weil derselbe äußerlich mehr hervortrat als der unmittelbare Anteil, den das ganze Volk an der Bildung und Kenntnis des Rechts hatte, so konnte schon bei den Römern die Idee entstehen, daß jene die ausschließliche Rechtskenntnis gehabt hätten. Man kann jedoch jene Personen ohne Gefahr eines Mißverständnisses nicht Juristen nennen, noch auch einen Juristenstand annehmen, von welchem sich vielmehr bis gegen CICERO hin keine sichere Spur finden, und der sich erst in den allerletzten Zeiten der freien Republik und unter den Prinzipes vollkommen ausgebildet hat. Der Einfluß jener Rechtskundigen (dieses Wort also in einem vorzüglicheren Sinn genommen) zeigte sich nun in der formellen Anknüpfung des Gewohnheitsrechts an die Sätze der Zwölf Tafeln. Denn da ein Gesetzbuch vorhanden war, so war es das natürlichste, und nach dem politischen Verhältnis der beiden Stände auch das unverfänglichste und loyalste Verfahren, sich in vorkommenden Fällen immer zuerst an dieses Grundgesetz zu wenden, und auch das übrige Recht im Lichte seiner Bestimmungen zu betrachten, wodurch dann eben jenes Resultat hervorgebracht und das Gewohnheitsrecht eine erweiterte Fortsetzung der einzelnen Gesetze der Zwölf Tafeln wurde. So war also die Tätigkeit beschaffen, welche  interpretatio  genannt wird, und deren Erklärung durch das bisherige versucht worden ist.

Außer dieser Anschließung des Rechts an das Gesetz sind noch andere Anknüpfungspunkte und Niederlagen desselben zu nennen. Ein solches Organ sind vielleicht schon in der älteren Zeit die Edicta magistratum, des Konsuls, etwas später des Prätors, wenn wir nämlich annehmen dürfen, daß allgemeine Edikte, wie wir sie später finden, schon damals, freilich aber noch in geringerem Umfang und in ihren ersten Anfängen im Gebrauch waren. Auch diese Edikte schlossen sich ohne Zweifel anfangs an die Zwölf Tafeln an, bis sie später eine andere Richtung und ihren eigentümlichen, dem Recht des Gesetzes sogar entgegengesetzten Charakter erhielten. Damit hängt namentlich auch die Ordnung zusammen, welche für die prätorischen Edikte herkömmlich war, und die bekanntlich mit der Ordnung der Lex im ganzen vollkommen übereinstimmte. Ein ferneres Organ für die Erhaltung des Rechts waren jene bestimmten, unveränderlichen Formen bei gerichtlichen und außergerichtlichen Geschäften, welche im Gesetz verzeichnet waren, und nach dem Bedürfnis der Folgezeit auch vermehrt wurden, dann aber auch und viel bedeutender, als später zur Zeit der wissenschaftlichen Ausbildung, die Res judicata. Aus CICEROs Schriften ist bekannt, wie häufig man sich noch zu seiner Zeit auf  exempla  und  auctoritates  berief, es liegt aber auch in der Natur der Sache, daß Präjudizien [vorangegangene Urteile - wp] zu der Zeit eine größere Wichtigkeit haben müssen, wo man sich der Rechtssätze noch nicht als systematisch voneinander abhängender und durch einander bedingter bewußt ist, wo man also äußerer Erkenntnismittel des Rechts noch mehr bedarf als späterhin, wo es eine Erkenntnis von innen heraus, aus den leitenden Prinzipien, aus einer inneren Notwendigkeit gibt. Wenn die Meinung richtig wäre, welche die Kompetenz der Centumvirn durch den Umstand bestimmt, daß eine streitige Rechtsfrage bei einem Prozeß vorgekommen ist, so würden besonders die Urteile dieser hier zu erwähnen sein, aber sie ist weder begründet noch an sich wahrscheinlich, wie uns dann überhaupt noch irgendeine Notiz, irgendein Punkt zu entgehen scheint, der wenn er bekannt wäre oder getroffen würde, die Dunkelheit, welche über dieser Richtergattung schwebt, vielleicht auf einmal erhellen würde. Zu all dem kam schließlich im fünften und sechsten Jahrhundert, besonders seitdem die Plebejer von keinem öffentlichen Beruf mehr ausgeschlossen waren, daß sich manche Römer nach freier Wahl vorzugsweise mit der Rechtskunde beschäftigten, und daß Rom damit wirklich anfing, eigentliche Juristen zu haben. Diese ersten Juristen übten aber noch keine vollkommen wissenschaftliche Tätigkeit, und keinen produktiven Einfluß auf das Recht, sie verhielten sich im Gegenteil mehr passiv dazu und als Niederlagen desselben, als  conditores  im ursprünglichen Sinn des Wortes, indem sie das alte gesetzliche Recht, die Leges und ihre Interpretatio festhielten gegen die Erweiterungen des römischen Rechts, welche sich von einer anderen, nachher zu erwähnenden Seite her andrängten. Nun folgten auch juristische Schriften, namentlich Formelbücher, worunter das Jus Aelianum [ältestes Rechtsbuch der Römer - wp], welches in seinen drei Teilen den Gegenstand der damaligen Jurisprudenz zu erkennen gibt, das bedeutendste Erzeugnis jener Zeit gewesen zu sein scheint.

Als Resultat des bisherigen ergibt sich Folgendes. Anknüpfungspunkte für das Gewohnheitsrecht während der zwei ersten Jahrhunderte nach dem Gesetz der Zwölf Tafeln waren mittelbar und hauptsächlich diese selbst, nach der obigen Darstellung der Interpretatio, unmittelbar aber die Gerichte in ihrer gesamten Tätigkeit, späterhin auch die Juristen, teils in der Eigenschaft gerichtlicher Haupt- und Nebenpersonen, teils als Respondenten und in Schriften. Das Wesentliche in diesem Rechtszustand in Bezug auf unsere Rechtsquelle ist der Vorzug des gesetzlich geschriebenen Rechts der Zwölf Tafeln, an welches alles andere Recht angeschlossen wurde, wodurch es dann einerseits allerdings als ein damit identisches anerkannt wurde, andererseits aber eine sekundäre stelle gegen das gesetzliche erhielt. Dieser Zustand wurde aber im sechsten Jahrhundert der Stadt durch diejenigen Umstände modifiziert, von welchen im folgenden Kapitel die Rede sein wird.
LITERATUR Georg Friedrich Puchta, Das Gewohnheitsrecht, Bd. 1, Erlangen 1828
    Anmerkungen
    1) REINHOLD NIEBUHR, Römische Geschichte, 2. Ausgabe, 1. Teil, Seite 424
    2) In der Anzeige des NIEBUHRschen Werks in den Erlanger Jahrbüchern, Bd. 5, Seite 37
    3) Eine regionale Abscheidung der Plebejer nach Herkunft und Grundbesitz mochte sich wohl schon früher, unter dem Patronat des Königs, ergeben haben.
    4) NIEBUHR, a. a. O., Seite 441
    5) Hiernach sind die Versuche zu beurteilen, die seit NIEBUHR zur Erforschung der beiden nationalen Elemente im römischen Recht gemacht worden sind. Soll die Entdeckung nur dazu benutzt werden, um das Bestehen eines Rechtsverhältnisses in zwei Formen zu erklären, so ist dagegen im allgemeinen schlechterdings nichts einzuwenden. Denn auch die spätere Rechtsbildung gibt in anderen Verhältnissen die vollkommenste Analogie dafür, daß die beiden Rechte sich auf eine Weise durchdringen konnten, wodurch die Eigentümlichkeit weder des einen noch des anderen gänzlich erlosch. Nur das ist zu wünschen, daß wir uns hüten, solche Formen, welche späteren Zeiten und anderen Gegensätzen angehören, in diese älteste zu verpflanzen. Während frühere Schriftsteller geneigt waren, den Ursprung eines Rechtsverhältnisses oder Rechtssatzes der Zeit oder der Rechtsquelle zuzuschreiben, worin desselben unseren Quellen nach zuerst Erwähnung geschieht (eine Vorstellung, aus welcher sich auch die Mannigfaltigkeit der für jede einzelne Lehre besonders gegebenen Perioden herschreibt, mit welcher man die innere Rechtsgeschichte überschwemmt hat), erliegen wir nur allzuleicht der entgegengesetzten Versuchung, in das graue Altertum zu versetzen, was nach unserer mangelhaften Kenntnis desselben nur einigermaßen dahin paßt. - Solche historische Untersuchungen aber, welche von dem Satz ausgehen, daß die Nationalverschiedenheit des plebejischen und patrizischen Rechts bis zu den Zwölf Tafeln forgedauert hat und erst durch diese gehoben worden ist, scheinen mir auf einer ganz falschen Grundlage zu beruhen, und ich sage dies selbst auf die Gefahr hin, daß dieser Tadel auch einige meiner früheren Versuche trifft, welche zum Teil freilich nicht vor das größere Publikum gekommen sind.
    6) SAVIGNY, Vom Beruf unserer Zeit, Seite 10
    7) DIONYSIUS von Halikarnasoss, Urgeschichte der Römer, Bd. IV, Seite 228
    8) DIONYSIUS, a. a. O., Seite 218 und 239.
    9) HEINRICH EDUARD DIRKSEN, Versuche zur Kritik und Auslegung der Quellen des Römischen Rechts, Nr. VI, Leipzig 1823.
    10) DIONYSIUS, a. a. O. Bd. II, Seite 94
    11) siehe besonders DIRKSEN, a. a. O.
    12) HUGO, Rechtsgeschichte, Bd. X, Seite 401
    13) DIRKSEN, a. a. O., Übersicht der Tabelle Seite 9
    14) Von der Darstellung des POMPONIUS wird weiter unten die Rede sein.
    15) Diese Kenntnisse und den älteren Zustand überhaupt hat auch CICERO vor Augen, wenn er in der berüchtigten Stelle der Rede  pro Murena  sagt: er wolle in drei Tagen ein Jurist werden. Nur paßte dies freilich nicht mehr auf seine Zeit oder nur auf diejenigen seiner Zeitgenossen, die beim früheren Betrieb der Rechtskunde stehen geblieben waren.
    16) So ist der erste plebejisch Jurist, welchen POMPONIUS nennt, SEMPRONIUS, unter den ersten pebejischen Pontifen (Buch X, Seite 9)